Rechtsverständlichkeit
19.12.2005
HintergrundWas ist das Problem bei Entscheidungen?• Zweierlei Rezipienten (s. Jaspersen 1998)
– Juristen – Laien bloßes Optimieren nicht möglich
• Nicht nur linguistische sondern auch inhaltliche Faktoren beeinträchtigen die Verständlichkeit sprachlicher Einfluß begrenzt
HintergrundZum Forschungsstand• Rechtssprache
– Beispielbasierte Untersuchungen der Rechts- und Verwaltungssprache: überlange, komplexe Sätze, Nominalstil (Wagner 1981, Oksaar 1988)
– Spezifische Beschreibung von Gerichtsurteilen: Altehenger (1983), Engberg (1997), Hansen-Schirra & Neumann (2004)
• Rechtsverständlichkeit– Wortbasierte Studien nach dem readability-Ansatz (Basedow
1999)– Untersuchung einer syntaktischen Besonderheit mithilfe eines
Akzeptabilitätstests (Neumann & Hansen-Schirra 2004)– Untersuchung des Wissenshintergrunds mit versch.
psycholinguistischen Methoden (AG „Sprache des Rechts“, BBAW)
Zumeist werden nur komplexe Rechtstexte getestet, nicht auch veränderte Versionen
Projekt „Giraffe“Zielsetzung
• Syntaktische Besonderheiten von Gerichtsentscheidungen im Vergleich zu verwandten Textsorten – quantifizieren, – reformulieren und – psycholinguistisch überprüfen
Untersuchungsaufbau
Korpus-analyse Juristisch
kontrollierte Reformu-
lierung
Psycholing. Experiment
Korpuslinguistische Analyse- Das Korpus -
Urteile
35.636 Wörter
Pressemit-teilungen
25.092 Wörter
Zeitungs-berichte
5.304 Wörter
**
* http://www.bundesverfassungsgericht.de
Korpuslinguistische Analyse- Ablauf -
• Korpusannotation und -abfrage– Automatische Analyse der Sätze mit einem
topologischen Parser (Braun 1999)– XML-gestützte manuelle Analyse der Phrasen– Abfrage von Konkordanzen für die
Nominalisierungen
**
* Überprüfung durch Gegenannotation
<KS> <VF> <Text> § 1626 a BGB </Text> </VF> <LK> ist </LK> <MF> <Text> mit Art. 6 Abs. 2 und 5 GG insoweit nicht </Text> </MF> <RK Type='Adj'> vereinbar </RK> <NF> <SubjS> <Subjunc> als </Subjunc> <VL> <MF> <Text> eine Übergangsregelung </Text> </MF> <RK Type='VFin'> fehlt </RK> <NF> <RelS> <RelElem> die </RelElem> <VL> <MF> <Text> eine gerichtliche Einzelfallprüfung </Text> <SubjS> <Subjunc> ob </Subjunc> <VL> <MF> <Text> das Wohl des Kindes einer gemeinsamen elterlichen Sorge der nicht miteinander
verheirateten Eltern </Text> </MF> <RK Type='VFin'> entgegensteht </RK> <NF> <RelS> <RelElem> für die </RelElem> <VL> <MF> <Text> Fälle </Text> </MF> <RK Type='VFin'> vorsieht </RK> </VL> </RelS> </NF> </VL> </SubjS> <Text end='68' start='49'> in denen die Eltern mit dem Kind zusammengelebt , sich aber noch vor In-Kraft-Treten des Kindschaftsrechtsreformgesetzes am 1. Juli 1998 </Text> </MF> <RK end='70' start='69' Subtype='perfAk' Type='VGLetzt'> getrennt haben </RK> </VL> </RelS> </NF> </VL> </SubjS> </NF></KS>
Korpuslinguistische Analyse- Ergebnisse: Sätze -
Urteil Presse Zeitung
Satzlänge in Token 24,32 20,31 14,89
EinbettungEbene 1Ebene 2Ebene 3Ebene 4Ebene 5
56,77 %34,11 %
7,90 %1,13 %0,08 %
62,78 %29,42 %
6,58 %1,22 %0,00 %
68,33 %28,47 %
3,20 %0,00 %0,00 %
Korpuslinguistische Analyse- Satzkomplexität: Beispiel -• Paragraph 1626 BGB ist mit Artikel 6
Grundgesetz insoweit nicht vereinbar, als eine Übergangsregelung fehlt, die eine gerichtliche Einzelfallprüfung, ob das Wohl des Kindes einer gemeinsamen elterlichen Sorge der nicht miteinander verheirateten Eltern entgegensteht, für die Fälle vorsieht, in denen die Eltern mit dem Kind zusammengelebt, sich aber noch vor In-Kraft-Treten des Kindschaftsrechtsreformgesetzes am 1. Juli 1998 getrennt haben.
Korpuslinguistische Analyse- Ergebnisse: Phrasen -
Max. Länge
ø
Urteil 62 5,80
Presse 52 4,69
Zeitung 27 3,71
Urteil % Presse %
Zeitung %
Ebene 1 29,70 24,92 48,51
Ebene 2 36,11 42,25 39,55
Ebene 3 25,21 22,49 10,45
Ebene 4 6,62 7,60 1,49
Ebene 5 2,14 2,74 0,00
Ebene 6 0,21 0,00 0,00
Korpuslinguistische Analyse- NP-Komplexität: Beispiel -
Bei der Umsetzung der Vorgaben der Gerichte für eine verfassungskonforme Regelung der Überführung von Ansprüchen und Anwartschaften aus den Zusatz- und Sonderversorgungssystemen der ehemaligen DDR
Postmodifikation
Korpuslinguistische Analyse- Ergebnisse: Nominalisierungen -• Urteil: 7,15 % (davon *ung: 5,31 %)• Presse: 7,30 % (davon *ung: 5,56 %)• Zeitung: 4,54 % (davon *ung: 3,30 %)
Korpuslinguistische Analyse- Nominalisierungen: Beispiel -
Korpuslinguistische Analyse- Konsequenzen -
• Urteile weisen syntaktische Besonderheiten auf
• Pressemitteilungen sehr mit den Urteilen verwandt
• Zeitungsartikel deutlich näher am Allgemeinverständlichen als Maßstab für die Reformulierungen geeignet
Untersuchungsaufbau
Korpus-analyse Juristisch
kontrollierte Reformu-
lierung
Psycholing. Experiment
Reformulierung- Ablauf -
• Reformulierung der drei syntakt. Dimensionen– stark eingebettete, komplexe Sätzen (S) – komplexe Nominalphrasen (P)– *ung-Nominalisierungen (N)
• Jeweils drei Versionen:– Aus dem Korpus extrahierte Sätze: A-Version (Störeinflüsse
entfernt) – An Zeitungsartikel orientierte B-Version (vgl. Groeben &
Christmann 1989)– Maximal vereinfachte C-Version (vgl. Langer et al. 1974)
• Probleme: – Beibehaltung der logischen Struktur der Sätze – Auflösung der NPs ergibt komplexere Sätze (wg. Entpackung)– Auswahl der zu reformulierenden Nominalisierungen
Reformulierung- Beispiel S, Version A -
Paragraph 1626 BGB ist mit Artikel 6 Grundgesetz insoweit nicht vereinbar, als eine Übergangsregelung fehlt, die eine gerichtliche Einzelfallprüfung, ob das Wohl des Kindes einer gemeinsamen elterlichen Sorge der nicht miteinander verheirateten Eltern entgegensteht, für die Fälle vorsieht, in denen die Eltern mit dem Kind zusammengelebt, sich aber noch vor In-Kraft-Treten des Kindschaftsrechtsreformgesetzes am 1. Juli 1998 getrennt haben.
Reformulierung- Beispiel S, Version B -
Paragraph 1626 BGB ist mit Artikel 6 Grundgesetz insoweit nicht vereinbar, als eine Übergangsregelung fehlt. Diese müsste eine gerichtliche Einzelfallprüfung für die Fälle vorsehen, in denen die Eltern mit dem Kind zusammengelebt haben, sich aber vor dem Inkrafttreten des Kindschaftsrechtsreformgesetzes am 1. Juli 1998 getrennt haben. In diesem Fall wäre zu prüfen, ob das Wohl des Kindes einer gemeinsamen elterlichen Sorge der nicht miteinander verheirateten Eltern entgegensteht.
Reformulierung- Beispiel S, Version C -
Paragraph 1626 BGB ist mit Artikel 6 Grundgesetz in einem Punkt nicht vereinbar: Eine Übergangsregelung fehlt. Diese müsste eine gerichtliche Einzelfallprüfung unter zwei Bedingungen vorsehen. Erstens müssten die Eltern mit dem Kind zusammengelebt haben. Zweitens müssten diese sich vor dem Inkrafttreten des Kindschaftsrechtsreformgesetzes am 1. Juli 1998 getrennt haben. In diesem Fall könnte das Wohl des Kindes einer gemeinsamen elterlichen Sorge der nicht miteinander verheirateten Eltern entgegenstehen.
Untersuchungsaufbau
Korpus-analyse Juristisch
kontrollierte Reformu-
lierung
Psycholing. Experiment
Psycholinguistischer Test - Untersuchungsaufbau -
• Self paced reading-Experiment (Software: DMDX)• 45 Versuchspersonen: 36 Laien, 9 Experten• Insgesamt 30 Sätze plus Filler
– jeweils 10 Sätze auf 3 syntakt. Dimensionen vereinfacht – 3 Versionen, d.h. 15 Versuchspersonen pro Version
• mit ja oder nein zu beantwortende Verständnisfragen• 3x2 Faktorielles Design:
– 3 Komplexitätsstufen x 2 ExpertisegradenUnabhängige Variablen: Komplexität, ExpertiseAbhängige Variablen: Lesezeiten, Antwortlatenzen,
Korrektheit der Antworten
Psycholinguistischer Test - Hypothesen -
• Allgemeine Annahme– Reformulierung der A-Version führt zu besserer
Verständlichkeit
• Laien– 1. Lesezeiten: A > B > C– 2. Antwortlatenzen: A > C > B– 3. Korrektheit: B > C > A
Psycholinguistischer Test- Ergebnisse: Lesezeiten -
Hypothese 1 (A > B > C) wird teilweise bestätigt, Unterschied zwischen A und B allerdings nicht signifikant
Aktueller Effekt: F(2, 58)=20,320, p=,00000
Vertikale Balken zeigen 0,95 Konfidenzintervalle
A B C
VERSION
60
65
70
75
80
85
90
95
Le
seze
it in
ms
rela
tivie
rt a
n Z
eic
he
nza
hl
Psycholinguistischer Test- Ergebnisse: Antwortlatenzen -
Hypothese 2 (A > C > B) wird teilweise bestätigt, Unterschied zwischen B und C allerdings nicht signifikant
Aktueller Effekt: F(2, 58)=8,4921, p=,00058
Vertikale Balken zeigen 0,95 Konfidenzintervalle
A B C
VERSION
3000
3500
4000
4500
5000
5500
6000
An
two
rtla
ten
zen
in m
s
Psycholinguistischer Test- Ergebnisse: Korrektheit der Antworten -
Hypothese 3 (B > C > A) wird teilweise bestätigt, Unterschied zwischen A und C allerdings nicht signifikant
Aktueller Effekt: F(2, 58)=5,8760, p=,00475
Vertikale Balken zeigen 0,95 Konfidenzintervalle
A B C
VERSION
0,65
0,70
0,75
0,80
0,85
0,90
0,95
Ko
rre
kth
eit
de
r A
ntw
ort
en
(ge
mitt
elt)
Psycholinguistischer Test - Interpretation -
• Nur Kombination der drei abhängigen Variablen lässt Aussagen über Verarbeitung zu
• Ausschlaggebend für Messung der Verständlichkeit: Korrektheit der Antworten
• Kürzere Lesezeiten alleine bedeuten NICHT bessere Verständlichkeit
• Syntaktische Reformulierung der A-Version führt zu besserer Verständlichkeit
• Maximal vereinfachte Strukturen sind NICHT die am besten verständlichen
• Vereinfachung in Anlehnung an Zeitungsberichte ergibt bei Laien die optimale Verständlichkeit (Bestätigung von Groeben/Christmann 1989)
Zusammenfassung
• Detaillierte Beschreibung der syntaktischen Komplexität im Vergleich verwandter Textsorten
• Möglichkeiten und Grenzen des juristisch begleiteten Reformulierungsprozesses
• Genauere Vorstellung, was eine verständlichere Gerichtsentscheidung ausmacht
• Fraglich, ob die Ergebnisse Juristen überzeugen
AusblickWas lernen wir daraus?• Ist eine automatisierte Reformulierung
möglich? • Heißt das, wir sollten alle Urteile
umschreiben?• Brauchen wir eine andere Herangehensweise?
Ausblick - Nächste Schritte -• Systematisierung der Reformulierungen
– Arten von Nebensätzen auswerten
• B-Version auffächern– Zwischenschritte überprüfen
Ausblick - Mehrsprachigkeit -• Vergleichbares HOLJ-Korpus der University of
Edinburgh auswerten• (setzt natürlich Berücksichtigung kontrastiver
und kultureller Unterschiede voraus)