Resumee des Symposiums «Schnittstelle Theater» -. Die Bühne und die Medien vom 9. ~ 11. 1. 2004 in der Volksbühne Beriin
Caroline Peters, Sophie Rois und lnga Busch in uSexl> von Rene Pollesch im Berliner Prater (Volksbühne) Foto DRAMA
ln jedem Hirn
lauer! ein kleiner
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Blicke in den Körper
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Anstatteines Editorials eine Pressestimme: Zeigt her eure Füße!
Von Matthias Heine
Drei Tage lang berieten 150 Dramaturgen in
der Volksbühne über Einflüsse neuer Medien
auf das Theater. Das Symposium hieß: «Schnitt
stelle Theater». Man war sich einig: Die Bühnen
kunst kann der Medienweit gar nicht entkommen,
es kommt nur darauf an, wie sie damit umgeht.
Am Anfang tut es immer gut, erst mal Ver
wirrung zu stiften. Vor allem, wenn im Zentrum
des Nachdenkens der Begriff «Medien» steht, von
dem jeder glaubt, zu wissen, was er bedeutet. Die
Aufgabe übernahm die Allzweckwaffe Diedrich
Diederichsen. Dem Vortrag des Medien-, Pop- und
Kunsttheoretikers war eine gewisse Amüsiertheit
darüber anzumerken, dass im öffentlichen Ge
spräch übers Theater immer noch Grenzen vertei
digt werden, die in der Bildenden Kunst und der
Popkultur längst geschleift sind.
Wenn Deutschlands gerontokratische Thea
terkritik ständig die «Selbstaufgabe« eines Thea
ters beklagt, welches neue Medien verwendet,
dann hat das für Diederichsen viel damit zu tun,
dass Video «ein gesellschaftlich verworfenes
Medium» sei, das man von Seiten eines kultur-.
pessimistischen Traditionsbürgertums für vieles
Schlechte verantwortlich mache. Im Theater
werde eben, anders als in der Bildenden Kunst,
immer noch zwischen ((angemessenenn und «fremden» Praktiken unterschieden.
DRAMATURG 1/2004
Konservative Vorbehalte gegen die Nutzung
von Medien als theatrale Darstellungsmittel ent
deckt Volksbühnen-Dramaturg Carl Hegemann
allerdings auch bei den Künstlern - und er ver
teidigte sie. So müsste doch eigentlich die com
putergestützte Herstellung virtueller Realitäten
für die Theaterleute hochinteressant sein, weil sie
es prinzipiell ermögliche, unendliche Cyberbüh
nenbilder zu bauen. Doch stelle er nach -hoff
nungsvoll begonnenen Experimenten fest, dass
das Interesse daran rasch erlahmt sei. Man brau
che offenbar die Beschränkungen durch das
Material. Oder, mit Bezug auf Kant gesagt: «Wenn
der Mensch durch Knopfdruck seine Fantasie
abarbeiten könnte, dann wäre er Gott, und das
will er gar nicht sein.»
So werden, laut Hegemann, die alten Grund
verabredungen.des Theaters durch die Avantgar
den meist nicht in Frage gestellt, sondern eher
bestätigt. Dazu gehöre etwa, dass man Schau
spieler, die live spielen, auch sehen können muss.
Die intensive Arbeit Frank Castorts mit Video habe
begonnen, als sein Bühnenbildner Bert Neumann
einmal jene Grundverabredung in Frage stellte: Er
wollte das Badezimmer in «Endstation Amerika»
als völlig geschlossenen Raum und beharrte da
rauf, es genüge, wenn das Publikum die Schau
spieler häre. Daraufhin habe ihn Castort erstens
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gezwungen, ein Fenster in das Badezimmer eine zubauen, und zweitens beschloss er, eine Videokamera in das Zimmer zu stellen, mit deren Hilfe das Spiel nach draußen übertragen wird. So sei es möglich, die Vereinbarung gleichzeitig zu verletzen und zu erfüllen.
Mittlerweile gehe es Castorf, so Hegemann, um zweierlei: Erstens wolle er das, was ihn prägt (die Medien) gewissermaßen in einem Akt der Gegenwehr bearbeiten. Zweitens ermögliche die Kamera es ihm, Schauspieler so zu zeigen, wie sie sich selbst nicht sehen wollen. Als Beispiel nannte Hegemann eine Szene aus uForever Youngn, in der Kathrin Angerer von. ihren «hässlichen Füßenn . spricht und im nächsten Augenblick diese Füße überlebensgroß auf der Videowand zu sehen sind.
Im Gegensatz zu Hegemann war bei den drei Videokünstlern Chris Kondek, Philip Bußmann und Jan Speckenbach (der die Kamera bei Castorf führt) eine gewisse Faszination fürs bloße Erproben technischer Möglichkeiten zu spüren. Kondek und Bußmann haben beide für die Wooster Group gearbeitet und ließen keinen Zweifel, dass der erste preiswerte Videomixer, den Panasonie Mitte der neunziger Jahre auf den Markt brachte, die Ästhetik der New Yorker Truppe beeinflusst habe. Mittlerweile arbeite man vor allem am Apple Computer und, so Bußmann, ein Video, dessen. Herstellung früher Wochen dauerte, «ließe sich heute ganz einfach in Harnburg machen und dann im ICE nach Berlin fertig schneidenn.
Ähnlich unbefangen wurde an den gesamten . drei Tagen des von der Dramaturgischen Gesellschaft veranstalteten Symposiums vor allem über das uWie?n der th.eatralen Mediennutzung diskutiert -.das «Warum?n stand bei Vertretern so unterschiedlicher Ästhetiken, wie es Thomas Oberender (Schauspielhaus Bochum), Anne Quinones (Rene Polleschs Prater), Beate Heine (Schaubühne)
·und Ulrich Khuon [Thalia-Theater) sind, außer Frage. Grundkonsens war: Wenn Medien unsere Wirklichkeit und deren Wahrnehmung bestil1)men, kann und soll das Theater kein medienfreies Reservat sein.
Der Autor und Theaterwissenschaftler Jens Roselt berichtete denn auch höchst süffisantvom · Besuch des lars-von-Trier-Films uDogvillen, der eine uäußerst altbackene Theaterästhef1kn für .das Kino kultiviere. Komischerweise habe kein einziger deutscher Kinokritikerangesichts dessen über den uAusverkaufn und die «Selbstpreisgaben des Kinos geklagt. Etwas von diesem selbstverständlichen Selbstvertrauen täte auch dem Theater gut. 1!11
Zuerst veröffentlicht in der Berliner Morgenpost vom 12.01.2004 www.morgenpost.berlin 1.de
DRAMATURG 1/2004
Theater ist kein Medium- aber was bewirkt es, wenn der Mann mit der Videokamera auf der Bühne arbeitet?
Von Diedrich Diederichsen
Unter den zahllosen Jahresendlisten und
-abrechnungen, die im Dezember des Jahres
2003 veröffentlicht wurden, konnte man auch
diesen Notruf einer Berliner Kollegin abfangen:
Unter der Rubrik «Wünsche für 2004» hatte sie
nämlich notiert. nur einmal im kommenden Jahr
möge die Volksbühne auf eine Videoprojektion
verzichten. Warum diese Gereiztheit? Kaum vor
stellbar wäre etwa der Ausruf, die Volksbühne
möge doch wenigstens einmal im Jahr 2004 auf
sprechende Schauspieler verzichten oder auf
Musik. Die Videoprojektion scheint nach wie vor
ein Fremdkörper im Theater zu sein, und das
scheint sich auch von selbst zu verstehen.
Diskutierenswert ist aus der Perspektive des Thea
ters und seiner Kritikerinnen offensichtlich nur
die Frage, ob und in welcher Menge dieser im
Prinzip verzichtbare Fremdkörper auf einer Bühne
erscheinen darf, nicht ob er prinzipiell als Fremd
körper zu gelten hat. Die Gereiztheit über eine
oder besser wiederholte Videoproduktionen ver
weist darauf, dass sie nicht zu den Theaterkon
stanten, den selbstverständlichen Mitteln der Dar
stellung gerechnet werden, sondern als so etwas
wie ein Regieeinfall und daher zu den Variablen
gezählt werden müsse. Und Variable nerven dann,
wenn sie konstant wiederkehren. Das dürfen sie
erst dann, wenn sie als Konstanten akzeptiert sind.
Nun hat die Selbstreflexion der Darstellungs
mittel in allen Künsten dazu geführt, dass kaum
noch ein solches Mittel als Selbstverständlichkeit
gelten kann und sich daher jedes und auch auf
jeder Ebene der Diskussion stellen muss und legi
timationsbedürftig ist. Die Perspektive und Me
thode der Selbstreflexion hat infolgedessen einer
seits die Menge und die Einsatzmöglichkeiten von
Mitteln erhöht, weil sie eine diskursive Perspektive
ist und ohne die Apodiktik des Künstlerturns aus
kommt- und diskutierbar, also per Diskurs legiti-
DRAMATURG 1/2004
mierbar ist eben zunächst mal alles: auch Jour
nalismus als Strategie der Bildenden Kunst oder
Fernsehen als Theater. Andererseits lässt aber die
universelle Selbstreflexion alle Mittel als markiert
erscheinen und damit als potenziell vordergrunds
fähig, als potenzielle Hauptsache- und jede ehe
malige Hauptsache darf Nebensache werden. Die
Mittel lassen sich nicht mehr in genrespezifische
Kernbestände und einfallbedingte Singularitäten
scheiden. Der auffällige und ausgestellte Einsatz
von medialen Apparaturen wird da leicht zum
bevorzugten Kandidaten einer solch kritischen
legitimationsprüfenden Aufmerksamkeit- und im
Ergebnis dann Ursache von konsensfähiger Ge
nervtheit.
Der Grund liegt nahe: Alle, insbesondere alle
Kritiker, sind an Diskussionen über neue Medien
gewöhnt und können oft auf eine besonders rei
che Erfahrung an Diskussionen über den Zusam
menhang von neuen Medien und Theater zurück
greifen, der mindestens bis an die Anfänge der
Avantgarden des 20. Jahrhunderts zurückreicht
Ebenso alt sind alle möglichen Versuche, den
Gebrauch der unterschiedlichsten neuen Medien
in die Theaterpraxis zu integrieren, wirklich ver
schiedenartig sind dabei indes die Register, in
denen diese Versuche bemerkt, benannt und dis
kutiert werden.
Dabei meint das Wort Medium in diesen Dis-.
kussionen ausgesprochen verschiedene Dinge: oft
technische Einflüsse auf das Bühnengeschehen,
die nicht immer die Kategorie Medium verdienen,
sondern eher die der Apparatur, von der elektri
schen Verstärkung bis zur Projektion; sodann kon
kurrente Formen von Öffentlichkeit wie Fernse
hen, Kino, Computer-Kultur, wo ebenfalls selten
das Mediale gemeint ist. sondern meistens
bestimmte Erzähl- und lnszenierungsformen, .
nicht die dazu nötigen Medien; und schließlich
Das Symposi'um «Schnittstelle Theatern wurde am 9. Januar am Tatort, in der Volksbühne Berlin, eröffnet mit einer Reflexion des Medienwissenschaftlers und Kritikers Diedrich Diederichsen. ·
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ästhetische Formate, die mithilfe von medialen
Architekturen als trojanische Pferde ins Theater
geschleust werden und dort aber als neue, ledig
lich medial unterstützte, aber in erster Linie
ästhetisch auffällige oder neue Elemente des
Theaters für Unruhe sorgen- wie etwa dem Fern
sehen abgeschaute höhere Geschwindigkeiten
oder auch deren Gegenteile, die von der installa
ti.venBUdenden .Kunst beeinflussten Langsamkei
ten. Getanzte Zeitlupen, gelaberte Loops und
gescratchte Dialoge. Schließlich gibt es den Ein
. salz von Medien in einem tatsächlich medialen
Sinne, als Extensionen oder Modifikationen der
Grundelemente des kulturellen Formats Theater:
Projektion ersetzt die vierte Wand oder Kameras
vervielfachen die Bühnenräume etc.
Für und gegen alle diese Entwicklungen in
ihren unterschiedlichen konkreten Ausprägungen
mag es gute immanente Argumente geben, die
sich aus spezifischer Ge- oder Misslungenheil
ableiten, generell scheinen mir aber die allfälli
gen Streitereien darunter zu leiden, dass es jen
seits der Verwechslung von jeweils Technik,
Öffentlichkeit undÄsthetik mit einem verallge
meinerten Medienbegriff zwei unausgetragene
Unklarheiten gibt: zum einen, ob sich das Thea
ter selbst als ein Medium verstehen will, das sich
gegen andere verteidigen oder von ihnen ergän
zen lassen will, und zum anderen welchen Status
Medien - alte wie neue - eben genau dann im ·
Theater haben, wenn es sich, wofür ich argumen
tieren möchte, gerade nicht als ein Medium ver-
. steht oder verstehen sollte.
Es ist offensichtlich und bedarf wohl keiner
ausführlicheren Begründung, dass Theater aus den
verschiedensten künstlerischen Gattungen und
Formaten zusammengesetzt ist, und doch ist
schon diese Formulierung irreführend, weil sie ein
Ganzes aus Teilen suggeriert. Ein solches Ganzes
- wie am berühmt-berüchtigsten in der Idee des
Gesamtkunstwerkes - setzt nämlich auch ein
Integrationsprinzip voraus, das über aller Zusamc
mengesetztheil stehen müsste und so auch die
Unterschiedlichkeil der verschiedenen Medien
aufheben würde. Ein solches Prinzip mag in tra
ditionellen Theaterformen auf der Ebene des Tex
tes, des Dramas oder in noch traditionelleren ritu
ellen Funktionen bestanden haben, aber die Idee,
dass es eine solche Einheit auch auf der Ebene der
Ausdrucksmittel geben könne, ist relativ spät, ist
Ausdruck spezifischer Ideologien im Umkreis des
Gesamtkunstwerk-Gedankens und tatsächlich auch
des Aufkommens neuer Medien im Umkreis des
Theaters. Gäbe es nicht diese Einheitsvisionen auf
formaler und z. T. auch eben medialer Ebene, die
ja oft auch gerade dann auftauchten und lanciert
wurden, wenn der klassische Locus der Einheit -
Text und Drama eben·~ gerade auseinander zu fal
len begann, dann hätte das Theater neue Medi.en
aller Art ganz entspannt in seinen extrem großen
und weiten Rahmen integrieren können, in dem
doch auch sonst so vieles Platz hat. Die Idee, dass
es angemessene. und fremde mediale Praktiken auf.
der Bühne gibt, istalso eng verbunden mit dem
Aufkommen von Medien oder vor allem be
stimmter Ideen von Medialität und Medienwir
kungen, die zu formalen Einheitsideen ermutigten.
Anders als in der Bildenden Kunst hat es im
Theater nie eine besondere Nähe zwischen seinen
Medien und seinen b~rstellungsmitteln gegeben.
Das Sprechtheater hat in der Regel die Medien
genutzt, die auch die Alltagskommunikation nutzt
. und sich nur bei seinen Hintergründen und Sup
plements bei den Künsten bedient, die auf einer
größeren Nähe zwischen Medium und Ausdrucks
mittel verfügen - wie etwa die Malerei und in
einem gewissen Sinne auch die Musik. ln der
Nachfolge Wagners, des Symbolismus und später
Futurismus, von Huysmans und . gewissen
Synästhetisisten oder Synästhetikern wurden
Modelle und .Utopien entwickelt, mithilfe von
architektonischen oder medialen Apparaten und
Maschinen auch die Ausdrucksmittel der Künste
zu vereinheitlichen, von einem Zentrum aus steu
erbar und programmierbar, ja vergleichbar und
ineinander übersetzbar zu machen. Und natürlich
war das Theater mit seinem Sammelsurium an
Künsten und Kunstfertigkeiten ein geeigneter Ort
oder zumindest ein geeignetes Modell solcher
mediatisierter totaler Kunst.
Es kam.jedoch anders, und im Aufstieg des
Films ist genau eine solche medial vereinheitlich
te Kunst aus den vielen Künsten realisiert worden:
Regisseure, Bühnenarbeiter, Darsteller, Beleuchter,
Fotografen, Bühnenmaler und -bildner, sie ·alle
arbeiteten beim Film nur noch an einem belich
teten Streifen Celluloid, der also wegen und durch
seine medialen Eigenschaften die vielen Künste
in ein Objekt .einschmolz - und überließen das
Theater seiner natürlichen, disparaten Heteroge
nität.
Meanwhile im Lager der Bildenden Kunst:
Auch dort hatte naturgemäß der Aufstieg neuer
Bildmedien stark eingeschlagen. Wenn wir das
20. Jahrhundert grob resümieren, kann man sa
gen, dass dieser Aufstieg dazu geführt hat, das
Verhältnis von Ausdrucksmittel und Medien in der
Bildenden Kunst nach und nach völlig neu zu
DRAMATURG 1/2004
definieren. ln der Nachfolge von Duchamp und
vor allem seiner neo-avantgardistischen Rezepti
on in der Nachkriegszeit und in der Konzept
Kunst der Sechziger ist die Bildende Kunst dazu
übergegangen, Kunststatus und Kunst/Nichtkunst
Unterscheidungen eher in externen Spielregeln,
symbolischen Rahmungen wie dem White Cube
der modernistischen Galerie und in den sozialen
und wirtschaftlichen Bindekräften eines Kunst
Milieus zu situieren als in der traditionellen und
auch traditionell modernistischen Orientierung an
den eng miteinander verbundenen Darstellungs
mitteln und Medien in Malerei und Skulptur- von
alldiesen Definitionen und Lokalisierungen gibt es
normativ-optimistische und rein deskriptive, die
zum Pessimistischen tendieren. Ihnen gemeinsam
ist, dass sie alle sehr den ähneln, die das moderne
Theater auch in seinen Selbstbeschreibungen
äußert: den Status oder auch die Grenzen des Fore
mates machen Spielregeln und symbolische Übe
reinkünfte aus, an die systematische Stelle des
White Cube und seiner symbolischen Funktion
könnte etwa beim Theater die vierte Wand tre
ten. Obwohl natürlich diese beiden Übereinkünf
te viele Jahrzehnte der Übertretungen und wei
tere der Dekonstruktion hinter sich haben, ist
nicht nur ihre symbolische Virulenz wenig ge
schwächt, entscheidender ist," dass mit ihnen der
weder medienbezogene noch auf künstlerische
Mittel verweisende Versuch, Theater und Bilden-
. de Kunst über symbolische und soziale Verein
barungen als kulturelle Formate - und nicht als
Medien - zu beschreiben, sich _als .relativ erfolg
reich erwiesen hat. Natürlich gibt es wichtige
Unterschiede: Der Druck, den die Anwesenheit
eines Publikums erzeugt, ersetzt oder mildert das
symbolische Diszipiinierungsbedürfnis und die
Notwendigkeit, Grenzen symbolisch in die Rezep
tion einzufräsen, die in der Bildenden Kunst der
White Cube leisten muss. Weswegen auch dessen
Dekoristruktion attraktiver ist.
Wiederum bei.den gemeinsam ist aber, dass
man den symbolischen Vereinbarungen ein sozia
les Korrelat, ja ein Milieu zuordnet, einen kultu
rellen Resonanzraum, der die beiden Formate oder
Disziplin dann wieder- gerade durch ihre struk
turelle Ähnlichkeit -.stark unterscheidet und da
für sorgt, dass womöglich identische mediale.
Praktiken - z. B. in der Performance Art, in der
Bewegt-Bild-Installation -sich auf ganz unter
schiedliche milieu-interne symbolische Vereinba
rungen beziehen und folglich etwas völlig ande
res bedeuten und auch in völlig unterschiedlichem
Maße originell bzw. gut sein können. Dieser Bezug
DRAMATURG" 1/2004
der symbolischen Spielregeln auf die Milieus und
die ökonomischen Hintergründe ist auch insofern
keineswegs beliebig, als diese auf sehr spezifische
Weise die Hardware der symbolischen Regel. bilden
und ihre Genese beeinflusst haben: Weiß gestri
chener Galerieraum und die symbolische Archi
tektur des Theaters haben gewiss eine prä- wie
prolo-symbolische Vorgeschichte, eine sozusagen
historisch-materialistisch zu erschließende Dimen
sion jenseits ihrer bloßen Funktion bei der Orga
nisation und Distinktion symbolisch kultureller
Weiten. An ihnen lassen sich .auch die gesell
schaftlichen Gründe ihrer Genese noch erkennen,
der idealistisch weiße,.die Kontextualität zuguns
ten von Autonomie eindämmende, Sicherheit und
Asyl vor allzu großer Nähe zu den Bedeutungen
da draußen versprechende Raum ebenso wie
Bühne, Zuschauerräume und die ganze symboli
sche Architektur des Theaters als exemplarische
Öffentlichkeit un.d symbolische Wiederholung der
Ordnung der Weit. Der White Cube arbeitet mit
der Dialektik von Hereinlassen und Aussperren
von Weit, das Theater mit Wiederholung, Entzie
hung und Überbietung derselben.
Der nun schier unüberwindliche Graben zwi
schen den Milieus, eher ihrer sozialen Genese und
Reafität geschuldet als wesentlichen inhaltlichen
Differenzen, allenfalls der Differenz von überwie
gend staatlich zu überwiegend privatwirtschaft
lieh finanziert, dieser Graben der Kenntnisse,
Erfahrungen und Biographien täuscht also über
einen gewissen Bestand an Gemeinsamkeiten hin
weg. Man muss aber unterscheiden, dass die Bil
dende Kunst sich, indem sie sich der Medien-Dar
stellungsmittei-Engführung entledigte, einer tra
ditionell starken und wesentlichen Selbstbeschrei
bung entledigte, die nicht nur bis heute im Volks
mund überlebt, sondern auch viel mit ihrer öko
nomischen und kulturellen Herkunft aus dem
Handwerk zu tun hat. Dar.um wird die Geschichte
dieser Entledigung auch- übrigenskontrafaktisch
-immer wieder gern als eine von brachialen Para
digmenwechseln erzählt, in der Schlüsselwerke
(Urinoir, Flaschentrockner, Brillo Box, Art as ldea
as Art etc.) und5chlüsse}künstler (Duchamp, War
hol, Weiner etc.) heroische Rollen spielen. Hinge
gen scheint die Selbstverständigung des Theaters
als ein Bündel loser und erweiterbarer wie redu
zierbarer Praktiken unter dem Regime einiger
symbolischer Regeln eher nach und nach gewach
sen zu sein und ist- soweit ich sehen kann- nicht
an Kriegserklärungen und goldene Worte gebun
den. Entsprechend wenig gehört sie zur Verfü
gungsmasse der im Alltagsbewusstsein der Thea-
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termacher abrufbaren theoretischen Statements,
entsprechend. unklar und ungeklärt bleibt das Ver
hältnis zu neuen Medien. Es hat nie zur großen
Krise geführt, also führt es immer wieder zu klei
nen Krisen. Dafür gibt es eine andere sehr bewusste und
präsente Problematik im Selbstverständnis des
Theaters, und das ist die Nähe der neuen· Medien
zur Privatwirtschaft, zu kapitalistischer Konkur
renz, zu ökonomischen Prinzipien, die das ökono
mische Format- nämlich staatsabhängig und mit
telständisch - wenigstens des deutschen Stadt
und Staatstheaters gefährden könnten: Neue
Medien ·sind nämlich immer entweder sehr, sehr
billig oder sehr, sehr teuer - und das Stadtthea
ter liegt diesbezüglich sehr, sehr dazwischen -
genau in der Mitte zwischen Hollywood-Budgets
und alternativem Stadtteilaktivismus mit Net.Art.
Doch glaube ich auch nicht, dass diese Verspan
nung durch ein Konkurrenzgefühl zu jeder media
len Produktion, von einer von ihrer bloßen - ten
denziell mittelständisch produzierenden- Größe
nordnung des Theaters her, das zwischen medien
gestützter Ich-AG und Spektakelindustrie sich als
die falsche und überlebte Unternehmenssorte
erweisen könnte, nicht wirklich entscheidend zur
Verantwortung gezogen werden kann, für das
immer wieder aufflammende Krisengespräch über
zu viel (oder auch zu wenig) neue Medien im
Theater.
Denn wenn es darum geht, was an deren Ein
satz falsch wäre, wird man sofort eine ganze Reihe
von medialen Einflusstypen als konsensfähig und
für unbedenklich erklärt streichen. Als Thema und
Gegenstand sind sie kein Problem, als zitierte Aus
drucksmittel, die von einer medialen Realität in
die des Theaters überführt werden, auch nicht. Als
apparative Aufrüstung stören sie nur die, die auch
gegen tradit!one!!e Apparate für armes Theater· plädiert hatten. Ich glaube nicht einmal, dass
großformatige, das Bühnengeschehen nicht er
weiternde, sondern oft unterbrechende Videopro
jektionen wie sie in diesem Hause (der Volksbüh
ne) häufiger vorkommen, normalerweise ein Prob
lem wären, wenn sie stär".er mit der visuellen Kuli
narik des elektronischen Bildes arbeiten würden
- sie würden dann allenfalls aus Geschmacks
gründen abgelehnt oder als Exte~sion des Thea
terraums begrüßt werden, als neue Form des Büh- ·
nenbildes, nicht als Attacke auf den Bestand.
Dafür ist meiner Ansicht nach eine andere Ent
wicklung verantwortlich, und sie gilt es präziser
beim Namen zu nennen. Ich halte sie auch für
eine tatsächlich interessante.
Es geht nämlich nicht um Medien. Es geht
um ein Medium, es geht um Video. Es geht auch
nicht um jeden Einsatz von Video: Bühnenbild
nerische sind meistens unproblematisch, es geht
um Video in zwei Verwendungen. Zum einen
wären dies Videoprojektionen, die nicht als Ver
schönerungen oder Extensionen oder Metarefle
xionen des Bühnenraumes gelesen werden kön
nen; sondern sich als das Eindringen der schmut
zig-hässlichen Weit des Fernseh-Narrativ lesen
lassen müssen, und zwar auf einer produktions
ästhetischen Ebene, nicht als wohlfeiles Zitat. Zum
anderen ist es die Videokamera in unmittelbarer
Verschaltung miteinem beweglichen Akteur, nicht
im Sinne einer Thematisierung seiner Körperlich
keit- wie es sie im experimentellen Theater wie in
der Performance-Kunst seit Ewigkeiten und längst
kritisch durchgewunken gibt - sondern im Sinne
seiner Thematisierung als dramatischer Rollenträ
ger mit Kamera, als Mann mit der Videokamera:
im Sinne einer Karikatur des Mannes mit der Film
kamera und der an ihn in den zwanziger Jahren
von unter anderem seinem Erfinder, Dziga Vertov,
gesetzten Hoffnungen.
Beide Anwendungen sind tatsächlich Spezia
litäten dieses Hauses und nicht nur von Inszenie
rungen ihres Intendanten. Was aber macht ihre
Spezifik aus, in welcher Weise durchbrechen sie
den längst etablierten Konsens, dem Theater eine
prinzipielle lntermedialität im Rahmen seiner
symbolischen Spielregeln zuzugestehen? Wenn
man etwa in Hans Thies Lehmanns einflussreicher
Schrift über das postdramatische Theater liest,
was da über das Verhältnis jüngeren Theaters zu
technischen und elektronischen Medien gesagt
wird, fällt auf, dass Lehmann für ein Theater, das
mit elektronischen Medien arbeitet, synonym
·immer wieder den Begriff High-Tech-Theater ein
setzt. Das zeigt, dass elektronische Medien, auch dann, wenn das weder ökonomisc.h noch tech
nisch zutreffend war, immer als teuer und avan
ciert verstanden wurden, womit im Subtext die
implizite Kritik auch verbunden sein konnte, dass·
durch die Verwendung von High-Tech· die ästhe
tische Avanciertheil zu kurz kommt, denn sie wird
ja an die Technologie delegiert, nur die ist dann
avanciert. Weniger bekannt ist aber, dass technische
Medien heutzutage auch Low Tech sein können,
ja, da der nichtmediale Rest des Theaters tech
nisch nicht markiert ist, sogar die einzige Mög
lichkeit darstellen zu einem alltäglichen und ver
breiteten Mediengebrauch, jenseits der bloßen
Zitation, sich zu verhalten, der nicht mehr als
DRAMATURG 1/2004
ästhetische Bereicherung oder Konkurrenz sich
lesen lässt, sondern vielmehr als Kommentar zu
medialen und ästhetischen Verhaltensweisen der
Zeitgenossen fungiert. Dieser billige, aber mobile,
trashige, aber treffende Alltagsumgang mit der
Kamera ist die andere Seite der Spektakel
industrie, aber auch ohne sie nicht zu verstehen.
Dieser Umgang hat wenig noch zu tun mit den
aufklärerischen, an dokumentarische Formate
gebundenen Hoffnungen, die einst mit ihm ver
bunden waren, sondern steht eher für den unum
wunden hochbeschleunigten verwertenden
Zugriff auf Bilder von Lebendigkeit in alltäglichen,
kleinen Ausbeutungsverhältnissen. Gleichzeitig
sind mobile Videobilder auch eng verbunden mit
schnellen und kurzfristigen Ermächtigungseffek
ten, Kompensationen der eigenen Bedeutungs
losigkeit.
Es ist alsö auf den ersten Blick kein formaler
Aspekt dieses Mediums, der ausgestellten, beweg
lichen Videohandkamera, der zählt, sondern seine
enge Verbundenheit mit einer neuen Alltags
ästhetik und Alltagsperformativität der Low Cul
ture. ln den großen Videoprojektionen ist dies
auch entscheidend, wenn auch leicht verschoben.
Was an der großen Projektion während «Der Meis
ter und Margarita» etwa skandalisierte, war nicht
nur die Länge und Ununterbrochen heil, die ihr
zugebilligt wurde, auch nicht, dass in ihr gesche
hen durfte, was sonst so selten geschehen darf,
dass eine Erzählung unumwunden voranschreiten
konnte und der Bühne das Drama wegzunehmen
drohte: Als hoch auflösende Videoinstallation
oder als 35mm-Film wäre das kein Problem gewe
sen. Der Skandal bestand darin, dass es sich um
eine Fernsehübertragung aus Golgatha handelte,
keine Bill-Viola-Feierlichkeiten, sondern eine in
jeder Kamerabewegung erkennbare RTL-11-Ästhe
tik.
Diese mit der Videokamera und -Projektion
entstandenen Indices gesellschaftlicher Wirklich
keit entwickeln dennoch auch einen formalen,
theaterästhetischen Vorschlag zum Status von
elektronischen Medien: Diese muss man sich näm
lich im Theater als Ausdrucksmittel vorstellen so
wie andere auch. Da sie nicht mit dem Theater
zusammenfallen, sondern nur, wie so viele ande
re Ausdrucksmittel auch, sich zu einer Aufführung
hinzuaddieren dürfen, müssen sie so behandelt
werden wie die anderen. Denn das Theater ist kein
Medium, es nimmt nur Medien als Ausdrucksmit
tel auf, nicht als Medium. Eine Aufführung wird ja
nicht zum Videofilm, sie bleibt eine Aufführung.
Aus diesem Grunde ist nicht die ästhetisch-onto-
DRAMATURG 1/2004
logische Seite im elektronischen Medien im Thea
ter interessant wie bei der Bildenden Kunst, die
sich komplett reddinieren musste, nachdem ihr
mediale Konkurrenz erstanden war. Es ist nicht
interessant, wie und ob elektronische Medien die
formalen Rahmenbedingungen des Theaters
grundsätzlich erschüttern. Es geht eher darum,
inwieweit ihnen als Mitteln dieselbe kenntnisrei
che Sorgfalt entgegengebracht wird, wie anderen,
konventionellen Ausdrucksmitteln: D. h. sie sind
nicht sauber, geschichtslos, mechanisch, formal.·
An ihnen kleben Verwendungsgeschichten,
metonymische Inhalte, mediengeschichtliche
Katastrophen und Epiphanien, aber vor allem All
tagsrealität Dies sind die Maschinen, mit denen
die Subjekte ihre Freizeitarbeit verrichten. Sie
sprechen ihren Dialekt. Man muss mit ihnen·
umgehen wie mit Sprechweisen~ deren Geschich
te, Manieriertheiten, Abgedroschenheilen etc.,
unter Umgehung der üblichen Fallen wie reiner
Naturalismus, reine Distanzierung etc. Doch schon
der bloße Anblick einer Kamera, nicht erst des Bil
des, das sie erzeugt, kann brüllend komisch sein.
Dann erst, wenn man sich klar macht, dass
z. B. Video nicht nur dann Low tech ist, wenn man
billige und in Arbeitslosenfamilien und Privat
fernsehproduzentenklitschen verbreitete Formate
verwendet, sondern dass es ein gesellschaftlich
verworfenes Medium ist, das im Zweifelsfall
immer dann verantwortlich gemacht wird, wenn
Jugendliche verrohen, ihre Eitern verblöden und.
alle bis an den Rand oversexed sind - obwohl all
die vermeintlich von Horror-Videos verführten
Schlitzkiller und Amokläufer meistens Fernseh
und Kinokopien gesehen haben -dann erst, wenn
die Verwendung des Mediums durch seine gesell
schaftlichen Images, seine Rezeptions- und seine
Technikgeschichte hindurchgegangen ist, dann,
ja dann kann man auch den Bühnenraum ganz
konisch öffnen, 360-Grad-Zuschauerräume ent
wickeln und die formalen, architektonischen, phy
sischen, ja dramaturgischen Möglichkeiten dieser
Augen-Prothesen nutzen - und schließlich sogar
die symbolischen Sicherheiten ein bisschen er
schüttern, die beim Theater immer jede mediale
Bestimmung überlagern und dominieren. Der
Mann mit" der Videokamera erhält dann in der
doppelten Verneinung seines alten utopischen
Vorfahren ein bisschen von seinem Realismus
Versprechen zurück. 111
7
8
ln der auf Diederichsens Vortrag folgenden Diskussion
meldete sich der Chefdramaturg der
Volksbühne Carl Hegemann
folgendermaßen zu Wort:
Was bewirkt die Kamera auf der Bühne bei den Schauspielern?
Von Carl Hegemann
Mit diesem Videomedium beschäftigen wir
uns an der Volksbühne offensichtlich, um
etwas zu haben, woran wir uns abarbeiten können
und was nicht nurirgendeine Art von Perfektion
ins Theater bringt, die Menschen nicht entspricht
oder noch nicht entspricht. Wir haben lediglich
damit mal in Gedanken experimentiert, als wir
dieses «Lasst uns Menschen machen» anfingen,
diese Elementarteilchengeschichten, wo Gentech
nologie und digitale Technologie plötzlich eine
Einheit bilden. Da haben wir festgestellt: Wir wol
len damit nichts zu tun haben. Jedenfalls Castorf
können die ganze Gentechnologie, alle medialen
und digitalen Perfektionsapparaturen gestohlen
bleiben. Dem geht es darum, das Medium, das er
zu Hause stehen hat. den Fernsehapparat, mit sei
ner eigenen künstlerischen und ästhetischen Pra
xis zu konfrontieren, so dass er es auf irgendeine
Weise bearbeiten kann und in der Hand hat. Das
ist erst mal. der Ausgangspunkt.
Jetzt passiert auf der Bühne allerdings etwas
Bemerkenswertes, was.sich wirklich völlig davon
unterscheidet, dass man ein Transistorradio auf
die Bühne stellt oder irgendwelche anderen
Gegenstände, die man aus der Weit auf die Bühne
stellt. Das Interessante ist ja zunächst mal, dass
sowohl der Fernsehapparat als auch die Kinolein
wand per Definition für sich stehen. Wenn ich
Fernsehen gucke, dann gilt das Wohnzimmer
nicht, dann gilt nur dieses Display. Alles andere
wird ausgeblendet. Auch bei der Leinwand, in dem
Moment, wo das Licht ausgeht. ist das Kino weg,
und ich versetze mich in das Kinobild. Wenn ich
die Leinwand oder den Fernseher aber auf die
Bühne stelle, gibt es einen Statuswandel der Lein
wand oder des Fernsehapparates, weil sie zum
Requisit werden. Sie sind plötzlich in einem Kon
text. Die Leinwand steht in einem Kontext. da
durch wird das Bühnenbild zur Installation. Das
scheint mir ein wichtiger Vorgang zu sein, der von
den Kritikern kaum wahrgenommen wird, dass der
Status dieser Leinwand im Theater ein völlig ande
rer wird, sie wird nämlich miteiner Umwelt kon-
frontiert. Und dieses Phänomen wird natürlich
noch potenziert, wenn auf dieser Leinwand und
auf diesen Fernsehern zu sehen ist, was um sie
herum stattfindet. Dann kann man sich über die
Effekte unterhalten, die das auslöst.
Der wichtigste Effekt für Castorf ist zur Zeit
- bei seiner letzten Produktion «Forever Young»
kurioserweise das Dokumentarische. Nicht Fernse
hen als Manipulationsmedium, das interessiert ihn
gar nicht. Ihn interessiert die Möglichkeit, dass der
Mann mit der Videokamera die Füße von Kathrin
Angerer filmt und dass die dann sagt: «Ich will
nicht, dass du meine Füße filmst, weil die häss
lich sind.» Und Wuttke sagt dann: «Ach, hast du
bei deinen tollen Filmen immer ein Fußdouble
gehabt?!» Und man sieht dann die Füße wirklich
und kann sich selbst über die Kamera ein Bild
machen, wie hässlich diese Füße sind.
Castorf geht in seinem Zynismus, den ich
aber wirklich für einen sehr reflektierten Zynismus
halte, so weit zu sagen: Mit Hilfe der Kamera kann
ich die Schauspieler so zeigen, wie sie sich selbst .
nicht sehen wollen. Das ist unser möglicherweise
infames Bedürfnis, die Möglichkeiten von Thea
ter mit Hilfe des Mannes mit der Kamera auf eine
Weise zu erweitern, dass die Schauspieler nicht
nur so gezeigt werden können, wie sie sich sehen
wollen, sondern auch, wie sie sich selbst nicht
sehen wollen. Dadurch kommt natürlich eine Ehr
lichkeit oder ein dokumentarischer Charakter von
Menschenschicksalen in die Produktion rein, die
das herkömmliche Theater überwindet. Deshalb ist
die Benutzung dieses Mediums Video im Theater
etwas völlig anderes als eine Illustration oder
Dokumentation durch Bilder, vielmehr kann man
gleichzeitig das Illusionäre sehen, das das Theater
herstellt und wie es durch den Blick des Mannes
mit der Kamera unmittelbar gebrochen wird.
Wenn man diese beiden Positionen vergleicht und
sich die Möglichkeiten anguckt. die da rauskom
men, kommt man zu dem Schluss, das das neu ist
in der Geschichte. Man kann nämlich mit Hilfe
dieser Kombination der Au.sdrucksmittel Theater
DRAMATURG 1/2004
'·
und Videomedium etwas schaffen, was es weder
in dem einen noch in dem anderen gibt. Es geht
um das erstaunliche Phänomen in der Verwen- ·
dung eines in den letzten fünfzig Jahren erfun~
denen Requisits im Theater. Damit verändern sich
Grundverabredungen des Theaters, von denen
man dachte, sie bleiben 2500 Jahre die gleichen.
Und alles Avantgardistische und alles Experimen
telle im Theater dient nur dazu, diese Grundver
abredungen letztlich zu bestätigen.
Eine Grundverabredung des Theater ist. dass
es Schauspiel ist, dass die Schauspieler auf eine
Bühne erhoben sind, so dass die Leute sie sehen
können. Und dass sie möglichst alles, was sie
spielen, so machen, dass das Publikum sie am
besten sehen kann. Die Aufgabe des Regisseurs
besteht im Grunde genommen in nichts ande
rem als dafür zu sorgen, dass die Schauspieler
sich nicht gegenseitig die Sicht nehmen. Und
jetzt kommt Bühnenbildner Neumann - das fing
an mit «Endstation Sehnsucht» - und baut ein
vollkommen geschlossenes Badezimmer und
sagt: Dann hört man die Schauspieler eben nur,
die drin sind. Dazu sagt Castorf, dass er das nicht
machen kann. Neumann meint, die Tür ist auf,
man kann doch durch die Tür gucken. Castorf
sagt nein, das widerspricht allen Grundverabre
dungen des Theaters. Bert Neumann wollte als
Experiment mal probieren, die vierte Wand nicht
zu beseitigen, sondern sie komplett zu schließen
und zu gucken, was passiert Er hat immerhin
noch extrem große Fenster eingebaut und dann
auch Mikr.ophone. Castorf wollte fast alles im
Badezimmer spielen lassen und dann kam der
geniale Gedanke (vor Big Brother): Wir stellen die
Kamera da rein. Und damit war es möglich, eine
grundlegende Theaterverabredung darin wirklich
zu verletzen und gleichzeitig mit Hilfe dieses
anderen Mediums auf eine Weise wieder zu
erfüllen, die einen besonderen Effekt hat. Und
das scheint mir eine Schlüsselstelle zu sein, die
völlig anders ist, als wenn irgendwelche japani
schen oder wild gewordenen oder schlingensief-
DRAMATURG 1/2004
mäßigen Theatergruppen zum Beispiel die Zu
schauer einsperren.
Man kann das einmal machen, um die Regel
zu zeigen: Zuschauer müssen die Möglichkeit ha- .
ben, ein Theaterstück jederzeit zu verlassen. Und
so kann man auch. einmal die Bühne zumauern,
um die unausgesprochene Hintergrundannahme
deutlich zu machen: Eine Bühne hat einfach in
Richtung der Zuschauer offen zu sein, und sie hat
sichtbar zu sein. Man kann auch mal wie bei
Marthaler eine Szene im Dunkeln spielen lassen,
aber es hat immer nur die Bedeutung: Eigentlich
muss genug Licht da sein, damit die Zuschauer
auch sehen. Und jetzt plötzlich mit Infrarot
Kameras· kann man das alles machen, und der
Zuschauer muss nicht düpiert nach Hause gehen,
sondern kann etwas besonders Interessantes
genießen. Das ist, was eigentlich das Sensationel
le ist, wenn wir hier über Schnittstelle Theater
reden. Es ist da etwas reingekommen, was Dinge
möglich macht, die früher nur als Witz oder als
Experiment oder als Beweis, dass das nicht geht,
im Theater möglich waren, und die jetzt als
Erfolgsproduktionen möglich sind, jenseits eines
experimentellen Status.
Das kann man bei der Inszenierung von
uForever Youngn sehen, wo wir die Kamera einfach
auf eine Weise benutzen, dass man sich darum
keine großen Gedanken macht. Die Hälfte des
Stücks spielt live hinter der Bühne. Das ist natür
lich ·auch als eine Art von Verschwendung zu
sehen, das merken die Schauspieler und sagen:
Warum können wir nicht, wenn wir hinter der.
Bühne sind, Karten spielen gehen oder in die Kan
tine? Man kann dann doch einfach das Video von
der letzten Vorstellung zeigen. Das sagen sie aber
eigentlich nur als Witz, weil sie genau wissen, dass
das nicht geht. Die Sache mit dem Video auf der
Bühne ist keine Arbeitserleichterung, sondern mit
Sicherheit eine extreme Arbeitserschwerung und
eine größere Selbstpreisgabe der Schauspieler, als
wenn diese Kameras nicht da wären. 1111
9
Jan Linders präsen-. tierte am Freitagnach
mittag be"i «Schnittstelle Theater)) die
Videokünstler Chris Kondek, Ph Hip
BuBmann und Jan Speckenbach. Sein
nebenstehender Beitrag führt die
Präsentation weiter durch einen Beispiel
katalog.
Was alles video-technisch möglich ist
Von Jan Unders
Die Frage nach der Berechtigung von Video auf
dem Theater hat die Praxis beantwortet; sein
Einsatz ist längst nicht mehr bloßes Zeichen für
· Avanciertheit, sondern bewusst eingesetztes Mit
tel. Seitdem dieTechnikjedem Theatermacher zur
Verfügung steht, hat sich ihre Verwendung aus
differenziert und ein ästhetisches Repertoire ent
wickelt, das dem Theater neue Möglichkeiten der
Repräsentation und Narration eröffnet. Zu stu
dieren ist mithin die Form desjeweiligen Einsat
zes; eine unvollständige Anleitung dazu will die
ser Text geben.
ClOSED CIRCUIT ln Großbritannien ist die Video-Überwa
chung des öffentlichen Raumes bekanntlich
flächendeckend. Die walisischen Theatermacher
Mike Brookes und Mike Pearson spielten darauf
an, als sie am Mittag und am Abend desselben
Tages die behinderte Performerin Lyn durch·die
Straßen von Cardiff zum Chapter Arts Center tru
gen und die Route jeweils mit Video und Polara
ids dokumentierten. Am Abend präsentierte Mike
Pearson die Dokumente der Aktion dem Publikum
von «Carrying Lyn" (2001) im Arts Center in einer
Mischung aus «historischen" Tagesbildern und
aktuellen Bildern vom Abend, die ein Kurier mit
15-minütiger Verzögerung aus der Stadt in den
Saal brachte. Mit der Ankunft der Performer fie
len Dokumentation und Realität, Erzählzeit und
erzählte Zeit in eins. Die vortechnische, unmittel
bare Ursituation des Theaters war wiederherge
stellt, die beobachtenden Zuschauer waren wieder
von den Akteuren Beobachtete.
DELAY ln seiner Börsenhandels-Performance «Dead
Cat Bounce" (Hebbel am Ufer 2004) hat Chris
Kondek mit dem Delay-Effekt experimentiert. Ein
Time" und lnternet-«Echtzeit" für die Normalver
braucher kostbare Zehntelsekunden liegen. Vo
raussetzung für den Zuschauer ist es, die Bildpro
duktion (live) und die nicht mehr ganz simultane
Bildwiedergabe parallel verfolgen zu können.
Dann kann sich ein Darsteller mit seiner jüngsten
Vergangenheit rückkoppeln oder die eigene Zu
kunft voraussagen. Philipp Bußmann arbeitet in
«Decreation" (Regie: William Forsythe, Ballett.
Frankfurt 2003) mit der gleichen Technik, indem
er eine live aufgenommene Tanzbewegung im
Computer zwischenspeichert und mehr und mehr
verlangsamt abspielt.
INVISIBLE MODE Chris Kondek und Philipp Bußmann wissen
zu berichten, dass Elizabeth LeCompte, die Regis
seurinder Wooster Group, seit «Brace Up!" (1991)
Monitore auf der Bühne einsetzt, die nur für die
Darsteller sichtbar sind. Die auf ihnen laufenden
Filmausschnitte (meist B-Movies oder Fernseh
serien) dienen als «Bewegungsmatrizen" (Buß
mann) oder choreographische Souffleusen: Nah
·aufnahmen bringen die Darsteller an dfe Rampe,.
Schwenks nach links oder rechts, Totalen schicken
sie zurück.
LUMINANCE KEY Die Videotechnik kann Berge versetzen: Live
aufgenommene Darsteller können in vorprodu
zierte Hintergründe gestanzt werden. Chris Kon
dek ermöglichte es den Schauspielern von «Bei
Banküberfällen wird mit wahrer Liebe gehandelt»
(Regie: Stefan Pucher, Schauspielhaus Zürich
2003), sich auf künstliche Sofas zu setzen. Phi
lipp Bußmann kombiniert in ~>Hause I Lights"
(WoosterGroup 1999) Körperteile- durchWisch
blenden verbindet er die Übergänge.
Live-Bild wird ini Computer zwischengespeichert MEMORY STICK und wenige, aber entscheidende Sekunden spä- Die italienische Societas Raffaello Sanzio
ter wiedergegeben - so wie im elektronischen arbeitet seit 2002 an ihrer «Tragedia Endogonidia"
Börsenhandel zwischen professioneller «Real und entwickelt sie an jedem ihrer zehnSpielorte
10 DRAMATURG 1/2004
zwischen Avignon und Berlin (Hebbei-Theater)
weiter. Im Anschluss an die etwa einstündige Auf
führung sieht das Publikum im gleichen Saal als
Videoprojektion einen Zusammenschnitt der bis
herigen Versionen, die eine ver'!landte Handlung
mit anderen Mitteln erzählt haben. Erst durch die
sen (fakultativen) zweiten Teil des Abends wird
das Gesamtprojekt als Reihe von Metamorphosen
erfahrbar. Die aktuelle Aufführung hat sich in
Geschichte verwandelt; auf das noch frische Erin
nerungsbild wird ihre Vorgeschichte projiziert. Die
Tiefendimension der Bühne hat sich in die Dimen
sion der Zeit transformiert.
NIGHT SHOT Eine Videokamera kann für den Zuschauer
·unsichtbares sichtbar machen: nicht nur hinter
vierten Wänden («Erniedrigte und Beleidigte» und
Folgende, Regie: Frank Castorf, Video: Jan Spe
ckenbach; «Kammer Kammer», Video: Philipp BuB
mann). sondern auch an lichtlosen Orten. Video
kameras können im Gegensatz zum menschlichen
Auge auch den Infrarotbereich wahrnehmen. ln
«Frau unter Einfluss» (Prater der Volksbühne,
Reige: Rene Pollesch) lässt Chris Kondek die Kame
ra unter das Kleid einer Darstellerin schlüpfen. Die
deutsch-britische Performance-Gruppe Gab Squad
hat auf die «night shot»-Funktion der Kameras
ihre jüngste Produktion (Prater der Volksbühne
2003) aufgebaut. Eine Stunde, eine Kassettenlän
ge vor Vorstellu"ngsbeginn verlassen vier Darstel
ler mit vier Kameras den Aufführungsort und fil
men sich selbst bei ihrem Weg durch die nächt
liche Stadt zurück zum Theater. Dort werden sie
von den vorher instruierten Zuschauern begrüßt,
die sich dann einen vierfach parallel projizierten,
ungeschnittenen «Film» anschauen. Für dieses
«performance polaroid» regelt ein Toningenieur
die Geräuschpegel - und damit die Aufmerksam
keit, bis die Zuschauer sich selbst bei der nun eine
Stunde zurückliegenden Begrüßung der Darsteller
sehen. Theaterzeit und Realzeit waren um eine
Stunde verschoben; mit dem Auftritt der Darstel-
DRAMATURG 1/2004
ler zum Schlussapplaus fallen sie wieder zusam
men.
OLD MOVIE Naturgemäß erscheint jedes bewegte Bild
dem Zuschauer im Kontext seiner Sehgewohnhei
ten als Fernsehen (wenn erkennbar live produ
ziert) oder als Film (wenn vorproduziert). Mit
Video ist nicht nur die Live-Produktion vo"n Bil
dern möglich geworden, sondern die Filmge
schichte steht als Bildersteinbruch zur Verfügung.
Analog zu Eisensteins «Montage der Attraktionen»
kann der Videokünstler zum realen Bühnenge
schehen dialektische Bilder montieren; das Thea
terbild durch filmische Verweise vertiefen. Jan
Speckenbach spielt in einer Gartenszene von
« Forever Young» (Volksbühne Berlin 2003) einen
Ausschnitt aus «Apocalypse Now» zu. Chris Kon
dek nutzt sein Filmarchiv noch abstrakter, wenn er
in seinem Börsentheater «Dead Cat Bounce» ein
immer weiter galoppierendes Pferd als Endlos
schleife zuspielt, während die Darsteller darauf
warten, dass die Börsenkurse zu laufen beginnen,
PLAYBACK Vorproduzierte Film- oder Videozuspielungen
haben auf dem Theater häufig eine illusionistische
Wirkung; ein Live-Video wird vom Publikum dage
gen als dokumentarisches Mittel akzeptiert - als
hinter die Kulissen erweiterte Perspektive. Mit die
ser Perspektive kann die Videotechnik wiederum
spielen.
· ln «Frau unter Einfluss» (Regie: Rene Pollesch,
Prater der Volksbühne Berlin 2001) kombinierte
Chris Kondek Live-Bilder von Sophie Rois, die in
ein für die Zuschauer nicht einsehbares Blockhaus
abgegangen war, mit vorproduzierten Bildern
eines um den Tisch gejagten Kindes bzw. von Spa
ghetti essenden Bühnenarbeitern. Für den
Zuschauer rannte Sophie Rois in Schnitt und
Gegenschnitt ihrem Kind hinterher bzw. tischte
ihren Männern ein Essen auf- alle schienen glei
chermaßen das Blockhaus zu bevölkern.
11
12
ln «M.T.M.» (1994) errichtete die katalani
schen Performance-Truppe La Fura dels Baus eine
Mauer aus Pappkisten quer durch das stehende
Publikum. Die derart getrennten Zuschauergrup
pen bekamen zum Schein eine Live-Übertragu·ng
der jeweils anderen Hälfte zu sehen, auf der die
Darsteller einander durch die Menge jagten und
verprügelten. Jede Hälfte fühlte sich durch die
akustischen Reaktionen jenseits der Mauer
bestätigt; derart rückgekoppelt steigerte sich die
Illusion zur Evidenz - bis die Mauer fiel.
SLOW MOTION <de näher man ein Wort anschaut, desto fer
ner schaut es zurück»- der auratisierende Blick
eines·Karl Kraus lässt sich im Zeitalter der Video
reproduktion von der Literatur auf die Dinge len
ken. ln «Visitors Only» (Regie: Meg Stuart, Schau
spielhaus Zürich 2003) lässt Chris Kondek eine
Tasse in Zeit, Größe und Ton verzerrt au·f einer
Unterlage kreisen. Hier ist für die Wahrnehmung
unerheblich, ob diese Surreale Bildmetapher zuge
spielt oder tatsächlich vom Bildmischer vor dem
Orchestergraben live produziert wird.
STEADYSHOT ln Frank Castorfs Inszenierungen sind Jan
Speckenbach und die weiteren Kameraleute mehr
als kostümierte Techniker, doch führen sie den
Dialog mit den Schauspielern nicht auf derselben
Ebene, der Sprache, sondern mit der Kamera. Phi~
lipp BuBmann überlässt in «Kammer Kammer»
(Regie: William Forsythe, Ballett Frankfurt 2001)
und «Decreation» den ForsytheCTänzern selbst die
Kamera. Die Darsteller scheinen ihr Bild in der
Hand zu haben; die Bildproduktion wird in die
szenische Aktion eingebunden. Damit kehren sich
die Kräfteverhältnisse der Attraktion um: Weil
seine Produktion sichtbar wird, nimmt-das ein
äugige Kamera-Bild keineobjektivierende und
den Blick fesselnde Zentralperspektive mehr ein.
«Die Kunst besteht darin, das Video nicht zum
alleinigen Fokus zu machen», sagt Chris Kondek.
STROBE Noch befindet sich die Videotechnik in einer
stürmischen Entwicklung, mittlerweile weniger im
Bereich der Kameras als der Nachbearbeitung der
Bilder. Können sich zu Beginn eines Entwick
lungsschrittes jeweils nur große Fernsehanstalten
einen Trick leisten, so wird die Technik bald auch
für weniger finanzkräftige Anwender wie die
Theater verfügbar, Der Bildmischer «WJMX50» von
Panasonie ma~kierte Mitte der neunziger Jahre
einen solchen Sprung in der Entwicklung - und
damit der Ästhetik, denn die Videokünstler greifen
neue Mittel gern sofort auf. Zur Ausstattung des
MX50 gehörte der Stroboskop-Effekt, der den Ein
druck erweckt, eine Szene sei nicht mit 25 Bil
dern pro Sekunde, sondern wie mit einer alten
Kamera mit 12 oder 6 Bildern aufgenommen. Nur
jedes vierte Bild wird projiziert, allerdings viermal
hintereinander. Dadurch werden Bewegungen
ruckartig verfremdet- das Video bekommt einen
Kunstcharakter jenseits der grellen und flachen
Fernsehästhetik. Für die Wooster Group ist dieser
Effekt ein Markenzeichen, bislang taucht er in
. jeder ihrer Produktionen seit «The Hairy Ape»
(Wooster Group, 1995) auf, ob betreut von Chris
Kondek oder Philip Bußmann. Dieser entwickelte
· den Effekt in seiner Arbeit für «Decreation» wei
ter, indem er ihn mit live gesteuerten und damit
variablen· Slow~Motion Effekten und Samplings
kombinierte.
SUPERIMPOSING Mit ((Luminance Key)) oder ((Biue Screen)) wird
ein.Bild in ein anderes hineingestanzt Bilder las
sen sich aber auch, analog einer fotografischen
Doppelbelichtung, übereinanderlegen. Chris Kon
dek nutzt diese Technik in. seiner ersten Regie
arbeit «Dead Cat Bounce» raffiniert aus, indem er
zwei aus der gleichen Position aufgenommene·
Einstellungen von Schlitten fahre'nden Kindern
übereinanderblendet Der weiße Schneehinter
grund lässt eine passgenaue Überblendung zu, die
dem Zuschauer auch in der Zeitlupe nicht also sol
che auffällt. Seine Magie gewinnt der Trick, weil
eine Bildschicht dabei rückwärts läuft, so dass
auf- und absteigende Schlitten aneinander vor
beigleiten.
VIDEO PUPPET ln «Dead Cat Bounce» lässt Chris Kondek die
junge Lauren Bacall mitspielen, genauer: eine im
Computer in Einzelbilder zerlegte kurze Nahauf
nahme. Eine Darstellerin kann ihren Text optisch
synchronisieren, indem sie mittels einer Maus
Bacalls Mund Bild für Bild öffnet und schließt,
also zum Sprechen bringt. ln «Visitors Only» lässt
Kondek eine vorher aufgenommene Tänzerin mit
sich selbst tanzen - auch hier genügen wenige,
von Hand ansteuerbare Einzelbilder, um eine ein
mal gefilmte Sequenz zum immer leicht verschie
den ablaufenden leben zu erwecken. 1111
DRAMATURG 112004
Warum und wie man Kinofilme aufs Theater bringt
Aus der Diskussion
Was macht die Lust an Kinostoffen aus? Die
. Wahl von Kinostoffen, und seien sie noch so
speziell, hat vielleicht was damit zu tun, dass sie
von der Narration befreien. Was da an Fabel pas
siert, das ist fast schon voraussetzbar. Es reicht ein
Bild, ein Moment, eine Figur, und es gibt Anknüp
fungen, das heißt, es gibt mehr Freiheit für die
Gestaltung, weil man befreit ist von der Narration.
Es ist wohl nicht der simple Zulauf, den man
sich davon erhofft, dass die Leute den Film gese
h.en haben und jetzt ins Theater kommen. Viel
mehr gibt es Diskurse, diegeführt werden, nicht
umsonst haben sich ein paar Leute in Dänemark,
sonst nicht unbedingt das Filmland, zusammen
gesetzt und 1995 ein Dogma verabschiedet. Sie
haben sich mit Abbildungstechniken und Wahr
nehmungsweisen beschäftigt, und sie haben sich
mit Fragen beschäftigt, wie ·man sozusagen näher
rankommt an die Leute mit dem, was man
erzählen möchte. Und das ist ein zentrales Thema,
·mit dem man sich im Theater immer wieder
beschäftigen muss, um den Preis des Überlebens.
Wie erzählt man, wie kommt man näher ran,
außerhalb der gängigen Techniken? Da geht es
nicht um eine vordergründige Eventkultur, son
dern um die Frage: Wie kann man die Not ver
stärken und die Wahrheit vergrößern? Da werden
Diskurse geführt, und so sehr die Dogma-Leute in
den einschlägigen Feuilletons in Frage gestellt
wurden, hat man sich ja doch mit ihnen ausein
andergesetzt, zumindest die Leute, die sich mit
ästhetischen Perspektiven und Abbildungstechni
ken vertraut machen. Wie verlässt man die gän
gigen Übertragungsmechanismen, also wie kann
man die alten Keilriemen, die offenbar nicht mehr
imstande sind zu transportieren, kappen, und wel
che kann man installieren? Da ist man wie immer
. gezwungen, irgendwie aus dem System rauszu-
DRAMATURG 1/2004
gehen und die reine narrative Ebene aufzuheben.
Der Film «Das Fest» von Vinterberg geht sehr nah
an die Leute ran, im Nachhinein lässt sich sagen,
dass der Reiz für die Bühnenadaption darin liegt .
zu probieren, schafft das Theater das, weil es
näher dran ist, noch näher ran zu kommen? Man
kann behaupten, dass es das geschafft hat auf
Grund dieser notverstärkenden und wahrheitsver
größernden Wirkung, die das Theater in bestimm
ten Momenten haben kann, in denen nämlich
andere Entscheidungssituationen simuliert wer
den. Im Film bleibt die Geschichte der erzählte
Störfall - der Sohn überwältigt den Vater -, und
im Theater wird es zur empfundenen Entschei
dungssituation eines jeden Einzelnen.
Dieser beschriebene Mehrwert der Bühnen
adaption ist theatergemäß, dieses Zuspitzen und
Dramatisieren einer Filmvorgabe. Es stellt sich die
·Frage, ob diese Reibung mit den Wahrnehmungs
weisen des Films beim Übertragungsvorgang auf
das Theater erhalten bleibt, ob sie überhaupt noch
eine Rolle spielt oder ob sie durch den Adaptions
vorgang nivelliert wird. Im Bezug auf den Almo
dovar-Film kann man die Haltung einnehmen, dass
die Bühnenversion quasi ein Kammerspiel gewor
den ist, also eine sehr theateradäquate Form. Man
könnte sagen, es ist von der blanken Dramaturgie
her wie ein Stück von lbsen. Das Stück rekurriert
auf Theaterdramaturgien. Dann stellt sich natür
lich die Frage: Bleibt bei diesem Übertragungsvor
gang etwas von dieser produktiven. Reibung mit
der anderen Gattung, mit einer anderen Wahr
nehmung erhalten? Wie kann das gehen, dass es
nicht nur «eintheatert» wird und man eigentlich
nur den blanken Plot genommen hat?
Die junge Generation der Theatermacher ist
nicht mehr durch das Theater sozialisiert, sondern
Am 10. Januar nachmittags hieß das Thema: «Warum und wie man Kinofilme aufs Theater bringt». An der von Dagmar Borrmann und AnneSylvie 'König geleiteten
Diskussion waren unter
anderem beteiligt: Heike Müller-MEirten,Dramaturgin der Dresdner Produktion von «Das Fest» nach dem ·Dogma-Film von
Vinterberg, Hermann Wündrich, Dramaturg der Wiesbadener Inszenierung nach dem Film «Fessle mich» von Almodovar, Christian
Holtzhauer, Dramaturg von <<Außer Atem», der Präsentation von gleich sechs Inszenierungen
nach Kinostoffen in den Berliner sophien~ saelen. Im Folgenden geben wir charakteristische Bruchstücke cjieser Debatte.
.13
14
durch Kino und Fernsehen. Das, was sie an emo- Das Theater bietet allein aus Subventions-
tionalen und intellektuellen Prägungen aus dem gründen für Sound- und Videodesigner MÖglich-
Kino mitgenommen haben, versuchen sie ins keiten, Ideen aus Kino und Fernsehen umzuset-
Theater zu übersetzen. Das gibt dann ganz unter- zen -für das Geld kann man aber noch keinen
schiedliche Formen: Es entsieht ein verstaubtes Film machen.
Kammerspiel, oder es werden Auseinandersetzun-
. gen mit einer sich mit Wahrnehmungsfragen
beschäftigenden Filmästhetik geführt. Es scheint,
dass der Film die klassische dramatische Situation,
die Repräsentation des Publikums, also das Thea
ter, beerbt hat. Was der Film geschafft hat, von
der dramatischen Konstellation her, was ja ein
klassisches Bild von der Katharsis ist, dem versucht
das Theater wieder auf die Spur zu kommen.
Die Entwicklung der Dramatik zur Episierung,
zur Fragmentarisierung, wie sie auf dem Theater
stattgefunden hat, hat sich im Film nicht vollzo
gen. Dem stand Hollywood immer entgegen, die
haben immer geguckt, dass die klassischen Para-
. digmen der Dramatik bewahrt werden. Insofern
kann man sagen, das Theater holt sich im Moment
die Dramatik aus dem Film zurück.
Es scheint zwei unterschiedliche Herange
hensweisen im Umgang mit Film zu geben. Einer
seits werden Stoffe, Themen, Geschichten genom
men und dann versucht, eine Theater-Adaption zu
finden, indem man Themen reduziert oder sich auf
ein Grundmotiv konzentriert, oder versucht. einen
Diskurs mit zu thematisieren, aber sich doch auf
die Geschichte konzentriert und sie zuspitzt. Auf
der anderen Seite, wie in den sophiensaelen, wird
deutlich gesagt, die Filme funktionieren als eine
Art Folie, die setzen wir auch voraus, und rekur
rieren auf diese Folie ohne den Anspruch einer
. Komplettheit.
Die Konfrontation mit Film führt das Thea
ter auch zu einer ständigen Auseinandersetzung
mit ästhetischen Mitteln, zum Beispiel in der
Frage, wie bringt man Action-Szenen auf die
Bühne? Interessant ist auch zu beobachten, dass
diese Befruchtung wechselseitig passiert, nämlich
dass Film und Fernsehen im Moment versuchen,
Theatermittel einzubauen, zum Beispiel bei dem
Film «Dogville» von Lars von Trier. Beim ZDF wird
jetzt versucht, Live-Fiction zu machen, also Filme,
die in Live-Zeit spielen.
Auf die Frage danach, warum Theater auf
Film rekurriert, kann man auch sagen: warum
nicht? man muss sich davon befreien, dass Thea
ter mit einem Stück zu tun haben muss.
Es gibt auch eine Sehnsucht nach der Popu
larität der Wirkungsmechanismen, beziehungs
weise einen Neid auf die Verzauberung, mit der
Menschen aus dem Kino kommen.
Die wenigen Filme, die aufs Theater kommen,
haben alle eine gute Grundgeschichte. Natürlich
findet man das zum Teil auch bei Gegenwarts
autoren, aber vielleicht doch nicht oft genug.
Auch Theaterautoren beziehen sich heute
häufig- direkt oder indirekt- aufs Fernsehen, auf
den authentischen Trash. Theater ist eine unreine
Kunst und holt das Material daher, wo es will. Es ist nicht verständlich, warum das Zugreifen auf
Filmstoffe unter Bezug auf Prinzipien grundsätz- ·
lieh kritisiert wird. Da besteht eine Berührungs
angst, der Bezug auf Film wird als Stagnation und
Selbstaufgabe. bewertet. Film ist Material wie
anderes, jedes muss· gesondert behandelt werden,
fordert seine eigene Erzählweise, eine eigene
Ästhetik, aber um viel mehr handelt es .sich dabei
nicht.
Eine gute Umsetzung von Filmstoffen im
Theater ist immer auch eine Auseinandersetzung
mit Mythen. Das zeigt sich auch an der Bühnen
adaption von «Das Fest», da findet eine Umwand
lung statt, die Zuschauer werden Rollenträger.
Ansonsten wäre es ein normales Familiendrama,
nach der Enthüllungsdramaturgie gestrickt, dann
hätte man auch lbsen nehmen können. Etwas
anderes entsteht, weil der Zuschauer Entschei
dungsträger wird, da liegt der Fortschritt bezie
hungsweise die Chance. Im Theater kann es den
Störfall geben, den wir auch hatten, es gab Ein
griffe in die Aufführung. Die geplante Interakti
on ist nicht angestrebt worden, aber wenn jemand
einsteigen wollte, waren die Schauspieler auch
vorbereitet, damit umzugehen. Der Handlungs
notstand war so groß, dass es zu Zuschauerreak
tionen geführt hat.
Die Auseinandersetzung mit der Ästhetik von
Film führt auch zur Rückbesinnung auf die urei
genen Möglichkeiten von Theater und wird so zur
Bereicherung. l!!i
DRAMATURG 1/2004
Das Drama des Sehens
live-Video auf der Bühne oder die Politik des Blicks Von Thomas Oberender
Am Theater fasziniert u. a. der Versuch seiner
verschiedenen Akteure, ein Ereignis zu produ
zieren, das es durch sein Produzieren selbst
zugleich zu vernichten droht. Oft scheinen Dra
men oder Aufführungen darauf hinauszulaufen,
nur einen einzigen, sehr speziellen Moment zu
ermöglichen, in dem sich tatsächlich etwas «ereig
netn. Dieser Moment erscheint als jenes einma
lige Gelingen, in dem all das Geprobte und Ver
abredete am Spiel plötzlich umschlägt in ein
Moment von offenbarender Evidenz. Die eigent
liche Ambition jeder Kunst zielt wahrscheinlich
auf eben diese Herstellung von etwas auf kalku-.
lierbare Weise nicht Herstellbarem. Ich würde
diese spezielle Ambition als die Suche nach dem
provozierten «Ereignis» bezeichnen. Die Möglich
keit, von ihm zu sprechen, umgibt, wie Jacques
Derrida sagt, allerdings immer auch eine gewisse
Unmöglichkeit, denn die Einzigartigkeit des Ereig
nisses widersetzt sich der Wiederholbarkeit, die
doch die Voraussetzung ist, um darüber zu spre
chen.
Ich sehe mich sehen
diesem Punkt drängen sich Erinnerungen an Thea
terinszenierungen auf, d. h. an die simultane Prä
senz des Schauspielers als Person und ihr Bild auf
der Bühne. Es drängt sich aber auch die Erinne
rung an intelligente Bomben auf, an Paul Virilios
Interesse an der Echt-Zeit-Technologie des mo"
dernen . Krieges, die grau-grün schimmernden
Videobilder .vom Anflug der sich selbst steuernden
Waffen auf ihre Ziele,:denn auchhier kommt die
ser Aspekt der Videotechnologie zu sich - Aktion
und Reaktion fallen zusammen, und dem Phäno
men des ((Ereignissesn kommt man hier somit sehr nahe.
Das Video erlaubt es also als Technologie,
dass wir uns ein Bild von unserer eigenen Aktua
lität machen, wobei das Bild selbst zum Teil die
ser Aktualität wird. Das Videobild wird so zu einer
in die Realität eingebetteten Rückkopplung ihrer
selbst. Dies verdeutlicht z. B. die Erinnerung an
jenen Moment, da man sich selbst zum ersten Mal
in der Geschäftsauslage eines Hifi-Ladens auf
einem Fernsehschirm entdeckte, aufgenommen
von einer verborgenen Kamera. Der Passant auf
der Straße, das war man selbst; und diese Ent
deckung bewirkt in der Regel eine Reaktion, selbst
wenn sie nur der kurze, kritische Blick auf den
Der «Große Brockhaus» vermerkt unter dem Bildschirm ist, der einem zeigt, wie man wirkt,
Stichwort «Video»: abgeleitet lateinisch «ich sehe». unabhängig davon, wie man sich selbst fühlt. Die-
Interessanterweise verweist der Begriff Video als ses triviale Beispiel führt dicht an die lateinische
Sammelbezeichnung für die Aufzeichnung und Herleitung des Begriffes Video heran, denn jenes
Wiedergabe von Bildern ausgerechnet auf ein Ver- «ich sehe» heißt zugespitzt: «Ich sehe mich» oder
fahren, auf dessen Trägermaterial man- vielleicht noch genauer formuliert: <<Ich sehe mich·sehen»c
erstmals in der Geschichte des Bildermachens -
nichts sieht. Das Video, um mit einem Vergleich zu
sprechen, ist eine Art optisches Tonband, und sein
großer Vorzug ist, dass ich sofort sehe, was «ich
sehe». Die prompte Verfügbarkeil des Bildes
erlaubt, dass es sich an den Augenblick seiner Ent
stehung erstmals dicht und direkt ankoppelt und
sich ihm sogar einschmiegen kann.
Mit dem Video kann das Bild erstmals Teil des
Augenblicks werden, in dem es entsteht, denn es
ist sein Live-Zeuge und, mehr noch, in Echtzeit
sogar sein Reagenz, sein Bestandteil. Schon an
DRAMATURG 1/2004
Der transitorische Charakter
des Videos
Es lassen sich,-wenn man über das Video und
sein Erscheinen auf dem Theater nachdenkt, zwei
grundsätzliche Einsatzformen auf der Bühne un
terscheiden: die Einspielung und die Live-Produk
tion. Die Einspielung zeigt das Video von seiner
dem Film verwandten Seite, nämlich als Einspie
lung von vorproduzierten Filmen. Das Video in
ln der SchlussdiskusSion , zum Thema «Schnitt* stelle Theaten> am 11. Januar vormittags gab es gleich zwei Referate. Hier das erste von Themas Oberender, Autor und Chefdramaturg des Bochumer Schauspiel~ hauses.
15
16
diesem Sinne ist der arme Verwandte des klassischen Films, den es als Videokopie oder Mitschnitt anderer Aufnahmen reproduziert. Im Grunde erle
. benwir das Video hier in einer Verwendungsform, die z. B. schon Erwin Piscalor mit dem traditio.nellen Medium des Films realisiert hat. Das Video aufdem Theater erscheint in der Regel vor allem als Video-Kopie. Einen Unterschied zur Verwendung von Filmen, abgesehen vom Kostenaspekt und der Verfügbarkeit, gibt es bei diesen Einspielungen nicht.
_ Interessanterweise wird im Original professionell auf Video ugefilmt», was billig und schnell produziert werden muss- z. B. Musikvideos, Soaps und Pornos. Diese Produktionen haben einen extrem transitorischen Charakter, ihre Vergänglichkeit ist ihnen eingeschrieben, sie werden gemacht, um ersetzt zu werden. Videoproduktionen in diesem eigentlichen Sinne schufen einen ästhetischen Bereich, in dem sich Kunst und Nichtkunst, Können und Dilettantismus, Fake und Authentizität, Spontaneität und Marktkalkül, Experiment und Ambitionslosigkeit frei begegnen. Was wäre Pop ohne Popvideos. Ohne Video kein
. Trash, keine uLindenstraße» und kein - im wertschätzendsten Sinne: Rene Pollesch. ln dieser Hins_icht hat die transitorische und demokratische Kultur des Videos auf der Bühne enorme Spuren hinterlassen.
Will man das Video dergestalt zum kulturellen Leitmedium erheben, so drängt sich der zweite Aspekt auf: die Live-Produktion von Videobildern auf der Bühne. Sie soll im Folgenden näher betrachtet werden, und ich werde versuchen, zwei Typologien des Live-Einsatzes von Videobildern zu beschreiben.
Mehrfachpräsenz
Die Live-Produktion von Bildern fasziniert auf der Bühne unter anderem deshalb, weil die Echtzeit des gefilmten Geschehens via Leinwand eine zweite, rivalisi.erende Szene auf der Szene eröffnet. Die erste Inszenierung, in der ich den Einsatz von Video in diesem Sinne erlebt habe, war Fred Kelemens Aufführung uDesire» nach Eugen O'Neills uG'ier unter Ulmen» im Prater der Berliner Volksbühne 2001. Bert Neumann hatte als Einheitsbühnenbild für die gesamte Spielzeit ein Westernfilmset geschaffen -ein Farmerhaus stand inmitten einer Kakteenwüste, im Hintergrund prangte eine große Leinwand, auf der klassische Kinobilder der Landschaft und Umgebung eingespielt wurden. uAuf der Bühne», so
beschrieb es Bernhard Groß in seiner bemerkenswerten Rezension der Aufführung, usitzen, in gelblich warmes Licht getaucht, der junge Eben und sein Stiefbruder Peter an der Seite des Holzhausesc Peter schwärmt vom goldenen Himmel im Westen, während auf der Leinwand weiter Acker und Wolkenhimmel zu sehen sind. Er will weg nach Kalifornien, anstatt sich weiter von seinem alten Vater ausbeuten zu lassen. ln der Gleichzeitigkeit von Leinwandhimmel, warmem Bühnenlicht und Peters <goldenem Himmel> konkurrieren Bühne und Film um das richtige Bild.»
Über dem Giebel des Holzhauses war zudem eine zweite Leinwand wie eine moderne Werbe-. fläche befestigt. Auf ihr zeigte Fred Kelemen als Live-Übertragung oder Einspielung vorprodu-. zierter Sequenzen die Vorgänge, die sich im fnneren des Hauses abspielten. Diese Übertragung war von zweifacher Natur: Der rohe, provisorische, an Privatvideos erinnernde Charakter, der die Inszenierung dieses ukleinen Fernsehspiels» im Inneren des Hauses kennzeichnete, verstärkte den Einbruch in die intime Weit der
·Figuren .durch die Veröffentlichung ihrer Rückzugsräume. Aber der Regisseur geht einen Schritt weiter: Nachdem Abbi, gespielt von Kali Angerer, ihre Intrige begonnen hat, die darauf beruht, dass Vater und Sohn sie begehren, verschwindet sie als ureale» Bühnenperson und erscheint fortan nur mehr als die begehrenswerte Frau auf der Leinwand. So verlagerte sich die Spannung zwischen den Figuren nun auf das Spannungsverhältnis zwischen Leinwandgeschehen und dem Geschehen auf der Bühne.
Das Drama des Sehens
Das Video als ein Observations- und Dokumentationsmedium, das uns vom Bankautomaten bis zum Flughafen immer auf der Spur ist,. zeigt sich hier von seiner anderen Seite: als verführerisches, unser Begehren bann·endes und erweckendes Medium. Die Projektionen, die O'Neills Figuren von sich auf andere schließen lässt, überträgt Fred Kelemen in ihre Selbstbespiegelung durch Filmbilder. Dieses Drama des Narzismus' hat im Video sein ideales Medium gefunden: uDas eigene Ebenbild als Filmbild vor Augen», um noch einmal Bernhard Groß zu zitieren, ukann Eben Abbie ein Kind machen, das offiziell Ephraims ist, und sie töten, nachdem sie das Kind getötet hat. Als Abbie schließlich live, in einer ihre Züge verzerrenden Großaufnahme von der Leinwand herunter zu
DRAMATURG 1/2004
Ephraim auf der Bühne spricht, der klein und arm
selig das übermenschlich große Bild seines Begeh
rens ansieht, entsteht für den Zuschauer schlag- .
artig die unheimliche Beklemmung, die die eige
nen, befremdlichen Wunschbilder auslösen kön
nen.» Kelemens Dramaturgie schuf durch die
Mehrfachpräsenz des Bühnengeschehens, in dem
sich das Spiel auf der Bühne mit Einspielungen
und Live-Übertragu.ngen mischte, eine Schwellen
situation zwischen nah und fern, Anwesenheit
und Abwesenheit, Direktheit und lndirektheit,
narzistischer Selbstbetrachtung und observieren
der Fremdbeobachtung. So entwickelte das Ge
schehen auf der Bühne einen Freiheits- und Ver
dichtungsgrad, der in solcher Form neu und den
noch genuin theatralisch wirkte.
Das Video, so zeigte auch Frank Castorfs Ins
zenierung von Dostojewskis «Erniedrigte und
Beleidigte», erze'ugt Bilder in Echtzeit und spaltet
die Echtzeit in zwei simultane, in sich jedoch kom
plette Zustände, die miteinander rivalisieren und
sich im Falle dieser Aufführung nicht «ergänzen»,
sondern kontrastieren. Die Reaktion der Leinwand
auf das Bühnengeschehen macht bewusst, dass
das Sehen des Zuschauers einer Entscheidung
gleichkommt, die seine spezielle «Wahrheit» oder
«Wirklichkeit» erst produziert. Wie die Bühnenbil-·
der von Bert Neumann, der das Geschehen in
geschlossene Räume verlegt, von wo es nur durch
die Video-Übertragung sichtbar gemacht werden
kann und der das Puqlikum in eine Situation ver
setzt, in der es grundsätzlich nur ausschnittshaft
erblickt, was da passiert, genauso verweisen auch
die Live-Bilder des Videos darauf, dass das Sehen
ein aktiver und in gewissem Sinne «welterzeugen
den> Vorgang ist. Die Bühnenbilder von Bert Neu
mann und ihre simultane Konkurrenzbühne des
Live-Bildes erinnern den Sehenden an sein eigenes
Sehen und dramatisieren somit das Sehen selbst.
Dieses Drama des Sehens, das die Aufführung
prägt, korrespondiert dabei inhaltlich mit der als
existenzielles Drama erlebten Weltanschauung
von Dostojewskis Figuren. Das «ich sehe» des Vi
deos bedeutet potenziell also ein «ich sehe mich
sehen», und diese explizite Dramatisierung der
Wahrnehmungsvorgänge antwortet auf das
implizite Drama des Stoffes- die Akteure stehen
der Weltnicht mehr souverän gegenüber, sondern
erleben ihr Schuldigwerden durch ihr pures ln
der-Welt-Sein. Das Live-Video veranschaulicht
diese Doppelnatur des Seins. Diese Problematisie
rung der Wahrnehmung und szenischen Präsenz
verleiht dem Video per se eine theatralische
Dimension.
DRAMATURG 1/2004
Da das Video kulturell einerseits für objekti
vierende, flächendeckende Observanz. steht und·
andererseits unser Begehren ins Bild setzt, siehe
MTV, siehe Pornografie, siehe aber auch Sam Tay
lor Wood, eignet sich das Video in besonderem
Maße für die Suche nach dem «Wirklichen», denn
seine ccEchtzeit)J und ((Profanität)) erlauben es ihm, zum Bestandteil des Ereignisses zu werden, das es
abbildet. Es dringt in Räume ein, in denen es sich
selbst wiederum vergessen macht. Durch sein Vor
handensein wird das Geschehen aber auf eine
. simultane Weise objektiv und subjektiv zugleich.
ln diesem Zwischenraum offenbart sich in Frank
Castorfs Inszenierung von «Erniedrigte und Belei
digte» der «Mensch». Aber nicht nur in dieser Ins
zenierung: Die Modellfaii-Wirklichkeit der klei
nen TV-Gesellschaften, die sich in den «Big Bro
ther»- oder «Superstan>-Labors der öffentlichen
Beobachtung aussetzen, zeichnet sich durch ein
sehr ähnliches Schwanken ihres inneren Zustands
aus, denn sie zeigen Menschen, die uns ihr sozia
les Überleben selbst- und beobachterbewusst
zugleich vorspielen. Sie leben unter den Bedin
gungen der Show, als wären die Zuschauer nicht
vorhanden, und die Zuschauer sehen sie leben, als
sei ihr Leben nur eine Show. Vor der Videokame- ·
ra ist das Verhalten der Probanden im gleichen
Augenblick sowohl öffentlich wie auch intim,
bestimmt von Kalkül und Authentizität, vom Geld
regiert und von der Seele getrieben, immerbeides,
immer unauflösbar das Jetzt des Erlebnisses und·
Antizipation von Wirkung zugleich. Zugleich
·erzeugen die TV-Labors «Offenheit» für spontane
Momente durch ihr Verfahren des räumlichen
«Einschlusses» - ein Verfahren, das an Bert Neu
manns Bühnenbilder erinnert. Wenn in diesen TV-
. Labors aus der Dauerspannung zwischen Konkur
renz und Gemeinschaftsbedürfnis, Ichgefühl und
Wirkungsinteresse immer wieder übersprungsartig
Einblicke in die Weiten und Abgründe der Kandi
daten aufblitzen, sind das letztlich exakt jene
Momente, um die es bei dieser medialen Dauerü
berwachung geht. Denn getestet werden nicht
einzelne, ablösbare Eigenschaften wie Kenntnisse
oder Sportlichkeit, sondern der Mensch selbst, als
totale Ressource. Dem entspricht der durch das
Video «durchsichtig» gemachte Schauspieler i.n
den jüngsten Inszenierungen von Frank Castorf,
wobei die Realität dieser Aufführungen der Effekt
unterschiedlichster Ambivalenzfelder ist: Gespielt
wird mit der authentischen Unschuld einer Lai
endarstellerin in einer professionellen Inszenie
rung ihrer Wirkung genauso wie mit der Interfe
renz von sinnlichen (Pornofilm auf der Werbe-
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18
fläche) und intellektuellen Reizen (Monolog an
der Rampe). Das Liv~-Video ist hier nur ein
Moment der insgesamt auf die Erzeugung von
simultanen Antagonismen angelegten Inszenie
rung.
Raumerfindungen
Bert Neumann hat Bühnenbilder entwickelt,
die ohne den Einsatz von Live-Video-Übertragun
gen nicht denkbar wären. Etwas hochtrabend for-·
muliert, ließe sich in diesem Zusammenhang auch
von einer «Raumrevolutionn der Bühne durch den
Einsatz des Live-Videos sprechen. Die forcierte
Intimität des Bühnenlebens jener Bungalow- oder
Neustadtbewohner entsteht durch unsere Beob
achtung ihrer Beobachtung ·via Kamera. Dabei
bedingen die Raumerfindungen für Inszenierun
gen wie «Erniedrigte und Beleidigten oder «Der
ldiotn zwar den Einsatz des Live-Videos, doch die
Bilder erzeugen diese Räume nicht, sie verschaf
fen uns lediglich einen Einblick in sie. Die Vide
obilder werden nicht bearbeitet und verfügen
über keine zusätzlichen Bildeffekte. Das Video
zeigt hier, was ich nicht sehen kann, und etabliert
eine unversöhnte Wirklichkeit neben der Wirk
lichkeit, deren simultane Wirkung aus ihrem alter
nativen und in sich autonomen Charakter besteht.
Es dissoziiert das Geschehen.
Ganz anders bei Matthias Hartmann - hier
erscheint das Video als integratives Mittel, das alle
Elemente auf ein Wirkungsmoment hin bündelt.
Matthias Hartmann schafft in diesem Sinne hoch
komplexe lntegrationskunstwerke, deren Wirkung
durch einen «geläuterten lllusionismusn besticht.
Romantisch sind dio;se Aufführungen im Sinne
von Friedrich Schlegel, da sie die Herstellung ihrer
Suggestionen vollkommen offen legen und selbst
bewusst auf die Künstlichkeil ihrer Realität ver
weisen. in Matthias Hartmanns Uraufführungen
von Albert Ostermeiers «Es ist Zeit. Abrissn und
«Deutschland, deine Liedern, in seiner lnzenierung
von Christian Krachts Roman «1979n und Falk
Richters Stück «Eiectronic Cityn (alle am Bochumer
Schauspielhaus) erschei.nt das Live-Video in Kom
bination mit filmischen Einspielungen und Pro
jektionen daher .im Wesentlichen als ein raum
schaffendes Medium, das eine Bühnensituation
erzeugt, die im herkömmlichen Sinne nicht her
stellbar wäre und auch keine eigene Existenz
besitzen würde. Die Leinwand wird zur dominie
renden Szene, die das gesamte, ihr vom Schau
spieler und Kameramann zugespielte· Material
absorbiert und auf einer höheren Ebene synthe
tisiert. So durchwandert in der Inszenierung von
Christian Krachts «1979n ein Darsteller die Villa
eines Millionärs, indem sein' eigenes Bild mit einer
anderen Aufnahme überblendet wird, die dadurch
entsteht, dass einer seiner Mitspieler vor den
Augen des Publikums eine Architekturzeitung
durchblättert, deren Fotografien von einem Ka
meramann aufgenommen und als Projektion zum
· architektonischen Raum der Wanderung auf der
Leinwand werden.
Matthias Hartmanns Uraufführung von
«Eiectronic Cityn führt dieses Prinzip weiter, indem
sie das Geschehen in eine Blue Box verlegt und
auf mehreren Leinwänden die live erzeugten Auf
nahmen der Schauspieler mit live produzierten
Illusionen realistischer Räume mischt, bzw. mit
Einspieltingen und Computersimulationen unter
legt. in der Blue-Box der Szenerie erlebt das
Publikum z. B., wie aus einer Frau, die auf einem
Stuhl sitzt und bis in Hüfthöhe von einem blauen
Schild verdeckt ist, auf der Leinwand plötzlich
eine Kassiererin hinter einem Serviceschalter wird,
über die ein Pulk wartender Kunden herfallt.
deren Gesichter von einem wandernden Kamera
mann auf der Hinterbühne gefilmt werden, .
während sie als Schauspieler, brav in einer Reihe
sitzend, zu sehen sind: So wird die Leinwand zur
integrierenden Szene, die das Geschehen auf der
Bühne und die Simulation von Bildern vereinigt,
wobei die Realität dieser Synthese mit dem Live
Geschehen ihrer Herstellung vor der Kamera in der
Wahrnehmung des Zuschauers rivalisiert. Einen
zusätzlichen Bruch erzeugt die Verwendung von
zwei Leinwänden, die diese Synthese wiederum
aus unterschiedlichen Perspektiven zeigt- z. B.
indem sie das Bild des Sehenden und das von ihm
Gesehene in simultanen Bildern separiert. Das von
dem Videoteam um Stephan Komitsch und Peer
Engelbracht erzeugte Live-Video-Bild erscheint in
diesem Zusammenhang als eine virtuelle Form der
Ausstattung und als Hyperszene. Der neutrale
Raum aus blauen Leinwänden definiert sich selbst
als Nullraum ohne eigene erzählerische Dimensi
on, der tatsächlich in einem ganz neuen Sinne
«bespieltn wird.
Dissoziation oder offene Synthese
Die hier betrachtete Form des Einsatzes von
Videobildern schafft also eine «Verspielten Realität,
die zeigt, wie künstlich sie erzeugt wurde, zeit
gleich aber anbietet, als «Offenen Illusion erlebt zu
DRAMATURG 1/2004
werden. Auch hier episiert der Einsatz von Live
Videos das dramatische Geschehen, aber in einer
ganz anderen Weise als in den Inszenierungen von
Fred Kelemen oder Frank Castorf. Um es paradox
zu formulieren: Matthias Hartmanns Inszenierun
gen wie «1979» und uEiectronic City» entwickeln
gerade durch den Einsatz einer so episierenden
Technologie wie der des Live-Videos eine eiserne
Hermetik, da die erzählerische Dimension des
Videos konkurrenzlos wird: Weder der Raum noch
das Spiel der Schauspieler haben eine «Realität»
neben jener, die erst durch das Video entsteht. Das
simultane Geschehen problematisiert sich nicht
gegenseitig, sondern ereignet sich grundsätzlich
im Hinblick auf die avisierte Synthese als Gesamt
wirkung. Dabei wird die Hermetik der Aufführung
nahezu unsichtbar durch die vollkommene Offen
legung ihres Zustandekommens: Der Techniker am
Videoschnittplatz sitzt hinter seinen Pulten mitten
im Publikum, der Kameramann und seine Assis
tenten arbeiten mit der Handkamera auf offener
Szene, und die Darsteller spielen offensichtlich
gleichzeitig mit sich und der Kamera.
Die gesteigerte Kontrollatmosphäre, die
durch den Einsatz von Video-Technik entsteht:
scheint die Freiheitsgrade im Spiel der Darsteller
dabei deutlich zu reduzieren; wobei sich die Frei
heitsgrade der Wahrnehmung insgesamt erhöhen.
Das Video schafft in den Inszenierungen von Mat
thias Hartmann jene Zentralperspektive, an der
das Schauspiel insgesamt ausgerichtet wird: Das
Bild und der zeitgleiche Prozess seiner Herstellung
ist von vornherein Fluchtpunkt der Inszenierung.
Innerhalb dieses Gefüges agiert der Schauspieler
funktional, weil er sich in die angestrebte Gesamt
wirkung einpasst und die kalkulierten Abläufe
befördert, ohne dass die Videoperspektive sein
Erscheinen im kontrastierenden Sinne problema
tisiert. Im Gegenteil: Aus der Perspektive des Vi
deos ist seine Darstellung·nur eine andere Form
von Einspielung. Das Gesamtgefüge der komple
xen und vielschichtigen Konstruktion funktio
niert, da die Spannungen und Risse innerhalb die
ser Abläufe, die sein eigenes Tun und die Wieder
begegnung mit seinem Bild auslöst, von den
Schauspielern nicht thematisiert werden, sondern
in die offene Synthese aller Komponenten mün
det.
Wie in. den Inszenierungen von Frank Castorf
thematisiert Matthias Hartmann in seinen Auf
führungen das Sehen: Der Endeffekt des Bildes
zeigt immer eine andere Wirklichkeit als die sze
nischen Details seiner Komponenten. Bei Matthias
Hartmann irritiert sich das Geschehen nicht selbst
DRAMATURG 1/2004
- vielmehr riegelt der Einsatz des Live-Videos die
Welt der Aufführung von den spontanen Erfah
rungen der Aufführenden vollkommen ab, um den
Blick des Zuschauers für das Nebeneinander ihrer
Elemente zu öffnen. Dabei demonstriert das Pro
zessieren der Inszenierung nahezu vollkommene
Transparenz - alles ist sichtbar und einsehbar
gemacht. Der Bühnenbildner Volker Hintermeier
hat für Aufführungen wie «Es ist Zeit. Abriss»,
«Deutschland deine Lieder» oder «1979» Installa
tionslandschaften gebaut, die alle Komponenten
des Bühnenbildes als Objekte offen ausstellen und
eben dadurch auf die Leinwand als Membran und
integrative Szene auf der Szene hinweisen. So zei
gen die Bühnenbilder in diesen Produktionen
keine sozialen, sondern mediale Räume ohne vier
te Wand: ln einem gewissen Sinne bleiben sie
uleer)) und entstehen, indem sie mit Images ((bespielt» werden.
Gelebter Kubismus und Vivisektion
Das umgekehrte Prinzip charakterisiert die
Räume von Bert Neumann - hier schließen die
Bühnenbilder die vierte Wand und erzeugen einen
Raum, der sich dem Blick nicht offen und trans
parent darbietet, sondern sich ihm zunächst ver
schließt. Was das Bühnenbild herzeigt, muss der
Zuschauer sich erarbeiten - im Verfolgen des
Geschehens auf der Bühne macht er eine Erfah
rung mit Distanzen, mit der grundsätzlichen Aus
schnitthaftigkeit des Gezeigten und seiner prin
zipiellen Unzugänglichkeit. Die Bühnenbilder von
Bert Neumann erzeugen eine eigene Form von ·
Realität, da sie auf einer <<Störung» des souverä
nen Blicks beruhen, z. B. durch eine Aufsplittung
der Perspektive in unterschiedliche Betrachtungs
winkel, die keine Verabsolutierung des Gesehenen
mehr erlaubt: Der Videokünstler Jan Speckenbach,
der in vielen der jüngeren Aufführungen von
Frank Castorf mitarbeitete, nannte dieses vom
Live-Einsatz des Videos mitgeprägte Verfahren
«gelebter Kubismus» - ich übersetze dies mit der
Entfaltung eines mehrdimensionalen Geschehens
in der Fläche und Simultanität des Bildes. Die
Bühne zeigt in diesem Falle unterschiedliche
Ansichten durch unterschiedliche Arten zu sehen
- der Endeffekt ist immer nur ein Patchwork von
Ausschnitten, nicht mehr generalisierbar, ohne
Totalität. Aus den perspektivischen Verwerfungen,
aus den Teilansichten und ihren Bruchstellen ent
steht vielmehr eine offene Gesamtsituation, die
keine Versöhnung zwischen ihren einzelnen Eie.-
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menten erlaubt. «Gelebter Kubismus» heißt in diesem .Falle die Simultancollage unterschiedlicher Betrachtungsweisen und das hart gefUgte Neben-. einander der so entstandenen Ansichten. Jan Speckenbachs Videoübertragung stellt daher die
. diskongruenten Aspekte unvermittelt nebeneinander und spaltet den Augenblick in seine dynamischen Komponenten auf.
Eine so hermetisch arbeitende Inszenierung wie Matthias Hartmanns Uraufführung von «Eiectronic City» bleibt gerade wegen ihres großen Aufwandes an episierenden Mitteln auf eine größtmögliche Reibungslosigkeit angewiesen, denn alle Störungen bedrohen die Illusion dieser romantischen, da auf ihr eigenes Zustandekom-
. men souverän hinweisenden lnszenierungsform. Störungen innerhalb der videogenerierten Situationserzeugung sind sehr unromantische Patzer. So wirken die Figuren in den offenen Räumen von Matthias Hartmanns Inszenierungen viel «eingeschlossener» als in den geschlossenen Räumen von Frank Castorf. ln einer Inszenierung wie «Erniedrigte und Beleidigte» wirken Störungen nicht zerstörerisch, sondern offenbarend, denn das handlungssimultane Video zeigt in dieser Aufführung die «andere Seite» ~es holt ins Bild, was, so Frank Castorf, die Schauspieler von oder an sich selbst
. nicht sehen wollen. Der Schauspieler wird hier durch die Livecam einer zweiten Prüfung durchs Videoauge unterworfen: Lügt er oder lügt er nicht? Die Videokamera verlängert so den Zugriff des «Systems» bis in die letzten Winkel und Nischen des Bühnenlebens und kreiert eine experimentelle Situation, in der.die Schwankungsbreite des Realen die Darsteller zu Probanden einer · zugespitzten, gesellschaftlichen Situation macht: Privatheil und Professionalität, Freiheit und Zwang, Lüge und Aufrichtigkeit, all diese Aspekte amalgamieren sich unauflösbar in einer Realität, die kein «Objektives» Außerhalb mehr kennt, das ihm ein Maß stiften könnte. Der durchsichtig
' gemachte Schauspieler Frank Castorfs, dem bei Matthia~ Hartmann die durchsichtig gemachte Bühne gegenübersteht, wirkt dabei, wie dort die Bühne, ungeschützter denn je - vorm Zoom der Objektive auf der doppelten Live-Bühne erscheint der Schauspieler bei Frank Castorf in einer We1se preisgegeben, die .dem traditionellen. Sprechtheater unerreichbar blieb. Jede noch von daher bekannte Schauspielerschinderei, jedes manisch eindressierte Chorstück und jede Nacktprügelei auf den Brettern der Bühne wirkt im Vergleich zur Vivisektion durch das Live~Video geradezu philantropisch, zahm und literarisch. Aber Frank Castorf
scheint genau diese forcierte Politik des Blicks auf uns selbst zum Ziel zu haben - hier wird sprichwörtlich mit anderem Einsatz gespielt, die Form schützt den Schauspieler zwar, aber unter den Bungalow- und Neustadtbedingungen wird alles zur Form, und somit wirkt das Spiel der Darsteller .in «Erniedrigte und Beleidigte» existenziell wie selten im Theater.
Selbstirritation und andere Wahrnehmungsverhältnisse
Der Begriff der «Störung» oder der Selbstirritation markiert also einen wichtigen Aspekt, wenn man von der episierenden Wirkung des LiveVideos, z. B. seiner Offenlegung des Gemachten, der Schaffung einer zweiten Szene auf der Szene und dem Oszillieren der Wahrnehmung, zu einer weiterführenden Differenzierung gelangen will. Während der geläuterte Illusionismus einer Aufführung wie «1979» in der Blue Box dank des Videos eine gesteigerte Suggestivität des Geschehens entwickelt, die sich der integrativen Wirkung des Live-Videos verdankt, dissoziiert das LiveVideo das Bühnengeschehen im Falle von Frank Castprfs Aufführungen und verstärkt speziell.die heterogenen Motive der Handlung, indem es deren selbstirritierenden Momente vergrößert.
Die Spaltung des Blicks
Abschließend sei auf einige Aspekte verwiesen, die beiden Typologien gemeinsam sind. Erstens: Der Einsatz des Live-Videos markiert die wahrscheinlich konsequenteste Ausformung des Phänomens «Regietheater», denn hier wird der Regisseur vollkommen zum Autor eines in seiner Komplexität nicht mehr anders notier- und denkbaren. Geschehens. Zweitens: Zugleich, und dies wirkt womöglich paradox, verdanken.sich diese Entwicklungen auch einer neuen Raum- oder besser Realitätskonzeption des Bühnenbilds. Mir scheint. dass für Aufführungen dieser Art- die Wooster Group hat dies seit den frühen achtziger Jahren demonstriert -, keine traditionellen Bühnenbilder entstehen, sonderngenerative Rauminstallationen. Der Bühnenraum bildet nicht ab und baut nichts nach, sondern schafft eine eigene Realität, die hochgradig und aktiv beobachterbec wusst ist. Drittens: Das Live-Video scheint eine Dramatisierung epischer Stoffe zu ermöglichen, die sie sich nicht mehr personalisieren lassen. Die
DRAMATURG 1/2004
Romanadaptionen Frank Castorfs und Matthias
Hartmanns erschienen, würde man sie um die
Komponente des Videos berauben, merkwürdig
unterkomplex, denn der dramatische Reiz dieser
Aufführungen beruht zu weiten Teilen nicht auf
der Spannung zwischen Figuren, sondern zwi
schen Figur und Leinwand. ln diesem vom Live
Video neu erschlossenen Kräftefeld ist der Schau
spieler ganz offensichtlich nicht nur Subjekt, s.on
dern auch Objekt, und somit werden auf der
Bühne plötzlich andere, abstrakter wirkende Kräf
te des Sozialen darstellbar, für die der Roman mit
seiner epischen Darstellungsweise und seiner Frei
heit, zwischen den Zeiten, Orten und Perspekti
ven frei wa.lten zu können, prädestiniert ist. Das
Live-Video erzeugt ein Klima des vagabundieren
den Blicks und der szenischen Mehrfachpräsenz,
in der ein Schauspieler sich in anderen Wahrneh- .
mungsverhältnissen bewegt - das romanhafte
Erzählen einer solchen Inszenierungsform ist also
folgerichtig mit der Adaption großer Romanstof
fe verbunden. Und viertens: Nach den Strategien
der lronisierung des Verhältnisses vom Schauspie
ler zur Figur, z. B. dem bekannten «aus der Rolle
Fallen» und der intertextuellen Perforierung des
Textes, scheint der Einsatz des Live-Videos diese
Distanzierung auf eine andere Ebene zu verlagern.
Der doppelte Blick, der durch die Leinwandüber
tragung i.mmer entsteht, scheint auf eine hÖchst
raffinierte Weise zu ermöglichen, dass der Dar
steller in seinem unmittelbaren Spiel relativ unge
brochen wirkt und wirken muss, da seine Identität
als Figur durch ihre Erscheinung im Live-Bild un
ausweichlich einen Bruch in ihrer Gesamtwirkung
erfährt. Das Spid mit der gebrochenen Identität
der Figur verlagert sich also tendenziell vom
Schauspieler auf den Zuschauer und seine Wahr
nehmung des verdoppelten Geschehens. So wird
auf einer höheren Ebene- vielleicht wieder ein
«identisches» Verhältnis vom Schauspieler zur
Rolle möglich, wobei diesem Vorgang natürlich
jede Naivität fehlt.
Die Splittung des Blicks, die Rückkopplun
gen zwischen der simultanen Erscheinung der
Phänomene, die Verlagerung oder Potenzierung
eines Konflikts in das Spannungsfeld zwischen
Figur und ihrem Bild auf der Leinwand - all dies
lässt das Video als relativ neue und erweiternde
Raumform der Szene erscheinen. Der Live-Einsatz
des Videos bietet potenziell die Möglichkeit, die
Inszenierung in ein forciertes (detztn zu überführen, in dessen hochintegrierter Gleichzeitigkeit
sich Freiheitsgrade eröffnen, von denen sich sonst
kein Bild machen ließe. !illl
Medien müssen auch Spaß machen und das Theater bleibt der Souverän
·Von Jens Roselt
Lars von Triers neuer Film «Dogville» hat nicht
wenige Interpreten dazu verleitet, Vergleiche
zwischen dem Film und den ästhetischen Prakti
ken des Theaters zu ziehen. Man sprach plötzlich
wieder von Brechts epischem Theater oder
erkannte in der besonderen Raumanordnung des
Sets eine Bühnensituation. Trotzdem konnte man
im Feuilleton keine entnervten Filmkritiker ver
nehmen, die von einer Anbiederung des Films an
das Theater sprachen und damit die Selbstaufga
be und das Ende des Kinos prophezeiten.
DRAMATURG 1/2004
Ähnlich selbstbewusstist die Theaterkritik im
umgekehrten Fall nicht immer gewesen. Als An
fang der neunziger Jahre Videoprojektion und
Fernsehmonitore den enge·n Zirkel der Perfor
mance-Kunst verließ·en und auf den Bühnen
deutscher Stadttheater auftauchten, konnte dies
Zuschauer wie Kritiker noch entsetzen. Merkwür
dig: Menschen, die wahrscheinlich jeden Tag zu
Hause sitzen und mehrere Stunden Fernsehen
gucken, reagieren, wenn sie die Mattscheibe
durch das Proszenium des Theaters gerahmt
Den zweiten vorfor· mulierten Beitrag zur Schlussdiskussion über «Schnittstelle Theater» lieferte am Sonntag. vormittag der Theaterwissenschaftler und Autor Jens Roselt.
21
22
sehen, als würden sie das Haupt der Medusa
erblicken. Aber diese Zeit von Schreck und Irrita
tion ist vorbei. So manche Videoprojektion wird
inzwischen gelangweilt zur Kenntnis genommen,
gilt als bloßer Effekt oder sinnlose Zutat. Auf die
Faustregel ein Fernseher auf der Bühne = experi
mentelles Theater, zehn Fernseher = besonders
experimentelles Theater fällt selbst das Abonne
ment nicht mehr herein.
Die Verwendung anderer, neuer Medien im
Theater ist also ein probates Mittel geworden.
Dennoch ist dieser Einsatz nicht selbstverständ
lich, d. h. er fordert Begründungen und Erklärun
gen heraus. Bezeichnenderweise wird gerade
dann, wenn unterschiedliche Medien miteinan
der verbunden oder konfrontiert werden, die
Frage nach den spezifischen Eigenarten des ein
zelnen Mediums besonders virulent. Über dem
Fernseher auf der Bühne schwebt gewissermaßen
auch die Frage: Was ist Theater? Was macht es
einzigartig, und worin besteht der Unterschied zu
anderen Medien technischer ReRroduktion?
Ad hoc haben Theaterenthusiasten eine
Reihe von Begriffen parat, die für das Theater in
die Waagschale geworfen werden können: Echt
heit, Körperlichkeit, Unmittelbarkeit. Authenti
zität, Wahrhaftigkeit oder Präsenz. Diese Merk
male und die Exklusivrechte, die Theaterleute lapi
dar dafür beanspruchen, werden durch den Ein
satz anderer, neuer Medien im Theater jedoch auf
die Probe gestellt. Was affiziert denn den Blick der
Zuschauer mehr: ein Körper auf der Bühne oder
ein Körper im Monitor auf der Bühne oder beides?
Was ist Original und wasist Kopie, wenn die Blicke
der Zuschauer hin- und herzappen müssen? Was
bedeutet Unmittelbarkeit, wenn man angesichts
einer Schauspielerin auf der Bühne und der Nah
aufnahme ihres Gesichts als Live-Projektion viel
häufiger auf die mediale Repräsentation statt auf
die präsente Person blickt?
Es tut dem Theater gut, sich durch die Be
gegnung der medialen Art verunsichern zu las
sen. Und dabei kann es durchaus fraglich sein, ob
Theater überhaupt etwas zeitlos Eigenes hat. was
gegen das zeitgeistig Fremde neuer Medien ge
schützt werden müsste. Dass man heute beispiels
weise häufig von Präsenz spricht, wenn man die
Arbeit vonSchauspielern beschreibt, ist nicht dem
zeitlosen Wesen des Theaters geschuldet, sondern
selbst schon Ausdruck einer medialen Verschie
bung. in den Schauspieltempeln des 19. Jahrhun
derts, die sich das Wahre, Schöne und Gute über
die Tür. gemeißelt haben, hätte man mit Präsenz
nicht viel anfangen können. Dem Repräsentati-
onsanspruch des bürgerlichen Theater war die
konkrete Körperlichkeit des Schauspielers gerade
zuwider . . Die Behauptung, Theater wurden sich heute
neuen Medien an den Hals werfen, gar mit ihnen
wetteifern, um deren Erfolg zu kopieren und die
eigene blutarme Einfallslosigkeit zu kaschieren,
trifft nicht zu, denn die Tendenz zur medialen
Mischung oder Hybridisierung ist gar kein. Phä
nomen, das ausschließlich das Theater trifft. Es
handelt sich vielmehr um einen Trend, der in allen
zeitgenössischen Künsten zu beobachten ist. So
kann man derzeit in der Bildenden Kunst eine
massive Art der Theatralisierung beobachten,
etwa bei" der Gestaltung von Ausstellungen.
Betrachter werden zu Zuschauern in inszenierten
Räumen. in Installationen und Performanceswird
mit Darstellern und Live-Situationen gearbeitet.
Bildende Kunst wird nicht mehr hur aufgehängt
und ausgestellt, sondern inszeniert und aufge
führt. Also zapfen auch andere Künste schamlos
das Theater an, um den eigenen Blutdruck hoch
zu halten.
Ein Aspekt wird in der Diskussion häufig
unterschlagen: Medien sind nicht nur visuelle
Phänomene, sondern auch akustische. Dies .gilt
zunächst für die Verwendung von Musik, ohne die
es im Theater inzwischen gar nicht mehr geht. Die
. mitunter unangenehme Gemeinsamkeit von Su
permärkten, Staatstheatern und billigen Restau
rants besteht darin, dass man nahezu unablässig
mit Musik umspült wird, als seien emotionale Vor
gänge vor allem Sache des Gehörs. Auch die Ver
wendung von Mikrophonen und Verstärkern ist
in das Repertoire aufgenommen. Interessant sind
jene Momente, in denen Bildspur und Tonspur
getrennte Wege gehen. Wenn die Stimme des
Schauspielers unabhängig von seinem Körper
gehört werden kann, wird damit eine Wahrneh
mung des Zuschauers möglich gemacht, die des
sen alltäglichen Erfahrungen widerspricht An
gesichts dieser Entwicklung muss man nicht
zwangsläufig von einer Verabschiedung des
Schauspielers und der Schauspielkunst aus dem
Theater sprechen. Denn der Einsatz von Videopro
jektionen, Live-Aufnahmen und der medialen
Bearbeitung und Vervielfältigung von Stimmen
und Sprache stellt die Frage nach dem Schauspie
ler und insbesondere der Materialität seines Kör
pers neu. Die Schnittstellen zwischen theatraler Prä
senz und den Repräsentationspraktiken neuer
Medien markieren damit das heikle Terrain des
zeitgenössischen Theaters. Dies gilt um so mehr,
DRAMATURG 112004
als sich der mediale Umbruch in den vergange
nen zehn Jahren radikalisiert hat. Die Potenzie
rung des Programmangebots des Fernsehens, die
Verbreitung von Computern und die allgegenwär
tige Verwendung von Videotechnik strukturieren
Wahrnehmungsformen in einer Art und Weise
neu, von der das Theater nicht unberührt bleibt.
Dieser Einfluss macht sich nicht nur dann geltend,
wenn tatsächlich ein Medium wie das Fernsehen
auf der Bühne verwendet wird, sondern er sickert
auch tiefer in die Dramaturgie ein. Erinnert sei an
die Freude am Geschichtenerzählen, die noch in
den frühen neunziger Jahren für avanciertes
Theater tabuisiert wurde, das erneute Erproben
von Schnitt und Montage als theatrale Verfahren
und vor allem die Beschäftigung mit Zeitstruktu
ren: die Übertragung serieller Formate auf das
Theater (Theater-Soaps) und die ostentative
Thematisierung von Zeiterfahrung, die beispiels
weise mit Marthalers"Warteorgien eine Gegenpo
sition zur Reizflut neuer Medien setzt.
Will man diese Entwicklung auf den kleins
ten gemeinsamen Nenner bringen, könnte man
sagen, dass durch diese Verfahren Wahrnehmung
im Theater selbst zum Thema wird. Die Wahrneh- ·
mung der Zuschauer dient hier nicht nur der
möglichst unkomplizierten lnformationsaufnah
me, sondern spielt sich selbst in den Vordergrund.
Die Mediennutzung im Alltag muss besonders rei
bungslos geschehen. Medien sind gerade dann
effizient wenn sie selbst nicht in Erscheinung tre
ten, sondern in dem Verschwinden, was sie vermitteln. Je problemloser, selbstverständlicher und
unauffälliger sie ihre eigene Rolle dabei spielen,
desto produktiver sind sie. Es darf gewissermaßen
keine Reibungsverluste geben. Im Theater ist das
. häufig anders, hierwerden die Medien nach vorne
geschubst, ihre Verfahren werden ausgestellt und
vorgeführt. So wird die Selbstverständlichkeit
medialer Vermittlung im Alltag auf der Bühne auf
den Kopf gestellt. Inszenierungen mit neuen
Medien suchen häufig die Reibungsverluste, die
Verzerrungen und Verzögerungen, die Lücken im
Film, die Risse der Darstellung, den Abbruch der
Übertragung. Die Einblendung: <<Störung. Wir bit
ten um etwas Geduldn ist der Supergau des Fern
sehens, sie treibt die Quote binnen Sekunden in
den Keller. Im Theater kann diese Störung oder
Unterbrechung ein ästhetisches Prinzip sein. Die
Hybris von Zuschauern, die den Anspruch erhe
ben, alles zu durchschauen, und die sich mit der
Fernbedienung in der Hand zur allseits umwor
benen Zielgruppe zählen dürfen, wird so emp
findlich getroffen. Der Einsatz neuer Medien ist
DRAMATURG 1/2004
damit auch ein Beitrag für eine Kultur des
Zuschauens, die sich nicht als bloßer Bildkonsum
verstehen lassen will.
Im Theater von Medialität zu sprechen, be
deutet zu fragen, wie das Verhältnis von Zuschau
ern und Akteuren gestaltet ist. welche Konven
tionen dabei bedient, in Frage gestellt oder er
weitert werden. Medialität ereignet sich gewis
sermaßen im Grenzgebiet von Bühne und Publi
kum. Medialität wäre also die Art und Weise, wie
durch die räumliche Disposition Wahrnehmungs
ordnungen geschaffen werden. Man sollte des
halb davon ausgehen, dass Theater nicht dadurch
zu einem medialen Raum wird, dass man die
Bühne mit Bildschirmen spickt oder mit Video
projektionen zu kleistert, sondern indem im Thea
ter explizit dieses Grenzland der Wahrnehmung
verhandelt und die Nahtstelle von Bühne und
Publikum immer neuen Zerreißproben ausgesetzt
wird. Insofern ist die Theatergeschichte auch eine
Mediengeschichte, noch bevor die Kamera erfun-
' den wurde. Der Chor der antiken Tragödie kann
ebenso als mediales Phänomen gelten wie die
Narrenfigur im Mittelalter, Diderots Vierte Wand
oder die allgegenwärtigen Rampensäue auf den
Opernbühnen. Und in diesem Zusammenhang
spielen auch neue Medien technischer Reproduk
tion ihre Rolle. Demnach wäre es falsch, «bösen
mediale Simulation und «guten theatrale Echtheit
gegeneinander auszuspielen. Auch im Theater hat
das Zuschauen und Zuhören seine Unschuld
längst verloren, denn auch hier gibt es keine
unvermittelte pure Wahrnehmung, auch hier wer
den Wahrnehmungsordnungen und Konventionen
mitunter subtil aufgezwungen.
Schließlich ist es nicht immer angebracht,
angesichts neuer Medien auf der Bühne in die
Habacht-Stellungtrivialer Medienkritik zu gehen
und von Simulation und Fälschung zu sprechen.
Medien dürfen nämlich auch Spaß machen. Die
Arbeit mit neuen Medien im Theater ist nicht sel
ten eine Spielerei. Und Spielen ist im Theater keine
Untugend. Zu sehen, was passiert, wenn man
Medien auseinander nimmt und schief wieder
zusammensetzt, oder sich an coolen Effekten zu
berauschen, ist ein ausgesprochen kreatives Verg
nügen. Und es ist ein souveräner Hinweis darauf,
dass man neue Medien nicht immer so ernst neh
men muss, wie diese selbst gern genommen wer
den möchten: ln diesem Sinne ist das Theater der
Souverän. 1!!1
23
14
Als Weiterführung der Schlussdiskussion
des Symposiums «Schnittstelle Theatern
publizieren wir hier einen Essay der Thea
terwissenschaftlerin Birgit Lengers (Leiterin eben jener Schlussdis
kussion) über die Arbeit des Regisseurs
Rene Pollesch. Geschrieben wurde der
Artikel für den Band «Gegenwartstheater»
(Arbeitstitel) der Reihe <<Text & Kritik» (Hg.
Heinz Ludwig Arnold), der voraussichtlich im Septem_ber ersche-int.
2 Laudenbach, Peter (2002): «Sexualität und
Wahrheit, Teil 3n. ln: Tip 4/02
3 Alle kursiv gedruckten Passagen sind Zitate
v:on Rene Pollesch aus Interviews und·
Gesprächen zwischen 2001 und 2004. Bei den
Zitaten aus seinen Texten ist der Stücktitel
in der Fußnote angegeben, wenn er sich nicht aus dem Kontext
erschließt 4 Wirth, Andrzej (2003):
«Rene Po~lesch. Generationsagitproptheater für Stadtindianer)). ln:
«Werkstück. Regisseure im Porträt.}} Arbeits- .
buch 2003. Hrsg. von Anja Dürrschmidt und
Barbara Engelhardt, Berlin: Theater der
. Zeit, S. 126-131. s Ulrkh Seidler in der Berliner Zeitung vom
16.1.2004
Ein PS im. Medienzeitalter
Mediale Mittel, Masken und Metaphern im Theater des Rene Pollesen Von Birgit lengers
«Kino, das ist das Zeitalter der Maschine. Theater, das ist das Zeitalter des Pferdes. Sie
· werden sich niemals verstehen, was übrigens wünschenswert ist, denn die Mischung ist
bedauerlich." (Fernand Leger, 7931)
Für den Theaterpuristen des Medienzeitalters
mag es bedauerlich sein,· reinrassig ist der
Theatergaul kaum noch zu haben. Aber er ist
robust und überlebt im Blick durch die Handka
mera, zwischen Filmprojektionen und Live-Video,
in adaptierten Filmstoffen und -zitaten, zer
stückelt in szenischen Bildmontagen, beschleunigt
in Clip-Rhythmus und Zapping-Ästhetik, präsen
tiert im medial geprägten Spielgestus.
Hysterische Unterg-angsvisionen sind unan
gebracht. Meist werden sie von denen in Anschlag
gebracht, die sich als Retter in Position bringen.
wollen. Der Konter der Berliner Sophiensaele auf
den «Theater muss sein!n-Siogan des Deutschen
Bühnenvereins - «Theater muss nicht sein. Sex
auch nicht!»- beschreibt treffend die Vorausset
zungen, unter denen heute Theater gemacht wird.
Wer sich mit dermedialen Grenzüberschreitung
des Theaters beschäftigt, muss nicht Untergangs
gespenster vertreiben, sondern nach seiner Funk
tion und Wirkung fragen, muss nicht Existenzret
tung, sondern Phänomenologie betreiben. Das
Theater von Rene Pollesch ist ein geeigneter
Gegenstand für ein solches Unternehmen.
VORSPANN - Theaterverweigerung
Kraft zur Erneuerung entsteht aus radikaler
Negation der Konvention. Pollesch will kein Thea
ter machen oder genauer: Er will «Theater ohne
Theater>•' machen. Das heißt, Theater ohne die
aristotelischen Grundkonstituenten wie dialogisch
gebildete Figuren, Narration einer Fabel, Mimesis
im Sinne der tradierten Darstellungsziele nach
geahmter Weiten und Wahrscheinlichkeiten. Als
Autor will er keine Theatertexte schreiben: Ich
denke, ich schreibe keine Stücke.' Und die poste
dramatischen Sprechpartituren, die er schreibt,.
stehen unter Nachspiel-Verbot. Als Regisseur ver
langt er von seinen Darstellern bloß kein Theater
zu spielen. Und eigentlich ist er auch gar kein
Regisseur: Ich inszeniere nicht, die Schauspieler organisieren ihren Text selber. Zielgruppe dieses
AnticTh.eaters sind natürlich diejenigen, die
eigentlich ins Kino gehen, weil sie vom Theater gelangweilt sind. Heraus .kommt ein recht eigen
williges theatrales Format: «Generationsagitprop-
theaterfür Stadtindianen(
Polleschs Theater will sich den Spielregeln
der Theaterweit verweigern. Wie reagiert die
Theaterweit auf Verweigerung? Pollesch wird
Hausautor erst in Luzern, dann in Hamburg; wird
beim Rowohlt Theater Verlag verlegt, wird mit
dem Mülheimer Dramatikerpreis ausgezeichnet,
wird künstlerischer Leiter der Volksbühnenspiel- .
stätte Prater, wird mit seiner Trilogie «Wohnfront
2001-2002» zum Berliner Theatertreffen eingela
den. Und seine jüngste Inszenierung «Telefavelasn
(2004) wird unter der Überschrift «Wiedergutealte
Theaterwertarbeit Es handelt wieder auf der Dis
kursbühnen in der Kritik gefeiert. .Der verlorene
Sohn, der «Theaterkategorieabschaffen> und
«Medienkurzschließern' wird willkommen ge
heißen im guten alten Theaterschoß.
Interessant ist .nicht der Verweigerungs
gestus, sondern die Frage, mit welchen Mitteln
sich die Verweigerung äußert und was in der
Rezeption mit diesen Mitteln geschieht.
Wie die künstlerische Eingemeindung der
grenzüberschreitenden Gegenbewegung Theater
geschichte schrieb, zeigt der Blick zurück ins
«Zeitalter der Maschine». Auch die historische
Avantgarde hat, trotzgegenteiliger Proklamati
on, nie wirklich den Weg zum Abdecker einge
schlagen. Schon in den anti-naturalistischen und
anti-illusionistischen Bewegungen der 10er und
20er Jahre liefen alle Bemühungen auf Weiter
züchtung hinaus, auf Extension der Bühne mit
DRAMATURG 112004
medialen Mitteln. Es ging letztlich um Retheatra
lisierung. Vor dem Hintergrund des Dagewesenen
kann im Anschluss das Neue der gegenwärtigen
medialen Kreuzungen exemplarisch bei Rene Pol
lesch dargestellt werden.
Seit Beginn der Moderne geht es in der Kunst
um die Frage, inwieweit Kunst nicht mehr Kunst
sein will. Die Kunst stellte sich etwa in den Dienst
der Revolution und sprach: Ich will Klassenkampf
sein, ich will Maschine sein. Oder sie stellte sich
in den Dienst des neuen Alltags: Ich will super sein
wie die Reklame, ich will befreit sein wie das
Leben. Heute will sie den Anschluss an den tech
nologischen Fortschritt nicht verlieren, rüstet sich
medial auf und. gibt sich Multi-Media-High-Tech ..
Zu Beginn des letzten Jahrhunderts galt es
die <<längst erschöpfte Psychologie des Menschen»
durch die <<lyrische Besessenheit der Ma~erie»' zu
ersetzen. So zielten die Slogans der futuristischen
und konstruktivistischen Manifeste auf die Ver
bannung des menschlichen Akteurs von der Thea
terbühne: «Durch die Maschine und in der Mac
schine vollzieht sich heute das menschliche
Drama!»' «Echte Gast-Darsteller eines unbekann
ten Theaters» sollen die lebenden Schauspieler
ersetzen8! «Das Kino ist die heutige Etappe des Thea
ters!»', proklamierte 1926- ganz im Elan des Fort
schrittsenthusiasmusder Zeit- Sergej Eisenstein.
Die Forderung, die ästhetische Produktion auf den
Stand der technischen zu bringen, forderte in
letzter Konsequenz die Liquidierung des Theaters
als Darstellungskunst zugunsten des Films. Schon
bei der «Montage der Attraktionen»" (Eisenstein)
erwies sich der Theatergaul als störrisch; es fanden
zwar Verfahrensweisen wie Parallelmontage, Nah
aufnahme und dynamischer Szenenwechsel Ein
gang in die Theaterinszenierung, doch als prä
destiniertes Medium erwies sich der Film mit sei
nen Mitteln der Bildgestaltung (Cadrage), den
Einstellungen und Schnitten. Hier entwickelte
Eisenstein seine Montagetheorie weiter, wurde
heimisch und blickte nicht zurück. Auch Wsewo
lod E. Meyerhold, der in seiner vorrevolutionären
Phase den Film noch strikt als <<illustrierte Zei
tung» und unkünstlerisches Reproduktionsmedi
um ablehnte- «Nichts hat der Kinematograph auf
dem Gebiet der Kunst zu suchen» - spricht sich
in den 20er Jahren für eine «Kinofizierung»" des
Theaters aus: Gemeint war neben der technischen ·
Aufrüstung des Theaters die Einführung einer fil
mischen Episodendramaturgie mit kurzen Szenen
in rascher Abfolge. Erstmalig wurden auch Zwi
schentitel und Parolen auf eine Leinwand proji-
DRAMATURG 112004
ziert und so eine epische Kommentar- zur Spie
lebene eingeführt. Diese wurde in Erwin Piscalors
politisch-agitatorisches Theater übernommen und
wirkungsästhetisch perfektioniert. Piscalor schrieb
die «durchschlagende Wirkung» der Filmsequen
zen weniger der Authentizität und ihrem doku
mentarischen Gehalt zu, vielmehr dem interdiszi
plinären Synergieeffekt: «Das Überraschungsmo
ment, das sich aus dem Wechsel von Film .und
Spielszene ergab; war sehr wirkungsvoll. Aber
noch stärker war die dramatische Spannung, die
Film und Spielszene voneinander bezogen. Wech
selwirkend steigerten sie sich, und so wurde in
gewissen Abständen ein Furioso der Aktion
erreicht, wie ich es im Theater nur selten erlebt hatt~.>>.12
Von der Montage zur Transfusion
Der beschriebene Effekt entspricht der Wir
kungsästhetik der Montagetechnik, die nicht auf
die Summe der Einzelelemente zielt, sondern auf
deren katalysierende Wechselwirkung. Ein Kentaur
war geboren, zusammengesetzt aus zwei Teilen,
die jedoch als solche erkennbar blieben. Was aber
heute geschieht, lässt sich nicht länger als kon
ventionelle Kreuzung ·beschreiben, der Hybrid ist
erschaffen. Brecht schrieb 1931: «Der Filmsehen
de liest Erzählungen anders. Ab.er auch der Erzäh
lungen schreibt ist seinerseits ein Filmsehender»".
Die Prognose ließe sich ins Heute übersetzen: Der
Medienrezipient sieht Theater anders. Aber auch
der Theatermacher/-autor ist seinerseits Medien
rezipient. Die Mediatisierung der Theaterproduk
tion ist nicht mehr rückgängig zu machen. Im
21. Jahrhundert sind wir uns bewusst, dass Me
dien nicht Weit vermitteln. Sie sind subkutaner
Bestandteil unserer Weit: «Die Bilder der Massen
medien kann man nicht mehr betrachten [ ... ] sie
rücken uns auf den Leib, schließen sich mit der
Netzhaut kurz.>>" Was ·bedeutet dieser mediale
«Take Oven> der Sinne für den Theatermacher?Tim
Etchells, Autor der Live-Art-Gruppe Forced Ent
ertainment, drückt es so aus: <<I guess TV was real
ly in our blood- and.like any blood you have to
live with it, spill it, transfuse it, clean it, test it. You
don't have much choice about your blood, but it
always needs dealing with it. A theatre that won"t
do this isn"t worth having»". Die Theatermacher·
leben mit Medien, gehen mit ihnen um, und sie
halteh Einzug ins· Theater. Die Befragung der
Gegenwart läuft im postdramatischen Theater
über die Befragung der theatralen Form. Aber wie
inszeniert, überformt das Theater mediale Kon-
6 Filippo Tommaso Marinetti, zitiert nach: Apollonio, Umberto (1 972): «Der Futurismus. Manifeste und Dokumente einer künstlerischen Revolution 1909-1918. Köln, 5. 81. 1 · Prampolini, Enrico; Pannaggi, lvo; Paladini, Vinicio: «Die mechanische Kunst», S. 110-112. ln: Schr:nidt-BerQmann, Hansgeorg (1993}: «Futurismus.
· Geschichte, Ästhetik, Dokumente». Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag, s. 111. 8 Leger, Fernand (o. J.): <<Mensch. Maschine. Malerei. Aufsätze und
. Schriften zur Kunst.» Bern, 5.151 ff. 9"Eisenstein, Sergej M. (1926): «Zwei Schädel Alexanders des Großem) 0. 0. 10 Eisenstein, Sergej. M. (1974): Schriften · 1. Streik. Hrsg. von Hans-Joachim Schlegel, München: Carl Hanser Verlag, S. 216-221. " Vgl. Brauneck, Manfred (1982): «Theater im 20. Jahrhundert. Programmschriften, Stilperioden, Reformmodelle.>) Reinbek: Rowohlt, S. 314-322. 11 Piscator, Erwin (1963): «Das politische Theaten>. Reinbek: Rowohlt, S. 74 f. 13 zitiert nach Balme, Christopher B. (2003): «Theater zwischen den Medien. Perspektiven für Theaterwissenschaft und Kritik angesichtseiner zunehmenden lntermedialität in der Theaterpraxis.>) ln: <<Die Deutsche Bühne» 10/2003, s. 48-51. 1• Boltz, Norbert (1993): «Politik der Posthistorie>), S. 250-257. ln: Maresch, Rudplf (Hrsg.): «Zukunft ohne Ende». München, s. 255. 15 Etchells, Tim (1999): «On Performance and Technologyn. ln: Ders.: «Certain Fragments>); London/New York, S. 96. ·
25
26
16 Lehmann, Hans-Thies (1999): «Postdrama
tisches Theater». FrankfurtJM .. : Verlag
der Autoren, S. 401A47. 17 <<Frolic for Afghanis
tan». ln: Berliner Zeitung; Nr. 252,
29.10.2001. 1a vgl. Richard Sennett
(1998): «Der flexible Mensch. Die Kultur des
neuen Kapitalismus>). Berlin: Berlin Verlag.
19 «Verkaufe dein Sub-jektb) Rene Pollesch im
Gespräch mit An ja Dürrschmidt und Themas lrmer. ln: Theater der
Zeit 12/01, S. 5-7.
ventionen, Ästhetiken? Wie gewinnt es im Um
gang mit medial geprägten Formaten, Stoffen,
Erzählweisen Spielraum?
Es gibt unterschiedliche intermediale Stra
tegien. Unter der Überschrift «Tpeater +·- Medi
en« differenziert Hans-Thies Lehmann zwischen
«Medien-Nutzung«, «Medien-Inspiration«, «Medi
en konstitutiv« und «Medien theatralisiert«". Pol
leschs Arbeiten w'eisen Aspekte des Medienum
gangs auf, die sich allen vier Kategorien zuord
nen lassen. Die phänomenologische Annäherung
bewegt sich im Folgenden von außeri nach innen:
Auf die oberflächliche Mediennutzung, das Medi
enzitat folgt die Medieninspiration, das szenisch
bearbeitete Filmmotiv wie die theatral ausge
schrittene Distanz zur Filmvorlage; ein konstitu
tiver Medienbezug findet sich in der kontrastiven
Gegenüberstellung von live gefilmten und live
präsentierten Körpern, dem schließt sich die Thea
tralisierung und Internalisierung medialer Forma
te und Mittel an. Die These ist, dass das Theater
gerade in der medialen Grenzüberschreitung zu
sich zurückfindet.
Medienzitat- Kurzschlüsse bei «lnsourcing des Zuhause. Menschen in Scheiß-Hotels»
Pollesch nutzt. wie viele and~re Regisseure,
filmische Medien, spielt mit ihnen, um bestimm
te Affekte und Effekte zu erzielen. Das Filmzitat
rekurriert auf das kollektive Bildgedächtnis einer
Film- und N-sozialisierten Generation. Ein Thema,
eine Stimmung, ein Kontext wird mit dem Me
dium ins Theater eingeschmuggelt, Dem Rezipien
ten steht es frei, assoziativ intertextuelle Verbin
dungen herzustellen. Pollesch beschreibt dieses
Verfahren selbst als zufällig und willkürlich: Er
hört beim Schreiben eines Theatertextes eine
Musik, die ihn an einen Film erinnert, den er dann
in der Inszenierung ein- oder anspielt, weil er ent
fernt mit dem Thema zu tun hat, z. B. Norman
Bates' «Psycho«-Hotel mit dem Thema «lnsourcing
des Zuhause- Menschen in Scheiß-Hotels«. Das
Filmzitat wird in der Inszenierung von den Figu
ren ironisch aufgegriffen: Sei du selbst, Norman
Batest, lautet die Aufforderung an die Service
kräfte der Wohlfühlhotels, oder es heißt: Dieses
Hotel produziert Sicherheitsgefühle. Diese Con
cierge oder Norman Bates produziert Sicherheit
und Ordnung! Die Slogans der neuen Dienstleis
tungsgesellschaft, in der es um die Produktion des
emotionalen und kulturellen Mehrwerts von
Gütern geht - Dieses Hotel produziert Zuhause.
Dieses Hotel produziert persönliche Anteilnahme.
Dieses Hotel produziert Siche(heit. - werden
durch den assoziativen Kurzschluss mit dem
transponierten Filmthema ad absurd um geführt.
ln derselben Inszenierung wird auf einem der
N-Geräte, die zur Einrichtung der Wohnbühne
(Bert Neumann) gehören, scheinbar beiläufig und
beliebig ein kurzes Video wiederholt, in dem a"f
ghanische Windhunde von. Hundepflegern ge
bürstet und im Kreis geführt werden. Der Text
strom, der sich von den produzierten Sicherheits
und Ordnungsgefühlen über das produzierte
Bedrohungsszenario zum grenzenlosen Gerech
tigkeitsfeldzug. Die Gerechtigkeit der USA kennt
. keine Grenzen bewegt hat, wird durch die Ein
spielung eines vorproduzierten Videos auf der
zentralen Leinwand unterbrochen: Auf einem
Schreibtisch kreiseln Bierflaschen mit kleinen
Rotoren und Wagners «Walkürenrittu ertönt. Die
Musik stellt die Verbindung zu einem in «Apoka
lypse nowu (1979) spektakulär fotografierten
Hubschrauberangriff der Amerikaner her, wo sie
als Instrument der psychologischen Kriegsführung
benutzt wird: «Da werden sich die Schlitzaugen
in die Hosen scheißen.« Der von Francis Ford Cop
pola virtuos inszenierte Kriegsfilm versucht in sei
ner ambivalenten Darstellung der ästhetischen
Faszination des Krieges weniger die militärischen
und politischen als vielmehr die psychischen
Aspekte des Vietnam-Debakels zu erhellen. Die
Filmmusik wird erneut zitiert, wenn die Darstel
lerinnen mit einem durch zwei aufeinander gesta
pelte Schreibtischstühle symbolisierten Helikopter
zum Bühnenfernseher «rollen« und zunächst eini
ge kleine gelbe Fallschirme mit Frolic über ihm
abwerfen, um dann eine ganze Schachtel Hunde
futter über dem Bildschirm auszuschütten - «[ ... ]
ein fieses, [..,] präzises Bild für den Abwurf von
Lebensmitteln über Afghanistan.«" Die betont
trashigen theatralen Mittel konterkarieren den
bildmächtigen US-Filmklassiker der BOer, in dem
der perfekt inszenierte Schrecken des Krieges
immer gut aussieht. Beiläufig wirft Pollesch
zudem die Frage nach der Tauglichkeit des Films
als Medium der Kritik in Zeiten medial inszenier
ter Kriege auf.
Das Filmzitat, die Videoeinspielungen und die
travestierte Filmszene bleiben in dem Verfahren
der medialen Kurzschließung jedoch lediglich
weitere Zutaten im theatralen Hypermedium. Bei
Pollesch geht der Medienbezug weit über die
«Medien-Nutzung« hinaus; er ist für seinen Stil
signifikant.
DRAMATURG 112004
Trojanische Pferde -Gegenwartsbeschreibung im alten Kleid der Vorlage
Die «Medien-Inspiration» lässt sich meist
schon am Stücktitel ablesen:'Filme der 60er bis
80er dienen Pollesch als Initiationspunkt und
Materiallager seiner Inszenierungen, z. B. «Soylent
Green» von Richard Fleischer, «Der Tiger von
Eschnapur» von Fritz Lang, «Escape from New
York» und «Sie leben!» von John Carpenter. Bei der
«Hochzeit von Bühne und B-Movie» (Jens Roselt)
handelt es sich in keiner Weise um die Transpo
sition des Filmstoffes auf die Bühne.
Po IIeschs Theater reflektiert in der Distanz
zur Vorlage u. a. die veränderten gesellschaftli
chen Bedingungen, unter denen Kunst gemacht
wird. Wenn er ein Stück unter dem Titel «Der Kan
didat. Sie leben» inszeniert, wird gerade in Bezug
nahme auf den Anti-Strauß-Dokumentarfilm «Der
Kandidat» (1980) von Stefan Aust, Alexander von
Eschwege, Alexander Kluge und Volker Schlön
dorff deutlich, was Kunst heute nicht mehr leistet.
Mit gesellschaftskritischem Agitprop-Theater kann
gegen die «Neue Mitte» nicht polemisiert werden;
der politische Gegner kann nicht dokumentiert
werden, weil er nicht auszumachen ist. Die ent
sprechenden Brillen, mit denen der Held in John
Carpenters «Sie leben» (198S) die Außerirdischen
unter den echte~ Menschen identifiziert und die
Konsum-Einflüsterungen hinter den Medien sind
obsolet geworden. Auch Heidi Hoh, die hochfle
xible" Telearbeiterin seines Dreiteilers (1998-
2001), ist nicht vergleichbar mit ihrem filmischen
Vorbild, der Fabrikarbeiterin Norma Rae («Norma
Rae» 1979; Regie: Martin Ritt), die im Filmverlauf
- wie Pollesch es formuliert - politisiert und
emanzipiert auf den Webstuhl steigt'", um gegen
ihre Arbeitsbedingungen zu -protestieren. Heidi
Hoh ist keiri kapitalistisch ausgebeutetes Subjekt,
sondern aufgefordert ihre Subjektivität auszu
beuten, und diese Selbstausbeutung tarnt sich mit
dem Deck-mantel der Selbstverwirklichung". Für
Heidi Hoh, ihren Erfinder Pollesch und all die
anderen «Pioniere der New Economy» gilt: «24
Stunden sind kein Tag»" und nicht acht, wie noch
1972 in Fassbinders sozialpolitischem Fünfteiler
aus dem Arbeitermilieu. Hier wurden im Format
der Familienserie, leicht verständliche Problemlö
sungsstrategien vorgespielt. Wo die «Machtlogik»
durch die «Marktlogik»" ersetzt wird, hat das
Lehrstück abgedankt. Das Transparent ist nach
innen verlagert. Diese Durchsagen in mir" bringt
Pollesch mit seinen Sprecherinnen auf die Bühne.
DRAMATURG 1/2004
Anstatt Fabel oder Filmplot nachzuerzählen,
greift Pollesch dabei eiri bestimmtes Motiv der
Vorlage auf, welches er weiterentwickelt und auf
die Themen bezieht, die in all seinen Theater
diskursen verhandelt werden. Es ist im Grunde die
Geschichte des «Blade Runnen>, die seit «Ufos a Interviews>>. (Luzern 2001) weitererzählt wird. War
die Zukunftsvision in Ridley Scotts Science
Fiction-Klassiker die äußerliche Identität von
Mensch und Android, geht es Po IIesch um selbst
entfremdete Menschen, die an der Künstlichkeil
ihres Lebens verzweifeln. Ich lebe die künstliche
Scheiße hier und oll die künstlichen Erinnerungen
und den Scheiß. - Ich bin bloß eine Maschine, die
simuliert, dass ich Lebe! Oh Scheiße!- Egal was
wir leben, Wir sind immer künstlich!". Seine
Stücke erfassen die gegenwärtige «Replikanten
existenz» als allgemeine Auflösung des Individu
ums in informellen komplexen Strukturen"·
Gemeint sind die verschwimmenden Grenzen zwi
schen öffentlichem und privatem Raum in einer
totalen Ökonomie des globalen Neo-Kapitalismus,
in dem man sich ein schickes Nervenkostüm in
Mitte kauft'", Gefühle echt und bezahlt" sind.
Ich wünsche, du wärst Geld, dann würde auf
dir drauf stehen, was du wert bist, heißt es folge
richtig in <6oylent Green ist Menschenfleisch, sagt
es allen weiter!>>. Die Grundidee der Filmvorlage,
die im überbevölkerten New York des Jahres 2022
spielt, ist, dass Menschenfleisch vom staatlichen
Nahrungsmonopolisten zu grünen Crackern ver
arbeitet und in Umlauf gebracht wird. Pollesch
verbindet mit dem Thema der kannibalistischen
totalen Verwertbarkeit des menschlichen Körpers
das seiner Vermarktung als Sexual-Objekt, wel
ches er Paul Thomas Andersans «Boogie Nights»
(1997) entlehnt, einem Film über die amerikani
sche Pornoszene der 70er. Ficken ist das, was mir
sagt, wer ich bin in diesem Porno. Wer sagt mir,
was ich bin nach dem Porno? Ein melancholischer
Grundton färbt den Theaterabend. Abschied wird
gefeiert. So sitzen die Darsteller im Schlussbild der
Inszenierung unter dem Abspann von «Soylent
Green>>, ein ökologischer Science-Fiction-Film von
gestern, so alt wie der Durchschnittszuschauer.
Gefilmte Körper, befreite Blicke -«Soylent Green ist Menschenfleisch, sagt es allen weiter!»
Der Blick auf den Körper als Darstellungs
und Verhandlungsobjekt ist in der Inszenierung
nicht nur inhaltlich, sondern auch formal ein
medial vermittelter. Die Darsteller sind zu Beginn
20 Polfesch bezieht sich auf McRobbie, Angela (2002): <deder ist krea
tiv. Künstler als Pioniere der New Economy?}>. ln: «Singularitäten ;Allianzen, Interventionen», ITH/HGKZ. 21 Mit seiner ersten vierteiligen TV-Serie (3sat, 2003) schließt Pollesch an seinen Theaterzyklus «24 Stunden sind kein Tag» (2002) an. ln Bezug- · nahme auf den JohnCarpenter-Film «Die Klapperschlange)) trug das Stück bei seiner Premiere in der Berliner Volksbühne (2002) als Zusatz noch den englischen Originaltitel <<Escape from New York>). n Grad, Simen (1997): «Der Markt am Neumarkt. Das Theater aus ökonomischer Sicht.>' ln: «Theater Neumarkt Zürich, <Top Dogs>, Entstehung- Hintergründe- Materi~lien)),
Zürich 1997, S. 88. ll «Heidi Hoh arbeitet hier nicht mehn>, 2000 2• «Ufos & Interviews», 2001 2s «Telefavela>,, 2004 26 «Stadt als Beute», 2001 21 «Sex,>, 2002
27
28
Ja vgl. Finter, Helga (1985): «Das Kamera
auge im postmodernen Theater», in: «Studien
zur Ästhetik des Ge:genwartstheatersn, hrsg. von Christian W. Thomsen, Heidelberg: carl Winter Universi-
tätsverlag, S. 46-66 29 D~tje, Robin: <<Kein
Kontin~um kann immer. Ende nach dem Trailer: Rene Polleschs <Telefavela> in Berlin>>.
ln: Süddeutsche Zeitung vom 17 ./18.1.2004.
der Vorstellung hinter Vorhängen und Papierwänden verborgen und werden von einer Videokamera gefilmt. Die von der schweifenden Kamera aufgefangenen intimen Nahaufnahmen, verschlungene Leiber, Fleischlandschaften, Körperdetails sind auf drei Leinwände gebannt. Das dem direkten Blick Entzogene wird monumental-monströs ausgestellt. Die vierte Wand der traditionellen Theaterpraxis wird nicht durchbrachen, sondern erst einmal geschlossen. Die Zuschauer sehen auf der Bühne das, was die Bühne ihnen verweigert. Somit wird der Wahrnehmungsvorgang als solcher ästhetisch markiert und thematisiert. Das Intime und Private wird als hergestellte, inszenierte und medial vermittelte Authentizität vorgeführt. Hier
·besteht der entscheidende Unterschied zur Reality Soap: Das Fernsehen kaschiert. dass Bilder immer Produkte von Inszenierungen sind, und steuert Wahrnehmungsvorgänge und Bedeutungszuwei" sung rigide. Die Kamera in «Soylenf Green ist Menschenfleisch» vermittelt einen ausschnitthaften, fragmentarischen Einblick in verborgene Räume. Aber neben den Kamerabildern, in den live gespielten Szenen, flüstern und schreien leibhaftig präsente Darsteller an gegen die totale Besetzung von Intimität durch Ökonomie. Du Hure,
dein Bezug zu dir selbst ist Geld. Gerade in der Verweigerung der Zentralperspektive, im Wechsel zwischen Abbild und Abgebildetem erfährt die Subjektivität des Blicks, das frei schweifende «~ameraauge»" des Zuschauers eine Aufwertung. Der Verlust der Überblicks, des «heilen Ganzen», den die oben beschriebene Distanz zur Vorlage thematisierte, wird so auch zur ästhetischen Erfahrung im Theaterraum.
An dieser Stelle verlassen wir das Terrain der konventionellen Mischformen, der trojanischen Pferde und Zentauren, in denen Medien benutzt, zitiert, implantiert und gegengeschnitten werden. Der Theaterhybrid hat mediale Formate (TV-Serien) und Verfahren (Kameraschnitte) bereits verdaut.
Mediale Maskierung -Verfremdungsstrategien eines
Soap·Operateurs
Schon mit der Gattungsbezeichnung Theater-Soap kennzeichnet Pollesch seine in Serie produzierten Arbeiten als intermediale Zwitter («Javam in a Box» 1-13, «Ufos B: Interviews» 1-2 in Luzern, «Heidi Hoh» 1-3 im Podewil Berlin, «WWW-Siums» 1-10 im Hamburger Schauspielhaus, «Smarthouse» 1 B: 2 im Staatstheater Stutt-
gart). Auch die Bezeichnungen «No-Soap», «Splatterboulevard», «Snuff-Comedy» und «Telefavela» verweisen auf theatrale Kreuzungen mit medialen Formaten und Ästhetiken. Bei Pollesch handelt es sich mitnichten um die affirmative Kopie des Fernsehformats, sondern um eine subversive mediale Maskierung. Das bedeutet, die Ähnlichkeit ist eine oberflächliche: Das «Sendformat» entspricht in den meisten der genannten Fälle dem der Weekly Soap, d. h. Folgen mit einer Länge zwischen 30 und 40 Minuten werden wöchentlich gezeigt. Die Grobstruktur der einzelnen Teile lässt sich als «Ciip»-Folge beschreiben. ln Anlehnung an Musik-Video-Clips, bezeichnet Pollesch mituCiip» das von Musikeinspielung begleitete zweckfreie Spiel, welches die statischen Sprechpassagen unterbricht. Es findet in den Inszenierungen eine Trennung von Bild (Aktion) und Text statt. Auch erinnert das Setting, die Prater-Wohnbühne oder die Couchlandschaft in Luzern an ein Fernsehatelier, die Ausstattung der «Telefavela» an stereo
. type Versatzstücke eines Low-Budget"Filmsets, die gleichförmige, pseudo-empathische Sprechweise. an Rohübersetzungen amerikanischer Sitcoms oder Dauerwerbesendungen und die Unterbrechungen der «Clips» an Werbepausen. Die fehlende Linearität und Kohärenz der einzelnen Inszenierungen, die Brüche und das hohe ~prechtempo generieren eine Rezeptionsweise, die sich mit Metaphern. wie «Zapping», «Fastforward» oder «Verlinken» beschreiben lassen. Die Endlostexte, die auf verschiedene Sprecher verteilt sind, ohne individualpsychologisch interpretiert zu werden, erscheinen als endloser Datenstr.om, in den sich der Zuschauer von Inszenierung zu Inszenierung neu «einloggt». Die Prozessualität seiner Arbeitsweise, die gleich bleibenden «Spielregeln», das Fortschreiben der Themen und die permanente Wiederholung von Slogans, Motiven, Schlagworten, kurz: das kultivierte Selbstzitat machen Pollesch zum eigentlichen «Serientäter», zum «SoapOperateun> des Theaters,
Der Vorwurf, er zwinge seine Serienhelden dazu, «Diskurse zu durchleben, als wären es Melodramen, und soziologische Traktate in SeifenoperForm zu bringen»", verfehlt jedoch seinen Arbeitsansatz. ln Umkehrung zu der von Meverhold propagierten «Filmisierung» des Theaters findet eben keine «Fernsehfizierung» des Theaters statt, sondern eine verfremdende Theatralisierung des Medienformats. So ist «Telefavela» ein semantischer Hybrid aus der brasilianischen Seifenoper der Reichen und Schönen und der portugiesischen Bezeichnung für Elendsviertel. Pollesch überführt
DRAMATURG 1/2004
die Serienhelden des «Haus am Eaton Place» mit
ihren unvergänglichen Primärbedürfnissen nach
Liebe und Geld in die attraktive informelle Scheiße, sprich: die aufgelösten sozialen Hierar
chien einer Dritte-Welt-Metropole, wo man einfach keine Einzelschicksale mehr erkennen kann. Dort stehen sie zwischen Armuts- und Fernseh
bildern (auf den N-Monitoren im Prater-Zelt) mit
ihrem Wunsch endlich etwas Zusammenhängendes zu fühlen. Polleschs Medientransfer dient
primär dem brechtsehen Verfremdungseffekt, der
den vertrauten Gegenstand zwar erkennen, aber
neu kontextualisiert fremd erscheinen lässt. So
erscheint Pollesch der «Neuen Zürcher Zeitung«
gar als «Turbo-Brecht des postökonomischen Zeit
alters«'". Die Verwandtschaft im Geiste entdeckt
auch Ulrich Seidler in der «vertheaterten Wand
zeitung», die «Telefavela» hoch hält, Handlung und
Identifikationsangebote seien nur Fallen". Eine
weitere Parallele zu Brecht findet sich in dem
primären Ziel, «die Kinder des wissenschaftlichen
Zeitalters zu unterhalten, und zwar in sinnlicher
Weise und heiter>>". Pollesch unterhält in seinem
«Generationsagitpoptheater»" die Kinder des Me
dienzeitalters nicht zuletzt mii virtuosem schau
spielerischen Einsatz und Camp. Das Vergnügen
am guten schlechten Geschmack springt von der
Bühne, wo es in medial geprägten Pathosgesten
lustvoll ausgekostet wird, auf den Zuschauer über.
Die einzige Waffe gegen die Identifikationsange
bote der Massenmedien, gegen den Trivialmythos
ist, «ihn selbst zu mystifizieren, das heißt einen
künstlichen Mythos zu schaffen»". Dem scheinen
Pollesch und seine Darsteller nachzugehen, wenn
er Fragmente der Medienweit synthetisiert, um sie
theatral zu bearbeiten. An die Stelle des kohären
ten Dialogs, der das autonome Individuum kon
turierte, tritt die «soufflierte Rede»", montiert aus
vorgefertigtem Sprachmaterial, das medial ver
mittelt und präformiert ist. ·
Mediale Demontage und internalisierte SchnitteVerzweiflung sieht nur life wirklich gut aus!
Das Spiel mit Versatzstücken der Trivialmy
then weist Pollesch als Vertreter der Medienthea
tralisierer aus, die «hartnäckig nach zeitgemäßen
Konnexionen von Medientechnologie und Live
Akteuren»" suchen. Die theatrale Forschungsar
beit generiert eine unverwechselbare Spielweise.
Für Pollesch hat der konventionelle und kommerziell erfolgreiche Film das Theater zu einem Natu-
DRAMATURG 1/2004
ra/ismus verdammt, zu dieser Einheitsvorstellung, bei der ein Körper Emotionen hat, die etwas
erzählen sollen"· Diese Einheitsvorstellung, die
in "der N-Soap zelebriert und dort der Emotions
produktion beim Zuschauer dient, unterläuft Pol
lesch mit einer Darstellungsform, die er wieder
um mit filmischen Metaphern beschreibt: Die Schnitte finden in den Spielern statt und sind . nirgendwo sonst aufzuspüren. Was als Schnitte erscheint, haben die Spieler bereits in ihr Vokabular aufgenommen. Die Suche nach ihren «Rissem> ist deshalb unproduktiv. Das Personal hat die Schnitte in sein Sensorium übernommen, Kameraeinstellungen, Plots.'" Die internalisierten
Schnitte bezeichnen eine Spiel- und Darstellungs
weise, die durch unvermittelte Brüche in der Text
präsentation gekennzeichnet ist, durch eine
Distanzierung von Text .und Spieler sowie die
Trennung. von Sprechen (Tonspur) urid körperli
cher Aktion (Bildspur). Was d.ie Distanz zum Text
betrifft, sind die Darsteller angehalten ihn nicht
zu «verkörpern», sondern im brechtsehen Sinne
zu zeigen. lrmerhalb des Textstruktur zeigt sich,
dass der konventionelle Dialog, der durch aufein
ander folgende und bezogene Repliken einen
semantischen Richtungswechsel erfährt, durch
einen dialogisch gesprochenen Monolog ersetzt
ist. Die Darsteller sind aufgefordert auf Anschluss
zu sprechen, so dass der Eindruck von Sprechau-
. tomaten, angeschlossen an eine Textmaschine,
entsteht. Innerhalb der einzelnen Repliken hinge
gen finden abrupte semantische und dynamische
Brüche statt. Am markantesten sind die geschrie
enen Passagen, die im Text durch Großbuchstaben
·gekennzeichnet sind. Der plötzliche Wechsel der
Lautstärke ist nicht psychologisch motiviert oder
vorbereitet und hat keine Konsequenz für das wei
tere Sprechen: Auch die Schreie sind geschnitten, die Schauspieler sagen einen Satz, und dann kommt ein Schrei, das ist geschnitten, es soll kein organischer Vorgang sein, man nimmt nicht eine Pose ein und schreit dann. [. . .] Diese Schnitte, die im Text sind und denen der Körper folgt, sind dann doch so etwas wie ein Programm." Für Pollesch
sind gerade die Schreie als internalisierte Techno
logie, als elektronische Verstärkung" zu lesen. Aus
diesem Grund funktioniert die Spielweise auch
nicht in seinen Fernsehfilmen (z. B. <<Ich schneide
schnellen>, Z.DF 1998): Die Schreie packen einen nicht. Laut und leise existiert im Fernsehen nicht, wird weggepege/t.
Der Paradigmenwechsel vom dramatischen
Agon, in dem Protagonist und Antagonist einen
Konflikt austragen, zur Agonie, dem inneren Kon-
lo NZZ vom 26.5.2003 31 vgl. Fußnote 5 n vgl. Bertolt Brecht: 1<Kieines Organon für das Theater>}, § 75. 33 vgl. Fußnote 4 34 Barthes, Roland (1964): «Mythen des Alltags>). Frankfurt/M.,
S. 1 Z1. 35 vgl. Pflüger, Maja. Sibylle (1996): «Vom Dialog zur Dialogizität. ·
Die Theaterästhetik von Elfriede Jelinek)). Tübingen und Basel: Franke Verlag 3 ~ Lehmann, Hans~Thies,
a. a. 0., 5. 216. 37 «EI')tschlüsselt mich!)) Ein Interview mit Rene Pollesch von Romane Pocai, Martin Saar und Ruth Sonderegger. ln: «Texte zur Kunst». März2003, 5.112~127.
,Ja zitiert nach Bettina Brandi-Risi (2001): <<Verzweiflung sieht nur live wirklich gut aus)). ln: «Stück~Werk 3>>, hrsg. von c'hristel Weiler und Harald Müller, Berlin: Theater der Zeit. S. 118 . . l? vgl. FUßnote 37, s. 117. 40 «Zorn, Einsicht und Verzweiflung)). Vier Fragen von Harald Müller an Rene Pol~ lesch, in: Theater der Zeit 12/2000, S. 63. 41 Diederkhsen, Died~ rich: «Denn sie wissen, was sie nicht leben wollen.», S. 57, in: Theater heute 3/2002.
29
30
· 42 Peter von Becker am
26.1.2004 auf dem theaterpolitischen
Fachkolloquium «Jenseits von Musealität und Amüsement>> in
Potsdam. 4
) Boltz, Norbert, a. a. 0., s. 255.,
.. Diederichsen, Diedrich: «Der Idiot mit der
Videokamera». Vortrag, gehalten beim
Symposion «Schnittstelle Theater» der Dramaturgischen Gesellschaft
am 9.1.2004. ~5 Polleschs Theater
arbeiten basieren auf Filmen oder theater
fernen Texten wie: Lorenz, Kuster und
Soudry (1999): <<Reproduktionskosten fäl
schen! Heterosexualität, Arbeit und
Zuhause»- Berlin: b_books Verlag; space
Lab (2000): «Fragmente städtischen Alltags.
Widersprüche>>, 20. Jg., Heft 78; Sitzungsprotokolle einer poststudentischen Giorgio-Agam-
ben-Theorielektüre oder einschlägig_en
Managerliteratur.
flikt, ist nach Lehmann ein Wesensmerkmal des
postdramatischen Theaters. Die Verzweiflung und
Wut, die ohne Gegner und Gegenentwurf ins
Leere läuft, gerinnt ZU(ll .kollektiven .«Scheiße»c
Schrei. Diederich Diederichsen überschreibt Pol
leschs kulturtheoretisches Diskurstheater mit
11Denn sie wissen, was sie nicht leben wollenu und findet in dem «existenziellen Ich [,das] seine Ver
zweiflung benennen kann und darf» den Bezug
zum Theater, mit seiner «Gewohnheit, echte Men
schen auf Bühnen»" zu stellen. Der existenzielle
Schrei Ich bin $0 künstlich! ist bei Po IIesch der
Schrei der uechten Menschen», der Darsteller
gegen das unechte Leben, gegen die Trivialmy
then, aus denen die Kunstfiguren auf seine Bühne
kommen. Dieser Schrei hat nur Raum im Theater.
Folglich fehlt gerade diese Qualität, die Simulta
nität und Ambivalenz von Live-Darstellung und
Medien-Versatzstück, Polleschs TV-Serie «24 Stun
den sind kein Tag». Verzweiflung über künstliche
Existenz sieht auf dem Monitor eben nicht gut,
sondern künstlich aus.
ABSPANN-: Theaterbekenntnis
Der gute alte Theatergaul ist im Medienzeit
alter angekommen, und wir betrachten sein altes
Wesen in neuer Gestalt. Nun ist er heimisch
geworden im Theateralltag, ein medialer Hybrid,
dessen Existenz nur manchen Theaterfundamen
talisten dauert. ln Leger-Tradition prophezeit die
ser die uSelbstaufgabe des Theaters», welches sich
mittels filmischer Mittel «unter sein mediales
Niveau» begebe". Den Hintergrund dieser Dege
nerationsängste vermutet Diederichsen in der
Assoziation des Videomediums mit der trashigen
Alltagsästhetik der ulow culture», in der es
ursprünglich Verwendung findet. Es zeigt sich,
dass .der Einzug des Videos auf die Bühne nicht
unschuldig sein kann. Anders als noch in Pisca
tors Dokumentartheater dringt heute nicht Wirk
lichkeit per Einspielung in den Kunstraum ein. Die
Erfahrung der Postmoderne ist die einer media
len Entmachtung der Wahrnehmung: Die udigi
tale Revolution», so Norbert Boltz, uhat die Weit
der Bilder total kontrollierbar und manipulierbar
gemacht. Die neuen Medien lassen nur noch eine
Geschichte erzählen: die ihrer selbst. Deshalb
überfordert man sie, wenn man authentische
Berichterstattung über eine Wirklichkeit erwartet,
die längst gelebte Unwirklichkeit geworden ist.»".
Was mit dem Medium demnach in die Stätte der
Hochkultur eindringt, sind. neben. medialer Selbs
treferenz, Trugbild und Täuschung «schmutzige»
mediale Formate. An den Medien, die im Theater
eingesetzt werden, «kleben Verwendungsge
schichten [ .. .]. vor allem Alltagsrealität Dies sind
die Maschinen, mit denen die Subjekte ihre Frei
zeitarbeit verrichten. Sie sprechen ihren Dialekt.»"
Die Legitimität von Medien auf dem Theater
wurde hier nicht in Frage gestellt. Es ging darum,
exemplarisch anhand der Theaterarbeit von Rene
Po IIesch darzustellen, wie reflektiert und raffiniert
dieser «Dialekt» theatral eingesetzt wird, um dem
Theater in der Gegenwartsbeschreibung Souver
änität zu verschaffen. Rene Pollesch interessiert
seine, unsere «AIItagsrealität», die für ihn «geleb
te Unwirklichkeit» ist. Ich muss erst mal die
Begriffe klären, wie Liebe und Leben, und ich
. bestehe darauf, dass ich anders lebe und liebe
als Harntet. [ .. ]Meine Identität wird vor ollem im
Theater produziert. Die Frage nach der Subjekt
position, der Verortung stellt Pollesch in all sei
nen Arbeiten. Wo leben wir? Wo.arbeiten wir? Wir
sind mittendrin, immanent und hyperreal: Im
uWWW-SJum», in der uTelefavela», denn uHeidi
Hoh arbeitet hier nicht mehn>. Heidi Hoh ist im
Theater. Für Po IIesch nicht Ort der Repräsentati
on von Weit, sondern Teil der Wirklichkeit.
Bei der Grenzüberschreitung, der Reibung
am Fremden in medialen Niederun'gen geschieht·
etwas, was man·pathetisch als die «Wiedergeburt
des Theaters aus dem Medien(un)geist» bezeich
nen könnte. Was das Theater heute braucht, ist
außerhalb des Theaters zu finden. Po IIesch findet
Motive in Filmen oder theoretischen Texten'', die
in seinen Theaterarbeiten zu Metaphern einer per
sönlichen Lebens- und Arbeitserfahrung stilisiert
werden. ln den Inszenierungen findet eine weite
re mediale Transformation statt: Film-Vorlage,
Soap-Format und artifizielle Darstellungsform
dienen sowohl der Theatralisierung des Diskurses .
als auch der Verfremdung und ironischen Bre
chung. Das auf Seifenopernformat zugerichtete
Leben bekommt in Polleschs Theater-Soaps einen
neuen Spielraum, in medialer Maskierung zur
Kenntlichkeil entstellt. l!ll
DRAMATURG 1/2004
Drei Autoren - sechs Fragen
Resumee der drei Workshops mit Autoren
1. Das Symposium fragt nach der «Schnitt
stelle Theater>>. Beeinflussen die so genannten
. neuen Medien und ihre dramaturgischen Techni
ken dein Schreiben?
Rebekka Kricheldorf: Bewusst nicht, unbe
wusst sicher schon. Die neuen Medien sind in mei
nen Alltag integriert und mit meinem Leben ver
knüpft, so dass sie zwangsläufig ihre Spuren hin
terlassen. Ich würde mich aber nicht als eine
explizit von neuen Medien geprägte oder diese
thematisierende Autorin bezeichnen.
Margareth Obexer: Nicht uDie Liebenden .. ,
bei dem noch der Anrufbeantworter ein zentra
les Kommunikationsmedium darstellt und
hauptsächlich intertextuelle bzw. mediale Bezü
ge wie lngeborg Bachmanns uDer gute Gott von
Manhattan" oder der Film «Harold and Maude"
dem Stück eingeschrieben sind.
Die neuen Medien erschließen vor allem
auch neue Möglichkeiten des Erzählens und
sprechen damit einen zentralen Punkt des
Schreibens an. Ich kann mir sehr gut vorstellen,
dass mit den neuen Medien auch neue Bühnen
texte entstehen.
Andri Beyeler: Bisher weder direkt noch
bewusst. Ich habe mir zumindest noch bei keinem
Stück überlegt, eine- was weiß ich- Chat-Room
Dramaturgie zu versuchen. Es sind- im Moment
mehr unmittelbar «erzählerische" Techniken, die
mich interessieren, und weniger der ganze medi
al vermittelte Kram.
2. Findet beim Schreiben überhaupt eine
Auseinandersetzung mit den elektronischen Me-
DRAMATURG 1/2004
dien statt? Oder spielen sie - trotz ihres weit rei
chenden Einflusses auf die Gesellschaft - über
haupt keine Rolle für deinen Schreibprozess?
R. K.: Ich benutze elektronische Medien zum
Arbeiten, und sie kommen auch schon ·mal in
meinen Stücken vor- z. B. wenn es um Personen
geht, deren Verhalten stark von neuen Kommu
nikationstechniken oder medialen Möglichkeiten
geleitet wird. Trotzdem mischen sich die neuen
Medien in ihrer Bedeutung für mich eher gleich
wertig unter andere, «traditionelle" Einflüsse.
M. 0.: Ich schreibe - wie wohl die meisten -
direkt in den Computer hinein, damit beschränkt
sich zunächst der Einfluss elektronischer Medien
auf den Schreibprozess.
Da ein künstlerisches Arbeiten mit diesen
Medien sich hauptsächlich im Produktionsprozess
auf der Bühne abspielt, müsste es eine konkrete
Zusammenarbeit mit dem Theater oder Regisseur
geben, um diese Auseinandersetzung auch für das
Schreiben nutzbar machen zu können.
Vielleicht sind es die neuen Medien, die die
meist atomisierten Theaterfunktionen wieder zu
sammenbringen- und auch darüber neue ästhe
tische Möglichkeiten erschließen.
A. B.: Auch hier gilt eigentlich, dass ich mich
schreibenderweise bisher weder direkt noch be
wusst mit elektronischen Medien auseinanderge
setzt habe.
Allerdings glaube ich, auch als Schreibender
Teil der Gesellschaft iu sein, und wenn die Neuen
Medien einen weit reichenden Einfluss auf diese
haben, dann werden sie es wohl auch auf mich
haben und so vielleicht auch für meinen Schreib
prozess eine Rolle spielen.
Wahrend des Sympo~ siums fanden drei parallele Workshops zu Stücken der Autoren Rebekka Kricheldorf, Margareth Obexer und Andri·Beyeler statt. Diese Workshops wurden abgeschlossen in einer Podiumsdiskussion am Sonntagmittag, die auf diesen Seiten rekonstruiert wird. Weitere Teilnehmer: Step~anie Lubbe (Dramaturgin, Schauspiel Staatstheater Stuttgart), Martina Grohmann (Dramaturgin, Landestheater Württemberg-Hohenzollern Tübingen Reutlingen), Petra Thöring (freie Dramaturgin, Berlin), Florian Vogel (Dramaturg, Schauspiel Staatstheater Stutt~ gart) und lnge Zeppenfeld (Dramaturgin, Theater Osnabrück); Gesprächsleitung: Axel Preusz (Chefdramaturg, Landestheater Württemberg~Hohen~
zollern Tübingen Reutlingen).
31
32
Ich meine, ich gucke ja schon auch, was da 4. Wie kommst du generell zu einem Stoff?
draußen passiert. Ich versuche, mich schreiben- Suchst du ihn? Oder lässt du dich gewissermaßen
derweise zu dem, was da draußen passiert, zu ver- «von ihm finden»?
halten. Und wenn da draußen passiert, was pas
siert, weil die da draußen alle von den Neuen .
Medien weitreichend beeinflusst sind, dann wird
sich das wohl auch in dem, was ich schreibe, nie
derschlagen.
Oder, um es halbwegs pathetisch auszu
drücken: Auch ich bin nur ein Kind meiner Zeit.
3. Wie kommt dein Stück in Form? Gibt es
vor oderwährend des Schreibens eine formale
Zielsetzung, die die Struktur und die Dramatur
gie des Stückes bestimmen?'Oder bedingen die
Größe und die individuelle Qualität des Stoffes die
Form?
R. K.: Meist habe ich eine Stoffidee schon
lange vor Schreibbeginn gefunden - häufig eine
Mixtur aus literarischem Mythos und gerade im
eigenen Leben Relevantem, manchmal aber auch
nur ein Bild oder einen Satz. Diese Idee trage ich
eine Weile mi~ mir herum; und bevor ich mit dem
Schreiben beginne, hat sie schon eine Vielzahl von
Transformationen durchgemacht. Deshalb fällt es
mir immer schwer, Fragen nach dem eigentlichen
Ursprungsgedanken eines Textes zu beantworten.
M. 0.: Es ist ja alles irgendwie Stoff. Dann
sammelt sich zu einem bestimmten Thema oder
einer Geschichte immer mehr Material - wie der
R. K.: Ich habe immer eine formale Vorstel- Staub, der irgendwann elektrisch wird und immer
lung von dem gerade angefangenen Stück, die ich mehr Masse anzieht, bis er glüht.
aber im weiteren Arbeitsprozess nicht didaktisch
durchzusetzen versuche. Meist sucht sich der
jeweilige Stoff während seiner eigenen Mutation
die ihm angemessene Form - was für mich als
Autor in auch. interessanter ist, da ich am Anfang
keine sichere Prognose stellen kann, wie das Stück
letztendlich aussieht bzw. klingt.
M. 0.: Es sind immer auch die Geschichten
selbst, die die Form bestimmen. Doch auch un
abhängig davon ist die Auseinanders,tzung mit
Schreibweisen und Erzählformen zentral.
Insofern beeinflusst umgekehrt die Beschäf
tigung mit Theatersprachen auch die Geschich
ten.
A. B.: Eine formale Idee, auch ein fo.rmales
Interesse war bis jetzt bei jedem Stück, das ich
geschrieben habe, von Anfang an da. Die und das
verfolge ich dann beim Schreiben und passe aber.
auch an.
A. B.: Ich hantiere nicht so offensiv mit dem
Begriff Stoff. Ich überlege mir, wenn ich einen Text
beginne, weniger, was ein guter Stoff ist, sondern
welche Fragen mich gerade umtreiben, welche
Situationen und Vorgänge, we!ches Verhalten und welche Mechanismen mich interessieren. Und wel
ches die Form sein könnte, damit umzugehen.
Wo ich hingegen vom Stoff-Finden respek
tive vom Stoff-Gefundenwerdeo sprechen könn
te, sind Auftragsstücke. Also beispielsweise war
es bei «Die Kuh Rosmarie» so, dass die Bilder
buchvorlage von Anfang an da war. Da hat also
der Stoff mich gefunden.
5. Welche Kriterien legst du an einen Stoff
an, um 'zu prüfen, ob ·er sich auch wirklich für die
Bühne eignet?
R. K.: Ich glaube, dass sich fast jeder Stoff
potenziell für die Bühne eignet. Es kommt darauf
DRAMATURG 112004
an, was für eine Form man ihm ~gibt. Mich inte
ressieren vorrangig Themen, die über das Private
hinaus auf etwas Allgemeines verweisen, einen
bestimmten Rahmen von Intimität sprengen.
M. 0.: Er muss sich für mich eignen, für den
Fundus an fiktiven Möglichkeiten, an sprachlichen
und erzählerischen Momenten, die er selbst mit
entzündet- und die ich ihm anbieten kann.
A. B.: Grundsätzlich glaube ich, dass man
auf der Bühne alles erzählen kann und also alles
geeignet ist. um auf der Bühne erzählt zu wer
den. Oder ich glaube zumindest, dass man ver
suchen kann, alles auf der Bühne zu erzählen.
Dass man zumindest versuchen kann, alles zu
versuchen. Kommt halt, glaube ich, auf die Form
an. Also ob man die jeweils entsprechende fin
det.
6. Frage aus dem Publikum: Inwiefern lässt
sich bei den hier vorgestellten Stücken von poli
tischem Theater sprechen? Werden hier nicht vor
nehmlich private, also unpolitische Themen ver
handelt?
R. K.: Das knüpft direkt an die letzte Frage
an: ln Bezug auf meine Texte halte ich das Eti
kett «privat» für falsch:- Die in meinen Stücken
auftretenden Figuren sind schon deshalb öffent
lich, weil sie keine rein psychologisch funktio
nierenden Privatpersonen, sondern immer auch
Archetypen sind. Ob der Versuch, Themen mit
gesamtgesellschaftlicher Relevanz zu behandeln,
an sich schon als politisch zu bezeichnen ist, ist
eine Frage nach der Definition von «politischem
Theater". Da mein Verständnis von politischem
Theater die Absicht beinhaltet, eine Botschaft los
zuwerden und gesellschaftsverändernd zu wirken,
würde ich meine Stücke nicht als politisch be
zeichnen.
DRAMATURG 1/2004
M. 0.: Ich weiß nicht, was ein privates Thema
ist.- aber ich glaube nicht, dass es die Grenze zum
Politischen darstellt.
Ob etwas «privat» ist, ist eine Frage der Form,
die es zusammen mit der Geschichte entweder
geschafft hat, eine solche zu sein - oder eben
nicht.
A. B.: Grundsätzlich verspüre ich wenig
Bedürfnis, meine Stücke zu etikettieren und also
zu sagen: Das ist ein Stück politisches Theater.
Auch glaube ich aus solchen Fragen jeweils
rauszuhören, dass der/die Fragende eigentlich gar
nicht (<politisch)) meint, sondern (ddeologisch». Ich verstehe nämlich unter «politisch» erst
einmal nöffentlichkeitsrelevant». Und natürlich
halte ich meine Stücke für öffentlichkeitsrelevant
(und also politisch). ich schreibe die ja, damit sie
gespielt werden, dass sie in der Öffentlichkeit
·stattfinden.
Und so gesehen ist ja dann auch eigentlich
jedes Stück, das gespielt wird oder s.onstwie an die
Öffentlichkeit gelangt, politisch. Und somit auch
die so genannten nunpolitischen Stücke». Die sind
so gesehen dann eben einfach affirmativ. Dass das
zuweilen vergessen wird, hängtwohl auch damit
zusammen, dass, wenn nach «politischen Stücken»
gefragt wird, in der Regel ja nirgendwie gesell
schaftskritische Stücke» gemeint wird.
Des Weiteren frage ich mich, ob es über
haupt so etwas gibt wie private, also unpoliti
sche Themen. Ich glaube zum Beispiel einfach
nicht, dass ein Thema wie sexueller Missbrauch
in so genannten Liebesbeziehungen, was ich in
nsouviens" verhandle, ein privates Problem sein
soll.
Dass ich mich frage, ob es überhaupt so
etwas gibt wie private, also unpolitische Themen,
hängt auch damit zusammen, dass ich es schlecht
fertigbringe, ein Thema. losgelöst von der Form,
in der es verhandelt wird, zu denken. 111
33
.34
Kleist-Förderpreis für junge Dramatiker
Laudatio von John von Düffel auf «fieberweltenn Von Daniel Mursa
Es war einmal ein arm Kind und
({ hatt kein Vater und keine Mutter,
war alles tot, und war niemand mehr auf
der Weit. Alles tot, und es is hingegan
gen und hat gesucht Tag und Nacht. Und
weil auf d.er Erde niemand mehr war,
wollt's in den Himmel gehen, und der
Mond guckt es so freundlich an; und wie
es endlich zum Mond kam, war's ein
Stück faul Holz. Und da is es zur Sonn
gangen, und wie es zur Sonn kam, war's
ein verwelkt Sonneblum. Und wie's zu
den Sternen kam, waren's kleine goldene
Mücken, die waren angesteckt, wie der
Neuntöter sie auf die Schlehen steckt.
Und wie's wieder auf die Erde wollt, war
die Erde ein umgestürzter Hafen. Und es
war ganz allein.>) An dieses Märch·en des Weltver
lusts, das die Großmutter in Georg Büch
ners «Woyzeck» erzählt, musste ich den
ken, als ich zum ersten Mal das Stück
«Dreitagefieber>> von Daniel Mursa las. Es
gibt zwischen den beiden Theater
stücken keine nennenswerten Parallelen.
Doch in diesem unheimlichen Märchen
· wird eine Atmosphäre beschworen, die
das erste ist, was den Leser von «Dreita
gefieber" einfängt und mit hineinzieht
in die Geschichte von vier Geschwistern
in einem dreitägigen Fieberzustand, in
dem Vergangenheif und Gegenwart ein
ander durchdringen.
Die Ausgangssituation von Daniel
Mursas Stück scheint einfach: Strik,
Tanja und Friedrich wohnen zusammen.
in einem der oberen Stockwerke eines
Hochhauses. Sie sind zwischen dreißig
und fünfunddreißig Jahre alt, gehören
somit zu der Generation, die mitten im
Leben stehtoder zumindest stehen soll
te. Und sie erwarten Besuch. Friedrich
hat eine Frau namens Huth kennen
gelernt, die vorbeikommen will. Und wie
in vielen Stücken handelt es sich dabei
um eine Besucherin aus der Vergangen
heit: Ruth ist die leibliche Schwester von
Tanja und Strik. Ihre totgesagte Schwe
ster. Und Friedrich, der Adaptivbruder
der beiden, ist derjenige, der nach Ruths
Verschwinden ihren Platz eingenommen
hat.
Nichts ist, was es ist, in diesem
Stück von Daniel Mursa. Der Besuch von
Ruth wirft Schatten der Verunsicherung
voraus. Und die Mittdreißiger, die
eigentlich verwoben sein sollten in das
Geflecht des Lebens, schweben in
schwindelnder Höhe über dem Abgrund
der Dinge wie Kinder in einem Fieber
traum. Tanja schlägt sich wiederholt die
Kni'e auf, als wäre sie ein kleines
Mädchen auf dem Spielplatz. Die Geräu
sche, die von der Weit unter ihnen her
aufdringen, verwandeln sich. Das Uner
löste ihrer Vergangenheit belegt sie mit
bleiernem Bann:
TANJA
Ich konnte nicht schlafen Gestern
Strik
Ich bin noch müde
Ich bin a~fgewacht Mitten in der Nacht
Jemand hat Steine in den Fluß gekippt
Das heißt
Mir war
Als schütte jemand Steine -in den Huß Und als das nicht aufhörte
Da bin ich ans Fenster gegangen
Und draußen war ein Sc.hwarm kleiner
schwarzer Fliegen
Die sich von einem toten Tier erhoben
Einem Vogel
Glaube ich
Und da wußte ich
Daß das· Geräusch keine Steine waren
Sondern das Summen von den Fliegen
im Flug
Über dem Vogel
Strik
Und später in der Nacht härte ich einen
Hund
Der unten am Fluß Knochen zerbeißt
Dachte ich
Wirklich
Und dann saß ich wieder senkrecht im Bett
Und stand auf
Und sah aus dem Fenster
Eine ganze Weile
Aber ich s,ah nichts
Und am M.orgen stellte ich dann fest
Daß das Freßgeräusch von den Wellen kam
Die gegen das Boot da unten schlugen
Das im Wasser liegt
Das blaue
Aber das wußte ich erst am Morgen
Und also sah ich weiter aus dem Fenster
Und härte den Hund
Der am Ufer Knochen zerbeißt
Als ich über dem Gestrüpp am Ufer
So etwas wie eine Rauchsäule sah
Und diese Säule stieg und fiel
Eine dünne graue Säule
Doch es war nirgends ein Feuer zu sehen
Und ich konnte mir das· nicht erklären
Bis ich endlich sah
Daß die Säule g~r kein Rauch war
Sondern nur ein Schwarm Mücken
· Ein Schwarm Mücken
Seltsam
Nein
Das ist doch seltsam
Ein Schwarm Mücken
Nachts))
Figuren, die so reden und empfin
den, sind vom Zeitgeist einer Generation
xy weit entfernt. Ihr Blick ist geradezu
kindlich, märchenhaft im bösesten, Woy"
zeck'schen Sinne. Siespüren das Unheim
liche im Vertrauten, die Kriechströme der
Bedrohlichkeil unter den Dingen. Mursas
Protagonisten leben in ihrer eigenen,
abgleitenden Weit, die auch bei Tag nicht
fester, nicht sicherer und beherrschbarer
wird. Das Fieber ihrer Nächte macht vor
DRAMATURG 1/2004
Der 25-jährige Daniel Mursa erhält. für sein Stück «Dreitagefieber» ·(erschienen im Rowohlt Theater Verlag) den Kleist-Fördeq)reis für junge Dramatiker, der in diesem Jahr zum neunten Mal vergeben
der Dramaturgischen Gesellschaft (Petra Thöring und Florian Vogel), des Kleist Forum Frankfurt, der uraufführenden Bühne und dem Autor und Dramaturgen John von .Düffel, der auch die Laudatio halten wird, wählte das Stück aus 84 E'insendungen aUs. Die Uraufführungsinszenierung von «Dreitagefieber>) wird als Koproduktion des Landestheaters Württemberg-Hohenzollern Tübingen Reutlingen und des Kleist Forum Frankfurt im Frühjahr 2005 in Tübingen Premiere haberi und kurz darauf auch in Frankfurt (Oder) zu sehen sein.
wird. Neben einem Preisgeld von 7670 Euro beinhaltet der Preis auch eine Uraufführungsgarantie für das Stück. Überreicht wird die Urkunde durc~ Frankfurts Oberbürgermeister Martin Patzelt im Namen der Stadt Frankfurt (Oder), die den Preis zusammen mit der Dramaturgi-
schen Gesellschaft jährlich auslobt. Die Jury, bestehend aus Vertretern
den wachen Sturiden nicht halt Angst
und Verunsicherung bekommen" lediglich
ein anderes Gesicht. Strik und Tanja,
Friedrich und die verlorene Schwester
Ruth verlassen die Wohnung ihres priva
ten Vertigos kaur:n noch, das Außen
schwindet. Sie verbringen ihre Fieberzeit
in einem seltsamen Schwebezustand aus
Verlorenheil und Privilegiertsein, beina
he wie die Aristokraten in Büchners
uDantonsTod», die es nicht wagen, einen
Fuß in eine gewöhnliche Pfütze zu set
zen, aus Angst, es könnte ein Loch sein,
durch das sie aus der Weit fallen.
Doch nicht nur für die Atmosphäre
von «Dreitagefieber>• ist Tanjas Monolog
oder besser Gesprächsversuch bezeich
nend. Darin enthalten ist auch das
Erzählmuster des gesamten Stücks: Sie
hört das Geräusch von Steinen, die in
einen Fluss geschüttet werden, und muss
dann feststellen, dass es Fliegen vor
ihrem Fenster sind. Sie hört einen Hund,
der Knochen zerbeißt, und sieht dann,
dass es sich um Wellen handelt, die
gegen ein Boot schlagen. Und die
Rauchsäule in der Luft erweist sich als
ein Mückenschwarm. Wahrnehmen und
Wissen gehen in diesem Stück aus~
einander. Ahnung und Erkenntnis,
Gefühl und Gewissheit separieren sich.
Nicht nur die Figuren, sondern auch
der Leser sucht in Daniel Mursas Fieber
weit bisweilen vergebens nach Halt und
verlässlichem Grund. Was sich so still
und unspektakulär entrollt. ist gleichzei
tig ein regelrechter Fieberkrimi. Der
uMord» allerdings ist schon gewesen,
und wir wohnen den Wirren seiner Ent
rätselung bei. Die Katastrophe, das
Drama der äußeren Handlungen liegt
zurück in der Vergangenheit. Was bleibt.
ist das Drama der Erkenntnis über die
damals entstandene Schuld. Und Daniel
Mursa erzählt die Geschichte ihrer Ent
hüllung in einer prekären Balance von
Irritation und Information.
DRAMATURG 1/2004
Zwischen Mitgefühl und dem Blick
des Diagnostikers schwankt denn auch
die Haltung des Lesers zu diesem Text
und seinen Figuren. Manchmal erschei
nen Strik, Tanja, Friedrich und Ruth so
verloren, dass man nicht umhin kann,
mit ihnen zu empfinden. Manchmal
sieht man in ihrem Verhalten Anzeichen
eines Krankheitsbilds. Mursas Stück ist
eine kleine Phänomenologie des Fiebers:
Die Symptome sind gegeben, finden Sie
die Ursache heraus! Dochtrotz ihrer Fie
berkurven werden seine Figuren keine
pathologischen Fälle, bleiben sie Men
schen auf unsicherem Grund, die suchen
und insistieren, wo sie gefunden zu
haben glauben.
Diese Ambivalenz ist entscheidend.
Mursas Stück lebt von der Wandelbar
keit sämtlicher Wahrheiten und Haltun
gen, von ihrem fiebrigen Doppelsinn.
Doch das macht es dem Theater auch
kolossal schwer. Anders als ein reiner
Text hat das Zeichensystem Theater mit
seinen zusätzlichen Codes der Körper
sprache, des Untertons und Spiels eine
Tendenz zur Eindeutigkeit, die das
Geheimnis, das der Text hütet, zerstören
kann. Die Lektüre lässt viele der einfach
sten Fragen offen und bezieht ihre
Spannung mitunter aus eben dieser
Offenheit und der Unschärfe möglicher
Antworten: uWer sind diese Figuren,
warum reden und handeln sie so, was
hat sie derart aus dem Leben geworfen?»
Eine Inszenierung, die diese Fragen .zu
früh und zu deutlich beantwortet,
macht aus dem Erkenntnisdrama eine
Tautologie. Eine Inszenierung, die keine
Antwort darauf weiß, macht aus
Unschärfe Verschwommenheit und aus
den Rätseln des Textes eine Mogel
packung inhaltsleerer Geheimnisse ..
Daniel Mursa hat ein Stück
geschrieben zwischen Fallstudie und
empathischer Geschwistergeschichte. Er
hat mit seinen Figuren eine Weit eröff-
netzwischen Fieberwahn und Wirklich
keit. Und er hat ihnen eine Sprache
gegeben zwischen geschwisterlicher
Vertrautheit und dem Pathos des
Schweigens. Wo das Theater gern «ent
weder oden> sagen würde, sagt Mursa
usowohl als auch», und diese Spannung ·
des Inkompatiblen nnuss das Theater
aushalten. Es steht in der Tradition des
Kleist-Förderpreises der Stadt Frankfurt
(Oder). Texte auszuzeichnen· und junge
Dramatiker zu unterstützen, die sich
nicht so ohne weiteres eintheatern las- ·
sen. Mit ihrer Entscheidung für Daniel
Mursa setzt die Jury des Kleist-Förder
preises für junge Dramatiker diese Tra
dition fort.
Und was weiß man über Mursa?
Wie bei den Figuren seiner Stücke·
zunächst einmal wenig. Er wurde l979
in Harnburg geboren, brach sein Germa
nistikstudium in Berlin ab, um an das
renommierte Literaturinstitut in Leipzig
zu gehen, Fachrichtung Prosa und
Drama. Seine Diplomprüfungen absol
vierte er über Peter Weiß· und Botho
Strauß. 2002 machte er mit seinem
Stück uNach Bayeux» erstmals als Dra
matiker auf sich aufmerksam, wurde
eingeladen zu den Werkstatt-Tagen des
Hamburger Schauspielhauses, wo sein
Erstling später uraufgeführt wurde, und
zu den Autorentheatertagen des Thalia
Theaters. «Dreitagefieber>> ist seiri zweic
tes Stück, und es verrät auch etwas von
dem kriminologischen Interesse des
Autors, der seit 2004 dem Studium der
Kriminologie am Institut für Sozialfor
schung der Universität Harnburg nach
geht. Wer Daniel Mursa wirklich ist,
bleibt damit wie bei seinen Figuren
ungesagt. Doch er ist vor allem eins: ein
viel versprechender Dramatiker. 1!11
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IMPRESSUM
Dramaturgische Gesellschaft (DG)
Geschäftsstelle: Tempelherrenstraße 4 10961 Berlin
Telefon: 030-693 24 82
Telefax: 030-693 26 54
e-mail: dramaturgische.ges@ snafu.de
www.dramaturgischegesellschaft.de
Geschäftsführung: Henning Rischbieter
Vorstand: Manfred Beilharz (Vorsitzender), Ann-Marie Arioli, Dagmar Borrmann, Birgit Lengers, Anne-Sylvie König, Jan-linders.-Peter Spuhler, Florian Vogel
Redaktion: Henning Rischbieter, Heldrun Schlegel
ISSN Nr. 1432-3966
Inhalt
Anstatt eines Editorials Seite 1
Theater ist kein Medium - aber was bewirkt es, wenn der Mann mit der Videokamera auf der Bühne arbeitet? von Diedrich Diederichsen
Seite 3
Was bewirkt die Kamera auf der Bühne bei den Schauspielern?. vdn Carl Hegemann
Seite 8
Was alles video-technisch möglich ist von jan Lindcrs
Seite 10
Warum und wie man Kinofilme aufs Theater bringt
Seite 13
Das Drama des Sehens Live-Video auf der Bühne oder die Politik des Blicks von Themas Oberender
Seite 15
Medien dürfen auch Spaß machen -und das Theater bleibt der Souverän von Jens Roselt
Seite 21
Ein PS im Medienzeitalter - Mediale Mittel. Masken und Metaphern im Theater von Rene Pollesch von Birgit Lengcrs
Seite 24
Drei. Autoren - sechs Fragen Resumee der drei Workshops mit Autoren
Seite 31
KleisHörderpreis 2004 Laudatio von John von Düffel
Seite 34
Mitgliederversammlung der Dramaturgischen Gesellschaft
Am Rande des Symposiums in der Volksbüh
ne fand die alljährliche Mitgliederversammlung
der Dramaturgischen Gesellschaft statt. Die lau
fende Jahrestagung wurde dort diskutiert und
positiv bewertet. Außerdem wurde folgende Sat
zungsänderung beschlossen:
§9, letzter Absatz («Das nach Beendigung der
Liquidation ... ausgeführt werden.")
wird geändert und lautet: «Bei Auflösung des
Vereins oder bei Wegfall steuerbegünstigter
Zwecke fällt sein Vermögen an eine juristische
Person des öffentlichen Rechts oder eine andere
steuerbegünstigte Körperschaft zwecks Verwen
dung für Förderung von Kunst und Kultur in
Deutschland.»
Das Symposium <!Schnittstelle Theater11 wurde gefordert durch
den Hauptstadtkulturfonds.
DRAMATURG 1/2004
Arbeitsweisen
Die Zielsetzung der Dramaturgischen Gesellschaft soll erreicht werden u. a. durch: - die Förderung des Erfahrungsaustausches und des Zusammenwirkens dei- Mitglieder und anderer ln teressierter: - durch die Veranstaltung von Jahrestagungen, die abwechselnd in verschiedenen Theaterstädten Deutschlands, Österreichs und der Schweiz stattfinden, -durch die Veranstaltung von
Dramaturgischen Tagen, die jew.eils unter einem bestimmten Thema stehen, -.durch Diskussions- und Vortragsveranstaltungen zu grundsätzlichen und aktuellen Problemen,
l i e I setzu n g en
Die Dramaturgische ßesellschaft (dg) ist ein Zusammenschluss der im Bereich der Darstellenden Künste und ihrer Medien Theater, Film, Fernsehen, Hörfunk u. a. Tätigen und Interessierten. Ihre Aufgabe ist die Diskussion und Formulierung künstlerischer und gesellschaftspolitischer Vorstellungen und die Wahrung und Durchsetzung beruflicher Interessen. Sie versucht, möglichst viele der in diesem Bereich arbeitenden und _interessierten Personen und Gruppen zu sammeln, ihren Austau~ch untereinander zu fördern und ihre Arbeit zu dokumentieren.
.-durch die· Herausgabe der Zeitschrift .. Dramaturg" und durch die Herausgabe der Schriftenreihe der Dramaturgischen Gesellschaft; -sowie durch: die Bildung von Arbeitsgruppe_n, in denen Mitglieder und andere Interessiertedramaturgische Teilbereiche bearbeiten; ' - die Veröffentlichung von Stellungnahmen zu kulturpolitischen und dramaturgischen Entwicklungen; - die Vermittlung von Auskünften zu dramaturgischen Fragen; - die Zusammenarbeit mit anderen Institutionen und W:rbänden.
Die Dramaturgische Gesellschaft versteht Dramaturgie im weitesten Sinne des Wortes als Vermittlung zwischen Darstellender Kunst und ihren Produktionsformen. Sie befasst sich mit dramatischer Literatur, mit Theater- und Medientheorie, mit Publikum und Öffentlichkeit.
Die Darstellenden Kün?te und ihre Medien unterliegen einem Veränderungsprozess. Ne~e technologisch bedingte Informations- und Kornmunikationssysteme etablieren Sich und treten in Konkurrenz zu den bisherigen. Die ökonomischen und kulturpoli_tischen Bedingungen für die Darstellenden Künste verschär-
Arbeitsgruppen Zu einzelnen Fragen und Pr_oblemfeldern können von den Mitgliedern Arbeitsgruppen gebildet werden, die sowohl ad hocals auch langfristig Themen erarbeiten und öffentlich wirksam ~achen.
fen sich. Zugleich fordern neue, teilweise alternative Formen der Theater-, Film-, Videoproduktion die Künste und ihre bestehenden Institutionen heraus. ln der ästhetischen und kulturpolitischen Diskussion stehen jedoch.dramaturgische, ästhetisch-konzeptionelle und künstlerisch-gesellschaftspolitische Fragen bislang noch allzu öft im Hintergrund und werden.von technischen und parteipolitischen Interessen überdeckt. Die Dramatur-. gisehe Gesellschaft will sie stärker ins öffentliche Bewusstsein rücken.
Foru~ Junge Dramaturgie Seit Januar 1997 gibt es innerhalb der Dramaturgischen Gesellschaft das Forum junge Dramaturgie. Die Idee war, einen Gesprächsraum zu schaffen, der jungen Dramaturgen· und anderen Interessierten die Gelegenheit bietet, jenseits von pragmatischen Entscheidungen des Theaterbetriebs ileue Stücke zu lesen und diese gemeinsam mit den Autoren zu diskutieren. Inzwischen kommen Verlags- und Schauspieldramaturgen, Regisseure und Studierende aus ganz Deutschland, Österreich und der Schweiz zu den Gesprächen, die etwa alle acht Wochen stattfinden {Termine unter .www.forum-dramaturgie.de).
Antrag auf Mitgliedschaft Mitgliedsbeitrag Einzugsermächtigung Ich möchte der Dramaturgischen Gesellschaft beitreten. Der Jahresbeitrag beträgt seit
dem 16.11.1993:
Ich ermächtige die Dramaturgische Gesellschaft widerruflich, den von mir zu entrichtenden
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persönliche Mitglieder € 37,
(ermiirligt€i8,5o)
korporative Mitglieder €' 128,-
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persönliche Mitglieder SFr. 143 ... -
(ermäßigt SFr 50,-)
korporative MitgliederSFr 494,-
Jahresbeitrag in Höhe von bei Fälligkeit zu Lasten meines Kontos-einzuziehen. Weist mein Konto die erforderliche Deckung nicht auf, besteht seitens des kontoführenden Instituts keine Verpflichtung zur Einlösung.
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Kontonummer
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Dr. Manfred Beilharz, Wiesbaden {Vorsitzender) Ann-Marie Arioli, Wiesbaden
M itg I ieder
Dagmar Borrmann, Leipzig
Birgit Lengers, Berlin Anne-Sylvie König, Kassel Jan lindfrs, Berlin Peter Spuhler, Tübingen
Florian Vogel, Stuttgart Geschäftsführung: Henning Rischbiete~ Geschäftsstelle: Dramaturgische Gesellschaft .Tempel herrenstraBe 4, D- 10961 ·serlin
Telefon 030/693 24 82
Telefax 030/693 26 54
e-mail: [email protected] www.d ra m atu rg ische-g esellsca hftd e
Postbank Berlin Bll 100 100 10
Kto Nr. 7769 100
Die Dramaturgische Gesellschaft ging 1956 aus dem 1953 entstandenen Dramaturgischen
Arbeitskreis hervor. Von der Gründung an versteht sie sich als eine Gesellschaft, die keine
parteipolitischen und gewerblichen Ziele verfolgt.
Waren in ihr zunächst nur die auf dem Gebiet der Dramaturgie tätigen Personen vereinigt, so versteht sich die Gesellschaft seit ihrer Satzungsänderung im Jahr 1972 als eine Ver
einigung von Praktikern und Theoretikern und versucht verstärkt, nicht nur diejenigen anzusprechen, die aus beruflicher Tätigkeit, sondern auch d_ie, die aus persönlichen Gründen an Fragen der Dramaturgie interessiert sind.
Die Gesellschaft hat gegenwärtig ca. 350 persönliche und 11 korporative Mitglieder. Mitglied kann jede natürliche oder juristische Person werden, die im Sinne der Gesellschaft tätig ist. Die Mitgliedschaft .sollte schriftlich beantragt werden.
' ............................................................................................................................................... . Lieferbare Publikationen
Schriften ä € 5,-
Tournee-Theater, 1975 Friedrich Schultze, 1975 SteuerrefOrm und Theater
finanzierung, 1976 25 Jahre DramC!turgische Gesellschaft, 1978
Theater·von heute·-···RäÜme
von gestern, 1979 Sprache und Sprechen, 1979
Ist das Theater noch zu retten?- Politische Wende=
Theaterwende?, 1984 Unlust an Erstarrung- Lust auf Veränderung ·(Schauspiel
Musiktheater), 1985
Brauchen Fernsehspiel und Hörspic:l eine neue Dramaturgie?, 1986 Deutsche Dramaturgie -als Beispiel?, 1986
Heiner Müller I Unterhaltung im Theater, 1987 Tanztheater I Mordsweiber I ~Kolt<:s, 1990
Sturz vom Sockel? Künstlerische Arbeit._ in den
Medien der DDR, 1991
Theaterarbeit Ost/West, 1994
Dramaturgie heute, 1996/97
Herausforderungen zu Grenzüberschreitungen, 1998
Jahrestagung Dresden 1999
Jahrestagung Berlin 2000
Einzelveröffentlichungen ä € 4,-
Theatt:r in Berlin nach .1.945, 1984
Frauen im Theater (FiT):
Dokumentation 1984 Frauen im The~ter (FiT): Dokumentation 1985
Frauen im Theater (FiD: Dokumentation 1986/87
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Doppelheft ä € 4,-
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