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SORGENDE GEMEINDE IM LEBEN UND STERBEN
ein Modellprojekt in der Stadtgemeinde Landeck, Tirol
Forschungs- und Praxispartnerschaft zwischen
dem Institut für Palliative Care und OrganisationsEthik (IFF Wien)
und der Tiroler Hospiz Gemeinschaft
Laufzeit: 2 Jahre, von Jan 2014 bis Dez 2015/Jan 2016
Gefördert vom Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft,
Ko-beauftragt von der Stadtgemeinde Landeck
Projektleitungsteam:
Ass.-Prof. Mag. Dr. Klaus Wegleitner (Wissenschaftlicher Projektleiter, IFF Wien)
Dr. Patrick Schuchter MPH (IFF Wien), DSA Sonja Prieth MA (Tiroler Hospiz Gemeinschaft)
Kern - Projektteam: Angelika Scheiber (Koordinatorin der Hospizgruppe Landeck & der Selbsthilfegruppe
Sonnenblume), StR. Mathias Niederbacher (Obmann des Jugend- Familien- und Sozialausschuss),
Mitglieder des Jugend- Familien- und Sozialausschuss, Mag. (FH) Doris Habicher (GF Sozial- und
Gesundheitssprengel Landeck-Zams-Fließ-Schönwieß), Christine Dellemann (Bestattung), Sr. Barbara Flad
(Seelsorge, Krankenhaus Zams), Maria Kathrein (Ehrenamtliche MA Hospizgruppe), Anni Scherl
(Koordinatorin der WegbegleiterInnen für pflegende Angehörige, Caritas), Erika Moser (Ehrenamtliche
MA WegbegleiterInnen).
Stadtgemeinde Landeck
IFF-Wien Fakultät für Interdisziplinäre Forschung und Fortbildung
Institut für Palliative Care und Organisationsethik
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Inhaltsverzeichnis
1 HINTERGRUND ................................................................................................................ 3
1.1 DIE SORGE AM LEBENSENDE GEHT ALLE AN ................................................................................. 3
1.2 SORGE AM LEBENSENDE ALS GESUNDHEITSFÖRDERUNG IM LEBEN ................................................... 5
1.3 COMPASSIONATE COMMUNITIES .............................................................................................. 7
1.4 SORGENDE GEMEINDE IM LEBEN UND STERBEN: ZIELSETZUNGEN UND INTERESSEN ............................. 8
2 PROJEKTARCHITEKTUR UND PROJEKTPROZESS .............................................................. 10
3 PHASE 1: DIE LOKALE SORGEKULTUR WÜRDIGEN UND ANALYSIEREN, MENSCHEN INS
GESPRÄCH BRINGEN UND VERNETZUNG STÄRKEN ............................................................... 12
3.1 AUFTAKTVERANSTALTUNG ZUM PROJEKT „SORGENDE GEMEINDE IM LEBEN UND STERBEN“ ............... 12
3.2 EXISTENTIELLE ERFAHRUNGEN UND WISSEN TEILEN, BEDARF ERHEBEN: EIN PARTIZIPATIVER
FORSCHUNGSPROZESS...................................................................................................................... 13
3.2.1 Landecker Handbüchlein zur Lebensklugheit in der Sorge.......................................... 16
4 PROJEKTPHASE 2: WIE WOLLEN WIR DAS LEBEN IN DER GEMEINDE GESTALTEN?
ZUKUNFTSPERSPEKTIVEN UND MAßNAHMEN ...................................................................... 17
5 PROJEKTPHASE 3: SORGEKULTUR STÄRKEN - LOKALE MAßNAHMEN INITIIEREN, FÖRDERN
UND BEGLEITEN ................................................................................................................... 22
5.1 KÜMMERER- UND NACHBARSCHAFTSABEND .............................................................................. 23
5.2 BEVÖLKERUNGSKURS „VORSORGEN, PFLEGEN UND GUT LEBEN BIS ZULETZT“ ................................... 25
5.3 WEITERE INITIATIVEN ........................................................................................................... 26
6 LITERATUR .................................................................................................................... 28
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1 Hintergrund
1.1 Die Sorge am Lebensende geht alle an
Hospizarbeit und Palliative Care haben sich in den letzten Jahrzehnten zu einem fixen Bestandteil
der nationalen Gesundheitssysteme in Europa und vielen anderen Regionen der Erde entwickelt
(Clark, Wright 2007, Centeno et al. 2013). Sie haben wesentlich dazu beigetragen, die Sorgekultur
am Lebensende zu verbessern. In den westlichen Industrienationen ist der Erfolg der rasanten
Verbreitung von Palliative Care wesentlich an die Professionalisierung und den Aufbau von
spezialisierten Versorgungsstrukturen gekoppelt (Gronemeyer et al. 2004). Erfreulicherweise
wird in den letzten Jahren national (Wegleitner et al. 2007; Hospiz Österreich 2012) und
international (Murray et al. 2004, Shipman et al. 2008, Froggatt, Reitinger 2011) zunehmend das
Augenmerk auch auf die Integration von Hospiz- und Palliativkultur in die regelversorgenden
Einrichtungen (die Pflegeheime, die ambulanten Dienste, die Krankenhäuser, den
niedergelassenen ÄrztInnenbereich) gelegt. Aber: Die Weiterentwicklung von Palliative Care hat
sich bislang primär auf die Verbesserung der institutionellen (Professionen, Organisationen) und
spezialisierten Sorge am Lebensende konzentriert. Und: Die Hospizbewegung selbst, die Idee,
dass die Themen Sterben, Tod und Trauer alle Bürgerinnen und Bürger angehen, ist in dieser
Dynamik in den Hintergrund getreten.
In den letzten beiden Jahrzehnten sind vielfältige internationale Bemühungen im Aufbau und der
Förderung neuer sozialraum-, quartiers- und gemeindeorientierter Sorgemodelle und
Hilfenetzwerke zu beobachten. Im Bereich der End-of-Life Care stehen dafür insbesondere
Projekte und Initiativen zur Gesundheitsförderung in Palliative Care (Kellehear 1999, Heller 1996,
Sallnow et al. 2012) und zur Etablierung von „Compassionate Communities“ (Kellehear 2005,
2013; Wegleitner et al. 2015). Im deutschsprachigen Raum werden inhaltlich ähnliche
Zielsetzungen vertreten durch die Förderung einer „neuen Hilfekultur im “Dritten Sozialraum”
(Dörner 2007, 2012), durch die Stärkung von „Caring Communities“ (z.B. Klie 2015) oder der
Entwicklung von „Demenzfreundlichen Kommunen“ (z.B. Gronemeyer, Rothe 2015). Diese
Initiativen und Bewegungen verbinden als Zielsetzung Empowerment der Betroffenen mit
zivilgesellschaftlichem Engagement im Alltag der Communities, der Gemeinden.
Dabei sind unter anderem folgende Einsichten und Annahmen handlungsleitend:
Schwere Krankheit, Demenz und Sterben sind vor allem auch soziale Prozesse und erfordern
daher gemeinsame, soziale Umgänge in der Sorge um Betroffene in unserer Gesellschaft.
Mit der ausschließlichen Verbesserung der institutionellen Sorge am Lebensende kann die
Institutionalisierung des Sterbens nicht überwunden und die Kernanliegen der Hospizidee -
die (Re)Integration des Umgangs mit Sterben, Tod und Trauer in die Lebenszusammenhänge
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der Menschen und das Sterben in der vertrauten Umgebung zu ermöglichen - können nur
bedingt gefördert werden.
Die Sorgeverantwortungen können gesellschaftlich nicht an Professionen und Organisationen
delegiert werden, da schwere Krankheit, Demenz und Sterben alle angeht (Kellehear 2013).
Der ausschließliche Fokus auf die Etablierung spezialisierter Versorgungsangebote führen
entweder zur gesellschaftlichen Segregation (oder zur Ghettoisierung, siehe die
„Demenzdörfer“) oder aber, sie kommen viel zu wenigen betroffenen Menschen zu Gute
(siehe die spezialisierten Hospiz- und Palliativversorgungsangebote).
Gesellschafts- und gesundheitspolitisch sollten Rahmenbedingungen so verändert und
gestaltet werden, dass ein möglichst großer Anteil der Bevölkerung in die Lage versetzt wird,
Sorgeverantwortung zu übernehmen; dass somit die Sorge (Caring) möglichst demokratisch
verteilt und organisiert werden kann (Tronto 2013).
Die Sorge- und Hilfeformen sollten sich radikal am alltäglichen Hilfebedarf der Betroffenen,
den Lebens- und Sterbewelten innerhalb der Community, ausrichten und nicht an der
Optimierung von Versorgungsangeboten.
Die gesellschaftliche Organisation von Sorge am Lebensende sollte sich nicht auf den Aufbau
von spezialisierten Fachkompetenzen, die Etablierung von Versorgungsstrukturen
(Einrichtungen, Betten, Teams usw.) und die Entwicklung einer hospizlich-palliativen
Organisationskultur (Heller 2000) beschränken. Angestrebt werden der Aufbau von lokalen
Solidaritäts-, Beziehungs- und Hilfenetzwerken und die Ermöglichung von Kommunikations-
und Austauschräumen zu Fragen der Sorge füreinander und eines guten Lebens bis zuletzt.
Die nachhaltige Organisation gesellschaftlicher Sorge erfordert die intelligente Verknüpfung
von informeller und formeller Hilfe, sowie die Entwicklung alltagsnaher Hilfeformen zwischen
„dem Privaten“ oder „den eigenen vier Wänden“ und der öffentlich, institutionalisierten
Versorgung „im Dazwischen“, im „dritten Sozialraum“ (Dörner 2007); in der Nachbarschaft,
im Krätzl, im Kiez, im Quartier, in der Kommune, in der Gemeinde.
Die Stärkung der gesellschaftlichen Sorgekultur am Lebensende wird aus diesen Caring bzw.
Compassionate Community Bewegungen heraus als Fragen nach der gesamtgesellschaftlichen
Verteilung und Übernahme von Sorgeverantwortung – „End-of-life care as everyone’s
responsibility“ (Kellehear 2013)“ - sowie der Stärkung der Selbsthilferessourcen der Betroffenen
im Umgang mit Alter, Demenz, Sterben, Tod und Trauer verstanden.
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1.2 Sorge am Lebensende als Gesundheitsförderung im Leben
Die Bemühungen der Hospizidee und von Palliative Care fußen unter anderem auf der Einsicht,
dass das Sterben keine Krankheit ist. Sterben ist ein Teil des Lebens, es ist die letzte,
unterschiedlich lange dauernde - Zeit eines gesundheitlich meist eingeschränkten Lebens (durch
Mehrfacherkrankungen im hohen Alter, durch Krebserkrankungen, durch chronische,
neurologische Erkrankungen, durch Demenz). Oder ganz einfach gesagt, eine Phase relativen
Gesundseins. Und: Gesundheit ist wesentlich mehr als die Abwesenheit von Krankheit.
Gesundheit ist nicht statisch, sondern als ein Prozess zu verstehen. Dieser ist von individuellen
physischen, psychischen, sozialen und spirituellen Dimensionen der Menschen abhängig und
bildet sich im Wechselspiel mit ihren Lebensbedingungen, der Umwelt, der Einbettung in
Gemeinschaften, der Verfügbarkeit von Mitteln, dem Zugang zu bestimmten Hilferessourcen,
Informationen und Wissen, den Möglichkeiten am gesellschaftlichen Leben Teil zu haben, den
Möglichkeiten Rahmenbedingungen mit zu gestalten heraus (Wegleitner, Heller 2014. Die
Aufmerksamkeit für die hohe Relevanz der sozialen, ökonomischen und ökologischen
Rahmenbedingungen für die Förderung von Gesundheit, aber auch für die Förderung einer
tragfähigen Sorgekultur bis zuletzt, drückt sich am deutlichsten im WHO Konzept der
Gesundheitsförderung, der Ottawa Charta (WHO 1986), aus:
„Gesundheitsförderung zielt auf einen Prozess, allen Menschen ein höheres Maß an
Selbstbestimmung über ihre Gesundheit zu ermöglichen und sie damit zur Stärkung ihrer
Gesundheit zu befähigen. Um ein umfassendes körperliches, seelisches und soziales
Wohlbefinden zu erlangen, ist es notwendig, dass sowohl einzelne als auch Gruppen ihre
Bedürfnisse befriedigen, ihre Wünsche und Hoffnungen wahrnehmen und verwirklichen
sowie ihre Umwelt meistern bzw. sie verändern können.“
Mittlerweile gehört es zum Allgemeinwissen in der Bevölkerung, dass etwa ein gesundes Herz
nicht erst beim Kardiologen hergestellt wird, oder im Herzkatheder entsteht. Ein gesundes Herz
wird gefördert durch die Lebensweise der Menschen und wird wesentlich beeinflusst von ihren
Lebensbedingungen. Es hat mit Fragen der Bewegung, der Ernährung, des Nichtrauchens, den
sozioökonomischen Lebensbedingungen, sozialer Gleichheit/oder Ungerechtigkeit, den
Arbeitsbedingungen, dem Stress und den Belastungen in der Arbeit, ökologischen
Umweltbedingungen und den individuellen Gesundheitskompetenzen der Menschen zu tun.
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Ein mitmenschlicher Umgang mit Sterben und Tod, eine Sorgekultur in Abschied und Trauer
entstehen ebenfalls nicht erst auf der Palliativstation, im Krankenhaus, im Pflegeheim, im Hospiz,
im Tageshospiz oder durch das Rufen eines Hospizdienstes, oder ambulanten Palliativteams.
Sorgekultur am Lebensende entsteht dort, wo Menschen leben, lieben und arbeiten, wo sie
gemeinsam alt werden, wo sie miteinander über existentielle Fragen des Lebens und des
Sterbens ins Gespräch kommen, wo sie miteinander und umeinander trauern, wo sie mit ihrer
Verletzlichkeit und Endlichkeit zurechtkommen müssen, wo sie sich umeinander kümmern und
sorgen; in den Familien, in den Freundschaftskreisen, in der Nachbarschaft, in der Schule, am
Arbeitsplatz, in den Vereinen, im Quartier und in der Gemeinde (Kellehear 2005).
Im letzten Jahrzehnt gewinnen international daher die Gesundheitsförderungsperspektive
(Kellehear 1999) und Public Health (Sallnow et al. 2012; Cohen, Delien 2012) in Palliative Care
immer mehr an Bedeutung. Ausgehend von Australien, vor allem in Großbritannien und teilweise
in Kanada und Indien, sind in den letzten 15 Jahren vielfältige Initiativen, Projekte und politische
Programme entstanden, eine kommunale Sorgekultur im Umgang mit Verlust, Trauer, Sterben,
Tod und Trauer zu fördern. Die Zielsetzungen dieser Public Health Bemühungen in Palliative Care
sind, dass a) vorsorgend Leiden gemindert wird, b) die „Community“ beteiligt wird, - d.h. die
Bürgerinnen und Bürger beteiligt werden, dass c) Wissensvermittlung zu Gesundheit, Sterben
und Tod stattfindet und d) soziale Unterstützung und lokale Solidarität gefördert werden
(Kellehear 2008).
Public Health hat zum Ziel die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und Settings so zu
gestalten, dass das Wohlbefinden und die (relative) Gesundheit der Bevölkerung (auf der
individuellen Ebene der BürgerIn) gefördert werden. Daher geht es primär nicht um die Stärkung
von Versorgungsangeboten, sondern um die Förderung von sozialem Kapital im Lebensumfeld
der einzelnen BürgerIn, in der Community. Im Kern geht es daher um die Frage, welche
gesellschaftlichen Rahmen- und Lebensbedingungen es braucht, damit Menschen ermächtigt
werden, ihre eigenen Ressourcen, natürlichen Umgänge mit Krankheit, Sterben, Tod und Trauer
zu mobilisieren um einen höheren Grad an Selbstbestimmung und Wohlbefinden zu erlangen. Im
Vordergrund steht dabei die Hilfe zur Selbsthilfe. Dies setzt ein subsidiarisches Hilfe- und
Sorgenetzwerk voraus, welches immer von den Lebens- und Sterbebedingungen der
Betroffenen, der Hilfsbedürftigen ausgeht und sich an den Sozial- und Lebensräumen orientiert.
Angestrebt wird somit die Stärkung einer, die Relationalität von Autonomie anerkennende, Form
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von gesellschaftlicher, Community orientierter, Sorgekultur. Wichtig: Damit ist keinesfalls ein
wertkonservatives Bild eines - die Familie idealisierenden - Kommunitarismus, oder die Rückkehr
zur - an die Frauen delegierten - Privatisierung der Sorge gemeint. Vielmehr geht es dabei um die
grundsätzliche Frage, wie die lokale Partizipation und Vernetzung der BürgerInnen in der
Gestaltung von Hilfenetzwerken gestärkt werden kann; denn, „(…) participation and engagement
provide, however these are produced, important ways that people create networks and support
systems for each other“ (Kellehear 2005, S. 54).
Gemeinde-Entwicklung oder zumindest Maßnahmen, die eine Beteiligung der Gemeinde
ermöglichen sind daher vielfach zentrale Bausteine in den Public Health Modellprojekten in
Palliative Care (Wegleitner, Heimerl, Kellehear 2105). Trotz der relativ jungen Geschichte dieser
Initiativen weisen erste Überblicksarbeiten (Sallnow, Paul 2012; Sallnow et al. 2015) auf
vielfältige positive Wirkungen des Public Health Approaches in End-of-Life Care hin, wie etwa die
Verminderung sozialer Isolation, die Stärkung von lokalen Sorgenetzwerken sowie den positiven
Einfluss auf den Ort des Todes und die gezielte Einbindung von Palliative Care Angeboten.
1.3 Compassionate Communities
In der Tradition der Healthy Cities Gesundheitsförderungsprojekte stehend zielen somit auch die
Public-Health-Palliative-Care-Impulse darauf ab die Selbsthilferessourcen in der Bevölkerung zu
fördern (Empowerment und Soziales Kapital), hin zu einer „Compassionate Community“
(Kellehear 2013, Wegleitner et al. 2015). Mit dem Begriff „compassion“ – verstanden als
Anteilnahme, Empathie, Mitgefühl, Mitleidenschaft, Mitempfinden, Mitleid, Barmherzigkeit,
Mitsorge – wird als Zielsetzung somit eine Form kommunaler Sorgekultur angestrebt, die von
dieser ethischen Grundhaltung getragen wird und Achtsamkeit, Respekt und Solidarität im
menschlichen Zusammenleben fördert.
Sorgende Gemeinden (‘Compassionate Communities’) sind somit Gemeinden, die soziale
Netzwerke und Räume, sozialpolitische Konzepte und soziale Angebote entwickeln, die
Menschen unterstützen, die viele Stunden, Tage, Wochen und Monate – manchmal auch Jahre –
mit einer lebensbedrohlichen Erkrankung, mit Alter und mit Trauer leben müssen. Sie tun das,
indem sie zivilgesellschaftliches Engagement in der Sorge am Lebensende fördern, Ehrenamtliche
ausbilden und koordinieren, indem sie unterstützende Sorge am Arbeitsplatz, in den Vereinen
und in den Schulen entwickeln, indem sie professionelle Angebote weiterentwickeln und die
ganze Gemeinde zu Engagement ermutigen. Gemeindenahe Sorgekultur fördert den Kontakt und
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die Hilfe zwischen NachbarInnen, zwischen Kirchengemeindemitgliedern oder zwischen
ArbeitskollegInnen – also die größtmögliche Teilhabe von BürgerInnen, wenn es um
Verantwortung für Sorgeaufgaben geht.
In der Entwicklung einer kommunalen Sorgekultur oder von „Compassionate Communities" steht
somit nicht die VERsorgung von PatientInnen im Mittelpunkt, sondern die Sorge und Solidarität
mit und für BürgerInnen in geteilter Verantwortung von zivilgesellschaftlicher und
professioneller Hilfe.
1.4 Sorgende Gemeinde im Leben und Sterben: Zielsetzungen und Interessen
Das Projekt „Sorgende Gemeinde im Leben und Sterben“ in Landeck ist der Versuch, im Sinne der
oben beschriebenen Compassionate Community Bewegung, den Paradigmenwechsel von einer
institutions- und professionszentrierten Versorgung am Lebensende hin zu einer
gemeindeorientierten Sorgekultur in Österreich zu fördern und modellhaft umzusetzen.
Das Institut für Palliative Care und OrganisationsEthik der IFF Wien/Alpen Adria Universität
Klagenfurt hat das Projekt in Kooperation mit der Tiroler Hospiz-Gemeinschaft (THG) initiiert und
konnte die Stadtgemeinde Landeck als Mitauftraggeber gewinnen. Diese Projektpartnerschaft ist
in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert:
a. Die Tiroler Hospizgemeinschaft fungiert nicht „nur“ als Praxispartner in der Region, sondern
ist über eine Mitarbeiterin im wissenschaftlichen Team eingebunden, wodurch das
partizipative Interventionsforschungsprojekt im besten Sinne transdisziplinär ist. Die
Projektidee und das Grundkonzept hat die IFF Wien entwickelt, die Projektphilosophie und
der genaue Projektprozess wurden gemeinsam aufgesetzt.
b. Nicht ein Versorgungsanbieter ist lokaler Projektpartner, sondern die kommunalpolitische
Ebene und damit potenziell die Stadtgemeinde Landeck als Ganzes. Landeck ist mit seinen ca.
8000 EinwohnerInnen im äußersten Westen Tirols im gebirgigen Dreiländereck Österreich,
Schweiz, Italien / Südtirol am Inn gelegen.
c. Als Modellregion wurde Landeck gewählt, da der Bezirk ein gut ausgebautes Sozial- und
Gesundheitssystem, eine Tradition in bürgerschaftlich engagierte Hilfeformen, jedoch keine
spezialisierten Palliativversorgunsgangebote hat (außer einer koordinierten ehrenamtlichen
Hospizgruppe der THG). Damit sollten jene Voraussetzungen gegeben sein um den Fokus auf
die Stärkung und Weiterentwicklung der gemeindeorientierten und regelversorgenden Sorge
am Lebensende zur richten.
Das Projekt zielt darauf ab …
… die Sorge für alte, schwer kranke und sterbende Menschen in der Gemeinde zu stärken.
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… die gelebte Sorgekultur und die bestehenden Hilferessourcen und Netzwerke am
Lebensende in der Stadtgemeinde für die Bürgerinnen und Bürger sichtbar machen und
würdigen.
o Die „informelle“ Sorge (Angehörigenpflege, Nachbarschaftshilfe) wird gewürdigt.
… die Vernetzung der bestehenden Hilferessourcen (informell und formell) in der Gemeinde
verbessern helfen.
… gemeinsam mit Bürgerinnen und Bürgern über die Zukunft der Sorgekultur am
Lebensende nachdenken und sie zu zentralen Themen des Lebens und Sterbens
miteinander ins Gespräch bringen.
… gemeinsam Initiativen und Maßnahmen entwickeln, die dabei unterstützen, Solidarität
und Sorgekultur am Lebensende zu festigen und weiter zu entwickeln.
… Zukunftsbilder einer sorgenden Gemeinde im Leben und Sterben entwickeln.
Folgende Fragen stehen im Zentrum des seit Anfang 2014 laufenden beteiligungsorientierten
Forschungs- und Entwicklungsprojektes „Sorgende Gemeinde im Leben und Sterben“:
Wie ist die (formelle und informelle) Sorge am Lebensende und in Hinblick auf das
Lebensende organisiert und was macht sie aus?
Wie können (formelle und informelle) Sorge-Netzwerke am Lebensende in der Gemeinde
gestärkt werden?
o Wer sorgt für wen? In welcher Weise?
o Wie sollte das Verhältnis des informellen Netzes zu den professionellen Diensten
gestaltet werden?
o Wie können sich Helfende (von der Ehepartnerin über ehrenamtliche Gruppen bis
zum Krankenhaus gut vernetzen?)
o Wie können wir in der Gemeinde vorsorgen/vorbeugen, dass pflegende Angehörige
nicht in soziale und existenzielle Not geraten?
o Wie können Informationen über vielfältige existierende Unterstützungsmöglichkeiten
(finanziell, logistisch, für Entlastung) alle erreichen / zum Wissen aller werden?
o Wie kann es gelingen, das Annehmen von Hilfe zu erleichtern?
o Wie kann es gelingen, die Themen Sterben, Tod und Trauer nicht zu wegzudrängen
oder erst (zu) spät zu thematisieren?
o Wie können verschiedene Gruppen (Junge, Alte, Frauen, Männer usw.) zu den
Themen, Sterben, Tod und Trauer ins Gespräch kommen?
o Wie kann die Selbsthilfe von Bürgerinnen und Bürgern unterstützt werden?
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2 Projektarchitektur und Projektprozess
Das Projektvorhaben erforderte ein, sich auf die lokalen Lebenszusammenhänge einlassendes,
kultursensibles Vorgehen, dass schrittweise …
1. beteiligungsorientiert (Action Research, vgl. Hockely et al. 2012) die kommunalen Lebens-
und Sterbekulturen erhebt und damit
a. zur Würdigung der bestehenden sozialen und fachlichen Unterstützungsressourcen
beiträgt.
b. Wissen zu den lokalen Sterbekulturen generiert.
c. Solidaritäts- und Sorgepotentiale sichtbar macht.
d. Entwicklungsbedarf der kommunalen Hospiz- und Palliativkultur sichtbar macht
2. mit BürgerInnnen und lokalen AkteurInnen des Sozial und Gesundheitswesens
Entwicklungsperspektiven und Maßnahmen zur Förderung der kommunalen Sorgekultur
entwickelt.
a. kommunalpolitische Strategien, Veranstaltungsformate, Medien, Hilfenetzwerke,
usw.
3. die Umsetzung von Maßnahmen begleitet, bzw. deren Durchführung unterstützt und
organisiert.
4. die Projektprozesse auswertet und inhaltliche Eckpfeiler für die weitere Entwicklung
lokaler/kommunaler Hospiz und Palliativkultur formuliert.
Über das Projektdesign sollte gewährleistet werden, dass eine möglichst breite Beteiligung in der
Gemeinde erreicht wird und die Frage der Stärkung der Sorgekultur sich am Bedarf der
Betroffenen und ihrer Hilfenetzwerke orientiert.
Der gesamte Projektprozess lässt sich daher idealtypisch in drei Phasen gliedern, wenngleich sich
diese auch ein wenig überlagerten und ineinander übergingen.
Phase 1: Die lokale Sorgekultur würdigen und analysieren, Menschen ins Gespräch bringen und
Vernetzung stärken
Vertrauen und inhaltliches Commitment in der Gemeinde aufbauen
Beschreiben, analysieren und würdigen der lokalen Sorgekultur und der Traditionen in der
Betreuung am Lebensende im Rahmen eines partizipativen Forschungsprozesses
Sichtbar machen des bestehenden Sorgenetzwerkes, wie auch der Slebtshilfemöglichkeiten
Förderung eines gemeinsamen Wissens zur lokalen Sorge
Phase 2: Wie wollen wir das Leben in der Gemeinde gestalten? Zukunftsperspektiven und
Maßnahmen
Die Vernetzung zwischen informellen und formellen HelferInnen fördern
Entwickeln von Zukunftsperspektiven einer sorgenden Gemeinde
Initiativen und Miniprojekte in unterschiedlichen Sphären der Gemeinde starten
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Öffentlichkeit schaffen
Phase 3: Sorgekultur stärken - Lokale Maßnahmen initiieren, fördern und begleiten
Begleitung/Unterstützung von Initiativen und Maßnahmen
Strategien der Nachhaltigkeit mit dem lokalen Sorgeteam und der Kommunalpolitik
entwickeln
Abbildung 1: Projektarchitektur
Abbildung 2: Projektprozess
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3 Phase 1: Die lokale Sorgekultur würdigen und analysieren, Menschen ins
Gespräch bringen und Vernetzung stärken
In einem ersten Schritt ging es im Projekt darum, die bestehende Sorgekultur gemeinsam mit den
Bürgerinnen und Bürgern sichtbar zu machen und zu würdigen, sowie die Vernetzung in der
Gemeinde zu stärken. Vielfältige Gespräche, Fokusgruppen und Workshops haben mit Personen
stattgefunden, die auf unterschiedliche Weise in die Pflege und Betreuung von Menschen in der
letzten Lebensphase involviert sind. Bei partizipativer Forschung geht es nicht nur darum, Daten
zu erheben, Informationen abzuholen und Wissen zu generieren, sondern vor allem auch darum,
die unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen miteinander ins Gespräch zu bringen.
Voraussetzung dafür ist, dass man mit den Menschen vor Ort in Kontakt zu kommt, sich sozial
einlässt, um neben den qualitativen und quantitativen Daten vor allem ein Gefühl – ein „Gespür“
–- für die Lebensbedingungen, kulturellen Spezifika und die Sorge- und Beziehungsnetzwerke zu
bekommen. Ins Gespräch kommen, zuhören und wechselseitig Vertrauen aufzubauen sind vor
allem am Beginn wesentliche forschungsethische Gütekriterien partizipativer
Forschungsprojekte.
Die Erhebungs- und Vernetzungssettings sowie die öffentlichen Veranstaltungen haben in der
Gemeinde Räume geschaffen, in denen existenzielle Erfahrungen ausgetauscht, kollektives
Wissen zur lokalen Sorgekultur gefördert, beziehungsweise die in der Gemeinde bestehende,
meist implizite, kollektive „Weisheit“ zum Umgang mit der Sorge am Lebensende gehoben
werden konnte.
Beispielhaft sollen hier einige Settings skizziert werden:
3.1 Auftaktveranstaltung zum Projekt „Sorgende Gemeinde im Leben und Sterben“
am 10.3.2014, 18–21 Uhr im Rathaus Landeck
Zur Auftaktveranstaltung, welche Schlüsselpersonen in der Gemeinde adressierte, hat die
Gemeinde gemeinsam mit dem IFF-THG Projektteam eingeladen. Kommunalpolitiker,
VertreterInnen des Sozial- und Gesundheitswesens, ehrenamtlich Engagierte, persönlich
Betroffene sowie politisch und zivilgesellschaftlich aktive Personen wurden einerseits mit dem
Projektanliegen und dem Prozess vertraut gemacht, andererseits wurde die Veranstaltung als
erstes Diskussionsforum genutzt. In Gesprächsgruppen setzten sich die TeilnehmerInnen mit
folgenden Fragen auseinander:
Wie wird über Sterben, Tod und Trauer in unserer Gemeinde gesprochen?
Wie sieht in Landeck/Zams das Sorge-Netzwerk (formell und informell!) in der Betreuung am
Lebensende aus?
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o Wer trägt Sorge für wen und wie (von der familiären und Nachbarschafts-Hilfe bis zur
professionellen Zusammenarbeit)?
o Wer sorgt für die Sorgenden (pflegende Angehörige, MitarbeiterInnen …)?
Wie gerecht ist Sorge-Arbeit in der Gemeinde verteilt?
o Wer wird gewürdigt/sichtbar? Wer nicht?
o Wer sorgt / trägt Verantwortung? Wer nicht?
Was kann Sorge am Lebensende konkret sein?
o Was macht das Leben leichter (Handlungen, Tätigkeiten, gelungene, ungewöhnliche
Hilfeformen)?
o Was erleichtert es, Hilfe annehmen zu können?
In der Diskussion wurde deutlich, dass in Landeck bereits viele engagierte BürgerInnen
ehrenamtlich, etwa in der Hospizbegleitung, in der Pfarrgemeinde oder in der Organisation von
Selbsthilfe- und Unterstützungsgruppen für chronisch kranke, schwerkranke Menschen und ihre
Bezugspersonen, Sorge leisten. Zudem ist eine würdevolle Sorgekultur in der letzten
Lebensphase auch den Landecker Pflegeheimen, dem Sozialsprengel und dem Krankenhaus Zams
ein großes Anliegen. Die Bestattung in Landeck ist für Angehörige ebenfalls eine wichtige Stütze
im Abschied und in der Trauer. In der Schule tragen LehrerInnen dazu bei, Kinder und Jugendliche
für die Themen Pflegebedürftigkeit, Verlust, Trauer, Sterben und Tod zu sensibilisieren und ihnen
die Auseinandersetzung damit zu ermöglichen. Teilweise gibt es noch Verbesserungsbedarf in
der Kommunikation und Information, andernorts werden Schwachstellen in der Vernetzung
geortet. Generell wurde festgestellt, dass pflegende Angehörige in einem sehr hohen Maß
belastet sind und dass es ihnen aus vielfältigen Gründen schwer fällt, Hilfe anzunehmen. Dabei
spielen mangelnde Kenntnisse über die Hilfsangebote eine Rolle, auch finanzielle Belastungen
wurden als Problem genannt. Dazu kommt, dass pflegende Angehörige einen Druck verspüren,
alles allein schaffen zu müssen und dass es nicht leicht ist, Außenstehende in die familiäre
Betreuungssituation einzubinden. Wichtig erscheint, dass Pflege- und Hilfsbedürftigkeit, schwere
Krankheit, aber auch Sterben, Tod und Trauer gesellschaftlich und in der Gemeinde nicht
tabuisiert werden sollten, um wechselseitig Unterstützung leisten zu können. Das Projekt wird
als Chance gesehen, dazu einen wichtigen Beitrag zu leisten.
3.2 Existentielle Erfahrungen und Wissen teilen, Bedarf erheben: ein partizipativer
Forschungsprozess
Im Rahmen unseres Projektprozesses verstanden wir den Begriff der Caring Community, der
sorgenden Gemeinde, in Anlehnung an Allan Kellehear (2005) als ein Netzwerk von
Sorgebeziehungen, welches den alltäglichen Sorgebedarf im Lebensraum der Betroffene und
ihrer Bezugspersonen aufnimmt. Dazu ist es erforderlich, dass die unterschiedlichen Kreise der
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Sorge, wie es Abel und KollegInnen nennen (Abel et al. 2013), gut ineinandergreifen und
abgestimmt sind. Die Unterstützung und Abstimmung beginnt mit dem innersten Netzwerk und
Kreis der Sorge, den Betroffenen, ihren Angehörigen und FreundInnen, erfordert dann die
Einbeziehung von weiteren Angehörigen, Freunden und Nachbarn als ein äußeres Netzwerk.
Damit sind die Hilferessourcen der Community und deren soziales Kapitel gefragt. Die
professionellen Dienste sind hier eine wichtige Stütze, die subsidiarisch, ergänzend,
ermöglichend, unterstützend tätig werden. Den äußersten Sorgekreis bildet die
kommunalpolitische Ebene. Diesem Bild der Kreise der Sorge entsprechend haben wir im
beteiligungsorientierten Forschungsprozess mit den Fokusgruppen mit Angehörigen begonnen,
gefolgt von Fokusgruppen und Gesprächen mit bürgerschaftlich engagierten Koordinatorinnen
von Selbsthilfegruppen und der Hospizgruppe. Danach wurden Fokusgruppen mit
professionellen HelferInnen (Hauskrankenpflege, ÄrztInnen) und Interviews (Pfarrer, Bestattung)
durchgeführt. Schließlich wurden im Rahmen eines Vernetzungsworkshops mit informellen und
formellen HelferInnen exemplarische Betreuungssituationen im Kontext des lokalen
Sorgenetzwerkes analysiert und die Verbesserung von Nahtstellen diskutiert. Nach jedem
Erhebungssetting wurde eine Zwischenauswertung gemacht und das erhobene Wissen in das
nächste Setting eingespeist. Zudem wurden Zwischenergebnisse auf unterschiedlichen Ebenen
in der Gemeinde rückgekoppelt und diskutiert. Auf diese Weise haben wir im Forschungs- und
Interventionsprozess die Mikro-Stories, Narrative und die Sorgeerfahrungen der Betroffenen mit
den unterschiedlichen Kreisen der Sorge in Beziehung gesetzt und die unterschiedlichen
Perspektiven und Sichtweisen in Austausch gebracht. Somit haben wir nicht „nur“ Daten
gesammelt und analysiert, sondern Kommunikationen initiierte und ein kollektives Bewusstsein
gefördert, von den Bedürfnissen der Betroffene und ihren existentiellen Sorgen und Nöten, aber
auch von den der Situation und den Rahmenbedingungen der Helfenden. Somit konnten
existentielle Erfahrungen und Wissen im zirkulären Projektprozess geteilt und aufeinander
bezogen werden (siehe die nächste Abbildung).
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Abbildung 3: Erfahrung und Wissen werden im partizipativen Forschungsprozess geteilt
Im Auswertungsprozess haben wir unter anderem versucht aus den Sorgeerfahrungen,
Geschichten und den analysierten Betreuungssituationen Charakteristika, „Zutaten“, einer
sorgenden Gemeinde abzuleiten (siehe nächste Abbildung im Überblick, im Artikel Wegleitner,
Schuchter, Prieth 2015 sind hierzu vertiefende Ausführungen zu finden).
Abbildung 4: Zutaten einer sorgenden Gemeinde
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3.2.1 Landecker Handbüchlein zur Lebensklugheit in der Sorge
In der Antike, insbesondere bei den griechischen und römischen Philosophen und
Philosophinnen (etwa die Stoiker oder die Epikureerinnen), war es nicht unüblich ein
„Handbüchlein der Lebensklugheit“ bei sich zu führen. Darin wurden wesentliche Erfahrungen
und Grundsätze niedergeschrieben, die Einsichten enthielten, die aus dem Leben entstanden
sind, nicht dem Vergessen überlassen werden sollten und für eine gute Lebensführung als
bedeutsam empfunden wurden. Im Notfall oder einfach als Wiederholung für das Gedächtnis
waren dann diese Leitsätze immer „bei der Hand“ und konnten so zum festen Bestand der
eigenen „Lebenskunst“ und Lebenshaltung werden. Insbesondere angesichts der Schläge des
Schicksals und der Erfahrungen, die aus der Endlichkeit des menschlichen Lebens resultieren, wie
etwa Krankheit, Schwäche, Angewiesenheit, Schmerz und Leid sollten diese Erinnerungen und
„Ermahnungen“ an sich selbst dazu dienen, diesen Lebenslagen gewachsen zu sein oder
zumindest damit zurecht zu kommen – oder sich vielleicht sogar mit irgendeinem Winkel der
Seele oder zumindest hie und da sich über das Leiden zu „erheben“.
Im Projekt ist aus den Lebenserfahrungen von Angehörigen und ehrenamtlich Tätigen ein solches
Handbüchlein entstanden, das entscheidende Sätze („Ermahnungen“) für eine kluge
Lebensführung in der Sorge für Andere (schwerstkranke und hochaltrige Personen) enthält. Die
weitgehend (stumme) Lebenserfahrung von Angehörigen und Ehrenamtlichen wird ernst
genommen und in eine markante Sprache mit pointierten Kurzerzählungen gegossen. Damit
wurde eine innovative Auswertungsform der Fokusgruppen-Interviews in der Erhebungsphase
erfunden, die in der wissenschaftlichen Literatur so noch nicht beschrieben ist und deren
Wirkung noch beobachtet werden kann. Das Handbüchlein dient als Anregung, über die Sorge
für Andere und die Endlichkeit des Lebens gemeinsam nachzudenken. Die Form des
Handbüchleins entspricht einem partizipativen („transdisziplinären“) Forschungsverständnis.
Das Handbüchlein liegt in einer Rohversion vor und Auszüge wurden wiederholt im Rahmen des
„Bevölkerungskurses“ vorgelesen. In Kooperation mit dem STUDIEN-Verlag wird es nun erweitert
und publiziert.
Daten zur Publikation: „Lebensklugheit in der Sorge – Ermahnungen an mich selbst. Landecker
Handbüchlein.“ Von: „Patrick Schuchter unter Mitarbeit von Klaus Wegleitner und Sonja Prieth,
Studien Verlag Innsbruck-Wien-Bozen 2015 (im Erscheinen).
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4 Projektphase 2: Wie wollen wir das Leben in der Gemeinde gestalten?
Zukunftsperspektiven und Maßnahmen
„Das wäre mir das Allerwichtigste, wenn jetzt in der Gemeinde was aufgebaut werden soll: Dass
an allererster Stelle gesagt wird, dass sich die Jungen unter Anführungszeichen, also egal wie
jung oder alt die jetzt wirklich sind, dass die sich schon ganz früh mit diesen Themen
auseinandersetzen sollten. Es braucht öffentliche Veranstaltungen, wo man über das viel, viel
redet. Damit es alle mitbekommen, auch schon die Jungen.“
(Zitat, Fokusgruppe, Koordinatorin Selbsthilfe, Landeck)
Ein zentrales Element in der zweiten Projektphase war die Durchführung eines
Bevölkerungsgesprächs (BürgerInnenforums) im Stadtsaal der Gemeinde. Zur Veranstaltung „Alt,
krank … und jetzt?“ im Januar 2015 kamen knapp hundert Menschen, die zur Zukunft des Helfens
in Landeck ins Gespräch kamen. Die Bürgerinnen und Bürger diskutierten zunächst engagiert jene
Themen, die pflegende Angehörige und Menschen aus dem lokalen Hilfenetzwerk in den
Interviews, Workshops und Fokusgruppengesprächen als besonders wichtig erachtet haben: a)
Unterstützung pflegender Angehöriger, b) Gegen die Vereinsamung im (hohen) Alter, c)
Lebensumbrüche und Vorsorge, d) Sorge ohne schlechtes Gewissen, e) Sorgearbeit gerecht
verteilen, f) Nachbarschaftskultur stärken/entwickeln.
Als Diskussionsimpuls dienten vom WissenschaftlerInnen-Team vorgestellte Originalzitate und
kurze erläuternde Thesen zu den jeweiligen Themen entlang der Grundsatzfrage: „ Wie
wollen/können wir das Leben in und um Landeck so gestalten, dass …
Themenimpuls: Unterstützung pflegender Angehöriger
Zitat - Angehörige:
„In letzter Zeit muss ich ganz ehrlich sagen, hab ich keine guten Nerven mehr. Da werd ich auch
manchmal ein bisschen ungeduldig. Wenn sie gerade beim Essen wieder so kompliziert ist ... Mein
Gott. Da hab ich keine Nerven mehr. Und dann ist das genau dieses Wort: ungeduldig. Sag das
mal zu jemandem, der noch nie so etwas erlebt hat, sag zu dem, ich werde ungeduldig. „Ja, mit
der Mama wirst doch du nicht ungeduldig sein“, heißt es dann. Na hundertprozentig. Da gibt es
kein Verständnis.“
Frage: Wie wollen/können wir das Leben in und um Landeck so gestalten, dass niemand vor der
Situation Angst haben muss, wenn jemand in der Familie pflegebedürftig wird?
Herausforderungen:
Pflege lastet oft auf nur einer Person
Soziale Kontakte gehen verloren
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„Was habe ich noch vom Leben?“
Finanzielle Belastung
Organisation von Hilfe und Hilfsmitteln ist kompliziert und mühsam
Pflege fordert oft Tag und Nacht und geht an die gesundheitliche Substanz
Themenimpuls: Gegen die Vereinsamung im (hohen) Alter
Zitat - Angehörige:
„Also ich betreue meine Mutter seit einigen Jahren. Sie ist über 90, im Kopf ist sie noch sehr gut,
aber ihre Augen … sie sieht sehr, sehr schlecht. Sie hat immer viel gelesen, Kreuzworträtsel
gemacht und so weiter. Und jetzt kann sie nix mehr, auch nicht fernsehen und das belastet sie
sehr, sie ist sehr unglücklich. Fast jeden Tag sagt sie zu mir, dass ihr das so leid tut, dass sie mich
so beansprucht, obwohl sie das eigentlich nicht will. Sie kann alleine nicht mehr vor die Tür gehen.
Wenn sie sich dann so einsam fühlt, sagt sie oft solche Dinge: ‚Wenn er mich nur holen würde‘
oder ‚Wenn ich nur schon bei meinem lieben Franz wäre‘. Manchmal habe ich wirklich das Gefühl,
sie hat schon mit dem Leben abgeschlossen.“
Frage: Wie wollen/können wir das Leben in und um Landeck so gestalten, dass alte Menschen,
die hilfsbedürftig sind und (fast) „niemanden mehr haben“, trotz allem am sozialen Leben
teilhaben und Lebensqualität empfinden können?
Herausforderungen:
Partner/Partnerin, Freunde, Bekannte sind oft schon verstorben
Die Bewältigung des Alltagslebens wird beschwerlicher
Es wird schwieriger soziale Kontakte zu pflegen
Bei vielen alten Menschen ist das Geld knapp (Risiko der Verarmung)
Themenimpuls: Lebensumbrüche und Lebensereignissen durch Vorsorge gewachsen sein
Zitat-Angehörige:
„Wenn in der Familie jemand pflegebedürftig wird, ist nichts mehr wie es war. Und zwar für
niemanden. Also für den, der krank ist und für die, die sich um ihn kümmern. Alles ändert sich. Für
die ganze Familie.
Das sind Phasen, die ändern sich ständig. Und bis man sich mit einer Situation arrangiert hat und
alles organisiert hat, kommt schon wieder das nächste. Für mich war das das Schlimmste: Ich hab
nie gewusst, was am nächsten Tag ist. Ich hab eigentlich nicht einmal gewusst, was in der
nächsten Stunde ist. Und ein Problem ist, dass man da nicht gut aufgeklärt wird. Das sagt dir
niemand. Und man weiß ja nicht, wie lange das dann so geht. Und dann heißt es: „Ja das ist doch
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schön, wenn man die eigene Mama pflegen kann!“ Ja, ja, das ist alles gut und recht, aber ich
meine, ich leb ja auch noch. Mich fragt niemand, wann hast du frei oder wo gehst du hin?“
Frage: Wie wollen/können wir das Leben in und um Landeck so gestalten, dass der Verlust eines
Menschen, schwere Krankheit, Altwerden oder die Pflege eines Angehörigen – bei allem Schmerz
– niemanden völlig unvorbereitet treffen und in Unsicherheit stürzen?
Herausforderungen
Gespräche über Sterben, Tod, Trauer, Kranksein, Pflegen finden zu „gesunden“ Zeiten oft
nicht statt (Tabuisierung)
Durch schwerwiegende „Lebensereignisse“ verändern sich Beziehungen, Selbstbild und
Selbstempfinden, die Prioritäten im Leben
Neuorientierung im Leben braucht viel Zeit
Themenimpuls: Sorge ohne schlechtes Gewissen
Zitat-Angehörige:
„Ich fahre zweimal am Tag zu meiner Mutter, um halb elf am Vormittag zum ersten Mal. Ich richte
ihr das Mittagessen, bleibe dort, putze und tu, was halt zu tun ist. Das ist nicht relevant, das ist
die Arbeit, die sie für mich auch einmal getan hat. Und dann fahr ich heim, mittagessen. Ich kann
einfach nicht mit ihr essen, es tut mir leid, auch wenn sie sich das so wünschen würde. Und am
Abend um sechs, halb sieben fahr ich wieder hin. Bis sie im Bett ist.“
Zitat-Koordinatorin:
„Wenn pflegende Angehörige etwas nicht so machen, wie es erwartet wird oder wie man es auch
von sich selbst erwartet, dann ist das schlechte Gewissen da. Und das verfolgt viele sehr, sehr
lange. Das ist auch das, was weiterhin noch da ist, auch wenn eine Pflegesituation abgeschlossen
ist, also wenn der Betroffene verstorben ist. Die quälen sich dann richtig: Das hab ich nicht getan,
das hätte ich noch besser machen können. Das geht nicht einfach so weg.“
Frage: Wie wollen/können wir das Leben in und um Landeck so gestalten, dass Menschen, die
zuhause ihre Mutter oder ihren Vater pflegen, nicht in die Lage gebracht werden, mit einem
schlechten Gewissen und Schuldgefühlen allein zu sein?
Herausforderungen
Oft glauben pflegende Angehörige alles „alleine schaffen zu müssen“ und haben ein
schlechtes Gewissen, Hilfe zu holen oder anzunehmen
-Gefühle wie Wut, Verzweiflung, Überforderung gehören manchmal dazu – aber
erzeugen auch Schuldgefühle
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-Ein Einzug ins Altersheim könnte manchmal eine gute Lösung sein – aber pflegende
Angehörige fühlen sich oft schon beim Gedanken daran schuldig
Themenimpuls: Sorgearbeit gerecht verteilen
Zitat-Angehörige:
„Also ich denke mir schon manchmal, meine Mutter hat wirklich viele Kinder und … und eines
bleibt übrig. Ich bin sehr allein damit. Ich hab schon eine Schwester, die mir ein bisschen hilft, aber
sie hat wenig Zeit und … es ist schwer. Es wäre halt fein, wenn jemand einmal drei, vier Tage oder
auch über Nacht bleiben könnte. Aber das gibt es fast nie. Also es ist schon so, wenn man es
anfängt, dann heißt es, du hast Zeit, du hast es jetzt getan, du kennst dich aus. Sie kommen schon
alle mal auf Besuch, aber dann sagen sie, ich muss gehen, wir müssen noch, wir haben noch … es
hat halt niemand Zeit. Es nimmt sich niemand Zeit. Das find ich am allerschrecklichsten.“
Frage: Wie wollen/können wir das Leben in und um Landeck so gestalten, dass die Pflege zu
Hause nicht nur von einer Person (einer Frau) getragen wird, sondern „gerecht“ verteilt wird?
Herausforderungen:
Die „Pflegerolle“ übernimmt oft eine Tochter, aber eine Diskussion hat nie stattgefunden
Die Pflegerolle kann sehr undankbar sein – wenn der Besuch der „fernen“ Kinder mehr
gilt als die tägliche Pflege
Männer entziehen sich oft ganz und mit aller Selbstverständlichkeit der Pflege
Der optimale „Mix“ der Pflege aus: Verwandten, Bekannten, Hilfen von FreundInnen und
Nachbarn und professionellen Diensten und Institutionen ist schwer zu bestimmen
Themenimpuls: Nachbarschaftskultur stärken/entwickeln
Zitat-Hausbesorger:
„Wenn am Balkon der Blumenschmuck fehlt, ist das ein erstes Zeichen für den Rückzug. Da sollte
man dann schon mal aufmerksam werden und schauen, ob die Nachbarn vielleicht was
brauchen.“
Zitat-Ehrenamtliche:
„Also sehr wichtig sind so alltägliche Kleinigkeiten der Nachbarschaftshilfe. Dass ich eben, wenn
ich weiß, die Frau nebenan kann nicht mehr gut gehen, dass ich eben sage, ich geh morgen
einkaufen, schreib mir auf, was Du brauchst, dann bringe ich Dir das mit. Also ganz kleine Dinge,
die wirklich jeder tun kann, das sollte verstärkt werden. Nicht verpflichtend natürlich, sondern so,
dass man einfach mitdenkt, dass man Augen und Ohren offen hat. Ich koch sogar meiner bösen
Nachbarin eine Suppe, wenn sie krank ist. Ich denk mir, sie ist halt sehr alt. Was solls.“
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Frage: Wie wollen/können wir das Leben in und um Landeck so gestalten, dass wir einander als
Nachbarn und Nachbarinnen im Blick haben und kleine Hilfeleistungen eine
Selbstverständlichkeit sind?
Herausforderungen:
Nachbarn und Nachbarinnen sind in der Sorge eine wichtige Ressource, aber:
Viele fühlen sich beobachtet oder schämen sich vor dem Gerede der Nachbarn
Ansprechen, nachfragen, kleine Hilfeleistungen geben: das erfordert (anfänglich) Mut
und Initiative
Hilfe anzunehmen fällt oft schwer, weil man meint, alles selbst schaffen zu müssen oder
immer etwas zurückgeben zu müssen
BürgerInnen-Vorschlagskarten
Im Laufe des Bevölkerungsgesprächs sollten von den TeilnehmerInnen Ideen möglichst konkret
auf „BürgerInnen –Vorschlagskarten“ festgehalten werden.
Über vierzig Vorschläge wurden von den BürgerInnen entwickelt, wie die Sorgekultur in der
Stadtgemeinde gestärkt werden kann.
Diese Vorschläge wurden gesammelt, vom Projektteam ausgewertet und im Sozialausschuss der
Stadtgemeinde vorgestellt und besprochen. Folgende Handlungsfelder standen im Zentrum der
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BürgerInnen-Vorschläge: Belebung und Stärkung der Nachbarschaftskultur (für
Nachbarschaftlichkeit sensibilisieren, freiwillige und nachbarschaftliche Sorge
aufbauen/koordinieren, sich kümmern), soziale Teilhabe ermöglichen, Ansprechpartner und
Koordination von Sorgeangeboten schaffen, darüber reden und informiert werden.
Neben der Entwicklung von konkreten Zukunftsperspektiven diente das Bevölkerungsgespräch
auch dazu, dass formelle und informelle HelferInnen und ihre Angebote sichtbar gemacht und
ein Raum für Wissens- und Informationsaustausch für die Bevölkerung geschaffen wurde.
5 Projektphase 3: Sorgekultur stärken - Lokale Maßnahmen initiieren, fördern und
begleiten
Parallel zum Bevölkerungsgespräch und als Ergebnis aus den Vorschlägen wurden in
unterschiedlichen Bereichen der Gemeinde Impulse und Initiativen mit einem engagierten
Team von lokalen AkteurInnen (Sorgeteam) und mit Unterstützung der Kommunalpolitik auf
den Weg gebracht und umgesetzt.
23
5.1 Kümmerer- und Nachbarschaftsabend
So wurde unter dem Titel „Wie geht es dir eigentlich?“ ein „Kümmerer- und
Nachbarschaftsabend“ veranstaltet. Dabei wurden Erfahrungen ausgetauscht, um im Erzählen
die „unsichtbare“ Sorge und Hilfe bewusst zu machen, die Friseure, Briefträgerinnen, Verkäufer,
Taxifahrerinnen, Hausbesorger, Nachbarinnen und andere „Kümmerer“ in ihrem Alltag erbringen.
Einladungstext:
„Wie geht es dir eigentlich?“
Einladung zu einem „Kümmerer- und Nachbarschaftsabend“
Frisörinnen kennen oft die Sorgen und Lebenslagen ihrer älteren Kundinnen. Gastwirte sind Ansprechpartner für einsame Menschen. Fachkräfte im Handel oder in anderen
Dienstleistungsberufen schenken kranken und gebrechlichen Menschen Zuwendung oder ganz konkrete Unterstützung über ihr eigentliches „Kerngeschäft“ hinaus. Nachbarn und
Nachbarinnen haben einander im Blick. Sie kümmern sich, ganz selbstverständlich und alltäglich.
Die Einsamkeit von alten und/oder kranken Menschen, aber auch von pflegenden Angehörigen kann groß sein. Umso wichtiger sind diese kleinen Gesten der Aufmerksamkeit und
Unterstützung für sie.
Kleine Gesten und Worte machen oft einen großen Unterschied
Deshalb laden wir ein – im Rahmen des Projekts Sorgende Gemeinde im Leben und Sterben der Stadtgemeinde Landeck – zu einem
„Kümmerer- und Nachbarschaftsabend“
im Alten Widum am Mittwoch, 25. März 2015 von 18 Uhr bis max. 21 Uhr
Wir wollen Erfahrungen austauschen und im Erzählen die „unsichtbare“ Sorge und Hilfe
bewusst machen, die Friseure, Briefträgerinnen, Verkäufer, Taxifahrerinnen, Hausbesorger, Nachbarinnen und andere „Kümmerer“ in ihrem Alltag erbringen. Was sind die kleinen,
kostbaren Hilfen im Alltag? Welche Möglichkeiten gibt es? Eine Kernfrage ist auch: Wie kann die Sorge für andere nicht als Last, sondern als Bereicherung erfahren werden? In einer
„sorgenden Gemeinde“ lebt es sich für alle besser!
Das Treffen richtet sich an alle, die sich angesprochen fühlen – an alle „Kümmerer“ und solche, die es werden wollen.
Diskussion
Im zweiten Teil des Abends wurden sehr interessante Themen herausgearbeitet, die hier in ein
paar Sätzen kurz skizziert werden:
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Ein Thema war die Frage nach der "guten Nachbarschaft": Nachbarschaftliche Beziehungen
müssen gepflegt werden, auch wenn man nichts voneinander braucht. Nur so können sie
wachsen und in schwierigen Zeiten (Alter, Krankheit ...) zu einer wertvollen Ressource werden,
die für beide Seiten bereichernd ist.
Traditionell starke Nachbarschaftsbeziehungen sind nicht mehr selbstverständlich, weil die
Gesellschaft anonymer und individualistischer wird. Eine Folge daraus ist, dass das Misstrauen
untereinander steigt, Zuwendung und Interesse können leicht als Einmischung oder
ungebührliche Neugier interpretiert werden (Balance von Nähe und Distanz, Fürsorge und
Intimität wahren!).
Wie kann dem entgegengewirkt werden? Die Diskussionsrunde ist zu dem Schluss gekommen,
dass es "Brücken" braucht, zwischen einzelnen Menschen, aber auch zwischen unterschiedlichen
Bevölkerungsgruppen, die vermeintlich nichts miteinander zu tun haben. Nur wenn
Verbindungen entstehen und Brücken gebaut werden, kann Vertrauen in der Gesellschaft
entstehen. Das ist die Voraussetzung dafür, dass Menschen sich mehr aufeinander beziehen.
Dieses Brückenbauen wurde von den TeilnehmerInnen am Kümmerer- und Nachbarschaftsabend
recht umfassend gesehen und es hat sich gezeigt, dass gesellschaftliche Teilhabe für ALLE
Gruppen, egal wie alt sie sind, woher sie kommen, wie gesund oder krank sie sind, Voraussetzung
für ein gutes Miteinander in einer Gesellschaft ist. Diese gesellschaftliche Teilhabe bzw. Inklusion
muss strukturell ermöglicht werden, ist also letztlich auch eine Aufgabe für die Politik.
Ein Wunsch, der geäußert wurde: Nachbarschaftshilfe sollte organisiert werden. Das heißt, es
braucht eine Plattform, wo ganz unbürokratisch Hilfeleistungen angeboten werden können.
Wichtig dabei ist, dass Nachbarschaftshilfe nicht als "Tauschgeschäft" gesehen wird. In einer
"Sorgenden Gemeinde" bieten Menschen Hilfeleistungen an, ohne dafür etwas zu erwarten, und
andere nehmen diese Hilfe an, ohne dabei ein schlechtes Gewissen zu haben. Das Prinzip der
Gegenseitigkeit muss in diesem Zusammenhang größer gedacht werden: Wenn ich etwas gebe,
bekomme ich immer etwas zurück - allerdings vielleicht von ganz woanders, möglicherweise auch
von ganz unerwarteter Seite.
Da das Annehmen von Hilfe in unserer Gesellschaft offenbar oft schwer fällt, ist es wichtig, es in
der Bevölkerung zum Thema zu machen.
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5.2 Bevölkerungskurs „Vorsorgen, pflegen und gut leben bis zuletzt“
Wo und von wem bekomme ich in einer Pflege- und Betreuungssituation Hilfe? Was ist mir in
der letzten Lebensphase wichtig? Welche Möglichkeiten der Vorsorge gibt es? Wie merke ich,
wenn ein Mensch dem Sterben nahe ist? Wie verlaufen Trauerprozesse? Was hilft mir, nach dem
Tod eines geliebten Angehörigen wieder Kraft zu finden? Diese und viele andere Fragen wurden
seit Mai 2015 an vier Abenden im Rahmen des Bevölkerungskurses „Vorsorgen, pflegen und gut
leben bis zuletzt“ in Landeck behandelt. Der Kurs richtete sich an alle Bürgerinnen und Bürger.
Die Teilnahme war kostenlos und die Abende konnten auch einzeln besucht werden. Der Kurs
wurde vom IFF-THG Projektteam mit informellen und formellen HelferInnen aus der Region
gemeinsam entwickelt. Moderiert und inhaltlich gestaltet wurde der Bevölkerungskurs von den
lokalen HelferInnen (Sozial- und Gesundheitssprengel, Hospizteam, Bestattung, Seelsorge des
Krankenhauses, WegbegleiterInnen zur Unterstützung pflegender Angehöriger, Palliativpflege
und Palliativmedizin, usw.). Der Bevölkerungskurs sollte: a) zu einer frühzeitigen
Auseinandersetzung mit Fragen der Begleitung, Sorge und Selbstsorge bei Pflegebedürftigkeit
und am Ende des Lebens beitragen. b) Menschen dazu ermutigen, Fragen der
Pflegebedürftigkeit und der letzten Lebensphase frühzeitig zu besprechen und eine aktive bzw.
aktiv unterstützende Rolle einzunehmen. c) Orientierungswissen und Unterstützung in Fragen
der Begleitung von alten, schwer kranken und sterbenden Menschen sowie im Umgang mit
Sterben, Tod und Trauer anbieten.
Die jeweils 3 stündigen Abende haben sich inhaltlich in folgende Module aufgeteilt:
Mi, 6. Mai, Beginn 18.00: Hilfe organisieren, annehmen und sich kümmern
Do, 28. Mai, Beginn 18.30: Vorsorgen, planen und entscheiden
Mi, 10. Juni, Beginn 18.00: Beistehen, pflegen und betreuen – die letzten Tage und Stunden
Mi, 24. Juni, Beginn 18.00: Abschied nehmen, trauern und Kraft finden
Ältere Menschen, pflegende Angehörige, interessierte BürgerInnen und Menschen, die
professionell oder ehrenamtlich im Bereich der Pflege und Begleitung tätig sind haben sich in
einer sehr offenen Atmosphäre ausgetauscht, ihre Ängste, Sorgen und Interessen eingebracht
und von den ReferentInnen (aus dem lokalen Sorgenetzwerk) hilfreiche Informationen und
Hilfestellungen erhalten.
Doris Habicher, die Geschäftsführerin des Sozial- und Gesundheitssprengels Landeck-Zams-
Fließ-Schönwieß, die alle 4 Abende moderierend einen vertrauensvollen Rahmen gespannt hat
resümierte folgendermaßen:
„Ich war überrascht und es hat mich sehr gefreut, welch große und positive Resonanz der Kurs in
der Bevölkerung ausgelöst hat. Alle vier Kursabende waren sehr gut besucht. So kamen am letzten
Abend ca. 40 Menschen in den Alten Widum. Ältere Menschen, pflegende Angehörige,
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interessierte BürgerInnen und Menschen, die professionell oder ehrenamtlich im Bereich der
Pflege und Begleitung tätig sind haben sich in einer sehr offenen Atmosphäre ausgetauscht, ihre
Ängste, Sorgen und Interessen eingebracht und von den ReferentInnen hilfreiche Informationen
und Hilfestellungen erhalten. Viele Gespräche und Situationen haben mich berührt und auch mich
haben die Abende sehr bereichert.“ Sonja Prieth, Bildungsreferentin der Tiroler Hospiz-
Gemeinschaft und Mitglied des Projektleitungsteams: „An jedem der vier Abende war spürbar,
dass es zwar anfangs nicht leicht ist, offen über diese Themen zu reden, letztlich aber von allen
als erleichternd und wohltuend empfunden wird, es zu tun. Innerhalb kurzer Zeit entstand eine
vertraute Atmosphäre und die Menschen gingen beschenkt nach Hause.“
Ein Kernthema aller vier Abende war die Kommunikation: Immer wieder äußerten Menschen,
wie hilfreich es sein kann, wenn jemand sich Zeit für ein Gespräch nimmt und wirklich zuhört.
Gespräche mit Angehörigen, Freundinnen und Freunden über die eigenen Wünsche und
Vorstellungen das Lebensende betreffend sollten außerdem immer wieder geführt werden.
Denn nur, wenn die Angehörigen wissen, was der Vater, die Mutter sich für eine bestimmte
Situation wünschen würden, können sie sich dafür einsetzen, dass diese Wünsche respektiert
werden. Eines der schwierigsten Themen rund um die Sorge am Lebensende ist es, Hilfe
anzunehmen.
„Wir wollen auch in Zukunft diesen vierteiligen Bevölkerungskurs durchführen. Damit bleibt das
Thema im öffentlichen Bewusstsein und es wird ein Ort der Begegnung, des Austausches und der
Unterstützung von Menschen, die als Betroffene oder Betreuende Hilfe brauchen, etabliert. Wir
sehen den Bevölkerungskurs als wichtigen Beitrag, die Sorgekultur zu stärken. Denn Alter,
Sterben, Tod und Trauer geht uns alle an“, meint Doris Habicher.
5.3 Weitere Initiativen
Gemeinsam mit LehrerInnen und SchülerInnen wurden in der Schule Miniprojekte zur
„Sorgekultur in der Gemeinde“ initiiert und eine Kooperation mit einer lokalen Tageszeitung
etabliert. Beispielsweise haben SchülerInnen Gespräche mit ihren Großeltern über das
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Altwerden, über Sorgeerfahrungen und über ihre Wünsche, Ängste und Sorgen in der letzten
Lebensphase geführt. Gemeinsam mit dem Lehrer haben die SchülerInnen daraus einen sehr
berührenden Kurzfilm entwickelt und im Beisein der Großeltern im Projekt vorgeführt und den
Prozess der persönlichen Auseinandersetzung mit den Themen reflektiert.
Parallel zum Bevölkerungskurs wurden über 10 Wochen jeweils 1-2 Beiträge zum Projekt
Sorgende Gemeinde im Leben und Sterben in einer Lokalzeitung (eine Kooperation mit der
Oberländer Rundschau) veröffentlicht um die Themen und Kursangebote in die Bevölkerung zu
tragen und um die handelnden AkteurInnen des informellen und formellen Sorgenetzwerkes
bekannter zu machen. Beispiele:
In Kooperation mit den vier Trägergemeinden des Sozial- und Gesundheitssprengels Landeck-
Zams-Fließ-Schönwies wird momentan an der Umsetzung eines Modellprojektes zur Etablierung
einer Sorgekoordination gearbeitet.
Im Jugend- Familien- und Sozialausschuss der Stadtgemeinde Landeck wurde die fortlaufende
Förderung des Schwerpunktes „Sorgende Gemeinde“, über den Projektprozess hinaus,
beschlossen.
Im November 2015 findet im Rathaus ein Forum zur Nachhaltigkeit der Sorgenden Gemeinde
statt.
Im Januar 2016 endet das Projekt mit einer öffentlichen Projektmesse und Zukunftswerkstatt im
Stadtsaal Landeck.
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6 Literatur
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