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Institut für Pflegewissenschaft
Medizinische Fakultät, Universität Basel
Dr. René Schwendimann
CURAVIVA-BfU IMPULSTAG 2012
STÜRZE VERHINDERN ! JA, ABER WIE?
Olten, 9. Mai 2012
Sturzrisiko einschätzen und abklären:Screening und Assessment
Übersicht
• Sturzrisikofaktoren
• Sturzrisikoeinschätzung (Screening)
• Sturzrisiko und Sturzabklärung (Assessment)
• Folgerungen
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Häufigste Sturzrisikofaktoren
Risikofaktor Signifikanz/Total RR/OR
Muskelschwäche 10/11 4.4
Sturzanamnese 12/13 3.0
Gehstörungen 10/12 2.9
Gleichgewichtsstörungen 8/11 2.9
Hilfsmittelbenützung 8/8 2.6
Sehstörungen 6/12 2.5
Arthritis 3/7 2.4
Beeinträchtigte ATL‘s 8/9 2.3
Depression 3/6 2.2
Beeinträchtige Kognition 4/11 1.8
(AGS, 2001)
Determinanten des SturzgeschehensMedizinischer Zustand:Parkinson’sche Krankheit, Insult,
Arrhythmie, Hypotension,Depression,
Epilepsie, Demenz, Arthritis,
Augenkrankheit, Arthrose, Schwindel,
Periphere Neuropathie
Einschränkungen:Muskel- und Gelenksfunktionen,
Gleichgewichtssinn, Visus, Gehör,
Sensorische Wahrnehmung,
Kognition, Aufmerksamkeit, Wachheit
Behinderungen:Statisches und dynamisches
Gleichgewicht, Gang
Alkohol & Medikamente:Sedativa, Antidepressiva,
Hypnotika, Antihypertensiva
und Polypharmacie
Sturzauslösung
Aufschlag
STURZ
Verletzung
Aufschlagwirkung:Gewebesituation
Bodenbeschaffenheit
Umgebungs-gefahren:Bodenbelag
Beleuchtung
Mobiliar
Hindernisse
Hilfsmittel
Schuhwerk
(Kannus et al. 2005)
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Einschätzung des Sturzrisikos
Aus Sicht der Anwender muss ein Instrument zur
Einschätzung des Sturzrisikos von Patienten (im
Spital) folgende Bedingungen erfüllen:
• Personen mit Sturzrisiko genau und zuverlässig und
erfassen und von solchen ohne Sturzrisiko
unterscheiden können.
• Einfach und rasch anwendbar sein.
Instrumente zur Sturzrisikoeinschätzung
• Morse Skala (Morse 1989, McCollam 1995, Eagle 1999, Schwendimann, 2006)
• STRATIFY (Oliver 1997, Coker 2003, Papaioannou 2004, Milisen, 2004)
• Hendrich Skala (Hendrich 1995, 2003)
• Conley Skala (Conley 1999, Chiara 2002)
• Downton Skala (Nyberg, 1996)
• Schmid Skala (Schmid 1990)
• Klinische Beurteilung (Milisen, 2012; Myers 2003, Eagle 1999, Moore 1996)
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Morse Sturz Skala
• Kürzlicher Sturz 0/25 Pkt.
• Sekundärdiagnose 0/15 Pkt.
• Hilfsmittel zur Fortbewegung 0/15/30 Pkt.
• Intravenöse Thrp./Venenzugang 0/20 Pkte.
• Gehfähigkeit 0/10/20 Pkte.
• Psychischer Zustand 0/15 Pkte.
Maximale Punktezahl = 125
(Morse, 1986; Schwendimann, 2006)
MSS – Risikofaktoren (n=386)
Frühere Stürze 117 (30.3%)
Sekundärdiagnose 361 (93.5%)
Hilfsmittel zur Fortbewegung 56 (14.5%)
Intravenöse Therapie/Venenzugang 289 (74.9%)
Eingeschränkte Gehfähigkeit 132 (34.2%)
Eingeschränkter psychischer Zustand 83 (21.5%)
(Morse, 1986; Schwendimann, 2006)
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Morse Sturz Skala (Cut off)
0%
20%
40%
60%
80%
100%
0 15 25 35 45 55 65 75 85 95 105
115
125
Sensitivität Spezifizität
(Schwendimann, 2006)
55 Punkte bei
75% Sensitivität
66% Spezifizität
Klinische Beurteilung
• Vom „Gefühl aus dem Bauch“ und dem
„intuitiven“ Erkennen einer Sturzgefährdung
• Bisherige Erfahrungen mit Patienten die
stürzten (Merkmale, Umstände usw.)
• Gezielte Beobachtung und Wahrnehmung
„bestimmter“ Risikofaktoren
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Klinische Beurteilung des Sturzrisikos durch diplomierte Pflegefachkräfte
Können Pflegefachpersonen bei hospitalisierten Patienten das Sturzrisiko vorauszusagen?
Fragestellung:
Welchen Wert hat das klinische Urteil von Pflegefach-
personen bei der «Voraussage» von Stürzen bei
hospitalisierten Patienten?
(Milisen, 2012)
Methode• Prospektive, multizentrische Studie in 6 Spitälern mit
• 2’470 Patienten (Alter ∅: 67.6 J. ,Frauen: 55.7%) aus
4 chirurgischen (33%), 8 geriatrischen (27%), und
4 allgemein medizinischen Abteilungen (40%).
• Innerhalb 24 Stunden nach Spitaleintritt beantwortete
die zuständige Pflegefachperson die Frage: “Denken
Sie, dass ihr Patient ein hohes Sturzrisiko hat?”
• Die Pflegefachpersonen erhielten zuvor keine
spezielle Fortbildung zur Sturzrisikoeinschätzung.
• Sturzereignisse wurden standardisiert protokolliert.
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Ergebnisse
• 143 (5.8%) Patienten stürzten ein- oder mehrmals
während der Hospitalisation (total 202 Stürze).
• Gesamtsturzrate: 7.9 Stürze pro 1,000 Pflegetage.
• Einschätzung des Sturzrisikos durch die Pflege:
Sensitivität: 78–92%, Spezifizität: 32-85%, hohe
Neg.PW: 94–100% und tiefe Pos.PW: 4–17%.
• Falsch negative Einschätzungen waren in allen
Abteilungen und Altersgruppen tief (8–22%),
während falsch-positive Einschätzungen hoch waren
(55–74%), ausser in Chirurgie, Medizin und <75 J.
Schlussfolgerungen• Unsere Analyse zeigt, dass das Sturzrisiko von
allgemein medizinischen, chirurgischen und <75
jährigen Patienten durch diplomierte Pflege-fachleute
klinisch relativ zuverlässig eingeschätzt werden kann.
• In geriatrischen Abteilungen und bei ≥75 jährigen
Patienten wird das Sturzrisiko von diplomierten
Pflegefachleuten überschätzt.
• Dort eignet sich die klinische Sturzrisikoeinschätzung
nicht, weil meist aufwendige Interventionen zur
Sturzprävention für viele Patienten erbracht würden,
die es nicht nötig hätten.
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Umfassende Sturz-Risikoabklärung
� Sturzanamnese
� Akute Erkrankung
�Medikation
� Ernährung
� Organsysteme
� Kognition
� Orthostase
� Visus
� Mobilität
� Funktionalität (AtL‘s)
� Kraft
� Gang & Gleichgewicht
�Ausdauer
� Inkontinenz
� Umgebung / Soziales
� Schuhe
SWZ, 2002(Chang, 2004; Waidguide 2002)
Steh auf und Geh-Test IDurchführung• Patient sitzt auf Stuhl
• Aufstehen lassen, kurz stehen bleiben
• 3 Meter gehen, umdrehen
• Zurücklaufen und wieder hin setzen
Interpretation• Zögern beim Aufstehen, Zeitdauer (>20 Sek.),
Zuhilfenahme der Arme, Rumpfbewegung
• Abnorme Mitbewegung des Rumpfes/Arme
• Stolpern, Drehung flüssig, Anzahl Schritte
• Kontrolliertes Absitzen
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Steh auf und Geh-Test IIEinteilung
1 = „normal“ (unauffällig, keine Abweichung)
2 = geringfügig Abweichung
3 = leichte Abweichung
4 = mittelschwere Abweichung
5 = schwere Abweichung
Schlussfolgerung
• Sturzgefährdung erhöht (≥ 3 Punkte)
• Massnahmen einleiten (z.B. weitere Abklärungen,
Prävention)
Ausschluss akuter Störungen
• Herz-Kreislauferkrankung (HI, LE, Art. Verschluss)
• Infektion (HWI, respiratorischer Infekt)
• Delir, Verwirrtheit
• Zerebrales Geschehen (CVI, Coma, Epilepsie)
• Intoxikation (Tabletten, Alkohol, andere Drogen)
• Sinnesorganerkrankung
• Affektive Störung (Depressive Episode, Psychose)
• Chirurgisches Problem (Eingriffe, Unfälle)
• Umfeldveränderung (Bedeutende Lebensereignisse)
• Krankheit im terminalen Stadium
• Endokrine / metabolische Störungen
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Checkliste zur Umgebungssicherheit
• Ordnung im «Haushalt»
• Böden (Trocken, rutschsichere Beläge etc.)
• Badezimmer (Haltegriffe, Anti-Rutschmatte etc.)
• Gehwege (hindernisfrei, fixierte Kabel etc.)
• Beleuchtung (Schalter, hell, nicht blendend etc.)
• Möbel (Höhe, Stabilität von Stühlen, Bett etc.)
• Treppenhaus (Handläufe, sichtbare Ränder etc.)
• Treppenstühle (standfest, <3 Stufen etc.)
• Haus-Umgebung (hindernisfrei, eben etc.)
Wer ist sturzgefährdet? (Pflegeanamnese)
• Stürze in den letzten 6 Monaten?
• Unsicherer Gang / schlechter Stand?
• Verwirrtheit, Desorientierung?
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Nach dem Sturz ist vor dem Sturz
SWZ, 2007
Folgerungen• Keines der zahlreichen bekannten Instrumente (inkl. MSS)
zur Einschätzung des Sturzrisikos, kann diagnostisch
vollumfänglich befriedigen.
• Mit einem der o.g. Instrumente allein kann ein Sturzrisiko
nicht rasch und zuverlässig eingeschätzt werden.
• Die klinische Beurteilung eines Sturzrisikos durch Pflege-
fachleute ist den o.g. Instrumenten meist ebenbürtig.
• Entscheidend sind weitere spezifische Abklärungen z.B.
im Rahmen eines geriatrischen Assessments, um gezielt
Massnahmen der Sturzprävention planen.