Sucht und Migrationshintergrund im
Maßregelvollzug
- Herausforderungen einer „Doppeldiagnose“
Herbert Steinböck & Wolfgang Krahl, 25.06.2015, 15:00 – 15:30 h
„Was wirkt? Im Spannungsfeld zwischen Motivation und Verweigerung“
LWL-Klinik Herten / NRW
Das Klinikum München-Ost ist zertifiziert nach DIN EN ISO 9001:2000
„Was wirkt?“ – LWL-Klinik Herten
25.06.2015
Klinik für Forensische Psychiatrie und Psychotherapie
kbo-Klinikum München-Ost
Klinik für Forensische
Psychiatrie und Psychotherapie
Gliederung:
1. Migrationshintergrund
2. Migrationshintergrund im Maßregelvollzug
3. § 64 StGB und Migrationshintergrund
als „Doppeldiagnose“?
4. Schluss
2
1. Migrationshintergrund
2. Migrationshintergrund im MRV
3. § 64 u. Migration als „Doppeldiagnose“
4. Schluss
1. Migrationshintergrund
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3
1. Migrationshintergrund
2. Sucht, Kriminalität u. Migration
3. § 64 u. Migration als „Doppeldiagnose“
4. Schluss
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4
Weshalb musste Sokrates sterben?
1. Migrationshintergrund
2. Sucht, Kriminalität u. Migration
3. § 64 u. Migration als „Doppeldiagnose“
4. Schluss
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Kultur – das Eigene?
(Waldenfels 2006)
griech. Kosmos: All-Ordnung –
Jeder / Jedes hat eigenen Platz,
ist umgrenztes Seiendes,
hat Innnen / Außen;
All = ein Ganzes ohne Außen.
Deshalb musste Sokrates sterben:
als A-topos (Ortloser) stellt er die kosmische Ordnung (die
Polis) in Frage.
1. Migrationshintergrund
2. Sucht, Kriminalität u. Migration
3. § 64 u. Migration als „Doppeldiagnose“
4. Schluss
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Also: Randfiguren innerhalb der Ordnung
stellen durch ihre Anomalität
die Normalität / die Ordnung in Frage.
Sokrates in den Straßen von Athen
(A. Castaigne)
1. Migrationshintergrund
2. Sucht, Kriminalität u. Migration
3. § 64 u. Migration als „Doppeldiagnose“
4. Schluss
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1. Migrationshintergrund
2. Sucht, Kriminalität u. Migration
3. § 64 u. Migration als „Doppeldiagnose“
4. Schluss
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8
Etienne Balibar (1988/1990): Rassismus =
eine Praxisform, ein Diskurs, eine Vorstellung
zur Segregation bzw.
zur vorbeugenden Bewahrung des Gesellschaftskörpers
als „eigenes Selbst“ oder „Wir“
vor jeder „rassischen Vermischung“ oder vor jeder Überflutung;
artikuliert sich um die stigmatisierenden Merkmale des radikal
„Anderen“ herum (wie Name, Hautfarbe, religiöse Praxisformen).
Es geht demgemäß darum, Stimmungen und Gefühle durch
Stereotypisierung ihrer „Objekte“ wie auch ihrer „Subjekte“ zu
organisieren.
Hieraus entwickelt sich eine rassistische Gemeinschaft.
1. Migrationshintergrund
2. Sucht, Kriminalität u. Migration
3. § 64 u. Migration als „Doppeldiagnose“
4. Schluss
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Weil der „moderne“ Rassismus heute gern
„Rasse“ durch „Kultur“ ersetzt (Balibar 1988/1990),
gerät die Rede über Kultur und Migrationshintergrund
leicht in Gefahr, sich rassistisch zu kontaminieren.
Besonders, wenn wir dies mit der Staatsmacht im
Rücken tun.
Die Rede vom Migrationshintergrund ist also stets
selbstkritisch zu reflektieren (das „Antlitz des Andern“ –
Lévinas 1987/2008).
1. Migrationshintergrund
2. Sucht, Kriminalität u. Migration
3. § 64 u. Migration als „Doppeldiagnose“
4. Schluss
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Menschen mit Migrationshintergrund
(Def. gemäß Erhebung des Statistischen Bundesamtes Fachserie 1 Reihe 2.2):
nicht identisch mit Staatsangehörigkeit, sondern
„alle nach 1949 auf das heutige Gebiet der BRD Zugewanderten,
sowie alle in Deutschland geborenen Ausländer und
alle in Deutschland als Deutsche Geborenen mit zumindest einem
zugewanderten oder als Ausländer in Deutschland geborenen Elternteil“
„Ausländer“:
alle Personen, die nicht Deutsche im Sinne des Art. 116 Abs. 1 GG sind,
d. h. nicht die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen.
1. Migrationshintergrund
2. Sucht, Kriminalität u. Migration
3. § 64 u. Migration als „Doppeldiagnose“
4. Schluss
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statt „Migrationshintergrund“ besser
„anderer kultureller Hintergrund“
(Krahl 2011)?
1. Migrationshintergrund
2. Sucht, Kriminalität u. Migration
3. § 64 u. Migration als „Doppeldiagnose“
4. Schluss
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Ausländer-Anteil an der Bevölkerung der BRD
(Stichtag: 31.12.2014; Statist. Bundesamt 2015)
Gesamtbevölkerung BRD davon Ausländer %
80,9 Millionen 7,2 Millionen 8,95
(konstant seit
1995)
z. B.:
Bayern: 1.418.684 9,9 %
München: 382.995 23,5 %
NRW: 2.074.230 10,1 %
Düsseldorf: 135.421 17,4 %
Sachsen: 123.648 2,6 %
Leipzig: 33.058 5,7 %
1. Migrationshintergrund
2. Sucht, Kriminalität u. Migration
3. § 64 u. Migration als „Doppeldiagnose“
4. Schluss
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13
Rechtliche Grundlage:
1990 – 2004: Ausländergesetz (AuslG vom 09.07.1990)
abgelöst durch
Aufenthaltsgesetz (AufenthG) vom 30.07.2004, in Kraft seit 01.01.2005
Aufenthaltstitel werden erteilt als
1. Visum,
2. Aufenthaltserlaubnis (befristet) oder
3. Niederlassungserlaubnis (unbefristet), sowie
4. Erlaubnis zum Daueraufenthalt-EG.
Duldung = vorübergehende Aussetzung der Abschiebung (§ 60a AufenthG),
aber: Ausreisepflicht bleibt hierbei bestehen!
-----> Reha-Problematik!
1. Migrationshintergrund
2. Sucht, Kriminalität u. Migration
3. § 64 u. Migration als „Doppeldiagnose“
4. Schluss
2. Migrationshintergrund
im Maßregelvollzug
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1. Migrationshintergrund
2. Migrationshintergrund im MRV
3. § 64 u. Migration als „Doppeldiagnose“?
4. Schluss
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Migrationshintergrund im Maßregelvollzug (MRV):
• 1980er Jahre:
Anteil ausländischer Untergebrachter im MRV nur ca. 4% - 5%; z. B.
Westfälisches Zentrum für Psychiatrie in Lippstadt-Eickelborn (Schumann 1987),
Zentrum für Psychiatrie Weissenau (Missenhardt 1990),
Hessen (Dessecker 1997).
• AK Psychiatrie u. Migration der Bundesdirekorenkonferenz (Koch et al. 2008):
Am Stichtag 21.01.2004 betrug der Ausländeranteil in der stat.
Allgemeinpsychiatrie 17,4 %, im Maßregelvollzug (§§ 63 u. 64 StGB) 27,2 %.
• Klaus Hoffmann (2006): 865 Untergebrachte des OLG-Bezirks Karlsruhe gemäß
§§ 126a, 453c StPO, §§ 63, 64 StGB, Aufnahme 1.1.1990 – 31.12.1999;
davon 54 Aussiedler (6,3 %), 148 Ausländer (17,1%).
Diagnosen bei ausländischen Untergebrachten: mehr Psychosen, weniger
Pers.störungen, Intelligenzminderung u. Alkoholabhängigkeit.
Delikte bei ausländ. Untergebr.: mehr Tötungsdelikte u. Körperverl.,
weniger Brandstiftungs-, Diebstahls-, Betrugs u. pädosexuelle Delikte
1. Migrationshintergrund
2. Migrationshintergrund im MRV
3. § 64 u. Migration als „Doppeldiagnose“?
4. Schluss
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Bulla J. et al. (2013): Stichtagserhebung zu § 63 StGB in Baden-Württemberg:
2011: Bevölkerung Baden-Württembergs 26,2 % mit Migrationshintergrund;
Untergebrachte gemäß § 63 StGB 34,1 % mit Migrationshintergrund.
Baumann et al. (2013): Untersuchung zu Spätaussiedlern gemäß § 64 StGB:
Spätaussiedler weisen überdurchschnittl. hohe Raten für Drogendelinquenz auf;
Unterbringungsdauer ähnlich wie bei Einheimischen,
aber häufigere Erledigungen wegen Aussichtslosigkeit
(aber eher weniger Erledigungen als andere Ausländer-Gruppen).
1. Migrationshintergrund
2. Migrationshintergrund im MRV
3. § 64 u. Migration als „Doppeldiagnose“?
4. Schluss
Klinik für Forensische
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Jahr § 64
N-Gesamt
AKH* %
2006 121 48 40
2008 128 48 36
2010 128 73 57
2011 132 61 46
2012 134 59 44
2013 133 56 42
2014 147 72 49
AKH = anderer kultureller Hintergrund (Migrationshintergrund)
(Krahl & Steinböck 2015, S. 155)
kbo-Klinikum München-Ost:
fast 50 % der
gemäß § 64 Untergebrachten
weisen einen AKH auf!
1. Migrationshintergrund
2. Migrationshintergrund im MRV
3. § 64 u. Migration als „Doppeldiagnose“?
4. Schluss
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Kulturelle Kompetenz (Krahl 2011)
= soziale Kompetenz im kulturellen Kontext:
seitens des Therapeuten:
• Unvoreingenommenheit,
• Reflektion über die eigene kulturelle Identität,
• Reflektionsbereitschaft über das eigene kulturelle Denken, Fühlen und Handeln
• Neugier und Wissen über andere Kulturen,
• Sprach-Akzeptanz (zuhören, auch wenn Pat. nicht perfekt deutsch spricht)
• Achtsamkeit in Hinblick auf nonverbale Äußerungen,
• Arbeiten mit Übersetzern,
• Bereitschaft in multikulturellen Teams zu arbeiten,
• fachlicher Austausch mit Therapeuten aus anderen Kulturkreisen,
• Vermeidung von Stereotypien und entsprechenden kulturellen Schlagworten
(z. B. "Schamkultur" oder "Unterdrückung der Frauen im Islam"),
• Behandlung individueller Patienten, nicht ethnischer Gruppen!!!
1. Migrationshintergrund
2. Migrationshintergrund im MRV
3. § 64 u. Migration als „Doppeldiagnose“?
4. Schluss
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Kulturelle Kompetenz (Krahl 2011)
= soziale Kompetenz im kulturellen Kontext:
seitens des Patienten:
• Bereitschaft mit Menschen des Aufnahmelandes in Kontakt zu treten,
• Akzeptanz der Aufnahmekultur,
• Bereitschaft die Sprache des Aufnahmelandes zu erlernen,
• Integrationsbereitschaft (nicht Assimilationsbereitschaft),
• Wissen über das Aufnahmeland und
• die Bereitschaft zu neuen Aktivitäten.
1. Migrationshintergrund
2. Migrationshintergrund im MRV
3. § 64 u. Migration als „Doppeldiagnose“?
4. Schluss
3. § 64 StGB und Migrationshintergrund
als „Doppeldiagnose“?
Klinik für Forensische
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20
1. Migrationshintergrund
2. Migrationshintergrund im MRV
3. § 64 u. Migration als „Doppeldiagnose“?
4. Schluss
Klinik für Forensische
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21
„Doppeldiagnosen“
verkomplizieren die Diagnostik und Behandlung
und erschweren eine günstige Prognose.
Sie erfordern die synchrone Auseinandersetzung
mit beiden Problembereichen.
1. Migrationshintergrund
2. Migrationshintergrund im MRV
3. § 64 u. Migration als „Doppeldiagnose“?
4. Schluss
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22
Erschwernisse für Menschen mit AKH im Maßregelvollzug:
• kulturelle u. soziodemographische Besonderheiten:
größere Rolle der klassischen Familie
(Herkunftsfamilie, Partnerschaft in Ehe mit Kindern;
tradit. Rolle eines „Familienvorstands“);
religiöse Einbindung?
Tabuisierungen (Sexualität, Geld, Ehre)
individuelles / kollektives „Ich“?
Sprachprobleme
geringere schulische u. berufliche Qualifikation
höhere Arbeitslosenquote
höheres Risiko angezeigt zu werden
……
1. Migrationshintergrund
2. Migrationshintergrund im MRV
3. § 64 u. Migration als „Doppeldiagnose“?
4. Schluss
Klinik für Forensische
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23
Erschwernisse für Menschen mit AKH im Maßregelvollzug:
• rechtliche Besonderheiten:
unklarer oder in Frage gestellter Aufenthaltsstatus:
§ 53 AufenthG: zwingende Ausweisung,
§ 54 AufenthG: Ausweisung im Regelfall,
§ 55 AufenthG: Ermessensausweisung.
falls Asylbewerber:
PTSD zwischen Invalidierung und Funktionalisierung?
Fehlen relevanter Informationen von 3. Seite;
falls illegal eingereist: keine Papiere
Beschaffung von Papieren oft nur an entfernter Botschaft möglich
(Lockerungsstatus? unterstützende Begleitung?
……
1. Migrationshintergrund
2. Migrationshintergrund im MRV
3. § 64 u. Migration als „Doppeldiagnose“?
4. Schluss
Klinik für Forensische
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24
„Doppeldiagnose“ § 64 StGB & AKH – Beispiele:
• Auswirkung auf stat. Unterbringung
• Auswirkung auf Therapie-Ziel
• Auswirkung des § 456a StPO
• Auswirkung auf Nachsorge
1. Migrationshintergrund
2. Migrationshintergrund im MRV
3. § 64 u. Migration als „Doppeldiagnose“?
4. Schluss
Klinik für Forensische
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25
„Doppeldiagnose“ § 64 StGB & AKH – Beispiele: • Auswirkung auf stat. Unterbringung:
AKH-Pat.: Lebensmittelpunkt BRD oder auf der Durchreise?
ggf. Einbindung in ethnisch definierte kriminelle Subgruppe
Sprachprobleme:
Sprachunkundigkeit Absehung von der Anordnung des § 64 StGB.
Deutschunterricht zur Erreichung von Therapie- u. Reha- (=
Integrations-) fähigkeit;
bei mangelhafter Anstrengungsbereitschaft oder nicht ausreichenden
Lernfortschritten Abbruch.
BGH-Erwartung an Therapie mittels Dolmetscher verfehlt die
Behandlungsrealitäten (Milieu, Gruppen!)
Lockerung trotz Abschiebung
(BVerfg 2012; Entweichungen von Ausländern nicht häufiger)
1. Migrationshintergrund
2. Migrationshintergrund im MRV
3. § 64 u. Migration als „Doppeldiagnose“?
4. Schluss
Klinik für Forensische
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26
Sprachunkundigkeit:
BGH, Beschluss vom 15.03.2001 – 5 StR 591/00 (LG Berlin):
Der Senat hält es für nahe liegend, dass die von einer Unterbringung nach § 64 StGB
geforderte Annahme hinreichend konkreter Aussicht eines Behandlungserfolges
bereits an der Sprachunkundigkeit des Angeklagten scheitert.
BGH 3 StR 209/01 - Beschluß v. 20. Juni 2001 (LG Kleve)
… Zum einen genügen für die Verständigung zwischen Therapeut und Patient
regelmäßig sprachliche Grundkenntnisse (BGHSt 36, 199, 203).
BGH, Beschluss vom 18.12.2007 – 1 StR 411/07:
Soweit nach der bisherigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs
mangelhafte oder fehlende Sprachkenntnisse des Angeklagten bei der
Unterbringungsanordnung außer Betracht zu bleiben haben, wird dies in dieser
Allgemeinheit unter der Geltung des neuen Rechts nicht aufrecht zu erhalten
sein.
1. Migrationshintergrund
2. Migrationshintergrund im MRV
3. § 64 u. Migration als „Doppeldiagnose“?
4. Schluss
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27
Ausweisungsbescheid:
1. Migrationshintergrund
2. Migrationshintergrund im MRV
3. § 64 u. Migration als „Doppeldiagnose“?
4. Schluss
Klinik für Forensische
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28
Lockerung trotz Abschiebung BVerfg 2 BvR 2025/12, Beschluss vom 10.10.2012:
Es sei „darauf hinzuweisen, dass das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung
mit Art. 1 Abs. 1 GG den Staat verpflichtet, den Strafvollzug auf das Ziel
auszurichten, dem Inhaftierten ein zukünftiges straffreies Leben in Freiheit zu
ermöglichen. Besonders bei langjährig Inhaftierten ist es geboten, aktiv den
schädlichen Auswirkungen des Freiheitsentzuges entgegenzuwirken und
ihre Lebenstüchtigkeit zu erhalten und zu festigen. Hierfür kommt der
Möglichkeit, dem Gefangenen Lockerungen zu gewähren, besondere Bedeutung
zu. Diese dürfen einem Strafgefangenen nicht generell mit Blick auf eine
(noch) fehlende Entlassungsperspektive verwehrt werden. Dies gilt
grundsätzlich auch dann, wenn der Strafgefangene aus der Haft heraus
abgeschoben werden soll, weil das Resozialisierungsgebot nicht allein dem
(inner)staatlichen Interesse an einer künftigen Straffreiheit des Verurteilten dient,
sondern vor allem auch dessen Grundrechte schützt.“
1. Migrationshintergrund
2. Migrationshintergrund im MRV
3. § 64 u. Migration als „Doppeldiagnose“?
4. Schluss
Klinik für Forensische
Psychiatrie und Psychotherapie
29
„Doppeldiagnose“ § 64 StGB & AKH – Beispiele: • Auswirkung auf Therapie-Ziel:
Motivation: Abschiebungsvermeidung bei hinreichenden Therapiefortschritten
(Berichte der MRV-Klinik an KVR)
Dominanz des jurist. Streits um das Bleiberecht:
affektive Einengung darauf (ohne inneren Raum für Therapie) etc.;
Instrumentalisierung der / Fixierung auf die Pat.-Rolle, der PTSD-Rolle etc;
Schwierigkeit, sich auf Therapie hinreichend intensiv einzulassen, wenn unklar
bleibt, wann und wohin ggf. die Unterbringung beendet werden wird;
Vorwegvollzugsfrage bei vollziehbarer Ausreisepflicht:
Umkehr der Reihenfolge: Haft, dann Abschiebung? (§ 67 Abs. 2 Satz 4 StGB)
Überstellung in den Heimatstaat?
Übereinkommen über die Überstellung verurteilter Personen v. 21.03.1983; für
BRD in Kraft seit 01.02.1992. Auf Gesuch des Pat., mit Stellungnahme an
Vollstreckungsbehörde.
1. Migrationshintergrund
2. Migrationshintergrund im MRV
3. § 64 u. Migration als „Doppeldiagnose“?
4. Schluss
Klinik für Forensische
Psychiatrie und Psychotherapie
30
„Doppeldiagnose“ § 64 StGB & AKH – Beispiele: • Auswirkung auf Therapie-Ziel:
§ 67 StGB - Reihenfolge der Vollstreckung (1) Wird die Unterbringung in einer Anstalt nach den §§ 63 und 64 neben einer Freiheitsstrafe angeordnet, so wird die Maßregel vor
der Strafe vollzogen.
(2) Das Gericht bestimmt jedoch, daß die Strafe oder ein Teil der Strafe vor der Maßregel zu vollziehen ist, wenn der Zweck der
Maßregel dadurch leichter erreicht wird. Bei Anordnung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt neben einer zeitigen
Freiheitsstrafe von über drei Jahren soll das Gericht bestimmen, dass ein Teil der Strafe vor der Maßregel zu vollziehen ist. Dieser
Teil der Strafe ist so zu bemessen, dass nach seiner Vollziehung und einer anschließenden Unterbringung eine Entscheidung nach
Absatz 5 Satz 1 möglich ist. Das Gericht soll ferner bestimmen, dass die Strafe vor der Maßregel zu vollziehen ist, wenn die
verurteilte Person vollziehbar zur Ausreise verpflichtet und zu erwarten ist, dass ihr Aufenthalt im räumlichen Geltungsbereich
dieses Gesetzes während oder unmittelbar nach Verbüßung der Strafe beendet wird.
(3) Das Gericht kann eine Anordnung nach Absatz 2 Satz 1 oder Satz 2 nachträglich treffen, ändern oder aufheben, wenn
Umstände in der Person des Verurteilten es angezeigt erscheinen lassen. Eine Anordnung nach Absatz 2 Satz 4 kann das
Gericht auch nachträglich treffen. Hat es eine Anordnung nach Absatz 2 Satz 4 getroffen, so hebt es diese auf, wenn eine
Beendigung des Aufenthalts der verurteilten Person im räumlichen Geltungsbereich dieses Gesetzes während oder unmittelbar
nach Verbüßung der Strafe nicht mehr zu erwarten ist.
(4) Wird die Maßregel ganz oder zum Teil vor der Strafe vollzogen, so wird die Zeit des Vollzugs der Maßregel auf die Strafe
angerechnet, bis zwei Drittel der Strafe erledigt sind.
(5) Wird die Maßregel vor der Strafe oder vor einem Rest der Strafe vollzogen, so kann das Gericht die Vollstreckung des
Strafrestes unter den Voraussetzungen des § 57 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 und 3 zur Bewährung aussetzen, wenn die Hälfte der Strafe
erledigt ist. Wird der Strafrest nicht ausgesetzt, so wird der Vollzug der Maßregel fortgesetzt; das Gericht kann jedoch den Vollzug
der Strafe anordnen, wenn Umstände in der Person des Verurteilten es angezeigt erscheinen lassen.
1. Migrationshintergrund
2. Migrationshintergrund im MRV
3. § 64 u. Migration als „Doppeldiagnose“?
4. Schluss
Klinik für Forensische
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31
Besondere kriminalpolitische wie ethische Problematik:
Ausweisung bei
Migrationshintergrund in der 2. Generation:
trotz hiesigen Geburtsorts,
fehlender Sprachkenntnisse des „Herkunftslandes“,
fehlenden sozialen Netzwerks dort
= äußerst ungünstiger sozialer Empfangsraum!
(deletär bei HIV in Entwicklungsländern;
Risiko-Export; (dessen „Hybridisierung“ als Touristen-Gefährdung?)
1. Migrationshintergrund
2. Migrationshintergrund im MRV
3. § 64 u. Migration als „Doppeldiagnose“?
4. Schluss
Klinik für Forensische
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32
„Doppeldiagnose“ § 64 StGB & AKH – Beispiele: • Auswirkung des § 456a StPO:
§ 456a
[Absehen von Vollstreckung bei Auslieferung, Überstellung oder
Ausweisung] (1) Die Vollstreckungsbehörde kann von der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe, einer
Ersatzfreiheitsstrafe oder einer Maßregel der Besserung und Sicherung absehen, wenn der Verurteilte
wegen einer anderen Tat einer ausländischen Regierung ausgeliefert, an einen internationalen
Strafgerichtshof überstellt oder wenn er aus dem Geltungsbereich dieses Bundesgesetzes
ausgewiesen wird.
(2) Kehrt der Ausgelieferte, der Überstellte oder der Ausgewiesene zurück, so kann die Vollstreckung
nachgeholt werden. Für die Nachholung einer Maßregel der Besserung und Sicherung gilt § 67c Abs. 2
des Strafgesetzbuches entsprechend. Die Vollstreckungsbehörde kann zugleich mit dem Absehen von
der Vollstreckung die Nachholung für den Fall anordnen, dass der Ausgelieferte, Überstellte oder
Ausgewiesene zurückkehrt, und hierzu einen Haftbefehl oder einen Unterbringungsbefehl erlassen sowie
die erforderlichen Fahndungsmaßnahmen, insbesondere die Ausschreibung zur Festnahme, veranlassen;
§ 131 Abs. 4 sowie § 131a Abs. 3 gelten entsprechend. Der Verurteilte ist zu belehren.
1. Migrationshintergrund
2. Migrationshintergrund im MRV
3. § 64 u. Migration als „Doppeldiagnose“?
4. Schluss
Klinik für Forensische
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33
„Doppeldiagnose“ § 64 StGB & AKH – Beispiele: • Auswirkung des § 456a StPO:
„Strafbedürfnis“ des deutschen Staates als Argument für
Fortsetzung des MRV?
Vorbereitung des sozialen Empfangsraums
außerhalb der Grenzen der BRD?
(Informationsdefizit über Versorgungsstrukturen,
eingeschränkte Überprüfbarkeit schriftlicher Nachsorge-Zusagen)
Komplikationen
(„Karenzzeit“ vom Pat. falsch berechnet – zu früh zurück –
erneut in § 64)
1. Migrationshintergrund
2. Migrationshintergrund im MRV
3. § 64 u. Migration als „Doppeldiagnose“?
4. Schluss
Klinik für Forensische
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34
„Doppeldiagnose“ § 64 StGB & AKH – Beispiele: • während der Nachsorge
Auslandsaufenthalt während der Führungsaufsicht:
Bewährung in Spanien - Antrag des Pat. in der
Nachsorge, vorübergehend das Bundesgebiet
verlassen zu dürfen (Urlaub, Verwandtenbesuch,
Arbeit, Wohnen).
Achtung: auch positive Auswirkungen eines AKH z. B.:
in Krisen größerer Rückhalt in der Großfamilie!!!
1. Migrationshintergrund
2. Migrationshintergrund im MRV
3. § 64 u. Migration als „Doppeldiagnose“?
4. Schluss
4. Schluss
Klinik für Forensische
Psychiatrie und Psychotherapie
35
1. Migrationshintergrund
2. Migrationshintergrund im MRV
3. § 64 u. Migration als „Doppeldiagnose“?
4. Schluss
Klinik für Forensische
Psychiatrie und Psychotherapie
36
Fazit:
1. „Migrationshintergrund“ = in unserer Gesellschaft normal geworden.
2. „Migrationshintergrund“ = für MRV ebenfalls „normal“ und zugleich
hoch relevant (fast 50 % der § 64-Pat.!
aber auch hoher Migrat.-Anteil unter MitarbeiterInnen!)
3. kann sich verkomplizierend auswirken (Sprache, subkulturelle Einbindungen,
Konfundierung von Therapiemotivation mit anderen Zielen, kulturelle
Bedeutungsbesetzungen von Begriffen, Klärung des sozialen Empfangsraums,
Abschiebungsdrohung, § 456a StPO, Ausreisewunsch während der
Führungsaufsicht etc)
4. Aber: „Doppeldiagnose“ = hier lediglich plakative Metapher.
5. Kultursensibilität heißt nie Gleichsetzung des Betroffenen mit seiner „Ethnie“
oder „Kultur“.
6. Statt Stereotypisierung gilt also auch hier der Fokus auf das Individuum, dessen
Gesellschaftlichkeit (und in diesem Sinne auch Kultureingebundenheit) stets
mitzudenken ist.
7. Eine solche Haltung entspricht einer humanen forensischen Psychiatrie ebenso,
wie sie unvereinbar ist mit jeder Form von (auch „Kultur“-)Rassismus.
1. Migrationshintergrund
2. Migrationshintergrund im MRV
3. § 64 u. Migration als „Doppeldiagnose“?
4. Schluss
Klinik für Forensische
Psychiatrie und Psychotherapie
vielen Dank!
37
1. Migrationshintergrund
2. Migrationshintergrund im MRV
3. § 64 u. Migration als „Doppeldiagnose“?
4. Schluss