Menschen mit einer ungewöhnlichen Lebensgeschichte zu tref-
fen, ist für mich ein Genuss der besonderen Art. Gaurav Thapa hat
eine solche und ich ergriff die Gelegenheit, sie von ihm zu erfahren.
„Meine Kindheit war hauptsächlich davon geprägt, zu überleben.
Mit sieben Jahren musste ich schon jeden Tag für meine Eltern, die
den ganzen Tag auf dem Feld waren, kochen. Wenn kaum Zuta-
ten da sind, muss man echt kreativ sein! Ich kann mich auch noch
gut daran erinnern, dass meine Nase ständig gelaufen ist, verbun-
den mit dem Gefühl, dass sich niemand darum gekümmert hat.
Ich war sehr viel allein und für das Wenige, das da war, musste
ich früh Verantwortung übernehmen. Wenn die einzige Kuh aus-
gebüxt ist, dann musste ich sie suchen, bis ich sie gefunden hatte
– egal, wie lange es gedauert hat.
Einfachste Grundlagen zum Lesen und Schreiben brachte uns
jemand aus dem Dorf bei. Als ich neun war, kam mein Vater ei-
nes Tages nach Hause und erzählte von einer Internatsschule im
200 Kilometer entfernten Kathmandu. Ich konnte mir erst gar
nichts darunter vorstellen,
habe aber die Möglichkeit
genutzt, mir das Ganze mal
anzusehen. Es dauerte fast
zwei Tage, um dorthin zu
gelangen. Als ich dann die
Kinder in Schulkleidung sah,
die auch noch freie Verpfle-
gung hatten, stand für mich
sofort fest, dass ich dort auf-
genommen werden wollte!
Ich war mir sicher, wenn ich
es versuchte, konnte ich es
schaffen! Die Aufnahmeprü-
fung war hart. Für 3000 Be-
werber gab es nur 90 Plätze
zu vergeben. Beim schrift-
lichen Test war ich sicher
nicht besonders, aber beim
mündlichen habe ich wohl
überzeugen können. Reden
konnte ich schon immer gut
(lacht). Ich wollte dort un-
bedingt rein, die Schule war
mir in dem Moment sogar
wichtiger als meine Eltern!
Der Schuldirektor fragte, ob
ich auch bereit wäre, mei-
nen Namen zu ändern. Das
sei aus politischen Grün-
den sinnvoll. Ich sagte: „Ja
klar! Sie können mich sogar
Hund nennen! (...)“ Ich wur-
de schließlich aufgenom-
men. Als Erster aus meinem
Dorf. Die waren dort ganz
aus dem Häuschen und alle
haben mir gratuliert. Auch
meinen Namen durfte ich be-
halten. Ich ging 9 Jahre lang
in dieses Internat und war
ein sehr guter Schüler. Da-
bei hat mich sicher die stän-
dige Sorge, dass ich wieder
ins Dorf geschickt werden
könnte, besonders motiviert.
THAPA-san, der Nepalese Gaurav biegt sich seinen
Weg zurecht, und der hat ihn bis in die Geschäftswelt
von Japan geführt. Er arbeitet seit einem Jahr bei
AUDI Japan.
Christine Olma
Die Ingolstädter Fotografin live aus Japan.
THAPA-SAN
„Ich würde mich schon als Kämpfernatur bezeichnen. Genau genommen kämpfen wir doch alle um begrenzte Ressourcen mit unter- schiedlichen Ausgangs- positionen“
„Auf dem Feld!“, antwortet Gaurav
auf meine Frage, wo er geboren ist.
Und wo genau? „Hm, in der Nähe
von Lamjung. Genauer gesagt in
Sundor Bazar. Das ist ein sehr klei-
nes Dorf in der nördlichen Gebirgs-
region von Nepal. Sie haben mit
irgendeinem Feldwerkzeug die Na-
belschnur durchtrennt und mich
getrocknet. Ich hatte Glück, dass
ich überlebt habe.“ 28 Jahre später
sitzt mir in einem
schicken Starbucks
Café in Tokio ein
gut gekleideter, fröh-
licher junger Mann
gegenüber. Nichts
deutet mehr auf
seine Herkunft hin,
zumindest nicht äu-
ßerlich...
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besessen von den bunten Bildern darauf. Stu-
denten mit einem Laptop unter dem Arm, die
gelassen über einen Campus schlendern..., das
sollte mein nächstes Ziel werden.
Ich schickte weit über hundert Bewerbungen
für ein Stipendium an Universitäten in alle
möglichen Länder. Ganz egal, welche Studi-
enrichtung und wo: Hauptsache das Studium
wird finanziert! Dann kam eine Zusage aus
Japan für Business Management! Ich hatte kei-
ne Ahnung, was das ist. Was zählte, war, die
Universität in Fukuoka nimmt mich auf.
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und habe mein Bestes gegeben, nicht durch Unwissenheit im
Umgang mit Alltagsdingen aufzufallen.
Meinen Eltern konnte ich vieles von dem Erlebten gar nicht
erzählen. Sie staunten schon über Wasser aus der Leitung oder
darüber, dass sich Türen von alleine öffnen. Die Funktions-
weise eines Projektors oder das Internet hätte sie komplett
überfordert. Das Studium lief, trotz meiner großen Aufmerk-
samkeit auf das Leben drumherum, sehr gut. Ich bin immer zu
den schwierigsten Professoren gegangen und war enttäuscht,
wenn Kommilitonen, die weniger vorbereitet waren als ich,
auch gute Ergebnisse hatten, weil der Test zu einfach war. Ich
hatte ständig den Eindruck, mir selbst beweisen zu müssen,
hier verdient und richtig zu sein. Das ist übrigens immer noch
so. Aufgaben oder Charaktere, die unangenehm sind, reizen
mich am meisten. Ich war (und bin es irgendwo noch immer)
getrieben von dem Drang, mir immer wieder neu beweisen
zu wollen, dass ich alles schaffen kann und mit jeder Situation
zurechtkomme.
Noch vor Ende des Studiums hat mich dann ein Headhunter
für eine japanische Telekom-Firma ins 1000 Kilometer ent-
fernte Tokio rekrutiert. Sobald ich meinen Abschluss als Ba-
chelor in „Business Administration“ hatte, habe ich dort an-
gefangen. Mein Japanisch war zu dem Zeitpunkt mittelmäßig,
ich habe mehr mit Händen und Füßen gesprochen und musste
sehr hart arbeiten, um mich dort zu positionieren. Ich würde
mich schon als Kämpfernatur bezeichnen. Genau genommen
kämpfen wir doch alle um begrenzte Ressourcen mit unter-
schiedlichen Ausgangspositionen. Mir geht oft die Frage durch
den Kopf, warum ich wohl in Nepal geboren bin. Und warum
kann ich eigentlich nicht überall frei herumreisen? Die Welt
gehört doch niemanden!
Ich bin ein paar Jahre bei der Firma geblieben und wollte dann
in anderen Bereichen Berufserfahrung sammeln. Bei Audi Ja-
pan bin ich jetzt ein gutes Jahr. Das ist übrigens die erste Fir-
ma, die sich beim Bewerbungsgespräch ernsthaft für mich und
meine Herkunft interessiert hat. Ich hatte noch nie vorher so
offen über mein Leben erzählt und dabei das Gefühl gehabt,
dass sich Menschen aufrichtig dafür interessieren. Um ehrlich
zu sein, wusste ich nicht viel über Audi, als ich mich dort vor-
stellte. Mittlerweile habe ich meinen Führerschein gemacht
und mir einen Traum erfüllt: Ich wollte schon immer einmal mit
einem Audi A5 durch Tokyo fahren. Ein unglaubliches Gefühl!
So oft es mir möglich ist, reise ich in mein Dorf nach Nepal.
Ich bin dort so etwas wie ein Held! Natürlich bringe ich immer
viele Sachen mit und habe meinen Eltern sogar schon einen
Besuch in Japan ermöglicht. Das ist sehr schön, schafft aber
natürlich auch eine ständige Erwartungshaltung bei den Leu-
ten zuhause. Für mich ist hier in Japan vieles selbstverständlich
geworden, aber nicht notwendig. Offen gestanden, ist mir der
ganze Kommerz zu viel. Das versuche ich auch meinen Leuten
in Nepal zu vermitteln, was erfahrungsgemäß sehr schwierig
ist. Natürlich ist es wichtig, nicht mehr zu hungern oder für
ein bisschen Salz Stunden laufen zu müssen, aber nur anonym
nebeneinander her zu leben und die Erfüllung beim Shoppen
zu finden, kann es auch nicht sein.
Mein Ziel ist es, eines Tages ganz zurück in meine Heimat zu
gehen und ein paar Dinge richtig zu stellen, beziehungsweise
besser zu machen. Ich kann mir mich als Politiker gut vorstellen
(vielleicht sogar eine Karriere als Unternehmer?) und werde al-
les tun, um mich auf diese Aufgabe vorzubereiten!
Gibt es ein Lebensmotto für dich, Gaurav?
„Ja: Alles, was einen nicht umbringt, kann gar nicht schlimm sein und wenn man etwas will, kann man es auch schaffen!“
Mein erster Flug mit 18 Jahren war überwältigend. Irgendjemand hatte
mir vorher erzählt, dass man im Flugzeug so viel Schokolade bekommt,
wie man will...
Beim Zwischenstopp in Bangkok war ich so aufgeregt, dass ich wahllos
Menschen von meiner Reise erzählt habe, ich konnte gar nicht verste-
hen, das niemand meine Begeisterung teilte. Endlich in Fukuoka ange-
kommen, stand ich fassungslos vor einer elektrischen Glasschiebetür. Ich
hatte so was noch nie zuvor gesehen und konnte mir den Mechanismus
einfach nicht erklären. Den Busfahrer, der uns mit Mütze, Krawatte und
weißen Handschuhen zur Universität gefahren hat, habe ich dann auch
noch für den Piloten gehalten. Es tat mir Leid für ihn, dass er jetzt auch
Als ich nach meinem erfolgreichen Abschluss
zu meiner Familie zurückkehrte, war alles an-
ders. Niemand hat mich mehr verstanden und
umgekehrt, ich glaube auch meine Eltern mein-
ten, ich sei nun verrückt geworden. Für mich
war schnell klar, hier kann ich nicht mehr blei-
ben. Ich hatte das Gefühl, anders als die ande-
ren zu sein. Außerdem wollte ich studieren. Nur
woher das Geld dafür nehmen? In der Schule
hatten sie Hochglanzprospekte von Universi-
täten aus aller Welt herumgereicht. Ich war wie
noch den Bus fahren musste. (Busse und deren Fahrer sehen in Nepal
„ein bisschen anders“ aus als im Rest der Welt). Der Teppich in meinem
Zimmer, wie sonst nur in Hotels (ich hätte ohnehin überall schlafen
können, alles war so sauber!) und ein eigener Kühlschrank, den ich un-
gläubig bestimmt 30 Mal auf und zu gemacht habe, gaben mir dann
den Rest.
Die einfachsten Dinge, zum Beispiel wie man eine Tüte Saft aufmacht,
musste ich erst lernen. Ständig habe ich beobachtet und nachgemacht.
Meine Schuhe waren allerdings sofort ruiniert. Ich hatte alles – vom
Gürtel bis zu den Socken und natürlich den Schuhen - in eine Wasch-
maschine geworfen und danach in den Trockner. Über meine genaue
Herkunft habe ich immer geschwiegen. Ich wollte einfach dazu gehören
Foto
: pri
vat
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