UNTERNEHMENREGION
TITELTHEMA
Wie Innovationsforen und Innovationsforen Mittelstand Strategien und Netzwerkstrukturen schaffen
Ausgabe 3|2017
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RUNDBLICK
06 | Der Stent der Zukunft___Innovative Implantate des Zwanzig20Konsortiums „RESPONSE“
08 | Das AachenPrinzip___Auf der Teststrecke für automatisierte und vernetzte Fahrzeuge
11 | Die Jäger des verlorenen Schatzes___Wertvolles Lithium aus heimischen Lagerstätten
14 | Was rostet, das kostet___Neue Lösungen für OffshoreWindparks
18 | Wie viel wiegt ein Kilogramm?___Mit Technologien aus Ilmenau und Leipzig zur Neudefinition
EINBLICK
36 | Der Prototyp___Ein Tag im Leben des FabLabManagers Daniel Heltzel
44 | Startup mit 50+___Unternehmensgründer Holg Elsner im Porträt
Seite 36 Ein Tag im Leben
Seite 11 Die Jäger des verlorenen Schatzes
Liebe Leserin, lieber Leser,
Forum – so wurde im Römischen Reich der zentrale Platz einer Stadt genannt. Das Forum war Marktplatz, Treffpunkt und Gerichtsort; ein öffentlicher Platz, an dem Gedanken ausgetauscht wurden und das Leben pulsierte. Heute finden wir solche Orte, an denen Menschen über Ideen diskutieren, in verschiedenen Ausprägungen – real und auch in der virtuellen Welt, zum Beispiel in Internetforen.
Diese Chance nutzt auch das Bundesministerium für Bildung und Forschung mit den Förderformaten „Innovationsforum“ und „Innovationsforum Mittelstand“. Leitgedanke ist, dass sich Akteure aus den unterschiedlichsten Branchen und Disziplinen zusammenfinden, zukunftsweisende Themen diskutieren und Forschungsergebnisse austauschen. Es entstehen Netzwerke, die über die bloße gemeinsame Projektarbeit hinausgehen und in nachhaltige, strategische Bündnisse münden. Dies bringt Fortschritt – für kleine und mittlere Unternehmen, für einzelne Kommunen und Regionen und für das ganze Land. Mehr über den „Marktplatz der Möglichkeiten“ erfahren Sie im Dossier ab Seite 22.
Eine spannende Lektüre voller ungewohnter Einblicke wünscht Ihnen
Prof. Dr. Johanna WankaBundesministerin für Bildung und Forschung
Vorwort
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TITELTHEMA
22 | Marktplatz der Möglichkeiten___ Wie zwei Förderprogramme neue Themen, Strategien und Netzwerkstrukturen generieren
25 | Zur Förderung ausgewählte Foren___„Innovationsforen“ und „Innovationsforen Mittelstand“ auf einen Blick
26 | Drohnen, Geobiotechnologie und Ultraschall___Drei „Innovationsforen“ im Porträt
31 | Wussten Sie schon ...?___Auswahlkriterien und Zahlen aus der Förderung
32 | 3DAudiotechnologien und CarbonVerbundmaterialien___Zwei Innovationsforen Mittelstand im Porträt
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DURCHBLICK
48 | Warum Forscher zusammenarbeiten müssen___Eine Außenansicht der Wissenschaftshistorikerin Prof. Kärin Nickelsen
50 | Was ist eigentlich ein KryoElektronenmikroskop?___Die NobelpreisträgerErfindung im Porträt
RUBRIKEN
02 | Vorwort04 | Panorama___Von digitalem Düngen und einem
Mondfahrzeug aus dem 3DDrucker21 | Zahlen, bitte!52 | Mein Schreibtisch + ich___KlinikGeschäftsführer
Dr. Raimund Mildner55 | Impressum
„ Innovationsforen“ und „Innovationsforen Mittelstand“
Seite 22
R u n d b l i c k · E i n e n e u e Ä r a
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Moon light | Nur 30 Kilo bringt der „AUDI lunar quattro“ auf die Waage. Der Autohersteller und mehrere Partner wollen das Forschungsfahrzeug 2019 auf Mondmission schicken. Gegenüber seinem Vorgänger aus der legendären Apollo17Mission hat lunar quattro über 80 Prozent abgespeckt. Sein Geheimnis: Sämtliche Bauteile entstehen in additiven Fertigungsverfahren, in denen Werkstoffe schichtweise, dreidimensional aufgetragen werden. Größtes Forschungsvorhaben zur auch 3DDruck genannten Technik in Europa ist das Zwanzig20Konsortium „AGENT3D“. Einer von über 120 Partnern? AUDI.
Austausch einmal anders | Mit dem Pro gramm „Zwanzig20“ geht das Bundesfor schungsministerium seit 2012 neue Wege. Das wurde auch bei einem zweitägigen Symposium im September deutlich: Die zehn Konsortien hatten schon im Vorfeld die WorkshopThemen selbst erarbeitet. In Berlin präsentierten sie sich dann auf ungewöhnliche Weise: Ihr Zeit budget von jeweils nur fünf Minuten nutzten sie für Kurzfilme, szenische Darstellungen und interaktive Quizspiele. Einen kräftigen Denkanstoß lieferte Professor Bernd Scherer. Der Intendant des Berliner Hauses der Kulturen der Welt überraschte mit seiner philosophischen Keynote „Curating of Ideas in the Making“.
E i n e n e u e Ä r a · R u n d b l i c k
Warme Wände | Etwa die Hälfte der hierzulande erzeugten Energie verbrauchen Haushalte, Handel, Dienstleis tungs betriebe, Industrie sowie Verkehr, um daraus Wärme zu machen. Doch nur 13 Prozent dieser Energie stammt aus erneuerbaren Ressourcen. Grund genug für das Zwanzig20Forum „Wärmewende“, das gleichnamige Projekt voranzutreiben. Eines von fünf Demonstrationsprojekten ist dieses Quartier in einem Potsdamer Wohngebiet. Seine 62 Wohnungen könnten in Zukunft über eine solarthermische Anlage versorgt werden, die mit einem „eTank“ genannten Erdspeicher und einer Wärmepumpe kombiniert wird.
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P A N O R A M A
Düngen digital | Ein Acker, ein Boden, ein Dünger? So einfach ist es leider nicht, denn schon innerhalb weniger Meter
kann sich die Bodenqualität verändern. Das Innovationsforum Mittelstand „SeBiMo“ erkundet deshalb den Zustand von Böden
mit Hilfe intelligenter Sensortechnologien. Wo heute Labore umständlich Bodenproben auswerten, sollen in Zukunft
Traktoren die Felder scannen. So können Landwirte in Echtzeit herausfinden, wie viel Stickstoffdünger an einer
ganz bestimmten Stelle gerade nötig ist. Dieses sensorbasierte Biosphärenmonitoring soll die
Basis für einen effizienten und nachhaltigen Ackerbau legen.
R u n d b l i c k · I n n o v a t i v e I m p l a n t a t e
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Der Stent der Zukunft
Für Engstellen in den Blutgefäßen gibt es seit vielen Jahren eine Gefäßstütze, den Stent. Er hilft, das Gefäß offen zu halten, damit das Blut wieder ungehindert fließen kann.
Am häufigsten setzen Mediziner diese Mikroimplantate in verengte Herzkranzgefäße ein. Danach ist der Patient in vielen Fällen erst einmal beschwerdefrei. Doch die Stents von heute bergen Risiken: Entzündungen und erneute Verengungen können schnell gefährlich werden.
Deshalb haben sich Mediziner und Ingenieure, Wissenschaftler und Unternehmer aus ganz Deutschland zusammengetan. Im Zwanzig20Konsortium RESPONSE, das von der Universität Rostock koordiniert wird, entwickeln sie den Stent weiter. Gemeinsam arbeiten sie an besseren Mikroimplantaten, mit denen Krankheiten der Herzkranzgefäße, des Auges und des Ohrs behandelt werden sollen. Doch mit welchen Aspekten der StentEntwicklung beschäftigt sich RESPONSE?
Allein in Deutschland wird Hunderttausenden Patienten im Jahr ein Stent in die Herzkranzgefäße implantiert. Stents stützen die Gefäße und retten Leben, doch sie haben auch Nachteile. Das Zwanzig20Konsortium „RESPONSE“ entwickelt deshalb die Implantate der Zukunft.
STRÖMUNG | Die Forscherinnen und Forscher simulieren die Blutströmung in einem Stent am Computer. Mit dieser Simulation erkennen sie, ob er Turbu len zen oder andere ungewollte Strömungen verursacht: Je besser das Blut durch den Stent fließt, desto geringer sind die Risiken – etwa für Throm bosen. So können Stentdesigns verbessert werden.
DESIGN | Die Ärztinnen und Ärzte dehnen den Stent mit einem Ballon auf, wenn sie ihn in ein Gefäß implantieren. So erhält er seine endgültige Form. Diese einmal eingestellte Form und Größe soll er dauerhaft behalten. Gleich zeitig darf er beim Aufdehnen nicht die Gefäß wand verletzen. Über diese Eigenschaften entscheidet das Design, das RESPONSE mit Simula tionen der Verformungen und der einwirkenden Kräfte entwickelt.
HERSTELLUNG | Ingenieure arbeiten an sogenannten generativen Verfahren, um Stents in Schichtbauweise herzustellen. Der Einsatz der Lasertechnik soll die Mikrostrukturen des Materials optimieren. Daneben entwickeln sie neue Verfahren, um Implantate zu prüfen.
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I n n o v a t i v e I m p l a n t a t e · R u n d b l i c k
OBERFLÄCHEN | Nach dem Aufdehnen des Stents kann es bedingt durch eine lokale Reaktion der Gefäßwand zu einer erneuten Verengung des Blutgefäßes kommen. Um dies zu verhindern, beschichten RESPONSEPartner den Metall stent mit Polymeren, die Medikamente enthalten und auf die Zellwand des Gefäßes wirken – ein zentrales Thema in der Stentforschung.
WECHSELWIRKUNG | Eine gute Verträglichkeit zwischen Implantat und Gewebe ist oberstes Ziel. Der Stent soll das Gefäß nicht nachteilig verändern, aber auch keine Nebenwirkungen hervorrufen. Deshalb untersuchen RESPONSEForscherinnen und Forscher, wie das Gewebe auf den Stent reagiert und wie sich neuentwickelte Implantate im Körper abbauen.
ABBAUBARE IMPLANTATE | Allergische Reaktionen, Durchblutungs störun gen oder gar Thrombosen: Wenn Stents dauerhaft im Körper verbleiben, kann dies auch unan genehme Folgen haben. Stents, die biologisch abgebaut werden, sollen dies verhindern. Sie lösen sich auf, wenn sie ihre Aufgabe erfüllt haben. Hierfür entwickelt RESPONSE Polymere, die sich im Körper mit der Zeit zersetzen und damit den Abbau des Stents steuern. Gemeinsam mit den Industriepartnern wird auch am abbaubaren Magne siumstent gearbeitet.
REGENERATION | RESPONSE beschichtet den Stent nicht nur mit Medikamenten, die den Wiederverschluss verhindern. Zusätzlich soll die Beschichtung auch aktiv Zellen in der Gefäßwand schützen. Dadurch sollen sich auf der Oberfläche des Implantats körpereigene Zellen ansiedeln.
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Das Aachen-PrinzipWeltweit investieren Unternehmen Milliarden in das autonome Fahren. Doch die Mobilität der Zukunft wird nur dort funktionieren, wo Daten ausgetauscht werden, Schnittstellen kompatibel sind und Steuergeräte den Charakter einer BlackBox verlieren. In Aachen hat diese digitale Kulturrevolution begonnen.
A u t o n o m e s F a h r e n · R u n d b l i c k
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Ein lauter Knall zerreißt die Stille. Blaue Plastikteile fliegen den weißen Wolken entgegen, Rauch steigt auf. Die vielen Männer und wenigen Frauen, die an diesem sonnigen Tag
auf dem Aldenhoven Testing Center nordöstlich von Aachen sind, schauen sich erschrocken an. Das hätte gerade noch ge fehlt – ein Unfall. Heute. Wo die zahlreichen Partner der RheinischWestfälischen Technischen Hochschule (RWTH) in Aachen doch zeigen wollen, wie weit sie schon vorangekommen sind. Was ihre Forschungsergebnisse für die neue Mobilität hergeben. Ob die Region Aachen, weitab von den Metropolen in München, Frankfurt, Hamburg oder Berlin, zum Schrittmacher taugt.
Doch Entwarnung! Die Fiktion des Fernsehens stieß auf die Fiktion der mobilen Zukunft: Nur wenige Meter hinter dem Testgelände, aber abgegrenzt durch einen meterhohen Wall, entstehen die Actionszenen für die Fernsehserie „Alarm für Cobra 11“, die auf die Faszination Auto setzt. Konsequent unautonom, halsbrecherisch – nur was für harte Jungs und coole Frauen. Durchatmen also und ab ins Actionmobil des Instituts für Kraftfahrzeuge (ika) der RWTH Aachen. Oder besser gesagt, in einen eher unscheinbaren VW Passat. Spektakulär aber ist sein Inneres. Doch dazu kommen wir noch.
Vernetzt, vertrauenswürdig, offen
Micha Lesemann weiß, wie wichtig eine enge und vertrauensvolle Kooperation ist: „In Aachen arbeiten wir seit Jahrzehnten regelmäßig in unterschiedlichsten Verbünden zusammen. Für die Erforschung und Entwicklung der Mobilität von morgen braucht es neben vielen klugen Köpfen vor allem eine leistungsfähige Forschungsinfrastruktur. Anders lassen sich die teils elementaren Fragestellungen zum Beispiel beim automatisierten Fahren nicht eindeutig beantworten.“ Das Ziel der angewandten Forschung müsse es immer sein, Ideen in Innovationen zu über führen, ist der Oberingenieur des ika überzeugt.
Ganz offensichtlich überzeugt diese Sichtweise auch andere. So entschloss sich das Bundesministerium für Bildung und Forschung dazu, das Vorhaben „CERMcity“ im Rahmen des För derkonzeptes „Innovation und Strukturwandel“ als eines von 16 Pilot projekten zu fördern. Der Forschungsschwerpunkt dabei liegt auf dem autonomen Fahren in der Stadt und schafft mit einer Ergänzung der Möglichkeiten auf dem Aldenhoven Tes ting Center vor allem die Möglichkeiten, den Reifegrad von autonomen Ansätzen so weit zu bringen, dass sie im Straßen verkehr eingesetzt werden können – von der Idee zur Innovation eben. Und hier wartet viel, sehr viel Arbeit. Nicht nur auf Micha Lesemann und die ikaMannschaft, sondern auch auf die Institute für Regelungstechnik und Hochfrequenztechnik der RWTH Aachen, die zusammen mit dem Deutschen Forschungs zentrum für künstliche Intelligenz, der Fachhochschule Aachen, dem TÜV Rheinland sowie den Unternehmen BASELABS und Silicon Radar die Widrigkeiten der urbanen Mobilität entdecken und beherrschen wollen.
Testgelände Aldenhoven: In CERMcity wird autonomes Fahren in der Stadt erforscht. Modernste Funknetze und Computertechnik sollen Standards setzen.
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R u n d b l i c k · A u t o n o m e s F a h r e n
Wie aber verläuft denn nun der eigene Weg? Die Aachener machen kein großes Geheimnis daraus, ganz im Gegenteil: „Das Testgelände in Aldenhoven ist ein offenes Areal. Hier kann jedes interessierte Unternehmen, jede wissenschaftliche Einrichtung, ob Fahrzeughersteller, Zulieferer oder Institut, auf die Piste und austesten, was geht und was nicht“, unterstreicht Professor Lutz Eckstein, Leiter des ika und Chef des „Future Mobility Lab“. Er hatte im Rahmen des 26. Aachener Kolloquiums Fahrzeug und
Motorentechnik auf das Testgelände eingeladen, das von einem Joint Venture der RWTH Aachen und des Landkreises Düren betrieben wird.
Ohne diese Offenheit werde man nicht Schritt halten können in Deutschland und Europa mit den USamerikanischen und asiatischen Machern von autonomem Fahren und Elektromobilität: „Ein Vergleich spricht Bände: Stehen in den USA insgesamt rund 17 Milliarden Dollar für Forschung und Entwicklung zur Verfügung, beläuft sich diese Summe in der EU auf rund eine Milliarde. Darum bauen wir hier keinen ‚Aachen Closed Shop‘, sondern das genaue Gegenteil davon. Unser AachenPrin zip bedeutet Vernetzung und Offenheit, um mit Vertrauen Technologieführerschaft und Marktstärke zu erreichen“, gibt sich Lutz Eckstein zuversichtlich.
Die Revolution beginnt
Und Vodafone macht mit. Einer der Weltmarktführer in der Telekommunikation hat eine Entscheidung getroffen: „Wir haben das Aldenhoven Testing Center mit einer Infrastruktur aus gestattet, als wenn das Morgen schon heute ist“, erläutert Pro jekt manager Michael Bösinger. Einzigartig in der EU habe man hier Glasfasernetze, Antennen und vier Funkmasten mit je drei Sektoren gebaut, die schon jetzt die Nutzung des aktuellen Standards LTE Advanced Pro ermöglichen. Sobald die ersten Proto typen 2018 verfügbar sind, wird hier auch mit dem Zukunfts standard 5G gefunkt. Den werde man auch so schnell als möglich brauchen, um eine rasende Kommunikation zwischen den Verkehrsteilnehmern sicherzustellen.
Aber Vodafone denkt noch weiter. Alle auf dem Testgelände gewonnenen und relevanten Daten können über eine 20GigabitLeitung von Aldenhoven in die Vodafone Innovation Labs
nach Düsseldorf übertragen werden – oder bleiben vor Ort, wenn der Kunde dies bevorzugt. Dort ausgewertet, finden sie sofort Anwendung auf einer Stadtstrecke mitten in der NRWLandeshauptstadt, wo das Unternehmen autonomes Fahren live und mitten im normalen Stadtverkehr testen wird.
Was passiert aber, wenn auch die Telekom in Aldenhoven vor der Tür steht und testen will? „Wir heißen sie willkommen, definieren die Schnittstellen, stehen mit Rat, Tat und sicher
Lenkrad. Gerade will er sich zum Bei fahrer wenden, als von rechts, wie aus dem Nichts, ein BMW geradezu herausschießt. Jetzt hilft nur eins: Augen zu und bremsen! Bevor aber dieser Gedanke die Strecke vom Hirn zum Fuß und auf das Bremspedal gefunden hat, verzögert der Passat schon vehement. Das gesamte Arsenal an Sensoren, Kamera und Funk technik hat seinen Job gemacht. Kein Unfall, keine Verletzten, noch nicht einmal Blechschaden. Timo Woopen, der beim ika für Fahrerassistenzsysteme zuständig ist, atmet doch ein wenig auf: „Zum ersten Mal haben wir hier eine typische Straßenkreuzung in der Stadt nachgebaut. Mit Hauswänden aus zwei Tonnen schweren Beton teilen und anderen Hindernissen, die Funkwellen gar nicht durchlassen oder sie reflektieren. Mit weiteren Verkehrsteilnehmern, die immer größer werdende Datenmengen liefern und blitzschnell zu Entscheidungen im Fahrzeug führen müssen.“ Darum arbeite man hier auch mit lokalen WLANNetzen im 802.11pStandard und nicht mit Bluetooth, dessen Reichweite und Über tragungsgeschwindigkeit nicht ausreichen.
Doch wie im richtigen Leben: Die nächste Baustelle ist schon in Sicht. „Dank CERMcity können wir 2018 ein umfassendes städtisches Szenario erzeugen, also weitere Kreuzungen, Kreisverkehre, gespickt mit Ampeln, Haltestellen für Bus und Straßen bahn und LKWVerkehr“, erzählt Micha Lesemann. „Wenn – wie bisher – alles klappt, starten wir Ende 2018 mit dem neuen Testfeld für das autonome Fahren in der City.“ Ein stolzes Schmunzeln kann er sich dabei nicht verkneifen, wenn er zurück denkt, wie sie 2013 ihre ersten Gedanken, Ideen und Kon zepte für dieses CityTestfeld zusammengetragen haben. Und wer heute im Beirat dieses Projektes mitarbeitet: „Es wird wohl einen guten Grund haben, wenn neben anderen Ford, BMW und ZF mitarbeiten. Unser AachenPrinzip scheint zu funktionieren. Neuer Mut für frische Ideen braucht nicht immer die Metropole.“
auch mit vielen Fragen zur Verfügung!“, zeigt Manager Bösinger klare Kante. Nur so könne man miteinander die entscheidenden Fragen beantworten, woraus sich künftige technische Standards ergeben werden, die auf dem Weltmarkt funktionieren müssen.
Jetzt aber: Action!
Der TestPassat des ika beschleunigt wie von Geisterhand. Timo Woopen hält die Füße still und nimmt die Hände vom
Testfall Kreuzung: Trotz missachteter Vorfahrt bleibt der Crash aus.
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Lithium wird immer begehrter, die Weltmarktpreise explodieren. Freiberger Forscher haben jetzt ein Verfahren entwickelt, mit dem sie den Rohstoff aus heimischen Vorkommen gewinnen und aus alten Batterien recyceln können.
Die Jäger des verlorenen Schatzes
Probesprengung in Zinnwald: Rund 70.000 Tonnen lithiumreichen Zinnwaldits sollen hier lagern.
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R u n d b l i c k · L i t h i u m a u s S a c h s e n
Martin Bertau und seine Mitstreiter wollten das ändern. Bereits vor sechs Jahren gründeten die Wissenschaftler der TU Bergakademie Freiberg gemeinsam mit regionalen Unterneh mens partnern das Bündnis „Hybride Lithiumge winnung“, das durch das WachstumskernPotenzialProgramm des BMBF gefördert wurde. Ihre Idee war, Lithium mit ein und demselben Verfahren zu gewinnen und zu recyceln. „Das Bundesforschungs ministerium hatte damals schon die Weitsicht, unser Vorhaben zu fördern, als noch kein anderer an Lithium gedacht hat“, erinnert sich Bertau. Dafür ist er sehr dankbar, denn diese frühe Unterstützung trägt inzwischen reichlich Früchte.
Lithium ist in unserem Alltag allgegenwärtig. Ob in Ceran kochfeldern oder Solarzellen, in den Akkus kabelloser Telefone oder elektrischer Zahnbürsten und natürlich in Autos. Vor allem die zunehmende Elektromobilität lässt die Nach frage steigen. Bis 2025 sollen 70 Prozent des gehandelten Lithi um carbonats – die Rohstoffquelle von Lithium – für Batterien von Elektroautos genutzt werden. Lithium ist für Speicher techno logien sehr gut geeignet, weil das Leichtmetall eine hohe Energiedichte erreicht. Prognosen gehen von einer Vervier fachung der Nachfrage bis 2025 aus. Der Weltmarktpreis hat sich in den letzten zwei Jahren bereits mehr als verdoppelt. Eine Tonne Lithium kostet mittlerweile fast 14.000 USDollar, Ten denz steigend. „Lithium ist ein kritischer Rohstoff“, sagt Pro fessor Martin Bertau, Chemiker an der Technischen Universi tät Bergakademie Freiberg in Sachsen. „Man sollte es nicht wegwerfen und neues kaufen, sondern im Kreislauf behalten.“
Frühzeitige Förderung
Bis vor wenigen Jahren hat sich in Deutschland niemand darum gekümmert. Die heimischen LithiumRessourcen blieben ungenutzt – sowohl unter der Erde als auch in alten Akkus, die im Müll landeten, statt aufbereitet zu werden.
„Die Gewinnung des heimischen Zinnwaldits
macht uns unabhängig von teuren Importen.“
Professor Armin Müller und seine Deutsche Lithium GmbH wollen im Erzgebirge Zinnwaldit in großem Stil abbauen.
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L i t h i u m a u s S a c h s e n · R u n d b l i c k
Eisen und Fluor. Aus diesem Materialmix Lithiumcarbonat zu gewinnen, das unter anderem für die Produktion von LithiumIonenBatterien genutzt wird, ist erst durch das Freiberger Verfahren möglich. Wie funktioniert dieses Verfahren? Zunächst wird das Erz zerkleinert und auf circa 1.000 Grad Celsius erhitzt. Auf diese Weise bilden sich aus dem Zinnwaldit neue mineralische Komponenten, vor allem ein lithiumreiches Silikat mit dem Namen βSpodumen. „Unter Zugabe von Kohlendioxid und Wasser reagiert das im Spodumen enthaltene Lithium zu Lithiumhydrogencarbonat“, erklärt Bertau. „Die gering konzentrierte LithiumhydrogencarbonatLösung lässt sich mit Hilfe der Elektrodialyse anreichern. Das dabei erhaltene Konzentrat wird erhitzt, das CO2 entweicht und es entsteht Lithiumcarbonat, welches sich einfach abtrennen lässt.“ Das Kohlendioxid gelangt nicht in die Atmosphäre, sondern wird aufgefangen und erneut genutzt. Das klingt sehr komplex, ist aber ein relativ unkompliziertes chemisches Verfahren, und das Beste daran: Es lässt sich genauso gut für das Recycling nutzen. Aus alten Akkus wird damit der Rohstoff Lithiumcarbonat wiedergewonnen und verschwindet nicht im Müll.
Internationales Interesse
Die Kosten für das neue Verfahren sind überschaubar. Für die chemische Gewinnung einer Tonne Lithiumcarbonat aus Zinnwaldit rechnen die Freiberger Forscher mit 1.000 USDollar. Hinzu kommt die Finanzierung des Erzabbaus. Doch selbst damit bleiben sie mit ihrer Methode weit unter den derzeitigen Weltmarktpreisen. „Außerdem macht uns die Gewinnung des heimischen Zinnwaldits unabhängig von teuren Importen“, resümiert Martin Bertau.
Drei Patente haben der Chemiker und sein Team für ihr Verfahren bereits angemeldet. Anfragen von Firmen aus der ganzen Welt liegen auf ihrem Tisch. Ein europäisches Unternehmen prüft gerade den Kauf der Patente, um das Ver fah ren in die industrielle Nutzung zu überführen. Dem steht nichts im Weg, denn die Anlagen, die für die LithiumGewinnungs technologie gebaut werden müssen, sind Standard in der chemischen Industrie, keine Sonderanfertigungen. Nach dem sogenannten Upscaling vom Labor in den Industriemaßstab und einer kurzen Testphase kann es richtig losgehen.
Auch der Abbau von Zinnwaldit wird vorangetrieben. Das Freiberger Unternehmen Deutsche Lithium GmbH, das sich um weitere Investoren bemüht, plant ein Bergwerk, in dem künftig bis zu 150 Beschäftigte arbeiten sollen. Wenn alles gut läuft, soll im Sommer 2021 das erste LithiumProdukt aus Sachsen auf den Markt kommen.
Für Martin Bertau und seine Mitstreiter ist das ein toller Erfolg. Ihre Idee, die mit dem WachstumskernPotenzial erstmals gefördert wurde, ist nun aufgegangen. Die von ihnen entwickelte nachhaltige Technologie wird die Lithiumgewinnung revolutionieren – weit über die Grenzen Sachsens hinaus.
Üppige Vorkommen
Die Freiberger haben eine Technologie entwickelt, die es ermöglicht, den wertvollen Rohstoff aus dem Lithiumerz Zinnwaldit zu gewinnen. Das Erz ist nach dem Ort benannt, in dem es reich lich unter der Erde lagert: das sächsische Zinnwald im Erzgebirge. Aktuelle Untersuchungen haben gezeigt, dass dort rund 70.000 Tonnen des begehrten Erzes zu finden sind – deutlich mehr als bisher angenommen. Es sind die größten ZinnwalditVorkommen in ganz Europa und die zweitgrößten der Welt. Die Gewinnung ist recht unproblematisch. „Zinnwaldit wird durch Tiefbergbau abgebaut“, erläutert Martin Bertau. „Das heißt, anders als beim Abbau von Kohle gibt es keinen Tagebau und damit auch keinen großflächigen Eingriff in die Natur.“ Lediglich eine Öffnung im Berg, durch die Lastwagen rollen können, ist notwendig. Der Rohstoff wird unter Tage gewonnen und nur die Erze werden abtransportiert. Das restliche Material bleibt im Berg. Hohlräume, die später Probleme bereiten könnten, gibt es deshalb nicht.
Doppelter Nutzen
Doch so einfach und umweltschonend es auch sein mag, den Rohstoff ans Licht zu holen, so schwierig ist es, daraus Lithium zu gewinnen. Denn das ZinnwalditErz enthält auch Aluminium,
Ob im Smartphone, Elektroauto oder Flugzeug: LithiumIonenAkkumulatoren sind weit verbreitet.
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Präzisionsarbeit von Hand: Dominik Schröder von der Muehlhan AG in Rostock lackiert Prüfplatten, denen nun ganz unterschiedliche Martyrien bevorstehen.
O f f s h o r e W i n d e n e r g i e · R u n d b l i c k
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Was rostet, das kostetBis 2030 sollen Windparks vor deutschen Küsten bis zu 15 Millionen Haushalte mit Strom versorgen. Ein Rostocker Wachstumskern will diesen Prozess mit Innovationen und neuen technischen Entwicklungen begleiten. Das Ziel: Die Kosten für Strom aus OffshoreAnlagen sollen deutlich fallen.
Dominik Schröder schlüpft in seinen weißen Schutzoverall und legt sorgfältig seine Atemschutzmaske an. Dann greift er zur Farbpistole. In den nächsten Minuten
wird er genau 200 stählerne Prüfplatten mit einer gelben PolyurethanDeckschicht überziehen, bis sie einander gleichen wie ein Ei dem anderen. Schröder ist Lackierer bei der Muehlhan AG, einem norddeutschen Unternehmen für Oberflächenschutz. Die 15 verschiedenen Beschichtungen von sieben verschiedenen Herstellern auf den Stahlplatten werden dann unter ihrer gelben Decke verborgen sein – zumindest so lange, bis Schröders Kollegen in der FraunhoferEinrichtung für Großstrukturen in der Produktionstechnik IGP in Rostock Ernst machen. Sie haben Prüfverfahren entwickelt, die zeigen sollen, wodurch, wie und wann Korrosionsschäden auf den beschichteten Metallplatten entstehen. Wirtschaftsingenieur Michael Irmer leitet dieses Projekt, das Teil des Wachstumskerns „OWSMV – Offshore Wind Solutions MecklenburgVorpommern“ ist. „Wir wollen keine neuen Beschichtungen entwickeln, sondern herausfinden, wie Transport und Montageschäden auf die unterschiedlichen Beschichtungen wirken“, erklärt Irmer. „Dafür haben wir neuartige Prüfmethoden entwickelt, die uns zeigen sollen, welche Beschichtung geeigneter ist.“
Die Arbeitsbedingungen in OffshoreWindparks sind alles andere als heimelig. Salz, Wellen, Wind, Sonne und Kälte setzen Mensch und Material zu. Gleichzeitig bergen Installations und Wartungsarbeiten auf hoher See Gefahren für die Menschen, die sie ausführen, sie sind aufwendig und verursachen somit hohe Kosten. Um die Ausgaben zu senken, hat der Wachstumskern OWSMV zahlreiche Ideen entwickelt. Eine von ihnen setzt bereits bei den verwendeten Materialien an. Die Erfahrung zeigt, dass erste Schäden schon beim Transport und bei der Installation eines OffshoreWindparks entstehen.
Defekte betreffen vor allem das Transition Piece, das Verbindungsstück zwischen Turm und dem darunterliegenden Stahlgerüst. Sie entstehen durch Abrieb, hohen Druck oder Schläge. Meist bleiben sie unsichtbar und führen im späteren Einsatz bei Wind und Wetter zu den gefürchteten Rostschäden, die dann aufwendig repariert werden müssen.
Gedrückt, geschlagen und gealtert
Zurück am Fraunhofer IGP. Die gelb lackierten Platten durchleiden nun ganz unterschiedliche Martyrien. Einige von ihnen werden in den Abriebprüfstand gespannt. Er ist eine Eigenentwicklung der IGPWissenschaftler, bei der lediglich die Rollreibräder und Drehteller vorgegeben waren. „Alles andere haben wir selbst entwickelt, um mit unterschiedlichen Kräften auf die Platten einzuwirken“, erzählt Michael Irmer. Hier soll nachempfunden werden, wie ein Gurt oder eine Kette durch stunden oder tagelanges Reiben auf das Material wirkt. Die abgeriebenen Partikel fangen Irmer und seine Kollegen auf und schicken sie zurück an die Muehlhan AG, die das Verschleißverhalten analysiert. Eine andere Charge der Prüflinge durchläuft den Schlagprüfer. Er simuliert, wie zum Beispiel ein Hammer auf ein Bauteil fällt. Manche der Platten haben Glück und erhalten eine zusätzliche Folie, die sie noch besser vor Beschädigungen schützt – oder nicht. Denn genau das wollen die Prüfer herausfinden. Die Gurtprüfung ahmt hingegen den Druck nach, der beim Tragen während des Transportes entsteht.Anschließend müssen 75 ausgewählte beschädigte Platten zusam men mit einigen unbeschädigten in die beschleunigte Alterung. Ein 25wöchiger Klimazyklus in zwei Prüfkammern mit Salzsprühnebel und Kondenswasser steht ihnen bevor. Pro Woche heißt das: drei Tage unter UVStrahlung und im Kon
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denswasser, drei Tage im Salzsprühnebel bei 35 Grad Celsius und ein Tag in der Klimakammer bei minus 20 Grad. So simulieren die Tester die Korrosion während eines 20 bis 25jährigen Ein satzes auf See. „Wir fangen jetzt mit diesem Klimazyklus an, und ich tippe mal, dass einige Proben nicht so lange durchhalten“, prophezeit Michael Irmer. Anschließend werden er und seine Kollegen die Korrosionsschutzwirkung der verschiedenen Beschichtungen prüfen, bewerten und mit den unbeschädigten Körpern vergleichen. „Mit unserem Projekt wollen wir erreichen, dass möglichst keine Schäden an den Materialien entstehen, um Korrosion zu verhindern. Dadurch werden auch weniger Reparaturen an den Windenergieanlagen nötig“, fasst Irmer zusammen.
Mit Datenbrillen auf See
Eine Etage höher im Fraunhofer IGP. Das große Thema Wartung von Windenergieanlagen nehmen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler hier von einer anderen, ergänzenden Seite
in Angriff. Mit digitaler Technik wollen sie Wartung, Diagnose und Reparatur von Schäden auf hoher See verbessern. Schon während Inspekteure vor Ort die Windenergieanlage untersuchen, sollen sie in Zukunft über eine Datenbrille Fotos der Beschichtung aufnehmen und weiterleiten. Experten an Land können die Schäden fast zeitgleich und unter optimalen Bedingungen analysieren und einen Reparaturvorschlag auf gleichem Wege zurückschicken.
Der Wirtschaftsingenieur Martin Eggert und sein Kollege, der Maschinenbauer Florian Beuß, entwickeln am Fraunhofer IGP diese mobilen Assistenzsysteme für den Wartungseinsatz, um den Technikern vor Ort die Arbeit zu erleichtern. „Große Teile der aufwendigen Dokumentation sollen digitalisiert werden, damit die Techniker draußen in den OffshoreAnlagen ihre digitalisierten Checklisten durchgehen können und direkte Rückmeldung erhalten“, erzählt Eggert. Wenn der Monteur die Anlage besteigt, ist er künftig mit digitalen Hilfsmitteln wie Tablet, Datenbrille oder Headset ausgerüstet, so das Ziel dieses
Drei Tage unter UVStrahlung, drei Tage im Salzsprühnebel bei 35 Grad und ein Tag in der Klimakammer bei minus 20 Grad.
Abrieb, Druck und Kälte setzen den Prüfplatten im Labor der Rostocker FraunhoferEinrichtung IGP zu. Michael Irmer (Bild rechts) begleitet das Projekt von A bis Z.
Turbinen und dem Konverter zeigen an, welche Bauteile in gutem Zustand oder wo Reparaturen notwendig sind. Verschiedene Sensoren, die in den Anlagen verbaut sind, senden die Signale. So zeigt zum Beispiel ein Vibrationssensor Probleme an Lagern an, ein Stromstärke und Spannungsmesser ermittelt den Widerstand und signalisiert so ein gegebenenfalls defektes Kabel.
Optimal wäre es, wenn der Datenaustausch in beide Richtungen schnell und reibungslos funktionieren würde, sowohl vom Meer aufs Land als auch andersherum. Für dieses Ziel machen sich Eggert, Beuß und seine Kollegen von der Software entwicklung nun wieder ans Programmieren, eine stille und bisweilen mühsame Arbeit ohne sofort sichtbare Erfolge – aber immerhin geschützt vor Salzwasser, Wind und Kälte.
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OWSMVProjektes. Dann wird er vor Ort auf viele Informationen zugreifen können, die ihm bisher verwehrt sind. Das Projekt läuft in enger Zusammenarbeit mit Unternehmen, die sich auf die Wartung spezialisiert haben. „Wir haben die Informationsplattform dort hineingebracht und digitalisieren den Prozess vom Erhalt des Auftrages bis hin zur Nachbereitung der Wartung. So haben wir auch Zugriff auf die Wartungshistorie“, beschreibt Eggert das Szenario. Ein Drittel dieses Zieles ist erreicht. Zurzeit sind die Projektbeauftragten mitten in der Programmierung.
Ein Blick in die Zukunft
Martin Eggert und Florian Beuß stehen nun vor einer großen Leinwand. Sie blicken in die Zukunft eines digitalen OffshoreWindparks. Er erlaubt eine Übersicht über alle Turbinen und den Konverter, der den auf See erzeugten Strom zum Land überträgt. Rote, gelbe und grüne Punkte über den einzelnen
Die Ingenieure Florian Beuß (links) und Martin Eggert vor einem digitalen OffshoreWindpark. Mit digitalen Checklisten wollen sie die Wartungsarbeiten der Techniker auf See vereinfachen.
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Wie viel wiegt ein Kilogramm?In einem Tresor bei Paris liegt seit fast 130 Jahren das UrKilogramm. Doch es nimmt ab. 2018 soll deshalb das neue Kilogramm definiert werden. Forscher aus Ilmenau und Leipzig sind daran beteiligt.
Gut geschützt: Der deutsche Prototyp
des Kilogramms wird seit den 1950erJahren
in der Physi kalischTechnischen Bundesanstalt Braunschweig
unter Verschluss gehalten.
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K i l o g r a m m D e f i n i t i o n · R u n d b l i c k
Warum der kleine Zylinder aus Platin und Iridium an Masse verliert, obwohl er unter drei Glasglocken steht und nur alle paar Jahrzehnte zum Putzen und
Prüfen herausgenommen wird, ist noch nicht geklärt. Fest steht nur: Die Referenz für die Maßeinheit der Masse ist ungenau geworden. Zwar liegt die Abweichung bei gerade mal 50 Millionstel Gramm, doch selbst diese winzige Abweichung kann große Auswirkungen auf präzise wissenschaftliche Messungen haben. Statt einen neuen Metallzylinder als Vergleichsbasis herzustellen, soll das Kilo gramm nun zuverlässiger bestimmt werden. Eine Naturkon stante, das sogenannte Plancksche Wirkungsquantum, wird die Grundlage dafür sein. Max Planck hatte diese universell anwend bare Konstante vor mehr als 100 Jahren eingeführt. Damit wird das stets gleich bleibende Verhältnis von Energie und Frequenz eines Lichtteilchens beschrieben.
Der erste Schritt
Um diese Konstante für das neue Kilogramm genau zu errechnen, hat ein britischer Forscher die sogenannte WattWaage erfunden. Bei dem Gerät wird die Gewichtskraft mit einer elektromagnetischen Kraft verglichen. Ähnlich wie bei einer Balkenwaage wirkt auf der einen Seite die Gewichtskraft und auf der anderen Seite übt eine stromdurchflossene Spule durch ein Magnetfeld eine Gegenkraft aus. Die elektrische Leistung Watt, die dafür benötigt wird, ist an das Plancksche Wirkungsquantum gekoppelt. Dadurch lässt sich ein Bezug zwischen einem Kilogramm und der Naturkonstanten herstellen. Forscher in den USA und Kanada haben auf diese Weise den Wert des Kilogramms äußerst genau ermitteln können.
Die Weiterentwicklung
Der Aufbau der WattWaage ist allerdings sehr komplex und die Messungen finden in einem Hochvakuum statt. Für die praktische Anwendung ist das schwierig. Deshalb haben Wissenschaftler der Technischen Universität Ilmenau gemeinsam mit der PhysikalischTechnischen Bundesanstalt in Braunschweig die PlanckWaage entwickelt. Das Ilmenauer Forscherteam wurde auch im Rahmen der InnoprofileTransferInitiative „Innovative Kraft mess und Wägetechnik“ vom Bundesforschungs minis te rium gefördert. Die hochpräzise, stufenlos messende Waage, die sie mit den Braunschweigern entwickelt haben, funktioniert ähnlich wie die WattWaage: Ein zu wiegen des Massestück auf der einen Seite wird durch eine elektrische Kraft auf der anderen Seite aufgewogen. Diese elektrische Kraft ist untrennbar mit dem Planckschen Wirkungsquantum verbunden, das daraus errechnet werden kann.
Bereit für den Einsatz
Die PlanckWaage hat einen großen Vorteil: „Ob in Pharma und Biotechlaboren oder Landeseichbehörden: Überall braucht man bisher eine Vielzahl an Eichgewichten – sogenannte Normale –, um Waagen zu kalibrieren und regelmäßig zu prüfen“, erklärt Professor Thomas Fröhlich, Leiter des Projekts an der Technischen Universität Ilmenau. Die neue Waage braucht diese Referenzmasse nicht. Sie ist das erste selbstkalibrierende Messgerät. Außerdem hat sie einen sehr großen Messbereich von einem Milligramm bis zu einem Kilogramm. Ihr Aufbau ist unkompliziert und damit äußerst praxistauglich. Ende 2017 soll ein erster Prototyp zum Einsatz kommen.
Besser messen: Mit der neuen PlanckWaage soll das Kilogramm demnächst sehr viel exakter bestimmt werden.
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Das ReferenzExperiment
Allerdings wird das Kilogramm erst neu bestimmt, wenn ein zweites, unabhängiges Experiment einen übereinstimmenden Wert für das Plancksche Wirkungsquantum liefert. Wissenschaftler der PhysikalischTechnischen Bundesanstalt in Braunschweig wollen deshalb im sogenannten AvogadroExperiment die Atome in einer hochreinen Siliziumkugel zählen. Auf diese Weise erhalten sie die AvogadroKonstante. Das ist die Anzahl der Teilchen, die in einer bestimmten Menge eines Stoffes enthalten sind. Damit lässt sich das Plancksche Wirkungsquantum ebenfalls errechnen. Zunächst messen die Braunschweiger die Größe der Kugel und bestimmen mit Hilfe der RöntgenKristallografie die Struktur des SiliziumGitters. Auf diese Weise können sie die dort enthaltenen Atome zählen. Um das Volumen des Kristalls exakt zu messen und Messunsicherheiten zu reduzieren, muss die Siliziumkugel so rund wie möglich, ihre Oberfläche also so glatt wie möglich sein. Dazu haben Leipziger Wissenschaftler der InnoProfileTransferInitiative „Ultrapräzisions bearbeitung mit atomaren Teilchenstrahlen“ (UAT) beigetragen. „Die Vermessung der Siliziumkugel zeigte zunächst
Abweichungen von der mathematisch idealen Kugelform im Bereich von 40 Nanometern“, erzählt Professor Thomas Arnold, UATProjektleiter. Die Leipziger haben die Oberfläche der Kugel mit Ionenstrahlen bearbeitet und erreichten damit Abweichungen von nur noch 14 Nanometern. „So konnten wir dazu beitragen, dass die Unsicherheiten bei der Vermessung der Kugel so gering wie möglich sind“, sagt Arnold. Inzwischen ist es gelungen, dass die Werte zur Bestimmung des Kilogramms beim AvogadroExperiment und der WattWaage übereinstimmen.
Die Verkündung
Dem neuen Kilogramm steht nun also nichts mehr im Weg. Auf der 26. Generalkonferenz für Maß und Gewicht in Paris 2018 soll es verabschiedet werden. Statt mit einem in die Jahre ge kom menen Metallzylinder wird es dann über eine Naturkonstante definiert werden – so wie alle anderen physikalischen Einheiten auch. Damit erreicht das Kilogramm eine neue Qualität und wird in Zukunft ganz sicher nicht mehr an Masse verlieren.
Glatt und rund: Diese hochreine Siliziumkugel wird an der PhysikalischTechnischen Bundesanstalt in Braunschweig nanometergenau vermessen, um das neue Kilogramm zu errechnen.
47•000Menschen besuchten das Zelt der Bun desregierung auf dem diesjährigen Bürgerfest zum Tag der Deutschen Ein heit. In Mainz mit dabei war das Zwanzig20Konsortium „3Dsensation“. Das Bündnis hat sich der MenschMaschi neInteraktion verschrieben und zeigte den Besucherinnen und Besuchern, wie ein Industrieroboterarm mit einem 3DSensor zusammenspielt. Nebenan bot das Innovationsforum Mittel stand „Virtual Reality Babelsberg“ die Möglichkeit, mit einer VRBrille neue Anwendungsszenarien einer Zukunftstechnologie kennenzulernen.
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9•600•000 Patienten erkrankten allein im Jahr 2014 weltweit an Tuberkulose; 1,5 Millionen von ihnen starben. Zwar existiert seit gut 90 Jahren ein Impfstoff gegen einen der bakteriellen Erreger, doch bei Erwachsenen wirkt er nicht. Das Zwanzig20Konsortium „InfectControl 2020“ entwickelt deshalb effektive Impfstoffe und untersucht gleichzeitig, ob diese auch bei häufig betroffenen Nutztieren wirken.
Zahlen, bitte!105WIR!-Skizzen gingen bis zum Stichtag 31. Oktober 2017 beim zuständigen Projektträger ein. Unterstützt von hochrangigen Experten wählt das Bundesministerium für Bildung und Forschung nun bis zu 20 Initiativen aus, die in die zweite Phase des Förderprogramms „WIR! – Wandel durch Innovation in der Region“ starten. Im Anschluss an diese Zeit intensiver Strategiearbeit wählt eine vom BMBF berufene Jury bis zu 12 Initiativen aus, die ihre Konzepte dann umsetzen können.
173Quadratmeter Nutzfläche soll das zweistöckige „CUBE“ bereitstellen, das bis 2019/2020 mitten in Dresden entsteht. CUBE wird dann das erste funktions fähige CarbonbetonHaus der Welt sein. Das Projekt des Zwanzig20Konsortiums „C3 – Carbon Concrete Compo site“ soll Archi tekten, Ingenieuren, Baufachleuten und der Öffentlichkeit offenstehen und die aktuellen Forschungsergebnisse zum Thema Carbonbeton demonstrieren.
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I n n o v a t i o n s f o r e n ( M i t t e l s t a n d ) · T i t e l t h e m a
Marktplatz der MöglichkeitenInnerhalb von 16 Jahren hat das Bundes for schungs ministerium 230 „Innovationsforen“ und „Innovations foren Mittelstand“ gefördert.
Ein Dossier über Drohnen, Carbon und Hörge nuss, über ungewöhnliche Partnerschaften in Ost und Westdeutschland – und über die enorme Kraft zweier scheinbar kleiner Förder instru mente.
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„Der Weg zur Innovation gleicht einer Expedition: Sich aus vertrautem Territorium herauszuwagen, Grenzen zu überschreiten und Offenheit für das Unerwartete sind notwendige Voraussetzungen. Doch Erfolg winkt nur dem, der sich seiner eigenen Stärken bewusst ist und die richtigen Partner an seiner Seite hat. Genau solche Expeditionen fördert das Bundesministerium für Bildung und Forschung mit seiner Programmfamilie Unternehmen Region.“
Mit diesen Worten beginnen viele Jahre lang die individuellen Flyer, die das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) für jedes einzelne Innovationsforum herausgibt. Insgesamt 181 solcher Expeditionen fördert das BMBF in den Jahren 2001 bis 2016 im Rahmen des Programms Inno vations foren: Das bedeutet 181 innovative Bündnisse aus ostdeutschen Regionen, die fast die gesamte Bandbreite innovativer Themen felder abdecken: von smarten technischen Textilien über Nahrungsmittel aus Lupinensaaten bis hin zur telemedizinischen Versorgung in Rettungswagen. Von der GlykoBio techno logie über eine Werkzeugsystemplattform für Faser ver bundMischbauweisen bis hin zu Biopolymeren. Von der zivilen Nut zung von Drohnen über Ultraschalltechnik bis hin zur Geo biotechnologie. (Mehr über die drei zuletzt genannten Bündnisse lesen Sie ab Seite 26.)
Doch so unterschiedlich sich die einzelnen Innovationsforen inhaltlich ausrichten – sie haben eine Menge gemeinsam: Sie treiben die Netzwerkbildung in ihrer Region voran und bringen
Sie treiben die Netzwerkbildung in ihrer Region voran und bringen Leistungsträger aus Wirtschaft, Wissenschaft, Gesellschaft und Politik an einen Tisch.
Leistungsträger aus Wirtschaft, Wissenschaft, Gesellschaft und Politik an einen Tisch. Dabei ist die Förderung von Beginn an nicht auf die bloße Kooperation ausgelegt und die entstehenden Netzwerke dürfen kein Selbstzweck sein. Vielmehr sollen die beteiligten kleinen und mittleren Unternehmen, Forschungs einrichtungen und Hochschulen strategische Bündnisse schmieden, die für ihre Region ein klares, innovatives Profil entwickeln. Im Mittelpunkt des Programms steht stets eine zweitägige Veranstaltung, die an einen Fachkongress erinnert und die meist selbst „Innovationsforum“ genannt wird. Wie im Forum – dem Marktplatz der römischen Antike – knüpfen die relevanten Akteure Kontakte und finden neue, bisher unbekannte Partner. Sie bestimmen gemeinsam ihre Position im Wettbewerb und stellen erste strategische Weichen.
Dabei unterstützt das InnovationsforenProgramm innerhalb der „Unternehmen Region“Familie meist eine frühe Phase der Netzwerkbildung. Doch auch bestehende Bündnisse können sich als Innovationsforen qualifizieren, sofern sie eine neue Ebene in ihrem Innovationsfeld erreichen wollen. In einem För der zeitraum von nur sechs Monaten und mit maximal 85.000 Euro ausgestattet, lösen viele Innovationsforen eine Initialzündung in ihrer Region aus. Sie nutzen die Förderung, um nachhaltige Strukturen aufzubauen, und werben in der Fol ge private Finanzierungsmittel ein.
Wegen Erfolges eingestellt
Die Wirkungen des Programms überzeugen nicht nur immer neue Interessenten, sondern auch die evaluierenden Wissenschaftler: „Wir haben einen sehr starken Entwicklungs schritt bei Struktur, Identität und Dokumentation der Innova tionsforen beobachtet, wobei der Status auch nach dem Ende der Förderphase stabil ist“, sagt etwa Thomas Brenner von der Uni versität Marburg. In den Jahren 2010/11 hat Brenner für das BMBF die Netzwerkentwicklung von 49 Innovationsforen unter sucht. Positive Effekte wie diese führten zu einem auf den ersten Blick überraschenden Ergebnis: Im vergangenen Jahr stellt das BMBF die InnovationsforenFörderung ein. Gleichzeitig baute es das Programm allerdings zur Förderinitiative „Innovationsforen Mittelstand“ aus.
Die Grundzüge der neuen Förderinitiative erinnern stark an ihren Vorgänger, doch es gibt ein paar wichtige Neuerungen: Interessenten genügt zunächst eine einfache Skizze, um ihre Chancen abschätzen zu lassen (siehe dazu auch Seite 31). Erfolgreiche Bewerber fördert das Forschungsministerium dann für bis zu neun Monate und mit maximal 100.000 Euro. Der größte Unterschied zu den „alten“ Innovationsforen ist aber: Innovationsforen Mittelstand stehen Bewerbern aus ganz Deutschland offen. In bislang vier Auswahlrunden wurden 49 Skizzen für eine Förderung ausgewählt.
Auch die Innovationsforen Mittelstand zeigen eine enorme
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Vielfalt, sowohl in der Art des Netzwerks als auch in ihren Themen: Diese reichen von der digitalen BlockchainTechnologie bis zur Optogenetik und von 3DAudio techno logien bis zur Kombination von nano und makroskaligen Kohlenstoffen. (Mehr über die beiden letztgenannten Inno va tionsforen Mittelstand erfahren Sie ab Seite 32.) Derzeit finden Mo nat für Monat Workshops und Forenveranstaltungen in ver
schiedenen deutschen Städten statt: in Potsdam, Dresden und Jena, aber auch in Lübeck, Hamburg, in Hannover und Nürnberg (siehe Landkarte). Seit dem Start 2001 hat die Inno va tionsforen und InnovationsforenMittelstandFörde rung 230 Bündnisse auf den Weg gebracht. Eine Landkarte der geförderten Initiativen zeigt ein teilweise unübersichtliches und fast pointillistisches Bild. Es steht ganz im Gegen satz zu zwei ein fachen,
klaren und effektiven För derinstrumenten.
Zur Förderung ausgewählte Foren„Innovationsforen“ und „Innovationsforen Mittelstand“
auf einen BlickBAYERN
SAARLAND
RHEINLAND-PFALZ
HESSEN
THÜRINGEN
SACHSEN
SACHSEN-ANHALT
BRANDENBURG
MECKLENBURG-VORPOMMERN
BERLIN
SCHLESWIG-HOLSTEIN
NORDRHEIN-WESTFALEN
BADEN-WÜRTTEMBERG
NIEDERSACHSEN
BREMEN
HAMBURG
Innovationsforen (2001 – 2016)
Innovationsforen Mittelstand (seit 2016)
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T i t e l t h e m a · I n n o v a t i o n s f o r e n ( M i t t e l s t a n d )
Uwe Meinberg ist Professor für Industrielle Informations technik an der Brandenburgischen Technischen Universität Cott busSenftenberg (BTU). In den Jahren 2015 und 2016 koordinierte er das Innovationsforum „CURPAS – Civil Use of Remot ely Piloted Aircraft Systems“. Das Bündnis ist mit dem Ziel gestartet, in der Region BerlinBrandenburg ein Netzwerk zu knüpfen, das die zivile Nutzung von Drohnen vorantreibt. Für Uwe Meinberg setzt die Branche gerade zum Höhen flug an: „Alle Welt geht davon aus, dass wir bald eine Vielzahl von gewerblichen Drohnen in der Luft haben werden.“ Dabei geht es um weit mehr als die Inspektion von Strommasten oder Windkraft anlagen. Die unbemannten Flugobjekte können medizinische Proben und Blutkonserven transportieren, Verkehrsströme aufzeichnen, chemische Anlagen überwachen oder den Diebstahl in Tagebauen verhindern. Zukunftsvisionen? „Zu all diesen Einsatzmög lich keiten laufen bereits Projekte, an denen CURPASPartner beteiligt sind“, stellt Uwe Meinberg fest.
Hochbegabte Flugobjekte
Innerhalb weniger Jahre hat die DrohnenBranche zum Höhenflug angesetzt. Das Innovationsforum „CURPAS“ zum Beispiel entwickelt in BerlinBrandenburg neue zivile Anwendungen und macht den europäischen Luftraum sicherer.
Wenn Netzbetreiber den Zustand von Stromleitungsmasten überprüfen wollen, haben sie bisher die Wahl zwischen
großem Aufwand und riesigem Aufwand. Entweder sie beauftragen Industriekletterer oder sie bringen die Inspekteure per Helikopter auf Augenhöhe mit möglichen Material, Korrosions oder Wetterschäden. In beiden Fällen ist die Arbeit gefährlich, aufwendig und teuer. „Deshalb haben wir für einen Netzbetreiber untersucht, ob und wann man die Masten vollautomatisch mit Drohnen inspizieren kann“, sagt Uwe Meinberg. „Unser Fazit: In eineinhalb bis zwei Jahren wird das funktionieren! Zumindest sofern man auf eine neue zu entwickelnde Sensorik sowie auf intelligente Auswertungsprogramme und Algorithmen setzt.“
„Alle Welt geht davon aus, dass
wir bald eine Vielzahl von gewerblichen
Drohnen in der Luft haben werden.“
Diebstahl in Tagebauen verhindern, Strommasten inspizieren oder Blutkonserven transportieren: Drohnen haben viele Talente.
Ihre Technik ist mittlerweile ausgereift (Bild S. 27 oben).
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Die Erzfreunde
Die europäische Wirtschaft ist auf Rohstoffimporte angewiesen, obwohl es auch auf unserem Kontinent Lagerstätten gibt. Ein sächsisches Innovationsforum hat deshalb ein europaweites Projekt zur Rohstoffgewinnung geschmiedet. Dabei kann das Bündnis auf die Unterstützung winzig kleiner Helfer bauen.
Sie heißen unter anderem Acidithiobacillus ferrooxidans oder Acetobacter methanolicus und sind mikroskopisch
klein. Mikroorganismen schaffen vergleichsweise einfach und kostengünstig, woran Zentrifugen, Zusatzstoffe und andere physikalischchemische Verfahren bisweilen scheitern: Sie kna
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Vogelwilde Drohnenschwärme?Er und sein BTUTeam beschäftigen sich bereits seit einigen Jahren mit zivil genutzten Drohnen. Zum Senkrechtstarter wurde das Thema allerdings erst mit dem Innovationsforum CURPAS. Zur Auftaktveranstaltung im April 2016 kamen rund 90 Fachleute auf den Flughafen BerlinSchönefeld. In der Folge zurrten vier intensive Workshops die wichtigsten Themenfelder fest. Die Abschlussveranstaltung im Oktober 2016 schließlich besuchten rund 150 Expertinnen und Experten, darunter auch Vertreter des Landes Brandenburg, die eine weitere Förderung in Aussicht stellten. Bereits am 7. Oktober gründete sich daraufhin der Verein CURPAS e.V., der mittlerweile rund 30 Mitglieder zählt. „Die Drohne ist für uns nur das Werkzeug zur Datenerfassung“, sagt Uwe Meinberg. „Deshalb sind die CURPASMitglieder überwiegend Anwender, die an der Prozesskette und neuen Einsatzmöglichkeiten arbeiten.“
So verlockend die Chancen auch sind: Vogelwilde Drohnenschwärme am Himmel bergen auch Risiken, vor allem für die Luftfahrt. Die Europäische Kommission und die Europäische Organisation zur Sicherung der Luftfahrt forcieren deshalb ein Flugverkehrsmanagement für Drohnen. Zusammen haben sie eine Initiative gestartet, die bis 2019 ein gemeinsames europäisches Regelwerk und eine einheitliche Kommunikations plattform für den Luftraum bis 150 Meter Höhe schaffen soll. In drei europäischen Regionen sollen im Jahr 2018 Feldversuche starten – darunter auch im brandenburgischen CURPASRevier. Für Uwe Meinberg ist dies der nächste Schritt in der Entwicklung des Netzwerks, doch den entscheidenden Wegbereiter vergisst er nicht: „Ohne das Innovationsforum wären wir nicht da, wo wir heute sind.“
„Die Biologie schafft bisweilen das, was
Chemie und Physik nicht schaffen.“
Sie sind die kleinsten Bergarbeiter der Welt: Bakterien helfen dabei, Metallverbindungen in Erzen aufzubrechen.
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Programmziel der Partnerfindung ungewöhnliche Wege ging. „Wir haben sehr gezielt nach Partnern in anderen europäischen Ländern gesucht“, erzählt GAINKoordinator Wolfgang Reimer, der unter anderem in Portugal, England und Finnland Workshops veranstaltete.
Die Folge dieses grenzüberschreitenden Ansatzes ist ein weiteres, europaweites Projekt: Seit 2015 arbeiten 17 Partner aus sieben europäischen Ländern im Vorhaben „FAME“ zusammen. Gemeinsam wollen sie flexible und mobile Aufbereitungstechno logien entwickeln, die eine umweltfreundliche und wettbewerbsfähige Ausbeutung europäischer Lagerstätten ermöglichen. Diese Technologien sind zum Beispiel für solche Vorkommen interessant, deren Erze einen relativ niedrigen Metall anteil haben und deren Wertstoffe schwer freizusetzen sind. Mit dabei sind auch die Nickelhütte Aue aus dem Westerz gebirge und die Freiberger SAXORE Bergbau GmbH.
Als Demonstrationsobjekte wurden europaweit sechs Lagerstätten ausgewählt, eine davon ist SAXOREs Zinn und IndiumLager stätte nahe des westerzgebirgischen Tellerhäuser. Sie zählt weltweit zu den größten ihrer Art, und sie hat noch einen weiteren Standortvorteil: „In Sachsen gibt es neben den Lagerstätten auch noch Hütten, um die Konzentrate unmittelbar vor Ort weiterzuverarbeiten. Das prädestiniert das Land als Wegbereiter in Euro pa“, sagt Wolfgang Reimer und schärft seine Vision: „Wir wollen hier in der Region vor Ort die Wertschöpfung steigern und auch auf die Bedeutung der Metallurgie nicht nur in der Primär roh stoff gewinnung, sondern auch in der Kreislauf wirtschaft hinweisen. Und letztendlich wollen wir wieder aktiv Bergbau betreiben, denn: Die Zukunft beginnt mit dem Berg bau.“
cken Metallverbindungen und setzen die Metalle als Rohstoffe frei. „Aufbereitung durch geobiotechnologische Verfahren“ nennen das Experten wie Dr. Franz Glombitza von der Freiberger G.E.O.S. Ingenieurgesellschaft. Gemeinsam mit Dr. Wolfgang Reimer, Geschäftsführer des Geokompetenzzentrum Freiberg e.V. (GKZ), treibt er das Thema in Sachsen seit Jahren voran. Denn beide sind überzeugt davon, dass die Gewinnung vieler europäischer Rohstoffvorkommen mit neuen, innovativen Methoden zu mehr Versorgungssicherheit beitragen kann.
Mit diesem strategischen Ziel haben Reimer und Glombitza im Jahr 2014 das Innovationsforum „GAIN – Geobiologische Aufbereitungs prozesse für Industrierohstoffe nichtsulfidischer Erze“ initiiert, gemeinsam mit fünf Unternehmen aus dem sächsischen Erzgebirge. „Mit GAIN haben wir untersucht, ob wir mit mikrobiologischen Verfahren auch nichtsulfidische Primär rohstoffe geringer Konzentration wie zum Beispiel Wolfram und Zinnerze ge win nen können“, erinnert sich Glombitza. „Das war in Teilen noch Grundlagenforschung, doch mittlerweile gibt es immer mehr hoffnungsvolle Ansätze: Die Biologie schafft bisweilen das, was Chemie und Physik nicht schaffen.“
17 Partner aus sieben Ländern
Seit mehr als 800 Jahren betreiben die Menschen im Erzgebirge Bergbau. Man kennt sich in der Branche. Doch regionale Partner alleine konnten die Aufgabe nicht lösen. Das ist auch der Grund, warum das Innovationsforum GAIN für das
Der Tellerhäuser Magnetitskarn enthält zinn und indiumhaltige Minerale, die hohe Anforderungen an die Aufbereitung stellen.
tet schnell, ohne das aus der Medizin bekannte Kontaktgel und ohne die teuren Verbundbauteile zu beschädigen.
Wer nach den Wurzeln dieser Erfolgsgeschichte sucht, findet sie zunächst in der DDRVergangenheit. Mitteldeutschland galt bereits damals als Zentrum der medizinischen Sonografie und der zerstörungsfreien Materialprüfung. Nach der Wende dauerte es aber noch 15 Jahre, bis alte und neue Akteure – darunter die SONOTEC GmbH – ihre Kräfte bündelten. Gemeinsam ergrün deten sie „Neue Möglichkeiten beim Messen und Prüfen mit Ultraschall“. Unter diesem Namen trafen sich im Dezember 2007 in Halle (Saale) rund 140 Fachleute zu einem vom Bundesforschungsministerium geförderten Innovationsforum. „Damals haben wir Ideen entwickelt, mit denen wir heute am Markt erfolgreich sind“, erinnert sich HansJoachim Münch an die Anfänge von SONOAIR und weiterer Produkte. Im Anschluss an das Forum habe sich SONOTEC mit etwa 20 kleineren Unternehmen zusammengetan, „denn wenn Sie auf dem Weltmarkt mitspielen wollen, dann schaffen sie das als mittelständisches Unternehmen nicht alleine“.
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Sie sind hochspezialisierte Wesen und finden sich mit ihrem effektiven Ortungssystem auch auf schwierigstem Terrain zurecht. Wer sich mit ihnen beschäftigt, staunt über ihr ausgeprägtes Sozialverhalten: Sie bilden ungewöhnlich stabile Gruppen, sind aber gleichzeitig offen für eine Durchmischung der unterschiedlichen Arten. Gemeint ist die Säuge tier gruppe der Fledermäuse. Die Beschreibung passt aber ebenso gut auf die Vertreter der mitteldeutschen UltraschallBranche. Beiden Spezies gemeinsam ist, dass sie über eine überragende Kompetenz auf dem Feld der Ultra schalltechnik verfügen. Doch statt sich im Dunk eln zu orientieren und Beutetiere zu jagen, verfolgen die Forschungseinrichtungen und Unternehmen in der Region HalleMerseburgLeipzig ganz andere Ziele. „Bei den zer störungsfreien Prüfverfahren mit luftgekoppeltem Ultraschall sind wir mittlerweile Weltspitze!“, sagt HansJoachim Münch, Geschäfts führer der SONOTEC GmbH in Halle (Saale). Das Technologieunter nehmen entwickelt und produziert mit 125 Angestellten Speziallösungen in der UltraschallMess technik. Dazu gehört auch SONOAIR, das zum Beispiel Materialfehler in kohlefaserverstärkten Kunststoffen erkennt. SONOAIR arbei
Auf Prüfbildern wie diesem offenbaren Ultraschallverfahren Materialfehler.
Die FledermausTaktik
Ihre hochspezialisierten Ortungssysteme und das ausgeprägte Sozialverhalten zeichnen sie aus: Die mitteldeutsche UltraschallBranche steht für spannende neue Anwendungen und eine erfolgreiche Netzwerkbildung. Zwei Innovationsforen haben dazu entscheidend beigetragen.
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Im Jahr 2010 fasste das Bündnis einen mutigen Entschluss und gründete eine eigene Forschungs einrichtung. Die heute unabhängige Forschungs zentrum Ultraschall gGmbH (FZU) beschäftigt in Halle (Saale) neun feste Mitarbeiter. Dazu zählen vor allem Ingenieure und Techniker, die sich an Forschungs projekten beteiligen oder im Auftrag von Unternehmen forschen. Längst erreichen das Forschungszentrum Anfragen nicht mehr nur von regionalen Firmen, sondern aus ganz Deutschland. „Wir sind stolz darauf, die gesamte Wertschöpfungskette der Luftultraschallprüfung abzubilden“, sagt FZUAbteilungsleiter Dr. Christoph Pientschke. „Das beginnt bei den Materialien und geht über die Elektronik bis hin zur Soft ware und den Auswertungsalgorithmen, die wir gemein sam mit Partnern bereitstellen.“
Von der Materialprüfung zur Medizin
„In letzter Zeit interessieren sich die Unternehmen in der Region immer stärker auch für den medizinischen Ultraschall“, weiß Christoph Pientschke. Deshalb hat er mit dem FZU – einst
selbst entstanden aus einem Innovationsforum – im Jahr 2014 das Innovationsforum „QSonoMed“ ins Leben gerufen. Im Gegensatz zu klassischen Ultraschallbildern will die namensgebende „quantitative Sonographie“ physikalische Eigenschaften von Gewebe und Flüssigkeiten ergründen. Auf der zweitägigen Fachveranstaltung im Mai 2015 kristallisierten sich spannende, medizinische Themen heraus: Die Elastographie erlaubt Aus sagen über die Elastizität des Gewebes. Sie ermöglicht Medizinern Tastbefunde an schwer zugänglichen Organen – berührungslos und allein auf Basis einer UltraschallUntersuchung. Da bisherige Geräte ungenaue Werte liefern, arbeiten Partner von QSonoMed gemeinsam an einem Kalibrierkörper. Gleichzeitig entwickelt das FZU mit einer Lübecker Klinik ein Trainingssystem, mit dem Mediziner den endoskopischen Einsatz von Ultra schallsonden üben können. „Und schließlich ist aus QSonoMed auch ein Ultra schallStammtisch entstanden“, sagt Pientschke. „Bisher treffen wir uns noch unregelmäßig. Aber wir wollen den Austausch aller Akteure in der Region unbedingt am Leben erhalten – das ist unser Ziel.“
Historie und Zukunft: Rund 90 Akteure aus Wissenschaft, Wirtschaft und Medizin besuchen 2015 das Innovationsforum „QSonoMed“. Den Rahmen setzt das denkmalgeschützte Stadthaus in Halle (Saale).
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Innovationsforen
„Wussten Sie schon ...?“
Innovationsforen Mittelstand
16 Jahre Laufzeit
181 durchgeführte „Innovationsforen“
14,4 Millionen Euro Fördersumme
100 Prozent der bewilligten Inno va tionsforen aus Ostdeutschland
ca. 15.000 mobilisierte Akteure
Darauf kommt es an
Das Bundesministerium für Bildung und Forschung fördert Innovationsforen Mittelstand dann, wenn …
… sie für kleine und mittlere Unternehmen (KMU) besonders relevant sind.
… sie darauf ausgerichtet sind, Ideen oder Forschungsergebnisse zukünftig wirtschaftlich zu verwerten.
… aus der Projektskizze erkennbar ist, dass das Netzwerk offen für neue Akteure ist.
… die Ergebnisse vor allem hierzulande verwertet werden und so den Standort Deutschland stärken.
Projektskizzen werden positiv bewertet, wenn…
… das Thema bedeutend ist – in technischer, wirtschaftlicher und/oder gesellschaftlicher Hinsicht. Hierzu zählen auch die Chancen für kleine und mittlere Unternehmen und die Zusammenarbeit über Fächergrenzen.
… der Ansatz neuartig und kreativ ist.
… die vorgeschlagene Partnerstruktur mit einer neuen Akteurskonstellation, Exzellenz und einer starken Einbindung mittelständischer Unternehmen überzeugt.
… die Akteure ein regionales Kompetenzprofil herausbilden können.
… das Forum eine langfristige Entwicklung neuer Geschäftsmodelle anstrebt.
4 Auswahlrunden
218 eingegangene Skizzen
49 zur Förderung ausgewählte Bewerbungen
49 Prozent kleine und mittlere Unternehmen als Antragsteller bei bewilligten Vorhaben
61 Prozent der bewilligten Innovationsforen Mittelstand aus Westdeutschland
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Man sieht sie nicht. Doch irgendwo hier muss sie verlaufen, die Trennungslinie. Mitten durch das KarlBröger
Tagungszentrum in Nürnberg und durch die Reihen der etwa 90 Menschen, die sich an diesem sonnigen Oktobertag hier zum Innovationsforum Mittelstand „Carbon – Nano goes Macro“ ver sammelt haben. Sie gehören jeweils zu einem von zwei Lagern, die sich mit demselben chemischen Element beschäftigen – und doch in ganz verschiedenen Welten leben.
„In der makroskopischen Welt geht es um Kohlefasern, die in Kunststoffe eingearbeitet werden“, erklärt Dr.Ing. Peter Gram bow. „Die mikroskopische ist die NanoWelt, die sich mit Kohlenstoffstrukturen im NanometerBereich beschäftigt.“ Diese NanoWelt ist Grambows eigene Sphäre. Als Manager des Clusters Nanotechnologie in Bayern vernetzt er Wirtschaft, Wissenschaft und Politik und fördert den Technologietransfer sowie die Zusammenarbeit von NanotechnologieAkteuren. Doch das reicht ihm und einigen seiner Mitstreiter nicht. „Wir wollen die beiden Welten verbinden“, sagt Projektleiterin Dr. Stefanie Bertsch. „Und das ist gar nicht so einfach.“
Fahrrad und Weltraumlift
Die beiden KohlenstoffParteien fremdelten bisher. Das liegt nicht nur an der unterschiedlichen Dimension der Objekte, son dern auch an bisher ganz unterschiedlichen Anwendungsgebieten, fachlichen Hintergründen und Kulturen. Schon lange begeistern sich Ingenieure für die leichten und hoch belastbaren CarbonVerbundstoffe (CFK). Sie finden sich in Satelliten und Flugzeugen, in Sport und Elektroautos, in Windkraftanlagen und Fahrrädern. Doch die Preise sind nach wie vor hoch: Heute kostet ein Kilogramm Stahl in der Produktion rund 3 Euro, Aluminium etwa 5 Euro – und kohlefaserverstärkter Kunststoff
Kleine Teilchen, große Wirkung?
Kaum ein Flugzeug, eine Windkraftanlage oder ein Rennrad kommt heute ohne kohlefaserverstärkte Kunststoffe aus. Parallel dazu verleihen Forscher und Unternehmen Carbon auf der NanoEbene außergewöhnliche Eigenschaften. Ein bayerisches Innovationsforum Mittelstand wagt nun die Vereinigung von Makro und NanoWelt.
Die Kombination carbonfaserverstärkter Kunststoffe mit Nanokohlenstoffmaterialien (kleines Bild) bietet neue Möglichkeiten, etwa in der Luftfahrt (großes Bild links) und bei Energiespeichern (Bild S. 33).
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30 bis 75 Euro, referiert Branchenexperte Hendrik van Delden auf dem Innovationsforum in Nürnberg, und prognostiziert: „Über eine Kostensenkung ist zu erwarten, dass es kurz bis mittelfristig gelingt, CFK für die Großserienfertigung tauglich zu machen.“
KohlenstoffNanomaterialien zeichnen sich hingegen durch eine große Vielfalt an Typen aus: Sie treten in DiamantForm auf, als an Lederfußbälle erinnernde Fullerene, als wabenartiges Graphen oder als dünne Röhrchen. Je nach Struktur haben sie ganz unterschiedliche und fast immer außergewöhnliche Eigenschaften: Sie leiten Strom so gut wie Metalle, Wärme so gut wie Diamanten oder sind 100mal zugfester als Stahl. Schon heute stecken CarbonNanomaterialien in verschiedenen Anwen dungen: von Batterien über leitfähige Oberflächen bis zum Flammschutz. Graphen zum Beispiel gilt in der Elektronikindustrie als Hoffnungsträger; und das nicht erst, seit seine Entdecker 2010 mit dem PhysikNobelpreis ausgezeichnet wurden. Eines Tages könnte der zweidimensionale Kohlenstoff das in der Elektronikindustrie omnipräsente Silicium ersetzen. Für Nanoröhren hingegen begeistert sich unter anderem die Raumfahrt: Als einziges bekanntes Material kommen sie für einen Aufzug infrage, der von der Erdoberfläche bis in den Weltraum reicht. „Das ist zwar in der Theorie möglich, aber noch in ganz weiter Ferne“, bremst Peter Grambow die Euphorie. „Wir konzentrieren uns momentan lieber auf Anwendungen, die wir schneller erreichen können.“
Vom Rohstoff zum Produkt
Um die beiden Branchen in neuen Anwendungen zu vereinen, hat Grambow mit seinem Team das Innovationsforum Mittelstand „Carbon – Nano goes Macro“ geschmiedet, das sich in
Nürnberg zu einem zweitägigen Kongress trifft. Gefördert vom Bundesforschungsministerium ergründen Projektpartner vor allem aus Bayern und Sachsen gemeinsam neue Hybrid materialien, Themen und Branchen. Wie das prototypisch funktionieren kann, zeigt etwa ein Projekt unter Leitung der Enrichment Technology Company und dem Netzwerk NanoCarbon. Gemein sam suchten Partner aus Forschung und Industrie nach den idealen Materialkombinationen für einen SchwungradEnergiespeicher. Dieser speichert kurzzeitig Energie, indem er ein Rohr aus kohlefaserverstärktem Kunststoff in Rotation versetzt. Dabei muss die Anlage viele Zyklen, sogenannte Lastwechsel, aushalten – eine enorme Belastung für das Material. Die Projektpartner experimentierten mit Epoxidharzen, die unter anderem mit KohlenstoffNanoröhren gefüllt wurden.
Derzeit wächst der weltweite Markt carbonverstärkter Kunst stoffe jährlich um etwa 11 Prozent. „Deutsche Branchenunternehmen erwarten, dass kohlefaserverstärkte Kunststoffe ein Treiber für Wachstum sind, vor allem im Automobilbereich und in der Infrastruktur“, sagt Volker Mathes von der AVK – Industrievereinigung Verstärkte Kunststoffe e. V. Die Kombination von Makro und Nano könnte noch weitere Märkte erschließen. „Wir bilden mit dem Innovationsforum die Wertschöpfungs kette komplett ab. Das beginnt beim Rohstoff, geht über Prozess, Entwicklung, Modellbildung und Sicherheit bis hin zum fertigen Produkt“, betont Peter Grambow. „Das ist eine grund legende Voraussetzung für erfolgreiche Entwicklungen in diesem Bereich.“ Und darüber gibt es bei den Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Innovationsforums in Nürnberg keine zwei Meinungen.
„Wir bilden mit dem Innovationsforum die komplette
Wertschöpfungskette ab: vom Rohstoff bis hin zum
fertigen Produkt.“
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Das kann kein Zufall sein! Im Gewandhaus Leipzig treffen sich im September 2017 nicht etwa die künftigen Spitzen
musiker der MendelssohnOrchesterakademie zu ihren Proben – nein, das für seinen Klang weltweit gerühmte Konzerthaus ist für zwei Tage Bühne für Ingenieure, Künstler, Forscher, Ärzte, Therapeuten und viele Neugierige. Vorhang auf für das Innovationsforum Mittelstand „3DAudiowelten“.
Auch wenn die Einkanaltechnik Mono bestenfalls Nostalgie status genießt, so verharren die uns umgebenden Soundsysteme überwiegend im StereoStatus. Dolby Surround verwöhnt uns in großen Kinos und Konzertsälen. Nicht schlecht, aber nur eine Annäherung an die Ansprüche und Fähigkeiten unserer Ohren an natürliches Hören. Das will 3DAudiowelten nun ändern. Digitale Technik bietet unseren Ohren zum ersten Mal im Alltag Sprache, Töne, Geräusche und Klänge in drei Dimen sionen. Auf kleinem Raum und überwältigend gut.
330 Jahre bis zur Weltpremiere
Innovationen brauchen Geduld. So auch beim dreidimensionalen Hörgenuss. Bereits 1678 hatte der Niederländer Christiaan Huygens festgestellt: „Jeder Punkt in der Luft oder im Wasser, der von einer Welle getroffen wird, ist Ausgangspunkt einer kreis oder kugelförmigen Elementarwelle. Die Elementarwellen überlagern sich zu einer neuen Wellenfront.“ Damit legte er die Basis für die sogenannte Wellenfeldsynthese, die das Schallfeld von Schallquellen sehr realitätsnah mit Hilfe von Lautsprechern nachzubilden vermag.Die Entwicklung wurde seit den 1990erJahren vor allem in Ilmenau vorangetrieben. Das FraunhoferInstitut für Digitale Medientechnologie IDMT sorgte im Jahr 2008 schließlich gemeinsam mit der Ilmenauer IOSONO GmbH für Furore: In einer Weltpremiere hoben sie die Besucher des legendären Berliner TechnoClubs „Tresor“ mit Hilfe der Wellenfeldsynthese in nie gehörte musikalische Sphären.
Good Vibrations: 3D auf die Ohren!Töne und Klänge dringen aus drei Dimensionen an unser Ohr. Dieses natürliche Hörerlebnis wird heute mit MegaTechnik in Kinos und Konzert sälen nachgebildet. Tüftler und Talente aus Sachsen wollen diesen 3DSound jetzt für den kleineren Geldbeutel in Showrooms und Arzt praxen bringen.
Sächsischnobler Klang
Dr. Friedrich Blutner sieht viele Vorteile der Technologie: „Sie kann ohne großen Aufwand nahezu überall installiert werden“, sagt der Geschäftsführer der Synotec Psychoinformatik GmbH aus dem sächsischen Geyer. „In einem Musikstudio ist es neben der Anpassung mit einer speziellen Software zur Steuerung der Klangobjekte und szenen lediglich notwendig, 16 Lautsprecher zu installieren und im 3DSetup zu konfigurieren.“ Also freie Fahrt auch für neue Anwendungen en miniature– in Showrooms, Krankenhäusern oder auch zuhause? Blutners Zwischenfazit: „Wenn wir möchten, dass vor allem kleine und mittlere Unternehmen diese wunderbare 3DAudiotechnologie nutzen, dann müssen wir mit den Anbietern von Hard und Software auch über den Preis reden. Und das tun wir bereits mit Hilfe des herstellerunabhängigen IANNetzwerks.“ Denn dass die neue Klangwelt nicht gleich einen sechsstelligen Investitionsbetrag erfordert, ist Friedrich Blutner besonders wichtig.
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Patienten mit Stereosystemen. Dabei werde die diagnostizierte TinnitusFrequenz gezielt mit anderen Tönen überlagert: „Nur wer schon einmal, wie fast 19 Millionen Menschen in Deutschland, selbst erlebt hat, dass es Tag und Nacht im Ohr rauscht oder pfeift wie in einem alten Kurzwellenradio, der wird die Sehnsucht nach Stille, Konzentration und Entspannung verstehen können!“ Der natürliche 3DAudioKlang als neues Technik angebot könnte dabei die Therapie in eine neue Qualität führen.
Und als Nächstes? „Wir konnten einen großen deutschen Auto mobilhersteller für unsere 3DAudiowelten begeistern“, sagt der Unternehmer Hilmar Steinert aus LimbachOberfrohna. „Erste Autohäuser werden mit Showrooms ausgestattet, in denen die interessierte Kundschaft ihre Wunschautos nicht nur mit Motoren, Ausstattung und Farbe konfigurieren kann, sondern ihren neuen Liebling schon akustisch erleben kann.“ Denn das Ohr kauft mit.
Für den dreidimensionalen Klangrausch setzt Blutner auch auf den guten alten Rohstoff Papier: „Mit der SWAP GmbH konnten wir einen Partner gewinnen, der mit weltweit einzigartiger Kompetenz aus Papierrollen extrem stabile und vor allem leichte Wabenplatten fertigt. Damit ausgestattete Räume haben eine extrem ausgewogene Präsenz von Hall und Schall. So bekommt der Klang eine satte Note, die aber nicht fett und schwammig, sondern sächsischnobel klingt“, freut sich Fried rich Blutner.
Tinnitus und Motorsound
Zum Innovationsforum Mittelstand gehört auch einer der weltweit führenden Neurowissenschaftler. „Gänsehaut ist die beste Therapie“, sagt Professor Stefan Kölsch von der Universität im norwegischen Bergen. Damit spielt er beispielsweise auf die Musiktherapie bei Demenz oder TinnitusErkrankten an. Davon will sich etwa die in Graz praktizierende Musiktherapeutin Julia Laggner inspirieren lassen. Bisher arbeite sie bei Tinnitus
Klangpanorama im Raum: 18 Soundmodule und ein 3DSetup vermitteln eine musikalische Kulisse wie im Konzertsaal (Bild links).
3DAudio: In Konzertsälen schon heute ein Genuss. Bald auch bei Therapie und Präsentation (Bild rechts)?
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AUDIOFORMATE
Mono Stereo Surround „Quad“ Immersive
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Der Prototyp
Die klassischen Produktions prozesse Weben, Stricken, Sticken, auch die Textilien selbst, werden für das digitale Zeitalter ganz neu erdacht. Eine Station auf diesem Weg ist das „Textile Prototyping Lab“ in Berlin. Daniel Heltzel baut es auf. Einen Tag lang haben wir ihn begleitet und dabei beobachtet: Er ist selbst ein Prototyp.
deutschen Textilbranche die Türen zu Zukunftsfeldern wie „Internet der Dinge“, „Intelligente Fabrik“ und „Industrie 4.0“ eröffnen und wird dabei vom Bundesforschungsministerium unterstützt. Das „Textile Prototyping Lab“ ist Teilprojekt des Zwanzig20Konsortiums „futureTEX“. In diesem Forschungsverbund arbeiten Textilmaschinenbauer und Textil hersteller, Wissenschaftler und nicht zuletzt auch die TextilAnwender zusammen, um sich auf dem weltweiten Wachs tumsmarkt für neuartige, technische Textilien zu positionieren.
„Die digital unterstützten Ferti gungs tech niken eröffnen ganz neue Interaktions möglichkeiten zwischen Mensch und Maschine. Und sie ermöglichen neue Metho den, um textile Pro dukte zu entwerfen und zu fertigen“, sagt Daniel Heltzel. Eine seiner Aufgaben ist es, Ko ope rationspartner für das Labor zu finden, in dem künftig Prototypen für intelligente Textilien, textile Elektronik und technische Textilien entwickelt werden.
Neue EntwicklerGeneration
Vormittag gegen 10 Uhr. „Unsere Mitarbeiter und auch die Kunden sind oft nachts um drei noch hier“, kommentiert Daniel Heltzel die beinahe menschenleeren Räume – und bekräftigt durch Kopf nicken: „Die eigene Arbeitszeit selbst bestimmen und gestalten zu können, schätzen viele selbständige Kreative.“ Daniel Heltzel trifft sich an diesem Morgen mit einem Team, dessen Projekt „Feel.Flight“ inhaltlich eines der ersten sein könnte, das vom TPL begleitet wird. Das interdisziplinäre Kollektiv von Designern und Entwicklern hatte erfolgreich an einem Wettbewerb von Telekom und Lufthansa teilgenommen. Im Fab Lab will es jetzt sein Servicekonzept prak tisch umsetzen, das das Wohlbefinden der Passagiere auf Langzeitflügen verbessern soll. Unter anderem gehört eine Passagierdecke dazu, die durch Integration von Sensoren zum Bestand teil
Raum für Ideen“ steht groß auf dem Bauschild. Daniel Heltzel vom Fab Lab Berlin hat es täglich
vor Augen. Gerade beobachtet er, wie ein Kran seinen riesigen Arm über das Gelände der ehemaligen BötzowBrauerei schwenkt – über 80 Jahre Brau e rei geschichte in Prenzlauer Berg. Die endete 1945. Es folgten Kurz geschichten als Lager und Markthalle und als Schauplatz Berliner Subkultur. Seit einigen Jahren nimmt die OttobockFirmengruppe – Deutschlands größter Hersteller von Orthesen, Prothesen und Rollstühlen – zig Millionen in die Hand, um die denkmalgeschützten Backstein bauten zu einem Zukunftslabor umzugestalten. Auch die Entwicklungs werk statt Fab Lab, die Kurzform steht für Fabri cation Laboratory, wird hier einziehen. Bislang sind deren „Räume für Ideen“ in einem Flachbau untergebracht. Das Fab Lab Berlin gründete sich 2013 als einer der deutschen Knoten in diesem globalen Netzwerk. Es hat großen Zulauf von Studierenden bis zu Startups, von kleinen und mittleren Firmen bis zu Großunternehmen wie Ottobock.
Türen ins digitale Zeitalter
„Open Innovation Space“ wird die Verknüpfung aus CoWorkingSpaces, Hochtechnologie und Kreativität genannt. Deutschlandweit gehört das Fab Lab Berlin zu den größten dieser Art. Hier arbeiten Ingenieure, Erfinder, Forscher Studenten und Startups an innovativen Technologien und Produkten – offen, interdisziplinär und netzwerkorientiert. Daniel Heltzel ist „Managing Director“ des Fab Lab. „Wir stellen die entsprechende Logistik, HightechWerkzeuge und unser Netzwerk zur Verfügung. Die geteilten Ressourcen ermöglichen es unseren Kunden, Prototypen kostengünstig herzustellen“, sagt Daniel Heltzel. Er leitet das in diesem Jahr neu hinzugekommene „Textile Prototyping Lab“, kurz TPL. Dieses offene Labor will der
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„Unser Fab Lab ist für Industrieunter neh men ein Schaufenster, in dem sich die neue Generation der Entwickler präsentiert.“
des Internets der Dinge wird. Sie rea giert auf Bedürfnisse des Menschen, ohne dass dieser selbst aktiv werden muss. So spürt die intelligente Decke etwa, welche Körperregion gewärmt werden muss. Zudem kann sie den Schlafrhythmus des Passagiers steuern und ihm helfen, sich an die neue Zeitzone zu gewöhnen.
„Unser Fab Lab ist für Industrieunterneh men ein Schaufenster, in dem sich die neue Generation der Entwickler präsentiert“, sagt Daniel Heltzel. Er hätte auch den Begriff „Aussichtsturm“ als sinnhafte Symbolik heranziehen können. In Sichtweite steht ein aus fünf alten Containern errichteter Turm. Im „ContainerThinkTank“ sind die kleinen Denkfabriken übereinandergestapelt. Mit Kaffeetasse und Kuchenteller ausge
rüstet geht es ein paar Schritte hinüber, Daniel Heltzel hat sich einen der Sitzungs räume reserviert. Irgendwann wird dieser außergewöhnliche Turm der Umgestaltung des Areals weichen. Bis dahin hat man von hier oben einen guten Überblick über den wachsenden „Raum für Ideen“.
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zerfreundlich anbieten können. „Eine der Fragen wird auch sein, wie sich eine Inno vationswerkstatt aufstellt, damit sie sich eines Tages finanziell selbst trägt“, sagt Heltzel, der Ahnung von Betriebswirtschaftslehre hat. Diese war Bestandteil seines Studiums.
Der gebürtige Bremer studierte in Frei burg empirische Sozialforschung und arbeitete danach für die Uni wissenschaftlich auf diesem Gebiet. Er lacht. „Na ja, die Haushaltskonsolidierung am Beispiel Indiens lässt sich nicht gerade auf deutsche Verhältnisse übertragen. Aber der Aufenthalt in Indien war eine wichtige Erfahrung“, meint der 31Jährige und fügt hinzu, dass ihm der Blick über den Tellerrand sehr wichtig ist. Empirische Sozialforschung heißt: Erfahrungen sam
Nach dem Teamgespräch im „ContainerThink Tank“ geht es hinaus auf die Baustelle im historischen Brauereigebäude. Daniel Heltzel zeigt seinem TPLTeam, wo das „Textile Prototyping Lab“ einziehen wird.
Erfahrungen sammeln
Daniel Heltzel hat ein TeamBriefing angesetzt. Er will sichergehen, dass der Workshop am nächsten Tag gut vorbereitet ist. Über 100 Vertreter von Innovationswerkstätten kommen aus ganz Deutschland zum Erfahrungs aus tausch – unter anderem darüber, wie die offenen Labore digitale Innovationen nut
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meln und daraus Erkenntnisse ableiten. Aber auch: Erkenntnisse anderer sammeln und daraus Erfahrung gewinnen. Daniel Heltzel kann seine strategischen Kompetenzen gut einsetzen beim Aufbau des „Textile Prototyping Lab“. Über Ländergrenzen hinweg schaut sich sein TPLTeam um, was andere Textillabore machen. Seine nächste Reise geht zur Designmesse Dutch Design Week in Eindhoven, auch der Besuch von Textillaboren in Tilburg und Amsterdam steht auf dem Programm.
Einblicke in textile Welten
Wie bekommt ein empirischer Sozialforscher den fachlichen Zugang zu textilen Welten? Daniel Heltzel zückt wie zur Antwort sein Smartphone und checkt, wo der Wagen steht, den er für die Fahrt zur Kunsthochschule Weißensee Berlin gemietet hat. Die KHB ist ein Kooperations partner des TPL. EssiJohanna Glomb wartet dort. Die Spezialistin auf dem Gebiet des Textil und FlächenDesigns koordiniert mit ihm gemeinsam den Aufbau des TPL. Daniel Heltzel fährt gern raus nach Weißensee. Immer neue Entdeckungen warten hier auf ihn – zum Beispiel hinter
„Man kann nicht das ganze Leben digitalisieren. Die persönliche Begegnung hilft oft sehr.“
dem Vorhang, der ein riesiges GarnRegal schützt. EssiJohanna Glomb holt einige Rollen heraus. Beide besprechen, inwieweit sich die Garne für die sogenannten TechTex, die technischen Textilien, eignen. Dann will Daniel Heltzel von der Praktikerin wissen, wieweit die Digitali sierung von Webstühlen hilfreich wäre. Denn am Nachmittag trifft er sich mit dem Partner vom FraunhoferInstitut für Zuverlässigkeit und Mikro integration.
Daniel Heltzel hat eine Mappe mit den grafischen Varianten für das neue TPLLogo dabei. Alle Partner des PrototypenLabors sind in die Entschei dungsfindung einbezogen. Neben dem Fab Lab und der KHB beteiligen sich das Säch sische Textil for schungs institut Chemnitz, das Textil for schungsinstitut ThüringenVogtland und das FraunhoferInstitut für Zuver lässigkeit und Mikrointegration in Berlin am TPL. „Mich sprechen besonders die Gestaltungsvarianten an, die eine moderne Struktur in sich tragen“, sagt EssiJohanna Glomb. Schließlich wolle das TPL ja junge Gestalter und Entwickler von innovativen Textilien anspre chen, die sonst keine Möglichkeiten haben, professionelle PrototypenWerkstätten zu nutzen.
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Gründerzeit Stunde null
Wann immer möglich, sei ihm ein Ge spräch lieber als eine Mail, sagt Daniel Heltzel. Man könne nicht das ganze Leben digitalisieren. Die persönliche Be geg nung helfe oft sehr. Wir steigen wieder ins Auto. Rückfahrt nach BerlinMitte: Getreu dem FabLabGedanken der Ressourcenteilung nutzt Daniel Heltzel Carsharing – auch privat; meistens aber die SBahn zwischen seinem Wohnort BerlinSchöneberg und dem Arbeitsort Prenzlauer Berg. Mit einer Initiativbewerbung hatte er vor zwei Jah ren beim Fab Lab Berlin sein Glück ge sucht – und gefunden. Das dynamische Berlin, sagt er, entspreche derzeit mehr seinem eigenen Pulsschlag als das be schauliche Freiburg. Seiner Mentalität komme auch entgegen, dass er hier auf sehr unterschiedlichen Themenfeldern in
überschau und abrechenbaren Arbeits zyklen agieren kann.Zur späten Mittagszeit ist Leben eingekehrt im Fab Lab. Es ist zudem einer der Tage, an denen sich hier alles zum Business Lunch trifft. „Das Buffet wird rege genutzt, um mal mit Leuten ins Gespräch zu kommen, denen man an sonsten kaum begegnet“, sagt Heltzel. Netzwerken ist ein großes FabLabThema – und insbesondere eines für ihn als TPLKoordinator. Seit der Bewilligung des „Textile Prototyping Lab“Forschungs projektes im Frühjahr dieses Jahres erlebt und gestaltet er nun selbst eine Grün derzeit – sozusagen von der Stunde null an.
Über Behelfswege an Maurern und Elektrikern vorbei steigt er zum ersten Mal mit seinem TPLTeam in das dritte Stockwerk der einstigen Brauerei, die
nach Plänen des Stararchitekten David Chipperfield in ein „Future Lab“ verwandelt wird. Auch das „Textile Prototyping Lab“ mietet hier einen „Raum für Ideen“. Er ist dann quasi der Raumausstatter und kann schon genau zeigen, wo Webstuhl und Strickmaschine, Laser und 3DDrucker stehen, wo Materialbibliothek und Arbeitsplätze eingerichtet werden – und wo sich die kreativen Ideen ausbreiten können. Noch geht es über federnde Metallroste auf die künftige Dachterrasse, wo Ideen ihren wortwörtlichen Freiraum haben. Höhenangst hat niemand im TPLTeam.
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Getreu dem FabLabKonzept der geteilten Ressource mietet Daniel Heltzel für die Fahrt zur Kunsthochschule Weißensee Berlin ein CarsharingAuto. Dort bespricht er LogoEntwürfe für das TPL mit EssiJohanna Glomb. Die Spezialistin auf dem Gebiet des Textil und Flächendesigns macht Sozialforscher Daniel Heltzel mit textilen Welten vertraut.
Kreativität plus Technik
Am späten Nachmittag kommt das Fab Lab den Vorstellungen von einer Kreativwerkstatt sehr nahe: babyloni
aus dem sich TextilDesigner und Industrie bedienen können, um die sogenannten „technischen Textilien“ herzustellen, die sich über das Internet mit ihrer Umge bung vernetzen und kommunizieren.
Daniel Heltzel nutzt gleich die Gelegenheit, auch dem IZMPartner die Entwürfe für das TPLLogo zu zeigen. Die Bewertungskriterien: Es steht auf Brief köpfen, Visitenkarten, unter EMails, in Präsentationen. Und: Es muss als Bildmarke funktionieren, die sowohl in der traditionellen Textilbranche Anklang fin det als auch bei Unternehmen, die das
sches Sprachgewirr in allen Räumen. Malte Krishiwoblozki vom FraunhoferInstitut für Zuverlässigkeit und Mikrointegration wartet schon in der Textilwerkstatt. Das IZM bringt als Kooperations partner des TPL seine Kompetenzen bei der Entwicklung einer Software ein, die die Textilproduktion in das digitale Zeitalter hinüberführt. „Bei allem kreativen Freidenken haben Innovationen auch technische Parameter, sonst kommt nichts dabei heraus“, sagt der Mikrosystemtechniker. Er und seine Kolle gen tüfteln an einem elektronischen Baukasten,
TPL als Partner gewinnen möchte für die Infrastruktur, für die Anwendung oder als Netzwerker.
Ein junges Reporterteam gesellt sich dazu. Es macht einen großen Beitrag über das Fab Lab. Auch der TPLKoordinator wird nach seinem Zukunftswunsch befragt: „Ich wünsche mir, dass sich alle Projekte, die hier das Laufen lernen, einen Platz auf dem Markt erobern“, sagt Daniel Heltzel und gibt einen heißen Tipp: „So früh wie möglich mit dem Bau von Prototypen beginnen.“
Am Nachmittag ist Leben in die Textilwerkstatt des Fab Lab Berlin eingekehrt. Daniel Heltzel und Malte Krishiwoblozki vom FraunhoferInstitut für Zuverlässigkeit und Mikrointegration unterhalten sich über die Digitalisierung von Webstühlen.
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Was waren wir für tolle Hirsche! Fertig studierte Kon strukteure mit besten Abschlüssen. Und nicht etwa von irgendei
ner Uni versität, sondern von der Ingenieurs schmiede der DDR in KarlMarxStadt.“ Holg Elsner bekommt sein Lächeln, das irgendwie eine Mischung aus Ironie, Mutterwitz und wohlportionierter Weisheit ist, nur fältchenweise aus dem Gesicht. Wie ein Steuer mann auf der Brücke, so steht er an seinem Schreibtisch in der sechsten Etage, richtet seinen Blick hinaus – scheinbar in die Ferne. Aber der Konstrukteur ist kein Träumer! Sonst stünde er nicht hier: „Schauen Sie sich mal um. Das alles hier war der DDRVor zeigebetrieb VEB Werkzeug maschi nen kom binat ‚Fritz Heckert‘. “
Innovation war kein Fremdwort
1971 steuerte hier zum ersten Mal ein Zentralcomputer die Fertigungsstraßen des Werkzeugbaus. Die alten Fließbänder waren damit Geschichte. Ein Exportschlager der devisensüchti
gen DDR war geboren. Bis zu 20 Prozent der Produktion sollte in den Westen verkauft werden. Erich Honecker tauchte vor Ort auf, schüttelte Arbeiterhände und rührte die Werbetrommel. Ein Großforschungszentrum für den automatisierten Werkzeugbau verschlang Millionen und war ständig auf der Suche nach dem Weltniveau. Manchmal war das „Heckert“Kollektiv mit seinen über 4.000 Mitarbeitern dicht dran.
Holg Elsner kannte diese Situation nur zu gut. Nach dem Studium hatte er was drauf. Und wollte daraus etwas machen: „Ich landete bei ELITE/Diamant. Wenn das kein Omen war“, schmunzelt Elsner. Der damalige Volkseigene Betrieb baute Fahrräder und Strickmaschinen. Besonders die DiamantFahrräder hatten einen Ruf – Qualität vom Feinsten. Schließlich war die DDRRad sportlegende Täve Schur auf diesen Rädern Weltmeister und Friedensfahrtsieger geworden. Hier war der Konstrukteur permanent gefordert. Mit moderner Technik die Produktionsprozesse immer wieder verbessern. Schließlich wollten rund 500.000
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P MIT 50+Sein Land verschwand vom Planeten. Selbst die Stadt, in der Holg Elsner zum begeisterten Ingenieur wurde, gibt es nicht mehr. Aus KarlMarxStadt wurde wieder Chemnitz. Aus dem KollektivKonstrukteur ein Gründer und Unternehmer. Ein Leben mit Haken und Ösen.
Es sieht aus wie Spitzendeckchen. Doch statt feinster Stofffäden machen hauchdünne Drähte das Vlies zum Sensor.
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DDRBürger jedes Jahr ein Rad. So stand es im Plan. Er machte das wohl richtig gut, kletterte die Leiter immer weiter nach oben und war eines Tages selbst Leiter – Abteilungsleiter der Kon struk tion.
Das Ende war (k)ein Anfang
1990. Viele Geschichten dazu sind erzählt. Auch der Konstrukteur hat seine. Scheinbar hatte der Westen schon alles konstruiert. Nun ging es darum, all die schönen Dinge zu verkaufen. Holg Elsner sattelte um auf Verkauf und Vertrieb, unter anderem von modernen Strickmaschinen. Und fand dann doch seinen neuen Anfang, weil er inzwischen ein gutes Näschen hatte für Dinge, deren Zeit gekommen schien: Hausbauboom im Osten. Elsner schmeckte schnell das Wasser, mit dem die Fertighausverkäufer aus dem Westen kochten. Und wurde wieder zum Konstrukteur. Diesmal von den eigenen und fremden vier Wänden. Was für ein Glück! Das aber nur kurze Jahre hielt.
2001: Jedem Boom geht einmal die Luft aus. Genug Häuser fürs Familienglück waren fürs Erste gebaut. Er sah dieser Wahrheit ins Gesicht, wartete nicht auf Engel, die ihm unter die Arme greifen, sondern griff selbst zum Telefon, putzte Klinken und frischte den Kontakt zu Leuten auf, die sich nie ganz aus den Augen verloren hatten. Die zum Beispiel an den Unis in Chemnitz und Dresden arbeiteten.Und Holg Elsner wagte auch den Blick zurück. Er war doch Techniker und Tüftler, hatte Werkzeuge konstruiert und Prototypen gebaut, die zu richtig guten Produkten wurden. Und er hatte das in seiner Stadt, in seiner Region doch nicht alleine gemacht. Wo waren jetzt alle diese Männer und Frauen, die was draufhatten? Der Konstrukteur machte sich auf die Suche und wurde fündig. Im westlichen Sachsen spürten offensichtlich zu Beginn der 2000erJahre viele, dass es endlich Zeit zum Durchstarten war. Letzte Chance für diese Generation, für diese Region.
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„ Wir sind doch tolle Hirsche. Wir können doch was! Würden die Amerikaner sagen.“
Blick zurück und Blick voraus: LSEGründer Holg Elsner.
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Als technologische Basis nennt er das Tailored Fiber Place mentVerfahren (TFP). Dabei werden bevorzugt feinste Metall drähte als Sensormaterial verarbeitet. Diese Systeme können je nach Anwendung auf Dehnung, Temperatur, Berührung, Feuchtigkeit oder Füllstand eingestellt werden. Mit TFP werde das textile Trägermaterial sehr gut an die Kunststoffmatrix angebunden, unterstreicht Holg Elsner: „CADgestützt kommt der Sensor exakt auf die richtige Position des Halbzeugs und die speziellen Anwendungen eignen sich für Kleinserien sowie Einzel anfertigungen.“ Das seien die klaren Vorteile, verglichen mit den konventionellen Sensoren auf Folienbasis.
Aufgebracht in Tankbehältern, auf den Flügeln von Windrädern oder auch in Estrichschichten messen sie exakt Füllstände, mechanische Belastungen oder Feuchtigkeit. Und weil hier noch immer Forschungsbedarf besteht, der erstmal Geld kostet und noch nicht ganz so viel einbringt, zeigt der Geschäftsführer auf sein 2. Arbeitsgerät: „Mit dieser Dreh und Fräsmaschine bauen wir Prototypen für Werkzeuge, die von
Sensoren sind eine Wundertüte
Es sind diese Momente, die nicht planbar, aber machbar sind. Genau zu dieser Zeit kämpfte die Textilindustrie in Sachsen für einen Neustart. Mit besseren Maschinen, moderner Technologie und Textilien, die man im Auto oder im Flugzeug brauchte. Natürlich kannte Holg Elsner auch die Spitzenstickerei aus Plauen. Und verliebte sich bei Tagungen und Workshops diverser Forschungsvorhaben in eine Idee – in seine Idee: Sensoren einfach auf das Werkstück sticken. Diese kleinen Wunder, die fast alles messen, was messbar ist. Die heute nicht mehr wegzudenken sind aus Industrie, Auto und Haushalt. Mit dem rasenden Fortschritt des 21. Jahrhunderts sind sie heute so winzig, dass sie in eine Sticknadel passen würden.Seine Geschäftsidee war geboren, erste Patente wurden angemeldet und die neue Firma bekam den passenden Namen: Lightweight Structures Engineering GmbH – LSE. Die Firma ist eine Ausgründung der TU Chemnitz, wo Elsner noch immer aktiv forscht. Ohne die er wohl diesen Schritt nicht gewagt hätte. Aus dem Konstrukteur wurde der Geschäftsführer. Elf Mitarbeiter in Chemnitz und Dresden hat sein Unternehmen heute.
Zu einer ersten spektakulären Anwendung wurde die „twallPLUS“. Gemeinsam mit der IMM GmbH aus Mittweida und dem Kompetenzzentrum Strukturleichtbau (SLB) der TU Chemnitz entwickelte das LSETeam die Aktionsfrontplatte mit den vielen bunten Lichtern, die ihren Weg in die ersten REHAEinrichtungen bald fand. Möglichst schnell sollen die Patienten auf die aufleuchtenden Lichter reagieren und per Handdruck löschen. Brauchte man bisher vor allem Kraft, geht es dank der gestickten Sensoren unter der Aktionsplatte nun um Schnelligkeit und Sensibilität. Elsner mit seiner LSE gehört inzwischen als Zulieferer der Kunststoffverbundplatte mit den aufgestickten Sensoren zum Konsortium.
Zarte Drähte auf Textilien
Holg Elsner öffnet die schwere Stahltür. Dann bleibt er kurz stehen, sein Lächeln blickt in die riesige Halle des ehemaligen „HeckertKombinats“. Heute mutet sie an wie ein Großraumbüro für KMU und Startups. Stellwände grenzen die Betriebsflächen gegeneinander ab, bieten Sicht, aber nicht Hörschutz. Für Elsner ist diese Situation ideal – Vorhang auf und Spot an: „Hier stehen meine wichtigsten Arbeitsgeräte. Und beide haben schon nach wenigen Jahren ihr Geld verdient.“ Stolz zeigt er auf seine japanische Stickmaschine, die so umgerüstet wurde, dass sie heute anstelle hauchdünner Stofffäden nun noch dünnere 0,05 Millimeter zarte Drähte zum Beispiel auf technische Textilien stickt. Die so entstehenden Muster sehen fast genauso kunstvoll aus wie die weltberühmte Plauener Spitze. Aber mit einer genialen Funktion: „Diese aufgestickten Sensoren schmiegen sich fast unsichtbar, aber passgenau beispielsweise in Kunst und Faserverbundstoffe ein“, lobt Holg Elsner seine Innovation.
meinem Team in Dresden entwickelt wurden und die in absehbarer Zeit wohl bei Porsche und Airbus eingesetzt werden.“
Ein Ritterschlag für Holg Elsner, der sein Unternehmen gern auch mal als „Gemischtwarenladen“ betitelt: „Meine Firma lebt natürlich von einem intensiv genutzten Netzwerk zu wissenschaftlichen Einrichtungen, vor allem in Chemnitz und Dresden, sowie HightechFirmen. Aber auch davon, dass ich ganz bewusst Quereinsteiger in mein Team geholt habe, die ausgetretene Wege langweilig finden und frische Strecken suchen.“
Dieser Plan atmet Zukunft. Weil Elsner sich nicht zufrieden gibt mit dem Status quo. Weil er Neues finden will. Und dabei immer wieder auf Interessantes stößt. Zum Beispiel in Chemnitz‘ Partnerstadt Akron in Ohio – die Hochschulen beider Städte erforschen Kunststoffe als einen Schwerpunkt: „Also knüpfen wir Kontakte hinüber und bauen eine neue Chemnitzer Brücke!“, skizziert Elsner und schiebt hinterher: „Wir sind doch tolle Hirsche. Wir können doch was! Würden die Amerikaner sagen.“ Er selbst könnte es nicht besser ausdrücken.
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Aufgestickte Sensoren messen die Dehnung der Rotorblätter von Windrädern (Bild S. 46 oben) und warnen bei Schäden am Seitenaufprallschutz (Bild Seite 46 unten).
Holg Elsner (links) und Henrik Zopf prüfen die Qualität frisch gestickter Sensoren (Bild unten).
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sondern aus epistemischer Notwendigkeit: weil zweckrationale Überlegungen das kooperative Verhalten als die bessere Option ausweisen.
Nehmen wir einmal an, dass Wissenschaft als Konkur renzsystem funktioniert. In diesem Falle sollten wir erwarten, dass Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen mit gleicher oder sehr ähnlicher Zielsetzung gegeneinander arbeiten, möglichst im Geheimen, um ihren potentiellen Vorsprung zu wahren. Die „Prämie“ wäre dabei der Beitrag in Science und Nature und der damit einhergehende Gewinn an Reputation, der nur dem Ersten gebührt. Doch das ist nur selten der Fall. Viel häufiger finden sich Strategien zur geschickten Aushebelung des Wettbewerbs. Offene, direkte Konkurrenz, so der Wissen schaftsforscher David Edge, gibt es in der Wissenschaft vor allem – und möglicherweise ausschließlich – unter sehr spezifischen Bedingungen. Dies ist etwa der Fall, wenn sich in einem Bereich nur wenige relevante Forschungsfragen stellen, deren Bearbei tung vergleichsweise kostengünstig erfolgen kann (also etwa keine Großgeräte erfordert). In weiten Teilen der übrigen Wissenschaft findet man im Gegenteil das Bemühen, genau diesen Wettbewerb zu vermeiden. Dies suggerieren auch einschlägige LängsschnittStudien zu so unterschiedlichen Feldern wie PhotosyntheseForschung und Astrophysik. Die Akteure setzten auf komple
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Für Außenstehende erscheint die Tour de France als klarer Wettkampf „Jeder gegen jeden“, und nur einer wird am Schluss gewinnen. Untersucht man aber die Dynamik
genau er, liegen dem Geschehen feste Absprachen und Kon ventionen gegenseitiger Unterstützung zugrunde. Zu sehen ist dies etwa beim Windschattenfahren im Pulk, wo eigentlich konkurrierende Fahrer abwechselnd, in festgelegter Abfolge die Führungs arbeit gegen den Wind leisten. Situationen dieser Art gibt es nicht nur im Radrennsport: Konkurrenz und Kooperation, die meist als Gegensätze gedacht werden, treten häufig in spannungsvoller Gleichzeitigkeit auf – auch in der Wissenschaft.
Dass Konkurrenz wesentlicher Teil der Wissenschaften ist, erfahren wir jeden Tag. Zuweilen gilt der Wettbewerb gar als eigentlicher Motor des wissenschaftlichen Fortschritts. Die „Prämie“ dieses Wettbewerbs wurde dabei im Laufe der Zeit varia bel definiert: von der Erstentdeckung bis zum Streben um Macht und Einfluss – der aktuelle Wettbewerb, so eine verbreitete Einschätzung, dreht sich in erster Linie um Geld. Vergessen wird dabei oft, dass weite Bereiche der Wissenschaft dazu neigen, kooperativ zu handeln und kompetitive Situationen zu minimieren (ohne sie ganz vermeiden zu können). Das geschieht nicht etwa deswegen, weil Wissenschaftler und Wissenschaft lerinnen dem Rest der Gesellschaft moralisch überlegen sind,
Warum Forscher zusammenarbeiten müssenÜber das Verhältnis von Kooperation und Konkurrenz in den Wissenschaften. Eine Außenansicht von Kärin Nickelsen
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mentäre Methoden, wodurch direkte Konkurrenz vermieden wurde; und sie pflegten den informellen Austausch sowie die ausführliche Diskussion von Zwischen ergebnissen. Diver gierende Befunde konnten darauf hindeuten, dass eine Gruppe richtig lag und die andere falsch; dann bemühte man sich um gegenseitige Laborbesuche, bei denen beide Seiten gemeinsam um die für richtig befundene Variante rangen – und diese wurde dann gemeinsam publiziert.
All dies lässt sich weitgehend utilitaristisch begründen. Durch strikte Geheimhaltung beraubt man sich der Möglichkeit, im Austausch wesentliche Hinweise von anderen zu bekommen; Konfrontation statt Kollaboration bei unterschiedlichem Resultat kann den Fortgang der Arbeit unnötig verzögern. Beispiele für diese unangenehmen Konsequenzen finden sich
leicht. So war etwa die Arbeitsgruppe des Astrophysikers Martin Ryle in Cambridge bekannt dafür, sich kommunikativ zu isolieren. Die Gruppe war dennoch erfolgreich; so wurden Ryle und sein Kollege Antony Hewish 1974 verdienterweise mit dem Nobelpreis ausgezeichnet. Doch verpassten sie durch ihre strikte NonKommunikation mit anderen Gruppen und Laboratorien etliche Entdeckungen entlang des Weges.
Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen stehen in Konkur renz; doch haben sie nur dann Aussicht auf Erfolg, wenn sie zugleich in kollaborative Strukturen eingebunden sind; und wenn sie auch jenseits dieser Strukturen Normen der Kooperation einhalten. Wie diese Normen jeweils beschaffen sind, welche Bedingungen ihr Einhalten begünstigen (oder gefährden), wie sich die sozialen Interaktionen über die Zeit verändern: dies
Konkurrenz und Kooperation, die meist als Gegensätze
gedacht werden, treten häufig in spannungsvoller
Gleichzeitigkeit auf – auch in der Wissenschaft.
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wird künftig im Rahmen der jüngst bewilligten DFGForschergruppe „Kooperation und Konkurrenz in der Wissenschaft“ in München untersucht. Die Gruppe prüft an Beispielen aus den 1970er bis 1990erJahren, wie man situationsgebunden variabel dem Konfliktpotential im Zusammenspiel von Kooperation und Konkurrenz begegnete. Neben der wissenschaftsinternen Dynamik spielen dabei auch Selbstverständnis und Rollenbilder wissenschaftlicher und wissenschaftspolitischer Akteure eine Rolle, die zunehmende Verflechtung von Wissenschaft, Politik und Ökonomie sowie die Präge oder gar Durchschlagskraft politi scher Konstellationen.
Nicht nur für die Geschichte, sondern auch für die Gegenwart der Wissenschaften sind diese Fragen von höchster Relevanz. Schon die angedeuteten Beispiele zeigen, dass die Entwicklung und Stabilisierung kompetitiver bzw. kooperativer Konfigurationen sich auf Inhalte und Ergebnisse der wissenschaftlichen Arbeit auswirken. Dass es solche Effekte gibt, steht außer Frage. Wie sie beschaffen sind, welche Faktoren und Anreizsysteme sich als produktiv erweisen – wie sich etwa die Instrumente der verschiedenen Exzellenzinitiativen auswirken werden: dies ist alles andere als klar, und genau hier setzt die Arbeit der Forschergruppe an. Wissenschaftshistorische Ansätze, die auf die Interpretation von Akteurshandeln und Deutungsmustern zielen, verbinden sich dabei mit einem kritischaufklärerischen Impetus: Kooperations und Konkurrenzverhältnisse in der Wissenschaft sind situativ auszugestalten; und wissenschaftliche Akteure sollten sich der Konsequenzen ihrer eigenen Entschei dungen in diesem Prozess bewusst werden.
Prof. Dr. Kärin Nickelsen ist Professorin für Wissenschaftsgeschichte an der LudwigMaximiliansUniversität München. Sie lehrt und forscht v. a. zur Geschichte und Philosophie der modernen Biowissenschaften. Für ihre Arbeiten auf diesem Gebiet wurde sie mit mehreren internationalen Preisen ausgezeichnet.Seit 2017 ist sie Sprecherin einer DFGForschergruppe in München zum Thema „Kooperation und Konkurrenz in der Wissenschaft“.
D u r c h b l i c k · K o o p e r a t i o n u n d K o n k u r r e n z
Am 4. Oktober 2017 erreicht das KryoElek tro nenmikroskop den Zenit seines Ruhmes: Seine Entwickler – Jacques Dubochet, Joachim Frank und Richard Henderson – erhalten den Nobel preis für Chemie. In Halle/Saale arbeiten Proteinforscher bereits seit drei Jahren mit der speziellen MikroskopTechnik. Am Zen trum für Innovationskompetenz (ZIK) „HALOmem – membrane protein structure & dynamics“ steht das KryoElektronen mikros kop sogar in einem eigenen Raum, denn mit den Maßen eines Tisch mikroskops hat es rein gar nichts mehr zu tun: Es ist viereinhalb Meter hoch, drei Meter breit und fünf Meter tief. Doch nicht nur seine schiere Größe sichert dem Apparat seit Beginn der 1990erJahre die Aufmerksamkeit der Fachwelt: Damals gelang es erstmals, die dreidimensionale Struktur eines Proteins in atomarer Auflösung darzustellen.„Die Innovation besteht darin, dass Biomoleküle mitten in ihrer Bewegung von einer extrem dünnen Wasserschicht ummantelt und dann bei etwa minus 170 Grad Celsius schock gefroren werden. So bleibt ihre natürliche Struktur erhalten“, erklärt Milton T. Stubbs, der Direktor des ZIK HALOmem. 1975 konnte Richard Henderson mittels Elektronen mikros kopie den ersten 3DBlick auf ein Membranprotein wer fen. Joachim Frank gelang es, aus zweidimensionalen Aufnahmen des Elektro nenmikroskops dreidimensionale Strukturen abzuleiten. In den 1980erJahren erfand Jacques Dubochet schließlich eine Techno logie, die das Wasser im Biomolekül so schnell abkühlt, dass es sich in seiner ursprüng lichen Form verfestigt.
Im Blick der Pharmaforschung
Inzwischen untersuchen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaft ler auf der ganzen Welt atomare Strukturen mit Hilfe des KryoElektronenmikroskops. So konnten sie unter anderem das ZikaVirus analysieren oder auch die Struktur von Proteinen, die Anti biotikaresistenzen auslösen. Am Halleschen Protein for schungs zentrum betrachten die Forscher Membran proteine in ihrem natür lichen Zustand und treiben so die anwendungsorientierte Grundlagenforschung voran. Milton T. Stubbs und sein Team inter essieren sich etwa für Membranrezeptoren, die die Ver arbeitung von Licht, Geruchs und Geschmacksreizen beeinflussen und eine entscheidende Rolle bei Entzündungs prozessen und Zell wachstum spielen. „Diese Gruppe an Membranrezeptoren waren bislang für kryoelektronenmikroskopische Methoden zu klein“, erklärt Stubbs. „Durch neueste Weiterentwicklungen kon nte vor kurzem auch die Struktur eines GPCRKomplexes aufgeklärt werden.“ Die Pharmaforschung hat diese Entwicklungen bereits fest im Blick.
Was ist eigentlich ein Kryo-Elektronen mikroskop?
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Raumfüllend und wegweisend: Das KryoElektronenmikroskop am ZIK HALOmem in Halle (Saale).
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„Für einen Lübecker ist ein Leben ohne Marzipan zwar denkbar, aber nicht erstrebenswert. Ich habe fast immer Marzipan im Büro. In unserer Region ist Marzipan quasi Grundnahrungsmittel und ein Geschenk für Gäste, das immer sehr gut ankommt.“„Mehr als 70 Fachvorträge an zwei Tagen –
deshalb ist der Übersichtsplan auch so groß. Auf unserem Inno vations forum Krankenhaus 4.0 diskutierten rund 300 Vertreter von Krankenhäusern, medizinischen und informationswissenschaftlichen Fakultäten und der Indus trie, welche Ideen und Konzepte aus dem Bereich Industrie 4.0 in die Pro duktionsorte für Gesundheit – die Krankenhäuser – übertragen werden können.“
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Mein Schreibtisch + ich
Dr. Raimund MildnerDr. Raimund Mildner ist Geschäftsführer
der UniTransferKlinik Lübeck. Der promovierte Diplomvolkswirt und
Diplomsozialwirt kümmert sich vor allem um die regionale Vernetzung von Hoch
schulen, Kliniken und Unternehmen in gemeinsamen Technologieprojekten.
Im Oktober 2017 organisierte die UniTransferKlinik zusammen mit der
Universität und dem Universitätsklinikum SchleswigHolstein das Innovationsforum
Mittelstand „Krankenhaus 4.0“.
„Unser Campus in Lübeck ist zwar nicht allzu groß, aber die täglichen Wege zu den Instituten und Kliniken kosten am Ende doch Zeit. Deshalb fahre ich immer mit dem Klapprad direkt bis in die Büros. Das Rad ist sehr praktisch und begleitet mich auch auf vielen Segeltouren.“
„Das sind meine drei Söhne als kleine Jungs und heute. Mein Interesse für informations und medizintechnische Themen im Kontext neuer Geschäftsmodelle hat sie anscheinend doch irgendwie beeinflusst: Einer hat bereits am Campus promoviert, der zweite ist in die wissenschaftliche Projektarbeit eingestiegen. Mein dritter Sohn lebt in Australien.“
„Ich genieße sehr die Nähe zum Wasser. Manchmal fahre ich nach Feierabend mit dem Motorrad noch raus zu meinem Segelboot in Travemünde und mache eine kleine Tour. Beim Motorradfahren wie beim Segeln kann ich sehr gut abschalten.“
„Das Gemälde ist ein Geschenk von Norbert Guldner. Er war hier am Uni ver si tätsklinikum Professor für Herz chirur gie und ist nun emeritiert. Wir sind seit 30 Jahren befreundet und uns verbinden viele gemeinsame Projekte in Lübeck.“
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Unternehmen Region – die BMBFInnovationsinitiative Neue Länder
Der Ansatz von Unternehmen Region beruht auf einer einfachen Erkenntnis: Innovationen entstehen dort, wo sich Partner aus Wirt schaft und Wissenschaft, Bildung, Verwaltung und Politik in Innova tionsbünd nissen zusammenschließen, um die Wertschöpfung und Wettbewerbsfähigkeit ihrer Regionen zu erhöhen. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) unterstützt regionale Kooperationsbündnisse dabei, ein eigenes zukunftsfähiges technologisches Profil zu entwickeln und konsequent die Stärken und Potenziale ihrer Region zu nutzen und auszubauen. Kernstück jeder regionalen Initiative ist eine klare Inno vations strategie, die von Anfang an auf die Umsetzung der neu entwickelten Produkte, Verfahren und Dienstleistungen im Wettbewerb ausgerichtet ist.Unternehmen Region umfasst die folgenden Programme:• InnoRegio (1999 bis 2006)• Innovative regionale Wachstumskerne mit Modul WK Potenzial• Innovationsforen (2001 bis 2016)*• Zentren für Innovationskompetenz• InnoProfile mit InnoProfileTransfer• ForMaT (2007 bis 2013)• Zwanzig20 – Partnerschaft für Innovation
Für die Förderung von Unternehmen Region stellt das BMBF in diesem Jahr rund 161 Mio. Euro zur Verfügung. Aufgrund der Erfahrungen und Erfolge mit dem Programm „Innovationsforen“ hat das BMBF im Juli 2016 für ganz Deutschland die Förderinitiative „Innovationsforen Mittelstand“ aufgelegt. Auf Unternehmen Region basieren ebenso die Initiative „Innovation und Strukturwandel“ und das Pilot programm „WIR! – Wandel durch Innovation in der Region“.
Weiterführende Informationen
Weiterführende Informationen zur BMBFInnovations initia tive Neue Länder im Internet unter www.unternehmen-region.de• Porträts und Profile
der regionalen Initiativen• Aktuelle Nachrichten
rund um „Unternehmen Region“• Publikationen zum
Downloaden und Bestellen
Ansprechpartner
Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) | Referat Regionale Innovationsinitiativen; Neue Länder11055 Berlin | Tel.: 030 18575273 | Fax: 030 185785273 | info@unternehmenregion.deProjektträger Jülich – PtJ | Zimmerstraße 26–27 | 10969 BerlinTel.: 030 20199482 | Fax: 030 20199400DLR Projektträger, Deutsches Zentrum für Luft und Raumfahrt e.V.RosaLuxemburgStraße 2 | 10178 Berlin | Tel.: 030 67055481 | Fax: 030 67055499
Diese Publikation wird als Fachinformation des Bundesministeriums für Bildung und Forschung kostenlos herausgegeben. Sie ist nicht zum Verkauf bestimmt und darf nicht zur Wahlwerbung politischer Parteien oder Gruppen eingesetzt werden.
ImpressumHerausgeberBundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF)Referat Regionale Innovations initiativen; Neue Länder11055 Berlin
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StandDezember 2017
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Redaktion und GestaltungPRpetuum GmbH, Münchenredaktion@unternehmenregion.de
BildnachweiseTitel, Seiten 3, 22: Photocase/knallgrünS. 2: Presse und Informationsamt der Bundesregierung, Steffen KuglerSeiten 2, 11, 12: Andreas StedtlerS. 4: AUDI AGS. 5: GFZ, Agri Con GmbHSeiten 6,7: RESPONSESeiten 8, 9, 10: Peter WinandyS. 13: iStock/zorazhuangS. 18: PTB BraunschweigS. 19: TU IlmenauS. 20: PTB BraunschweigS. 21: fotolia/scusi, iStock/bubaone, iStock/danleapS. 24: iStock/PogoniciS. 25: Designed by Freepik/eigene DarstellungS. 26: plainpicture/Hero ImageS. 27: BTU CottbusSenftenberg, Innovationsforum CURPAS, fotolia/fotoliaxrenderS. 28: GKZ FreibergS. 29: FZUS. 30: Marco WarmuthS. 32: Fotolia.com/frank peters, iStock/DaveAllanS. 33: STORNETICS. 34: Gert MothesS. 35: Gert Mothes, iStock/royyimzy, eigene DarstellungSeiten 49/50: iStock/ClerkenwellS. 50: Markus Scholz für die LeopoldinaSeiten 50/51: Maike Glöckner / MLUSeiten 52/53: privatalle anderen Fotos: BMBF/Unternehmen Region/Thilo Schoch, Berlin
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