Winter 1968
13 bis 14 Meter Schnee misst der Strassenmeister Josef Gisler im Lawinenwinter
1968 auf dem Urnerboden. 2.90 Meter gesetzten Schnee. Eines Morgens kann
Gustav Gisler, Schreiner und Maurer im Weiler Mättenwang, die Haustüre nicht mehr
öffnen. Er ist vollkommen eingeschneit, die Schneedecke reicht bis zum ers ten Stock
seines Hauses. Gustav Gisler nimmt aus seiner Werkstatt eine Schneeschau fel, steigt
aus dem Stubenfenster und schaufelt zwei Stunden lang, bis er wieder durch die
Türe ins Haus gelangen kann. Dann holt er die Polaroidkamera, fotografiert sein Haus
und legt das Foto zu den anderen Bildern in ein Kartonschächteli.
Auf der Glarner Seite haben Lawinen in den Fruttbergen die Strasse meterhoch
verschüttet. Die Verbindung nach Linthal ist drei Monate lang unterbrochen – der
Urnerboden abgeschnitten. Das ist nichts Aussergewöhnliches. Man ist darauf vor -
bereitet, hat sich im Herbst mit Vorräten eingedeckt. Die Post wird mit dem Heli ins
Tal geflogen, wenn die Strasse wegen Lawinengefahr gesperrt bleibt. 1968 le ben
102 Personen ganzjährig auf dem Urnerboden, einer Alpsiedlung mit Kirche, Schule,
Post, Bank, Bäckerei, Gasthäusern und Vereinen. Es fehlt einzig die wintersichere
Verbindung nach Linthal. Um auf dem Boden zu leben und zur Arbeit zu pendeln,
um den Tourismus zu fördern und um die Abwanderung zu stoppen.
Überleben auf der Alp
1843 sind 12,8 Prozent der Urner Bevölkerung armengenössig, sind also auf Unter -
stützung durch die öffentliche Hand angewiesen. Die Geburtenrate steigt. Die Bevöl -
kerung wächst jährlich bis 1850 um 0,4 Prozent, während Nahrungsmittelproduktion
und Wirtschaft stagnieren. Viele wandern aus, nach Glarus, nach Russland, nach
Amerika. Schwere Lawinenwinter und neun Überschwemmungskatastrophen zwi schen
1824 und 1860 zerstören Häuser, Wuhren, Strassen, Allmenden und All mend gärten.
Allein die Überschwemmungen vom Herbst 1839 schädigen über 1000 Familien.
Die Armenpflege Altdorf empfiehlt das Sammeln einer Flechte – Isländisches Moos
als «nährendes, Hunger stillendes Produkt». Ein Auskommen für Arme bietet die
Nutzung der Allmenden und Alpen. Die Allmen den stehen allen Bürgern der Korpo -
ration Uri offen. Sie dürfen ihre Ziegen auf die «Höhenen» treiben, steile und meist
nur in den Sommer- und Herbstmonaten schnee freie Geissweiden. Im Gegensatz
zum Grossvieh ist für den Auftrieb von Schmalvieh kein Alprecht erforderlich.
Der reformierte Pfarrer und Sozialreformer aus Linthal, Bernhard Becker (1819–1879),
fordert die Öffnung der Allmenden für verarmte Arbeiterfamilien, damit sie Kleintiere
halten und Gemüse anbauen können. In seinem 1865 erschienenen Buch «Die All -
mein de, das Grundstück zur Lösung der socialen Frage, gestützt auf schwei zerische
Verhält nisse» schildert er seine Eindrücke vom Urnerboden: (...) «Rinder und Kühe,
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Wenn einernichts hatte, ging er auf den UrnerbodenNaturkatastrophen, Hunger, Armut und Überbevöl kerungzwingen arme Geissbauern-Familien um 1850 in immer höhereLagen, um zu überleben. Die Nutzung der Allmenden ist ihreChance.
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Schafe und Schweine, Geissen und Hühner, alles durcheinander grasend, Hirten in
blossen Hosen und Hemden und nichts oder nur Holzböden an den Füssen, Häus -
chen und Ställchen von bloss aufeinander gewälzten Baumstämmen, Weiden mit
Bächen und Bächlein durchflossen, Brücken ohne Bretter, Halden mit Schutt über -
deckt und nicht gereinigt. (...) Der Mensch sei nicht dazu bestimmt, zeitlebends über
ein halbfaules Stück Holz zu gehen, das man als Brücke über einen sumpfigen Bach
geworfen, der träge durch Torfland schleicht, und wenn das Glas an den Fenstern
zerbrochen, dass man es mit einem schmutzigen Papier oder einem Brettstückchen
not dürftig überdecke.»
Um den 11. November, dem Martinstag, kehren jeweils die Schächentaler Bauern mit
kleineren Viehbeständen auf den Urnerboden zurück, um dort Holz und Streue zu
sammeln und dieses kurz vor Weihnachten ins Schächental zu mennen. Das Urner
Wochenblatt berichtet 1878 in der Januarausgabe Nr. 1 von einem Menne zug:
«Schächenthal (einges.) Heimkehr vom Ennetmärcht. (...) Die Meisten hatten diesmal
nur wenig Vieh mitgenommen, etwa ein Rind zum Ziehen und eine Kuh für den
Leben s unterhalt der Familie. Gewöhnlich waren mit diesem Zuge keine ausserorden t -
lichen Strapazen verbunden; heuer lief die Ennetmärchler Kolonie aber Gefahr in
grosse Noth zu geraten, denn der Weg über den Klausen musste zu wiederholten
Malen mit grosser Mühe aufgebrochen werden. Das Wetter war so ungestüm, dass
man bereits Kummer und Besorgnis hatte, nicht mehr zurückzukommen, ehe der
Heuvorrath, der in einigem Wildheu bestand, aufgezehrt sein werde. Drei bis vier
Tage schneite und ‹gugste› es unaufhörlich; die Schneemasse war derart bedeutend,
dass man sich kaum vor die Hütte wagte und an ein Wegbahnen für die Heimkehr
zu den lieben Seinigen denken konnte. (...) Zwanzig bis dreissig Mann fingen mit
Schneeschaufeln an, brauchten aber 2 volle Tage, bis sie den Klausen erreichen
konnten, immer unter Aufwendung aller Kräfte und unter Lawinengefahr. Am 3. Tage
brach die Kolonie auf, schon bei Tagesanbruch, voraus die kräftigsten Männer, dann
das beste Vieh. Vom Schächenthal kamen zirka 30 Männer entgegen, die den Weg
über die Balm bahnten. So gelang es endlich mit unsäglichen Mühen in 12 bis 14
Stunden das Schächenthal zu erreichen, die Ersten etwa 8 Uhr, die Letzten etwa um
10 oder 11 Uhr abends. (...) Mit Holz und Streue aber war es diesmal nicht weit her
und was gesammelt wurde, ist wohl das teuerste, so derlei im Kanton verkauft wird.»
Immer mehr Schächentaler Bauern bleiben mit ihren Familien und Tieren nach
dem Mennen auf dem Urnerboden, obwohl es gemäss Landbuch von Uri 1823,
Artikel 391, verboten ist, «sich auf den Alpen Ennetmärcht länger als bis Weihnacht
au f zu halten oder Heu vor dem Weissen Sonntag zu hirten». Der Regierungsrat will
die Wintersperre auf dem Urnerboden aufrechthalten, aus religiösen, schulischen,
gesund heitlichen und alpschonenden Erwägungen. Wer zurückbleibt, «soll durch
Amtsleute abgeholt und zu gebührender Strafe und Ahndung gezogen werden».
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1853 werden zehn Personen von Spiringen und Unterschächen, die auf dem Urner -
boden zurückbleiben, an das Bezirksgericht Uri überwiesen. Trotz dieser Massnah-
men überwintern in den 1870er-Jahren immer mehr Menschen auf dem Urnerboden.
Wohnrecht durch Bundesratsentscheid
Ab 1877 dürfen Ziegenbauern von Spiringen ohne eigene Heimwesen ganzjährig auf
dem Urnerboden wohnen. Erkämpft haben sich dieses Recht 21 Personen, unter
ihnen Karl Brücker, der am 8. Juni 1877 durch den Fürsprech Heinrich Baumann aus
Alt dorf Beschwerde beim Bundesrat einreicht. Sie berufen sich auf den Artikel 45
der revi dierten Bundesverfassung von 1874: «Jeder Schweizer hat das Recht, sich
innerhalb des schweizerischen Gebietes an jedem Ort niederzulassen, wenn er einen
Heimat schein oder eine andere gleichbedeutende Ausweisschrift besitzt». Der Bun -
des rats entscheid vom 12./23. Oktober 1877 gibt den Beschwerdeführern Recht: (...)
«2. Solange nicht eine richterliche Verfügung gegen die Rekurrenten vorliegt, kann
ihre Wegweisung vom Urnerboden während der Winterszeit polizeilich nicht statt -
finden. Dieser Artikel kann nicht die Tragweite haben, Grundrechte des Schweizer -
bürgers, wie dasjenige der freien Niederlassung an jedem Orte (Art. 45 der Bundes-
verfassung) aufzuheben. Joachim Heer, Bundespräsident und Johann Ulrich Schiess,
Bundeskanzler.»
Der Schattdorfer Lehrer und Chronist des Urnerbodens, Karl Gisler (1919–1995),
notiert später die Namen der Personen, welche zur Zeit der Beschwerde an den
Bundesrat 1877 auf dem Urnerboden wohnten: «Brücker Karl, Mättenwang;
Gisler Josef (Michel-Marie-Peters); Gisler Michael, Spitelrüti; Mattli, Port bei Kapelle;
Arnold Johann, Kappeler; Gisler Peter (mein Grossvater); Arnold Karl, obersten Wang
(Steinbergler).»
Wenn einer nichts hatte, ging er auf den Urnerboden. Hier konnte er sich und seine
Familie mit wenig durchbringen. Mit der eigenen Alphütte und ein paar Geissen,
die er als Geissbauer ohne eigenes Land auf die Allmend treiben durfte. Im Sommer
sammelte er Wildheu, das Winterfutter für die Tiere, im Winter konnte er mit Holzen
etwas Geld verdienen.
Hans Müller, 1948 auf dem Urnerboden geboren, Kantonsarbeiter
Kühe der Armen
Rund 300 Ziegen besitzen die Winterbewohner des Urnerbodens um 1880. Die Ziege
gilt als die Kuh der Armen, ist widerstandsfähig, genügsam, kostet nicht viel, liefert
Milch, Käse und Fleisch. Die Ziegen werden im Sommer in zwei hoch gelegene Geiss -
weiden getrieben. Im Frühling fressen die Ziegen das erste frische Gras, bevor die
Älpler im Sommer mit ihren Kühen auf dem Urnerboden das Gras nutzen. Das gibt
Streit zwischen den Kuhbauern aus dem Tal und den armen Geissbauern auf dem
Urnerboden. Die vielen Geissen fressen im Frühling den Kühen das frische Gras weg,
behaupten die Älpler. Einige klagen, die Alpvögte nützen nichts, und fordern, man
solle nach der Schneeschmelze Polizisten auf dem Urnerboden plat zieren und die
Geissen vertreiben. Am 20. Juni 1885 entgegnet ein Korrespondent aus dem Schä -
chental im Urner Wochenblatt: «Zur Raubwirtschaft auf dem Urner boden.(...)
Will man die armen Geissbauern nun einfach henken? Jedermann weiss, dass viele
arme Familien beinahe das ganze Jahr hindurch hauptsächlich vom Nutzen einiger
Geis sen sich ernähren. Thatsache ist es auch, dass der Arme für seine Geissen
ver hält nismässig soviel oder noch mehr Auflag bezahlt als der Reiche für seine Kühe.
Und doch will man die Geissen des Armen nirgends mehr dulden. Im Wald dürfen
sie nicht sein – da fressen sie die ‹Grotzen›, auch in der Thalebene dürfen sie nicht
sein – da weiden die Kühe das beste Gras vorweg; an den Halden dürfen sie auch
nicht sein – dort lassen sie Steine an und gefährden das Rindvieh. Kurz, die Geissen
soll ten an einer Felswand angenagelt oder 5 Fuss unter der Erde begraben sein.
Der Rei che dagegen darf mit 10 bis 20 Kühen die besten Alpenplätze benutzen,
so lange ein Halm steht. Ist das billig und recht? Die Armen sind gewiss gerne bereit,
ihre paar Geisslein auf die Seite zu schaffen, wenn die Grossbauern mit ihnen im
Herbst den Alpnutzen theilen wollen.»
Ein Dorf wird gebaut
Alexander Muheim-Furrer baut 1899 das Hotel Willhelm Tell und Post, das grösste
Gebäude auf dem Urnerboden. Ab 1. Februar 1900 ist die Postablage das ganze Jahr
offen. Am 10. Juni 1900 fahren die ersten fünfspännigen Pos t kutschen über die neu
eröffnete Klausenpassstrasse. Die Attraktivität des Urner bodens steigt mit der Eröf f -
nung des Klausenpasses: um 1900 leben in 47 Haus hal tungen 164 Menschen.
1905 erscheint der Touristenführer «Hochalpine Grüsse vom Urnerboden», heraus -
gegeben vom Hotelier Alexander Muheim-Furrer. Er beschreibt darin die Menschen
auf dem Urnerboden: «Diese Älpler sind ein biederes Hirtenvolk, einfach nach alter
Vätersitte. Etwas misstrauisch wie alle diese Leute, sind sie dem Fremden gegen-
über anfänglich verschlossen, werden aber bald zutraulich und sind dann recht unter -
haltend und plauderlustig. Die den Winter auf dem Urnerboden zubringen, sind fast
alle arm und entsprechend ist ihr körperlicher Unterhalt: Kartof feln, Käse, Polenta,
seltener etwas Schweinefleisch, Kaffee ohne Milch, dafür mit Branntwein – das ist
das tagtägliche Wintergericht. Besser wird’s erst im Frühling, wenn die Ziegen wieder
ihre kräftige Milch bieten.»
Dringliche Probleme stellen sich der wachsenden Bevölkerung: Der Urnerboden hat
keine Schule und keinen Friedhof. Die Kinder müssen im Winter in Spiringen zur
Schule, auch wenn sie monatelang von ihren Eltern getrennt bleiben. Die Verstorbenen
können nicht auf dem Urnerboden beerdigt, sondern müssen über den Klausen
gebracht werden. Das Urner Wochenblatt berichtet am 29. April 1905: «Letzten Mon -
1514
tag ist hier Herr Otto Walker-Zwyssig, Besitzer des Gasthauses zum ‹Urnerboden›
gestorben. Ein Schlaganfall bereitete dem Leben des erst 39-jährigen Mannes ein
unerwartet schnelles Ende. Herr Walker, ein gebürtiger Solothurner, war früher Beam -
ter an der Gotthardbahn, übernahm das Gasthaus auf dem Urnerboden, wel ches er
mit seiner tüchtigen Gattin gut führte. Zwei Winter wirkte er als Lehrer. Der Transport
der Leiche über den verschneiten Klausen bedurfte bei den jetzigen schwierigen
Schneeverhältnissen der grössten Kraftanstrengung von 16 Mann. Die Beerdigung
fand in der Heimatgemeinde der Gattin, in Seedorf, statt. Er ruhe in Frieden.»
Das Verhältnis zu Spiringen ist angespannt: Die Urnerbödeler wollen endlich eine
eigene Schule, eine eigene Kirche und einen eigenen Friedhof. Nach ersten Vor stös -
sen 1894 gehen ab 1. Oktober 1899 die ersten Kinder auf dem Urnerboden zur
Schule. Am 22. September 1902 wird der Urnerboden per Dekret durch den Bischof
von Chur, Msgr. Johannes Fidelis Bataglia, zur ständigen Kaplanei erhoben. Der
Kap lan wird für den Schuldienst verpflichtet. 1905 bewilligt die Urner Regierung die
Durchführung einer Lotterie für den Neubau der Kirche. 1913 findet die erste Beer di -
gung auf dem neuen Friedhof statt, und 1915 wird die Kirche durch den Bischof von
Chur eingeweiht. Die Alpsiedlung Urnerboden ist nun ein Dorf mit Kirche, Schule,
Bäckerei und fünf Gasthäusern.
Für viele Personen ist der Urnerboden um 1900 nur Durchgangsstation. Sie wandern
aus in den Kanton Glarus, wo sie als Knechte auf Bauernbetrieben oder in einer der
zahlreichen Stoffdruckereien und Baumwollspinnereien Arbeit finden. In der Zwi schen -
kriegszeit 1918–1939, geprägt u. a. von konjunkturellen Einbrüchen in der Textilin dus -
trie und dem Preiszerfall in der Landwirtschaft, suchen Menschen erneut Zuflucht auf
dem Urnerboden. 1935 leben hier ganzjährig 250 Personen, so viele wie nie zuvor.
Jeden Winter ist der Urnerboden während sieben bis acht Monaten vollkommen von
der Aussenwelt abgeschnitten. Der Kontakt zum übrigen Kantonsteil wird aufrecht -
erhalten. Anfang Jahr berichten jeweils die Urnerbödeler im Neujahrsbrief, der im
Urner Wochenblatt abgedruckt wird, über die Ereignisse des vergangenen Jahres:
«Neujahrsbrief vom Urnerboden, 1941. Schon seit Jahren hat Urnerboden sein Neu -
jahrsbrieflein gesandt, und es darf dankend erwähnt werden, dass es von Seite der
betreffenden Redaktionen immer wohlwollend aufgenommen worden ist. Nun steht
der Urnerboden dieses Jahr unter dem Eindruck eines furchtbaren Lawinen unglücks
und dieser und jener Leser, den der Briefschreiber zu kennen glaubt, mag vielleicht
angenommen haben, dass dies Jahr der genannte Neujahrsbrief ausbleibt. Dem ist
nicht so. Wohl hat uns die Schreckensnacht vom 12. auf den 13. Dezember den
Scherz und das Lachen aus Mund und Feder verdrängt, aber Schweigen dürfen wir
nicht. Denn gerade jene grausige Schreckens nacht und die folgenden Tage haben
uns zu Dank gegen Gott und Nebenmenschen verpflichtet, der nicht in leeren, unge -
die Gulispur. Biathlon-Mannschaften aus den USA, aus Eng land, Australien, Neu see -
land, Schweden, Italien und aus der DDR trainieren nun auf dem Urnerboden.
Internationale Biathlon-Wettkämpfe werden durchgeführt. Im Januar und Februar 1976
trainieren um 20000 Läufer auf der Gulispur. Die Lager- und Ferienhäuser sind bis auf
den letzten Platz besetzt.
Wegziehen oder bleiben?
Es gibt Arbeit bei den grössten Arbeitgebern im Kanton Glarus, bei der Kunststoff
Schwanden und bei der Electrolux, aber auch im Detailhandel, im Tourismus und bei
Gewerbebetrieben. Die tagelangen Sperrungen der Strasse wegen Winterstürmen
und Lawinenniedergängen verunmöglichen das Pendeln. Wegziehen oder bleiben?
Immer mehr Menschen verlassen endgültig den Urnerboden. Denn neben der Land -
wirtschaft gibt es nur für wenige Personen Arbeit: als Servier tochter, Strassenmeister,
Pöstler, Lehrer, als Gelegenheitsarbeiter, im Schneebruch, als Holzer oder als Tag -
löhner zum Beispiel für den Bau des Zuleitungsstollens des Linth-Limmern-Kraft-
werks von der Chlus nach Linthal (1960–1963).
Der Kanton Uri versucht mit Heimarbeit die Abwanderung einzudämmen und baut
1971 Baracken bei der «Sonne», bezahlt die Transportkosten für die Fertigung von
Militär artikeln oder für die Montage von Elektro-Rechauds. Darüber berichtet am
15. Mai 1971 das Urner Wochenblatt: «Vor rund 30 Jahren nahm sich die Paten-
schaft für bedrängte Gemeinden des Urnerbodens an und sorgte über den Migros-
Genossenschaftsbund für eine Heimarbeit im Winter. Dieser Arbeit – man schnitzte
Holzschuhe (Urner Bödeler) – war leider kein langes Leben beschieden. So musste
man sich wieder mit Holzen, Schneeschöpfen, Jassen und Warten begnügen. Eine
Familie um die andere nahm Abschied, und von den übrigen, die zurückblieben,
zogen vor allem die Jungen aus. (...) Unsere Familien bekamen die Teuerung auch zu
spüren. In der Welt draussen blühte die Konjunktur, die Jagd nach Arbeitskräften.
Unsere Jungen erhielten verlockende Angebote. Wer will es ihnen und den abwan -
dernden Familien verargen, dass sie zugreifen? So kam es, dass im Winter 1969/70
zeitweise nur noch aus 27 Kaminen Rauch aufstieg, und der Lehrer bloss 15 Namen
in das Urnerboden-Schülerverzeichnis eintragen konnte. (...) Mit der Inbetriebnahme
dieser Heimarbeitswerkstätte ist ein langgehegter Wunsch – Zusatzverdienst auf dem
Urnerboden – endlich Wirklichkeit geworden.» Die Auftrags lage ist aber schwankend.
Oft gibt es wochenlang keine Arbeit.
1973 kauft der Altdorfer Gustav Marty das Hotel Tell und Post. Als ehemaliger Fourier
hat er Beziehungen zum Militär und holt Gebirgs infanterie- und Artilleriekompanien
für Wiederholungskurse auf den Urnerboden. Die Mannschaften schlafen im umge -
bau ten Rossstall, die Offiziere in Hotels. Vom Militär profitieren alle: die Gasthäuser,
die Bäcke rei und die Frauen, die als Aushilfspersonal in den Restaurants arbeiten.
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schriebenen Worten seinen Ausdruck finden darf. Dank allen gebührt Gott dem All -
mächtigen, der aus dem Trümmerhaufen von 3 kläglich zerschmetterten Woh nun gen,
in denen 14 Menschenleben der Nachtruhe pflegten, noch 10 Menschen verhäl t nis -
mässig nur leicht verletzt hervorgehen liess.» Für andere kommt jede Hilfe zu spät.
Vier Menschen sterben bei der schlimmsten Naturkatastrophe auf dem Urnerboden:
Frau Witwe Katharina Müller-Gisler und drei Kinder des Josef Schuler-Walker, Alois,
Anton und Katharina. Die Beerdigung der Opfer findet am Montag, den 16. Dezem ber
1940, statt. Verwandten und Bekannten ist es wegen Lawinengefahr nicht mög lich,
auf den Urnerboden zu gelangen und am Begräbnis teilzunehmen. Der Regie rungs -
rat entschädigt die Hinterbliebenen aus dem Ertrag der Liebesgaben sammlung.
1942 baut die Caritas mit Freiwilligen, den «Radiokameraden», Wasserleitungen und
ein Kleinkraftwerk. Die Urnerbödeler müssen pro Stecker und Lampe für die Instal -
lation einen einmaligen Betrag von 20 Franken bezahlen. Im Winter leiden die Bewoh -
ner unter Wassermangel, und öfters fällt deshalb der Strom aus. Bügeleisen, Kocher
und Heizöfen werden im Herbst vorsorglich eingesammelt.
Aufschwung nach dem Krieg
Staudämme, Kraftwerke, Bahnen, Strassen, Seilbahnen, Hotellerie, Wohnungen:
in der Schweiz wird die Infrastruktur ausgebaut. Vollbeschäftigung, Hochkonjunktur.
Gut ausgebaute Sozialwerke, insbesondere die 1947 eingeführte staatliche Alters-
und Hinterlassenenvorsorge AHV und die Arbeitslosenversicherung, bilden ein trag -
fähiges soziales Netz. Einkommen und der allgemeine Wohlstand steigen. Die Schweiz
entwickelt sich in den Sechzigerjahren zur Wohlstandsgesellschaft. Arbeit im Tal
oder in den städtischen Zentren eröffnet neue Möglichkeiten für die ländliche Bevöl -
kerung und fördert die Abwanderung aus den Berg gebieten: Auch die Urnerbödeler
wollen etwas verdienen, eine Lehre beginnen, am wachsenden Wohlstand teilhaben.
Die Bevöl kerungszahl auf dem Urnerboden sinkt konstant. 1960 leben 127 Personen
ganzjährig auf dem Urne r boden.
Erstmals wird die Strasse Urnerboden–Linthal im Winter 1956/57 offengehalten.
Otto Walker, Hotelier und Transportunternehmer vom Gasthaus Urnerboden, hat
einen Schneepflug angeschafft. Auf dem Urnerboden glaubt man an eine Zukunft
der Ganzjahressiedlung: 1960 Strom auf dem ganzen Boden, 1960 Gründung der
Schneefräsengenossenschaft, 1961 Eröffnung des neuen Schulhauses, 1964 Neu bau
Gasthaus Sonne, 1966 Neubau Gasthaus Urnerboden. Vereine werden gegrün det:
1965 Samariter, 1966 Feuerwehr, 1967 Verkehrsverein. Bei Olympischen Winter spielen
1966, 1968 und 1972 gewinnt der Einsiedler Alois Kälin als erster Schweizer in den
nordischen Disziplinen drei Medaillen. Die Begeisterung ist gross, Langlaufen ist im
Trend. Rechtzeitig hat der Verkehrsverein ein neues Snowmobil gekauft. Otto Walker,
Besitzer des Gasthauses Urnerboden, präpariert zwölf Kilo meter Langlaufloipe,
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auf lange Sicht keine Chance. Beim Wintertourismus zeichne sich schon heute eine
«rückläufige Entwicklung» ab. Und «bei vielen älteren Leuten auf dem Urnerboden
sei totale Resignation festzustellen, weil sie nach 40 oder mehr Jahren gar nicht
mehr daran glauben, dass die wintersichere Zufahrt kommt» (Urner Wochenblatt,
15. März 1980). Der streitbare Alois Späni, seit 1972 Kaplan, Tourismusförderer und
Journalist, will die wintersichere Verbindung erkämpfen, herbeischreiben.
Die Glarner Nachrichten berichten: «Am 16. Oktober 1977 feiert der Urnerboden
100 Jahre Wintersiedlung, 75 Jahre Kaplanei und 200 Jahre Glockenweihe. Der Fest -
gottesdienst wird vom Bischof von Chur, Johannes Vonderach, gehalten. Die Regie -
rung von Uri, in corpore, und der Glarner Landammann H. Meier und Regierungsrat
F. Fischli, der Spiringer Gemeinderat und eine Abordnung des Linthaler Gemeinde-
rats sind anwesend. Am Bankett werden Tischreden gehalten: Kaplan Alois Späni
spricht ‹witzig, beschlagen, dem Tag zuliebe jedoch nur mit gedämpfter Angriffigkeit›.
Landammann Arnold holt recht weit aus, damit nicht allzuviel über die Gegen warts -
probleme gesagt werden muss. Die Klausenstrasse bedürfe des weitern Aus baues,
was Stück für Stück gemacht werde, ‹und das gleiche werden gewiss auch die
lieben Nachbarn tun. Also: Geduld und schön eins ums andere.› Der Glar ner Land -
ammann Meier wirbt um Verständnis für die glarnerische Haltung. Die Priorität im
Strassenbau gelte dem Ausbau Bilten–Linthal und der wintersicheren Zufahrt für
3000 Bewohner des Kleintales. Trotzdem werde die Klausenstrasse nicht vergessen,
figuriere sie doch jedes Jahr im Strassenbauprogramm.» Jahrelang haben der Kanton
Glarus und der Kanton Uri das Projekt aus Kostengründen hin- und hergeschoben.
1978 werden fünf englische Soldaten von der Staldenlawine verschüttet, vier sterben.
«Urnerboden: dem Untergang geweiht?» «Wird der Urnerboden bald nur noch im
Sommer bewohnt?» «Ohne wintersichere Zufahrt gibt es keine Zukunft.» Solche
Schlagzeilen mag der Kaplan Alois Späni nicht mehr lesen. Er verlässt den Urner -
boden 1981: die Realisierung der wintersicheren Strasse, für die er sich jahre lang
eingesetzt hat, ist auf unbestimmte Zeit verschoben. Trotzdem glauben viele Winter -
bewohner weiterhin an eine Zukunft auf dem Boden, wenn die wintersichere Verbin -
dung endlich gebaut würde. 1983 präsentiert der Urner Regierungsrat eine Studie
über die geplanten Schutzmassnahmen (Galerien und Tunnel) zur Sicherung der
Strasse Urnerboden–Linthal und die Verbauungen im Gebiet des Rietstöckli, des
Anrissgebiets der Stalden- und der Fruttlaui. Die meisten Winterbewohner hätten
lieber einen Tunnel nach Unterschächen. Sie wissen aber, dass diese Variante aus
Kostengründen eine Utopie bleiben wird.
Im Januar 1985 werden arktische minus 30 Grad gemessen. Das Schweizer Fern -
sehen besucht für die Sendung «Karussell» den Urnerboden und berichtet in einer
mehrteiligen Serie über das Leben der «Schweizer Eskimos». Die Strasse ist gesperrt,
Umfassende Investitionen
In den Siebzigerjahren werden im Sommer 1200 Kühe und 700 Rinder auf den
Urnerboden getrieben. Die Alpwirtschaft rentiert. Der Milchpreis ist hoch. Die Milch
wird zentrifugiert, der Rahm in den Kanton Glarus exportiert, die entrahmte Milch
über den Pass nach Uri geliefert. 1973 haben die Älpler und die Winterbewohner eine
Flurgenossenschaft gebildet für die Realisierung der «umfassenden Alpverbesserung
Urnerboden». Viele Oberstafel sind kaum erschlossen, die Seilbahnen veraltet und
die Häuser ohne fliessendes Wasser. Noch müssen die Winterbewohner das Wasser
in Kübeln vom Brunnen ins Haus tragen oder bei Wasserknappheit wochenlang
Schnee schmelzen. «Im Endausbau genügt das Wasserversorgungsnetz 1600 Gross -
vieh einheiten sowie 1000 Personen im Sommer und 300 Personen und 200
Grossvieheinheiten im Winter», schreibt die Gotthardpost am 19. Juli 1975.
Für 1,5 Millionen Franken (finanziert durch Bund, Kanton, Korporation Uri, Winter -
bewohner und Alp genossen) werden in vierjähriger Bauzeit die vier veralteten lokalen
Wasser ver sor gungen ersetzt. 15 Kilometer Wasserleitungen werden gelegt. Alle
Winterbewohner und Älplerfamilien haben im Juli 1979 fliessendes Wasser. Die Infra -
struktur der Alpwirt schaft wird mit weiteren Projekten für 25 Millionen Franken,
verteilt auf 30 Jahre, erneuert und ergänzt: Bau der Wannelenseilbahn, Ersatz von
Warenseilbahnen (Läcki, Firnen und Oberalp), Bau von Erschliessungsstrassen
(Heidmannegg, Mettenen-Butzli, Oberbalm, Unterbalm), Bachverbauungen (Fätsch -
bachkorrektion), Verbauung von Rüfenen (Sulzbachrüfe, Mättenwangrüfe, Salibach-
rüfe, Hergers flüe-Ribi), Entwässerungsanlagen, Hütten- und Stallsanierungen,
zen trale Dünger- und Tränkanlagen. Vorbedingung des Bundes ist die Unterteilung
des Urnerbodens in drei Weidkreise. Am 1. Juli 1979 setzt der Bundesrat das Gesetz
über Bewirtschaftungsbeiträge an die Landwirtschaft in Kraft. Betriebe mit erschwer -
ten Produk tionsbedingungen werden ab 1980 mit Flächen- und Sömmerungs bei -
trägen unterstützt.
1973 kaufte ich das Hotel Tell. 26 Jahre war ich Hotelier. In dieser Zeit war die Strasse
nach Linthal oft gesperrt. Inzwischen hat der Kanton Glarus die Strasse lawinensicher
ausgebaut. Kanton und Korporation Uri wollen die Strasse weiter offen halten.
Gustav Marty, 1973–1996 Besitzer des Hotels Tell und Post, Urnerboden
Wintersichere Verbindung
Die wintersichere Verbindung bleibt das dringendste Anliegen. «Die Strecke Linthal–
Urnerboden braucht vorerst einen Tunnel und zwei Galerien; dann ist sie ungefähr
so wintersicher wie die Schöllenen. Dann können Männer und Frauen morgens zur
Arbeit und abends zurück zu ihren Familien; dann können die Buben und Mädchen
nach Glarus in die Seki oder ans Gymnasium; an die Haushaltungsschule oder
Gewerbeschule», schreibt Kurt Zurfluh im Urner Wochenblatt 1974. Der Hotelier
Gustav Marty gibt der Wintersiedlung bei «gleichbleibender Erschliessungssituation»
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Heute ist der Strukturwandel in der Landwirtschaft so weit vorangeschritten, dass
junge Schächentaler Bauern zusätzliche Landflächen kaufen oder pachten können.
Die Alp kann zur Belastung werden.» Weil immer weniger Alp personal auf dem
Urner boden zur Verfügung steht, organisiert Stadler mit Toni Marty, dem Sekretär der
Alpgenossenschaft Urnerboden, unermüdlich Freiwillige und den Zivilschutz, um
zusammen mit den Älplern die Weiden von Steinen zu säubern, Unkraut auszureis-
sen oder Wan derwege zu unterhalten.
Die Familien Walker, Besitzer des Gasthauses Urnerboden und Transportunternehmer,
setzen mit Erfolg auf den Tourismus: 2001 Eröffnung der Seilbahn auf den Fise ten -
grat, 2004 Eröffnung des Wander-Schlittelweges, 2011 Anschaffung eines neuen
Pistenfahrzeugs. Otto und Markus Walker sind zuständig für den Winterdienst der
Strasse Urnerboden–Linthal, präparieren Langlaufpiste, Schlittelweg und Hunde trail
und entwickeln zusammen mit dem Verkehrsverein Urnerboden ständig neue Ideen
zur Tourismusförderung – von der Projektidee über die Finanzierung bis zur Rea lisie -
rung. Ihr Engagement ist nicht wirkungslos: Mehr Langläufer, Schlittenhundesportler,
Eiskletterer, Schlittler, Snowboarder und Tou renfahrer besuchen den Urnerboden.
Den Urnerboden aufgeben und der Natur überlassen, das wollen wir nicht. Um unsere
Infrastruktur zu halten und zu verbessern, dürfen wir nicht stehenbleiben. Wir haben
gelernt, dass wir uns selber helfen müssen.
Markus und Otto Walker, Gasthaus Urnerboden und Transportunternehmer
Wieder Winter
Ein Sturm – der Gux. Böen treiben den Schnee quer über die verschneite Hoch-
ebene. Weiss, überall weiss. Wo sind die Häuser? Wo die Strasse? Der Pflug taucht
auf, tastet sich entlang der schwarzgelben Schneestangen vorsichtig Richtung Lin -
thal, drückt den verwehten Schnee von der Strasse, verschwindet Sekunden später
im undurchdringlichen Weiss. Kaum jemand wagt sich nach draussen. Der älteste
Winterbewohner, der 93-jährige Schreiner und Maurer Gustav Gisler, nimmt aus
seinem Sekretär ein Karton schächteli. Darin hat er rund 30 Fotografien aufbewahrt.
Sie dokumentieren sein Leben. Ein Foto ums andere legt er auf den Tisch: Eine Bau -
stelle, seine Frau, Fasnacht, eine Alphütte, Blumenkränze auf dem Friedhof, sein
Haus im Winter 1968: Eine violett-rosa verblichene Polaroid-Foto grafie. «So viel
Schnee hatten wir damals. Die Schneedecke reichte bis zum ersten Stock meines
Hauses. Vom 3. Januar bis zum 1. April 1968 waren wir abgeschnitten. Die Alten
erzählten uns, dass in den 1860er-Jahren in einem Winter nur zwei Perso nen auf
dem Urnerboden lebten. Einer im Unterst Wang und einer auf dem Port, drei Kilo -
meter auseinander. Sie haben sich den ganzen Winter nie gesehen.»
Christof Hirtler
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Post und Nahrungsmittel werden mit dem Helikopter ins Tal geflogen. Die winter -
sichere Verbindung nach Linthal ist das Thema der Reportage, auch für den Hotelier
Gustav Marty: «Für den Urnerboden wünschte ich mir, dass der jahre lange Kampf für
den Fortbestand der Siedlung nicht umsonst war. Jeder weitere Fortbestand steht
und fällt mit einer besseren Erschliessung im Winter. Das möchte ich dem Urnerboden
wünschen, ich hoffe, ich erlebe es noch.»
Am 4. Mai 1986 werden von der Landsgemeinde in Glarus 18 Millionen Franken
gesprochen für Verbauungen im Bereich der Stalden-, Balm- und Fruttlaui. Die win -
tersichere Verbindung Urnerboden–Linthal ist mit der Fertigstellung der Stalden -
galerie 1996 gebaut. 40 Jahre nachdem Otto Walker mit dem Pflug die Strasse im
Winter 1956/57 erstmals offen hielt. Im Neujahrsboten für das Glarner Hinterland,
Jahrgang 1998, schreibt der Chronist des Urnerbodens, Beat Gisler, ein paar Zeilen:
«Ein Wunschtraum des Urnerbodens hat sich erfüllt: Die gefürchtete Stal denlaui wird
schon im Winter 1996/97 über eine Galerie hinwegfegen und keine Menschen mehr
bedrohen.» Das Pendeln ist jetzt möglich. Die Wegzüger kommen jedoch nicht mehr
zurück. 2001 leben noch 56 Personen auf dem Urnerboden, Schule und Post werden
geschlossen. 2003 wird die Kaplanei nicht mehr besetzt.
Chance Tourismus
Kann die Wintersiedlung auch in Zukunft weiter bestehen? Wird der Urnerboden
wieder Alp wie vor 1877? Werden kommende Generationen weiterhin bereit sein,
sich für den Urnerboden einzusetzen? Im Papier «Neue Regionalpolitik im Kanton Uri
NRP – Umsetzungsprogramm 2008–2011» schreibt die Volkswirtschaftsdirektion des
Kantons Uri über den Urnerboden: «Hohe Erschliessungs- und Infrastrukturkosten,
Überalterung, kritische Perspektiven. (...) Das Halten der heutigen Situation bean -
sprucht sehr viele Ressourcen und Energie. Wie die Gespräche mit Gemeinde- und
Regionsvertretern im Rahmen des Projektes ‹Potenzial arme Räume› zeigten, sind
innovative, unternehmerisch orientierte Persönlichkeiten, die in der Lage sind, Poten -
ziale zu erkennen, aufzugreifen und in marktfähige Produkte und Dienstleistungen
umzusetzen, entscheidend.»
2012 leben 27 Personen auf dem Urnerboden. Kerstin Herger, Winterbewohnerin,
Bäuerin und Mutter zweier Kleinkinder, zählt auf: «Ds Grindligers, ds Simigers,
dr Heiri Hansi, dr Gwerder, dr Poscht Beat, ds Poscht Vreni, ds Zilliger Marili,
dr Päutschä Richard, dr Hermaniger Guscht, ds Butzligers, ds Sunnigers, ds Walkers,
dr Stählin Hans vom Klausen und ds Herrmanns von der Sonne.»
Peter Stadler, Präsident der Alpverbesserungskommission Urnerboden, äussert sich
kritisch: «Vor 15 Jahren hätte man nie geglaubt, dass eine Alp verkauft wird. Die Alp
war die notwendige Erweiterung zu den flächenmässig kleinen Heimbetrieben.
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Acht Kinder schliefen oben in der Kammer, in vier Betten. Das Kleinste war nachts bei denEltern im Stubli – im wärmstenRaum. Mutter heizte den ganzenTag, Vater hatte Schnee an dieHauswände gepflastert. Das isolierte. Ambros Arnold, Bauer und Älpler, Bielenhofstatt, Unterschächen
Butzligers. Grindligers.Heiri Hansi. Gwerder Josef.Hermaniger Guscht.Herrmanns. Karis Vreni.Päütschä. Poscht Beat.Poscht Vreni.Stählin Hans.Simigers. Sunnigers.Walkers. Zilliger Marili.
Nachfolgende drei Bildseiten:
Der pensionierte Strassenmeister und Winterbewohner Hans Gisler auf dem Heimweg zu seinem Haus im Mättenwang.
Winterdienst Strasse Urnerboden–Linthal.
Riedrüti nach einem Schneesturm.
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Mä hed eppä gwisst, was äs vertlytGustav Gisler
Ich wurde am 1. März 1919 in Erstfeld geboren. Bis ich sechs Jahre alt war, wohn tenwir im Winter in Erstfeld und im Sommer waren wir auf dem Urnerboden z Alp.1925, in der Zeit der Wirtschaftskrise, zogen meine Eltern mit uns Kindern auf denUrnerboden.
In der Schule auf dem Urnerboden hatten wir ein wenig Rechnen und Schrei-ben, andere Fächer wie Zeichnen gab es nicht. Ich lernte nicht so gerne, aber imSchriftlichen war ich gut. Wir hatten immer nur halbtags Schule, jeweils am Vor-mittag und nur im Winter. Vom 1. Oktober bis Anfang Mai. Beim Kaplan Gislerlernten wir Rechnen, da war er ausgezeichnet, aber von anderen Dingen verstander nicht viel. Eine Lehre habe ich nie gemacht.
Gäld isch dr ganz Winter ä käis iggangä. Es war oft so, dass wir nur noch20 Franken im Haus hatten. Viele Familien konnten die Lebensmittel nicht bezah-len und sie mussten im Laden anschreiben lassen bis im Frühling. Nach derSchneeschmelze konnte man in den Fritteren scheenä. Das gab 13 oder 14 FrankenTaglohn, und die Schulden bei der Bäckerei Gisler konnten beglichen werden.
Im Winter hatten wir eine Kuh und ein paar Geissen. Den Sommer über nah-men wir acht bis neun Kühe z Leen und wir mussten gäisserä. Mit unseren 180 Geis-sen mussten wir schattenhalb in die Geissweiden Richtung Gemsfairen. Im Früh-ling konnten wir die Geissen schon im April weiden lassen. Auf dem Boden gab esdann bis 400 Geissen. Nicht nur von den Winterbewohnern, sondern auch vonBauern ennet dem Pass. Wenn die Schächentaler bei Glarner Bauern die Weidenschönten, nahmen sie ihre Geissen mit.
Arbeit und etwas Verdienst gab es das ganze Jahr. Den Winter über ging ich insHolz und arbeitete als Schreiner. Im Summer han i nur ghäiwet, da bin i Püür gsy.Dahiä hèmmer eppän äs Plätzli gha, äs Ryttäli, und eppä säx oder sibä Gäiss. D Fräüw hed äs paar Hiänder und ä Süü gha. Eppän annä 34 bis annä 44 bin ich imWildhäiw gsy, ännet em Fisetägraat. Vom 10. August bis Anfang Oktober waren 50 bis 60 Wildheuer in den Planggen. Sogar Honig hatten wir selber: Ich ha 68 Jaarbyyjelet und hatte bis zu zehn Bienenvölker. Im Herbscht hèmmer alligs äs Süüligmetzget und eppis Obscht ikälleret, wo mä züächä gchäüft het. Neben dem Gar-ten, in dem wir ein bisschen Gemüse pflanzten, hatten wir weitere Pflanzplätze mitKartoffeln. Wir assen Poläntä und Fläischsuppä. Das Leben war einfach und trotz-dem schön. Man war frei, war nicht unter Druck wegen der Arbeit.
Im Oktober 1957 war ich unterwegs zu Geissen, die sich im Gebiet des Cha-merstocks in den Felsen verstiegen hatten. Ich stieg höher und höher, bis ich dieGeissen unter mir entdeckte. Ich wollte sie nach unten treiben. Lief über einschmales Felsband. An einem Felsvorsprung blieb ich hängen, verlor das Gleichge-wicht und stürzte 18 Meter ab. Da isch dunnän äs Tanndli gsy, ich bi i diä Eschtappäghyt und dè hets mi üff ä Stüüdä duräggriärt. Drum han ich nit äson ä hèrtäSchlag bèrcho. Susch wäär ich nimmä daa. 18 Meter. Sie haben es nachher nochgemessen. Ich musste drei Wochen nach Rapperswil ins Spital. Noch heute habeich Schmerzen im Rücken davon. Besonders am Morgen. Ich muss jeden Tag denRücken einreiben. Der Arzt wollte mich schon in ein Pflegeheim schicken. Aber ichkann mir selber helfen. Mit einem Bürstchen kann ich die Salbe auf meinemRücken einmassieren.
Ich habe mindestens 20 Wachstuchhefte mit Wetteraufzeichnungen seit den1950er-Jahren. Einmal kamen die Meteorologischen und nahmen ein paar Heftemit, die sie mir nicht mehr zurückgegeben haben. Jetzt fehlen mir zwei oder dreiJahre. In diese Hefte habe ich auch eingetragen, welche Arbeiten ich tagtäglicherledigt habe. Ich lese immer wieder darin und kann mich darum auch an so vieles,was früher war, erinnern.
Jeden Tag habe ich etwas zu tun, es wird mir nicht langweilig. Ich gehe andert-halb Kilometer zu Fuss ins Dorf zum Einkaufen. Ich arbeite in meiner Werkstatt,schnitze Kerzenhalter in Form von Tulpen. Sie sind fast in jeder Alphütte zu fin-den. Auch die kaputten Fenster bringen sie mir noch heute zum Glasen.
Ich bi dr äinzig, wo daa pliibän isch. Miär sind fyyf Büäbä gsy und äis Mäitli:Hans, ich, Franz, Walter, Sepp und Anna. Franz und Walter wurden Dach decker,Sepp Spengler, Hans Bauer und später Kirchensigrist in Erstfeld. Von unsererFamilie leben nur noch der Sepp und ich.
In den Zwanzigerjahren waren bis zu 190 Personen auf dem Urnerboden, etz simmèr eppä 24 oder 25 Stuck. Im Mättenwang lebten früher 30 Personen, jetztsind wir nur noch vier, die das ganze Jahr da sind. Das sind der ehemalige Strassen -meister und seine Frau, und än Altledigä, der Müller Richard, und ich.
Gustav Gisler, 1919 geboren in Erstfeld, wohnt seit 1925 im Mättenwang auf dem Urnerboden. Er war Bauer, Holzer, Schreiner, Glaser und Baumeister von über 100 Gebäuden. Bild: Gustav Gisler in seiner Schreinerwerkstatt im Mättenwang.
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Vor meiner Heirat baute ich mein Haus. Es war das erste. Im Winter habe ichdas Holz aus dem Wald geholt und bearbeitet. Mid em Biäl gschnätzet. Die Schrei-nerarbeiten musste ich alle von Hand machen, erst um 1960 gab es hier Strom.Auch die Fenster habe ich selber gemacht. Wasser hatten wir schon seit 1944 imHaus, dank der Wassergenossenschaft Mättenwang. Und dè hani agfangä Sanitärmachä, eppän uberall hani miässä Wasserläitigä machä und flickä. Danach bekamich Jahr für Jahr immer mehr Aufträge, etwa für den Bau von Alphütten. Die Plänemachte ich selber. Mä isch ds ganz Jaar da gsy, da het män eppä gwisst, was äs vert-lyt, wiä starch äs müäss syy fir ä Winter. Wie bei den Gebäuden in der Vorfrutt, dieden ganzen Winter meterhoch mit Schnee zugedeckt sind. Beim Bau des HotelsUrnerboden hatte ich ein paar Arbeiter, sonst war ich immer allein. Meist hat derArbeitgeber mitgeholfen. Maschinen gab es keine. Nur Schaufel und Pickel. Mitder Bauerei war es nicht einfach. Die Leute hatten kein Geld und ich musste manch-mal jahrelang warten, bis ich mein Geld bekam. Besser wurde es erst, als mir derBund das Geld für die Subventionsställe direkt auszahlte. Hier auf dem Bodenhabe ich acht Häuser gebaut: zwei für Walkers auf dem Port, darunter das Restau-rant Urnerboden, zwei beim Hotel Tell, zwei im Mättenwang und eines im Argseeli.Haus und Stall. Im Ganzen baute ich über 100 grössere und kleinere Gebäude.
Ich bin noch heute fasziniert von der Technik, habe immer gerne getüftelt. Ander Fasnacht habe ich jeweils mit meinen Erfindungen die Leute verblüffen kön-nen. Als es noch keinen Strom auf dem Urnerboden gab, produzierte ich schonStrom mit meiner Erfindung. Ich sass für die Leute unsichtbar in einer Holzkisteauf meinem Horäschlittä und brachte mit Hilfe von Riemen, Velorädern und einemDynamo eine Velolampe zum Leuchten. Auch die Dängel-Maschine, die mehrereSenseblätter «selbstständig» mit einem Hammer bearbeiten konnte, verblüffte;und niemand konnte sich so recht erklären, warum der Hammer schlägt und diäMässer äso gaant.
Am 12. Dezember 1940 hat eine gewaltige Lawine den Weiler Hintere Hüttenzusammengeschlagen. 14 Menschen wurden verschüttet, vier Menschen starben.Ich habe die Särge aus rohem Holz von Hand gehobelt. Die Telefonleitung nachLinthal war zerstört. Wegen der Lawinengefahr konnten wir erst am Sonntag, fünfTage nach dem Unglück, Rettungskräfte alarmieren. Fast eine Woche war vergan-gen, kein Mensch wusste, was hier passiert war. Es war das schlimmste Lawinen-unglück auf dem Urnerboden.
1945 kamen Anna und ich in eine Lawine. Es war am Fasnachtsdienstag, einemspiegelheiteren Tag. Anna und ich hatten zu wenig Holz und stiegen im Mätten-wang die Planggen hoch – da löste sich unmittelbar über uns eine Lawine. Wirwaren beide im Staub. Meine Frau, im dritten Monat schwanger, erlitt einenSchock. Ich musste sie auf dem Horäschlittä nach Hause bringen. Das Kind gingverloren. Von diesem Unglück hat sich Anna nie mehr erholt. Ich durfte nie mehrmit ihr darüber sprechen. Wir blieben kinderlos.
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