Dialog im „Club der Jugend und Sportler“ in Riesa
WERNER-HEISENBERG-GYMNASIUM RIESA
Zeitzeugen sprechen 2012 über die Wendezeit 1989/90 in
Riesa – De-Konstruktion von Zeitzeugengesprächen
Besondere Lernleistung
Marina Keil, 12/2
Betreuerin: Prof. Dr. Sylvia Mebus
Riesa, Schuljahr 2012/2013
2
3
Inhalt
1. Einleitung 4
2. Historischer Abriss über die politische Entwicklung 1989/90 6
2.1 Die DDR – ein demokratischer Staat? Einblick in die gesellschaftliche
Situation vor Beginn der politischen Wende 6
2.2 Politische Entwicklungen in der DDR von 1989 bis zu den
Volkskammerwahlen am 18.03.1990 am Beispiel der Stadt Riesa 11
3. Zeitzeugen erinnern sich – Gespräche mit Bürgern der Stadt Riesa über die
Wendezeit 1989/90 14
3.1 Vorstellung der Zeitzeugen 14
3.2 Was sind Zeitzeugengespräche? 16
3.3 Prinzip des Leitfadeninterviews – Struktur der Gespräche 17
4. De-Konstruktion der Zeitzeugengespräche 19
4.1 Darlegung der Arbeitsmethode 19
4.2 Fokussierung auf Vergangenheit 21
4.2.1 Erläuterungen zur Fokussierung 21
4.2.2 Zeitzeuge 1 21
4.2.3 Zeitzeuge 2 27
4.2.4 Zeitzeuge 3 32
4.2.5 Vergleichende Analyse 38
4.3 Fokussierung auf Geschichte 43
4.3.1 Erläuterungen zur Fokussierung 43
4.3.2 Zeitzeuge 1 43
4.3.3 Zeitzeuge 2 45
4.3.4 Zeitzeuge 3 46
4.3.5 Vergleichende Analyse 47
4.4 Fokussierung auf Gegenwart und Zukunft 49
4.4.1 Erläuterungen zur Fokussierung 49
4.4.2 Zeitzeuge 1 49
4.4.3 Zeitzeuge 2 50
4
4.4.4 Zeitzeuge 3 51
4.4.5 Vergleichende Analyse 52
5. Chronologie der Wendezeit in Riesa 53
6. Vergleich der Ergebnisse mit Darstellungen in wissenschaftlichen
Publikationen und der Presse 55
7 . Fazit 57
8. Anhang 59
8.1 Grafiken 59
8.2 Übersicht der Fragelandschaft 63
8.3 Zusammenfassung der Antworten der Zeitzeugen 66
8.4 Chronologie der Wendezeit 1989/90 76
8.5 Abkürzungsverzeichnis 78
8.6 Literaturverzeichnis 79
8.7 Selbstständigkeitserklärung 81
5
1 Einleitung
Die Jahre 1989 und 1990 sind ein Sinnbild für tiefgreifende Veränderungen und Umbrüche in
der DDR bis zu ihrem Ende. Sie begannen mit der Ausreisewelle im Sommer 1989 und
mündeten über die friedliche Revolution und den Fall der Berliner Mauer im Herbst 1989
schließlich in die ersten demokratischen Volkskammerwahlen seit 19461am 18. März 1990
und zu der damit verbundenen Entscheidung für die deutsche Einheit, die am 3. Oktober des
gleichen Jahres vollzogen wurde.
All diese Ereignisse und Prozesse führten binnen weniger Monate dazu, dass die Fesseln, in
denen sich das geteilte Deutschland ein halbes Jahrhundert nach dem Ende des Zweiten
Weltkrieges befand, gesprengt wurden und ein neuer Weg der Zusammenarbeit und
Kooperation in Europa und in der Welt beschritten werden konnte.
Die Faszination, die von diesen ein einhalb Jahren des Umbruchs ausgeht, hat mich dazu
bewogen, eine „Besondere Lernleistung“ (BeLL)2 zu diesem Thema zu erstellen. Eine solche
Arbeit bietet Schülerinnen und Schülern der Sekundarstufe ll im Freistaat Sachsen die
Möglichkeit, sich, unter Nutzung wissenschaftlicher Forschungs- und Arbeitsmethoden,
intensiv mit einem bestimmten Themengebiet zu beschäftigen. Ich fokussiere dabei auf die
Ereignisse vom Beginn des Jahres 1989 bis zu den Volkskammerwahlen am 18. März 1990 in
der DDR. Dabei werde ich insbesondere die Situation in der Stadt Riesa beleuchten, die ich
mit Hilfe von Zeitzeugengesprächen analysiere. Mittels De-Konstruktion können die
Gespräche näher untersucht werden, sodass diese Methode einen maßgeblichen Bestandteil
meiner Arbeit darstellt. Die De-Konstruktion ist eine historische Kernkompetenz und
bedeutet, die Tiefenstruktur einer historischen Narration, als solche können
Zeitzeugengespräche bezeichnet werden, zu erfassen und begründet zu beurteilen.3 Die
Zeitzeugen formulieren in einem Gespräch stets eine Darstellung über die Ereignisse, die,
1 Freie Wahlen fanden auf dem Gebiet der Sowjetischen Besatzungszone und späteren DDR zwischen 1945 und
1989 im Jahre 1946 nur einmal statt. Danach wurde mittels vorgegebenen Einheitslisten „abgestimmt“. 2 siehe dazu „Das Abitur am allgemeinbildenden Gymnasium“ herausgegeben vom Sächsischen Staatsministerium für Kultus und Sport. 3 Vgl. Schreiber, Waltraud: Mit Geschichte umgehen lernen – Historische Kompetenzen aufbauen, in: Schreiber, Waltraud; Mebus, Sylvia: Durchblicken. Dekonstruktion von Schulbüchern. Themenhefte Geschichte 1. Neuried: arsuna 2006 (2. Auflage), S. 8-17.
6
aufgrund der subjektiven und selektiven Wahrnehmung des Erlebten nicht exakt den
tatsächlichen Geschehnissen entsprechen kann.4
Die in Narrationen festgehaltenen Erfahrungen eines Zeitzeugen sind zunächst historische
Quellen, die für die Re-Konstruktion von Vergangenem aus der Zeitgeschichte unverzichtbar
sind. Jedoch haben die Wenigsten ihre Erfahrungen zeitgenössisch festgehalten, sondern
leben mit ihnen weiter. Die Zeitzeugen deuten und interpretieren bei ihren Schilderungen die
damaligen Ereignisse, wobei spätere Erlebnisse die Erinnerung an die Geschehnisse
naturgemäß beeinflussen. Der Zeitzeuge kann das nicht verhindern und sein
Gedankenkonstrukt nicht sicher von den tatsächlichen Erlebnissen trennen. Somit hat es der
Zuhörer in einem Zeitzeugengespräch mit einer Darstellung der Erfahrungen zu tun – also mit
einer historischen „Narration“ über Vergangenes. Das Problem dabei ist, dass der Zuhörer
oftmals nur die „Narration“ kennt, nicht die tatsächlichen Geschehnisse.5 So kann es
vorkommen, dass verschiedene Zeitzeugen durch ihre eigenen Interpretationen und
Folgeerfahrungen ein und dieselbe Situation auf verschiedene Art und Weise schildern. Es ist
ebenso nicht zu verhindern, dass ein und derselbe Zeitzeuge ein bestimmtes Erlebnis zu
unterschiedlichen Zeiten, vor unterschiedlichem Publikum unterschiedlich darstellt. Die De-
Konstruktion der Zeitzeugengespräche ist ein essentieller Bestandteil meiner Arbeit, um
herauszufinden, an welchen Punkten bzw. Schnittstellen die Interpretationen der Erfahrungen
differieren und wie die Zeit die Erinnerungen in welcher Weise verändert hat.
Meine Arbeit hat das Ziel, zu zeigen, dass Zeitzeugengespräche eine hervorragende und
effektive Möglichkeit sind, um besonders die regionale Geschichte zu verstehen und greifbar
für andere zu machen. Das bedeutet gleichzeitig, die Erfahrungen Riesaer Bürger/innen ins
Verhältnis zu den vorliegenden wissenschaftlichen Erkenntnissen über die Wendezeit,
insbesondere über den Fall der Berliner Mauer zu setzen, um Typisches, aber auch
Besonderes, dieser Region herauszustellen. Meine Besondere Lernleistung soll Aufschluss
darüber geben, wie Personen unterschiedlicher Bereiche des Lebens in Riesa die
Geschehnisse dieser Zeit wahrgenommen haben und heute beurteilen, wie die Bevölkerung
Riesas zu den damaligen Veränderungen stand und welche Ereignisse und Veränderungen das
Stadtbild prägten.
4 Vgl. Schreiber, Waltraud: Zeitzeugengespräche führen und auswerten, in: Schreiber, Waltraud; Árkossy, Katalin: Zeitzeugengespräche führen und auswerten. Historische Kompetenzen schulen. Themenhefte Geschichte 4. Neuried: arsuna 2009, S. 21-28. 5 Vgl. Schreiber, Waltraud: Zeitzeugengespräche führen und auswerten, a. a. O.
7
2. Historischer Abriss über die politische Entwicklung
1989/90
2.1 Die DDR – ein demokratischer Staat? Einblick in die
gesellschaftliche Situation vor Beginn der politischen Wende
Um Zeitzeugengespräche führen und auswerten zu können, ist im Vorfeld eine intensive
Auseinandersetzung mit der konkreten historischen Situation unbedingt notwendig. Sie bildet
das Fundament für die Entwicklung von sachbezogenen Fragestellungen für die
Zeitzeugengespräche und anschließend für eine triftige De-Konstruktion der Gespräche. In
meiner Arbeit werde ich mich folglich mit der Entwicklung der DDR, ihrer Legitimation, vor
allem aber mit den Jahren des Umbruchs 1989 und 1990 beschäftigen.
Nach der bedingungslosen Kapitulation am 8. Mai 1045 wurde im Ergebnis der Potsdamer
Konferenz 1945 das besiegte Deutschland in vier Besatzungszonen der Alliierten eingeteilt;
die DDR ging aus der Sowjetischen Besatzungszone hervor. Der 7. Oktober 1949 gilt als
Gründungsdatum der DDR, da an diesem Tag die vom Volksrat ausgearbeitete und vom
Volkskongress gebilligte Verfassung in Kraft trat. Am selben Tag konstituierte sich der
Volksrat zur „Provisorischen Volkskammer der Deutschen Demokratischen Republik“ als
zukünftiges Parlament, welcher wiederum den Vorsitzenden der SED, Otto Grothewohl, mit
der Regierungsbildung betraute. Nach der Staatsgründung begann bald die Gestaltung der
DDR nach sowjetischem, damals noch stalinistisch geprägtem Vorbild. Begonnen hatte dieser
Prozess schon eher in der stärksten Partei, der SED, die sich 1946 aus KPD und SPD
vereinigte und von inneren stalinistischen Kräften nach dem Vorbild der KPdSU
umstrukturiert wurde. Diese Entwicklung war von innerparteilichen „Säuberungsaktionen“
begleitet.6
Noch vor der Gründung der DDR, bereits am 14.07.1945 wurde die „Einheitsfront der
antifaschistisch-demokratische Parteien“ gegründet7, später umbenannt in die „Nationale
Front der Deutschen Demokratischen Republik“, in der alle Parteien und
Massenorganisationen der DDR unter Führung der SED zusammengeschlossen wurden. Die
SED war die mit Abstand mitgliedsstärkste Partei mit erklärtem Machtanspruch, neben der 6 Pötzsch, Horst: Deutsche Geschichte von 1945 bis zur Gegenwart. Die Entwicklung der beiden deutschen Staaten und das vereinte Deutschland. Olzog-Verlag: München, 2009, S. 106. 7 J. Engelbrecht, W. Maron: Sechzig Jahre Deutsche Geschichte. 1949 – 2009. Aschendorff-Verlag: Münster, 2009, S. 28f.
8
die anderen Blockparteien nur noch eine untergeordnete Rolle spielten. Die Blockparteien
hatten sich hinter die Ziele der SED zu stellen und ihre Arbeit in den Aufbau des Sozialismus
zu stellen.
Die Wahlen zu den Gemeinden, den Kreis- und Landtagen und zur Volkskammer erfolgten
fortan nach Einheitslisten, die von der Nationalen Front aufgestellt wurden. Die Bürger
konnten entweder für oder gegen die Liste stimmen, die Wahl einzelner Personen oder
Parteien war nicht vorgesehen. Daher waren die Wahlen in der DDR keine freien, sondern
Scheinwahlen. Wer die Wahlkabine benutzte, musste mit direkten und indirekten politischen
Repressionen rechnen, da die Vermutung der Ablehnung der Einheitsliste bestand. Die
meisten Wahlberechtigten begrenzten den Wahlvorgang auf das sogenannte „Zettel falten“.
Die so unmarkiert in die Urne eingeworfenen Stimmzettel zählten als Zustimmung zur
Einheitsliste. Offiziell war die Wahlbeteiligung stets sehr hoch, ebenso wie die Annahme der
Einheitsliste.8
Nachdem die Westmächte die sogenannte „Stalinnote“9 vom 10. März 1952 abgelehnt hatten,
wurde der endgültige Aufbau des Sozialismus in der DDR beschlossen. Infolgedessen löste
die SED-Führung die Länder auf; an ihre Stelle traten 14 Bezirke sowie die Hauptstadt der
DDR, Berlin, die absichtlich nicht mit den historisch gewachsenen Grenzen übereinstimmten.
Weiterhin sollten als Reaktion auf die Aufrüstung der BRD bewaffnete Streitkräfte aufgebaut
und außerdem die Landwirtschaft kollektiviert werden.
Schon in den Anfangsjahren der DDR kam es in Folge der Unzufriedenheit der Bevölkerung
mit dem politischen und wirtschaftlichen System zu antisozialistischen Bestrebungen, wie
dem Volksaufstand am 17. Juni 1953. Dieser begann als Protest auf die zehnprozentige
Normerhöhung und schlechte Arbeitsbedingungen in Ostberlin und breitete sich rasch auf die
ganze Republik aus. Im Laufe des Aufstandes traten politische Forderungen immer mehr in
den Vordergrund; der Ruf nach freien Wahlen, der Freilassung politischer Gefangener und der
Einheit Deutschlands wurde laut.10 Die DDR-Regierung verzichtete auf Gespräche mit den
Aufständischen, stattdessen ließ sie sowjetische Panzer auffahren, um den Aufstand
niederzuschlagen.
8 siehe Anlage 1. 9 Die Stalinnote war ein Angebot Stalins zur Wiedervereinigung Deutschlands. Das Angebot war verknüpft mit den Bedingungen, dass Deutschland neutral sein musste und sich in kein westliches Bündnis integrieren durfte. 10 Pötzsch, Horst: Deutsche Geschichte von 1945 bis zur Gegenwart. a. a. O. S. 116.
9
Der Unmut in der DDR-Bevölkerung gegenüber den unzureichenden Befriedigung der
sozialen Bedürfnisse und den politischen Druck zeigte sich auch in dem konstant hohen
Zahlen der DDR-Flüchtlinge in den Westen. Von 1949 bis zum Bau der Berliner Mauer 1961
flohen fast drei Millionen Menschen aus der DDR, vor allem junge und gut ausgebildete
Kräfte.11 Die DDR-Regierung holte sich die Genehmigung der Regierung der UdSSR und der
Warschauer Vertragsstaaten für die Errichtung der Berliner Mauer am 13. August 1961 als
„antifaschistischen Schutzwall“12 und die Verstärkung der allgemeinen Grenzkontrollen.13
Auf diese Weise gelang es der Regierung, das „Ausbluten der DDR“ zu stoppen. Die
Bevölkerung musste sich nun mit dem System arrangieren, nur wenige wagten einen der
immer schwieriger und gefährlicher werdenden Fluchtversuche.
In den Jahren nach dem Mauerbau bemühte sich die DDR-Führung um die Stabilisierung des
Systems, was vor allem wirtschaftliche Veränderungen nach sich zog. Auf dem VIII. Parteitag
der SED im Juni 1971 wurde beschlossen, mehr in die Konsumgüterindustrie zu investieren,
um den Lebensstandard zu erhöhen.14 Trotz einiger wirtschaftlicher Lockerungen im Rahmen
des „Ökonomische System des Sozialismus“ veränderte sich kaum etwas am starren System
der Planwirtschaft, die sich an den vorgegebenen Plankennziffern orientierte und kaum
Innovation und Fortschritt zuließ.
In den 80er Jahren verschlechterte sich der wirtschaftliche Zustand der DDR immer mehr. Mit
der Explosion der Weltmarktpreise für Erdöl und Erdgas entstanden immense
Finanzierungsprobleme im Wirtschafts- und Sozialsystem. Die DDR-Führung wollte die
Preiserhöhung aus Angst vor Protesten nicht an die Bevölkerung weitergeben. Um niedrige
Mieten und Lebenserhaltungskosten zu halten, musste sich die DDR verschulden. Durch
Kredite von Westbanken und der BRD konnte das System vorübergehend stabilisiert werden,
jedoch vertiefte sich die Verschuldung mehr und mehr.15 Mittel für die Modernisierung von
veralteten Fabrikanlagen oder Umweltschutz waren nicht vorhanden. Der technische
Rückstand gegenüber dem Westen vertiefte sich immer weiter.
Für weiteren Unmut in der Gesellschaft sorgte das „Ministerium für Staatssicherheit“ (MfS)16,
kurz „Stasi“. Sie betrachtete sich als „Schild und Schwert der Partei“ – sie sollte den
Machanspruch der SED festigen und sichern. Die hauptamtlichen Mitarbeiter wurden von
11 siehe Anlage 2. 12 Bezeichnung der Berliner Mauer in der offiziellen Propaganda. 13 Pötzsch, Horst: Deutsche Geschichte von 1945 bis zur Gegenwart. a. a. O. S. 165 14 Pötzsch, Horst: Deutsche Geschichte von 1945 bis zur Gegenwart. a. a. O. S. 202 15 J. Engelbrecht, W. Maron: Sechzig Jahre Deutsche Geschichte. a. a. O. S. 106f. 16 Das MfS wurde am 8. Februar 1950 gegründet.
10
inoffiziellen Mitarbeitern unterstützt, die Informationen über ihre Mitbürger und auch
Familienmitglieder sammeln sollten, was nicht selten unter Druck der Staatsmacht geschah.
Es wurden tatsächliche und vermeintliche Gegner des Systems überwacht, sowie potenzielle
oppositionelle Treffpunkte und Gruppen infiltriert. 17
Die Unzufriedenheit der Bevölkerung mit den bestehenden ökonomischen und politischen
Umständen wuchs in den 1980er Jahren stets an und entlud sich schließlich im Jahr 1989.18
Begonnen hatte der Prozess des Aufbegehrens mit den Kommunalwahlen am 7. Mai 1989.
Externe, unabhängige Stimmauszählungen bestätigten die Vermutung, dass Wahlfälschung
betrieben wurde. Das offizielle Ergebnis von ca. 99% Zustimmung zur Einheitsliste konnte
widerlegt werden. Oppositionelle Gruppen und Kirchgemeinden erstatten Strafanzeige gegen
die Wahlfälscher.19
Als weiteres Problem für das Fortbestehen der DDR erwies sich der wieder wachsende
Ausreisestrom vor allem über die seit dem September 1989 für DDR-Flüchtlinge geöffnete
ungarisch-österreichische Grenze. Rund 15.000 DDR-Bürger nutzten ihre Chance, über
diesen Weg in die BRD auszureisen. Viele weitere flüchteten in die Ständige Vertretung der
BRD in Ostberlin und in ihre Botschaften in Prag, Budapest und Warschau, wo sie auf die
Ausreisemöglichkeit hofften. Die DDR-Regierung entschied Ende September in Hinblick auf
den baldigen 40. Jahrestag der DDR, die Ausreise dieser Menschen in Zügen zu genehmigen.
Insgesamt gelangten so rund 200.000 Menschen im Jahr 1989 über die Grenzen in den
Westen.20
In der DDR selbst formierte sich nun eine breite Opposition. Begonnen hat dieser Prozess
Mitte der 80er Jahre, als Michail Gorbatschow in der UdSSR an die Macht kam. Er wollte mit
seiner Politik von Glasnost (Umgestaltung) und Perestroika (Offenheit) das System des
Staatskommunismus reformieren. Viele DDR-Bürger erhofften sich von ihrer Regierung ein
Einlenken auf den Reformkurs, doch die DDR-Führung distanzierte sich eher von ihrem
ehemaligen Vorbild der Sowjetunion.21
Die Stadt Leipzig wurde 1989 zum Zentrum von Demonstrationen. Anfang September
formierte sich nach wöchentlichen Friedensgebeten am Montag ein Demonstrationszug mit
Forderungen nach Bürgerrechten, Meinungs- und Reisefreiheit durch die Innenstadt, deren
17
Pötzsch, Horst: Deutsche Geschichte von 1945 bis zur Gegenwart. a. a. O. S. 108. 18 J. Engelbrecht, W. Maron: Sechzig Jahre Deutsche Geschichte. a. a. O. S. 113. 19 Pötzsch, Horst: Deutsche Geschichte von 1945 bis zur Gegenwart. a. a. O. S. 243f. 20 J. Engelbrecht, W. Maron: Sechzig Jahre Deutsche Geschichte. a. a. O. S. 114. 21 J. Engelbrecht, W. Maron: Sechzig Jahre Deutsche Geschichte. a. a. O. S. 113.
11
Teilnehmerzahlen von Woche zu Woche stiegen.22 Zudem entstanden zahlreiche
oppositionelle Bürgerrechtsgruppen, die ähnliche Forderungen hervorbrachten. Diese blieben
aber nicht im Untergrund, sondern beantragten offiziell ihre Zulassung, die natürlich
abgewiesen wurde. 23Trotzdem erfreuten sie sich großem Zulauf. Sogar die Feierlichkeiten
zum 40. Jahrestag der DDR wurden von Protesten überschattet. Während der Feierlichkeiten
im Palast der Republik in der Hauptstadt der DDR, Berlin, mit geladenen Gästen
demonstrierten davor tausende Menschen für Meinungs- und Reisefreiheit und lobten Michail
Gorbatschow. Dieser symbolisierte mit seinem Reformkurs „Glasnost“ (Offenheit) und
„Perestroika“ (Umgestaltung) in der UdSSR auch in der DDR die Möglichkeit eines
Symbolwandels. Der nun fehlende Rückhalt der Großmacht Sowjetunion für die DDR-
Regierung verschärfte die kritische Situation für eben diese noch weiter, da sich die
Bevölkerung an Gorbatschow orientierte.
22 J. Engelbrecht, W. Maron: Sechzig Jahre Deutsche Geschichte. a. a. O. S. 115. 23 J. Engelbrecht, W. Maron: Sechzig Jahre Deutsche Geschichte. a. a. O. S. 115.
12
2.2 Politische Veränderungen in der DDR von 1989 bis zu den
Volkskammerwahlen am 18.03.1990 am Beispiel der Stadt Riesa
Die tiefgreifenden politischen Veränderungen, die in den Jahren 1989 und 1990 geschahen,
spiegelten sich auch in der Stadt Riesa wider.
Besonders die evangelische Kirche war sehr aktiv. Es sind sowohl Aktivitäten der Jungen
Gemeinde bereits seit 198724 als auch oppositionelle Vorstellungen des Neuen Forums Ende
September/Anfang Oktober unter dem Dach der Kirche bekannt.25 Im Oktober 1989 fanden
die ersten Friedensgebete in der Kirche Riesa-Gröba statt26, auch das Neue Forum veranstalte
hier einige Versammlungen. Die Präsenz dieser Gruppe in Riesa wuchs.27
Ein reges Interesse weckten Podiumsdiskussionen. Eine der größten Veranstaltung fand am
30. Oktober in der Kirchgemeinde Riesa-West statt. Die Vorsitzende des Rates des Kreises
der SED, Bärbel Heym, stellte sich 2000 interessierten Bürgerinnen und Bürgern, die sie
allerdings mit Buhrufen und Pfiffen empfingen.28
Wenige Tage später, am 2. November 1989, fand in der größten Riesaer Kirche, der
Trinitatiskirche, ein Friedensgottesdienst mit Vorstellung des Neuen Forums statt.
Anschließend zogen rund 3000 Teilnehmer in einem friedlichen Demonstrationszug durch die
Innenstadt. Mit Parolen, wie „Wir sind keine Fans von Egon Krenz“, „Stasi raus“ oder „SED,
das tut weh“ verliehen die Demonstranten ihren Forderungen Ausdruck. 29
Am 6. November 1989 wurde die Durchführung regelmäßig montags stattfindender
thematischer Foren im Klub der Jugend und Sportler bekanntgegeben. Unter dem Motto
„Worte – Dialog – Taten“ sollte mit führenden Funktionären des Kreises über aktuelle Fragen
der Zeit diskutiert werden. Am ersten Forum nahmen 1500 Menschen teil, die sich
hauptsächlich gegen die führende Rolle der SED wandten.30
24 M. Richter: Die Friedliche Revolution. Aufbruch zur Demokratie in Sachsen 1989/90. Vandenhoeck & Ruprecht: Göttingen, 2009, S. 90. 25 M. Richter: Die Friedliche Revolution. Aufbruch zur Demokratie in Sachsen 1989/90 a. a. O. S.206. 26 M. Richter: Die Friedliche Revolution. Aufbruch zur Demokratie in Sachsen 1989/90 a. a. O. S. 284. 27 M. Richter: Die Friedliche Revolution. Aufbruch zur Demokratie in Sachsen 1989/90 a. a. O. S. 523. 28 M. Richter: Die Friedliche Revolution. Aufbruch zur Demokratie in Sachsen 1989/90 a. a. O. S. 523. 29 M. Richter: Die Friedliche Revolution. Aufbruch zur Demokratie in Sachsen 1989/90 a. a. O. S. 636. 30 M. Richter: Die Friedliche Revolution. Aufbruch zur Demokratie in Sachsen 1989/90 a. a. O. S. 636.
13
Im Zuge des Falls der Berliner Mauer und des veränderten Reisegesetzes am 9. November
1989 stellten auch in Riesa viele Bürger einen Visaantrag31. Es mussten im Volkspolizei-
Kreisamt Riesa zusätzliche Mitarbeiter eingestellt werden, um alle Visaanträge schnell zu
bearbeiten.32 Die meisten Menschen wollten ein Visum für einen Besuch in Berlin-West oder
in der BRD, nicht für eine Ausreise. Die Flut an Anträgen riss bis zum Wochenende nicht ab,
vor dem Volkspolizei-Kreisamt herrschte Hochbetrieb. Das zeigte sich auch in der Kreisfiliale
der Staatsbank in Riesa, wo die Bürger stundenlange Wartezeiten in Kauf nahmen, um die
einmal im Kalenderjahr bewilligten 15 Mark der DDR in 15 DM einzutauschen.33
Mitte November 1989 wurden, wie in der ganzen Republik, auch in Riesa in der Innenstadt
und vor dem Haus der Kreisleitung der SED Kundgebungen durchgeführt, die teilweise vom
Neuen Forum initiiert wurden. Die Teilnehmerforderten eine ehrliche und kritische, politische
und wirtschaftliche Bestandsaufnahme auch im Kreis Riesa, weiterhin die Änderung des 1.
Artikels der Verfassung der DDR34, der die führende Rolle der SED festschreibt und
schnellstmöglich freie, demokratische Wahlen. 35 Die von nun an, wie in vielen Kirchen der
Republik, regelmäßig montags stattfindenden Friedensgebete und Demonstrationen fanden ab
Ende November stets 17:30 Uhr in der Riesaer Klosterkirche statt. Eine besondere Aktion
wurde mit dem Neuen Forum am Ersten Advent (3. Dezember 1989) durchgeführt. Bürger
der Stadt und des Kreises bildeten eine symbolische Menschenkette, die von der SED-
Kreisleitung in beide Richtungen wachsen sollte. 36
Am 5. Dezember wurden im Beisein von zwei Vertretern des Neuen Forums die
Panzerschränke und einige Räume der Kreisstelle des Amtes für Nationale Sicherheit durch
den Kreisstaatsanwalt versiegelt.37 Das dort verwahrte Schriftgut. wurde eine Woche später,
ebenfalls unter Beobachtung von Vertretern des Neuem Forums und des Militärstaatsanwaltes
Zielke, von der Volkspolizei nach Dresden gebracht, wo es bis zur Auswertung sicher
31 http://www.riesa.de/deu/leben_in_riesa/stadtgeschichte/chroniken/media_chroniken/chronik_1989.pdf, Aufruf am: 27.11.2012 32http://www.riesa.de/deu/leben_in_riesa/stadtgeschichte/chroniken/media_chroniken/chronik_1989.pdf, Aufruf am: 27.11.2012 33 http://www.riesa.de/deu/leben_in_riesa/stadtgeschichte/chroniken/media_chroniken/chronik_1989.pdf, Aufruf am: 27.11.2012 34 Artikel 1 der Verfassung der DDR: „(1) Die Deutsche Demokratische Republik ist ein sozialistischer Staat der Arbeiter und Bauern. Sie ist die politische Organisation der Werktätigen in Stadt und Land unter Führung der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei. Die Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik ist Berlin. […]“ 35 M. Richter: Die Friedliche Revolution. Aufbruch zur Demokratie in Sachsen 1989/90 a. a. O. S. 893. 36 http://www.riesa.de/deu/leben_in_riesa/stadtgeschichte/chroniken/media_chroniken/chronik_1989.pdf, Aufruf am: 27.11.2012 37 M. Richter: Die Friedliche Revolution. Aufbruch zur Demokratie in Sachsen 1989/90 a. a. O. S. 960.
14
aufbewahrt wurde. Waffen, Munition und Spezialnachrichtentechnik gelangten ins
Volkspolizeikreisamt Riesa. 38
Die Bürgerbewegung in Riesa folgte in ihren weiteren Maßnahmen den Erfahrungen in
anderen Landesteilen. „Runde Tische“ wurden in Dresden, Leipzig, Berlin und vielen
weiteren Städten gebildet, in denen basisdemokratisch Politik gestaltet wurde. Auch in Riesa
wurde am 12. Dezember 1989 die Bildung eines „Runden Tisches“ beschlossen; drei Tage
später trat er erstmals zusammen. 39In diesem Rahmen sollte der bereits begonnene Dialog
zwischen Staat und Bürgern aufrecht erhalten und fortgeführt werden.
Erwähnenswert ist das Aufleben der Beziehungen zwischen den Partnerstädten Riesa und
Mannheim in der Zeit. Binnen weniger Monate besuchten sowohl Jugendliche eines
Gymnasiums als auch Vertreter der Stadt Mannheim und von privaten Organisationen ihre
sächsische Partnerstadt.40 Vertreter der verschiedenen westdeutschen Parteien besuchten auch
die neugegründeten Parteien in der DDR in der Kreisstelle Riesa und tauschten sich über
Fragen zur deutschen Einheit, der Währungsunion und wirtschaftliche Probleme aus.41
Im Verlauf des Jahres 1990 bildeten sich neue basisdemokratische Strukturen in Riesa und
Umgebung heraus. Gut sichtbar wurde dies an der Neugründung der Berufsinnungen der
Handwerker, die sich im ganzen Kreis bildeten und ihre Innungen und Organe in freien und
geheimen Wahlen bestimmten.42 Mit den letzten Volkskammerwahlen in der DDR am 18.
März 1990, die ebenfalls frei und geheim waren, hielt die Demokratie endgültig Einzug in das
Endstadium der DDR und somit auch in Riesa.
38 http://www.riesa.de/deu/leben_in_riesa/stadtgeschichte/chroniken/media_chroniken/chronik_1989.pdf, Aufruf am: 27.11.2012. 39 http://www.riesa.de/deu/leben_in_riesa/stadtgeschichte/chroniken/media_chroniken/chronik_1989.pdf, Aufruf am: 27.11.2012. 40 http://www.riesa.de/deu/leben_in_riesa/stadtgeschichte/chroniken/media_chroniken/chronik_1989.pdf, Aufruf am: 27.11.2012. 41 http://www.riesa.de/deu/leben_in_riesa/stadtgeschichte/chroniken/media_chroniken/chronik_1989.pdf, Aufruf am: 27.11.2012. 42 http://www.riesa.de/deu/leben_in_riesa/stadtgeschichte/chroniken/media_chroniken/chronik_1990.pdf, Aufruf am: 27.11.2012.
15
3. Zeitzeugen erinnern sich – Gespräche mit Bürgern der
Stadt Riesa über die Wendezeit 1989/90
3.1 Vorstellung der Zeitzeugen
Zeitzeuge 1
Name: Frank Klinger43
geboren: September 1931
Familienstand
- im Betrachtungszeitraum: verheiratet
- heute: verheiratet
Berufliche Tätigkeit
- im Betrachtungszeitraum: zunächst Mitarbeiter für Ökonomie
und Planung in der Abteilung
Landwirtschaft im Kreisamt Riesa,
im Dezember 1989 Kündigung
- heute: Rentner
Zeitzeuge 2
Name: Bärbel Heym
geboren: 1950
Familienstand
- im Betrachtungszeitraum: ledig
- heute: ledig
Berufliche Tätigkeit:
- im Betrachtungszeitraum: Vorsitzende des Rates des Kreises
der SED Riesa
43
Der Name wurde geändert.
16
- heute: stellvertretende Vorsitzende im
Ortsverband Riesa „Die Linke“,
Kreistagsabgeordnete im Landkreis
Meißen
Zeitzeuge 3
Name: Andreas Näther
geboren: 1958
Familienstand
- im Betrachtungszeitraum: verheiratet
- heute: verheiratet
Berufliche Tätigkeit
- im Betrachtungszeitraum: Jugenddiakon in der Kirchgemeinde
Riesa – Gröba
- heute: Abgeordneter im Stadtrat Riesa,
Vorstandsvorsitzender „Sprungbrett
e.V.“ Riesa
17
3.2 Was sind Zeitzeugengespräche?
Zeitzeugen sind die Menschen, die bestimmte historische Begebenheiten miterlebt haben und
darüber berichten. Ihre Erlebnisse und Erfahrungen sind Quellen für Vergangenes. Die
Erzählungen in einem einige Zeit später geführten Interview sind darüber hinaus aus
ersichtlichen Gründen Darstellungen über damalige Geschehnisse. Der Zeitzeuge lebt mit den
Erlebnissen weiter; Folgeerfahrungen wirken sich auf die Erinnerung und die Art der
Erzählung aus. Die Erlebnisse werden bei jedem Abruf aus dem Gedächtnis neu konstruiert
und dem Rezipienten entsprechend aufbereitet.44 Es ist für den Zeitzeugen ein Unterschied, ob
er seine Erfahrungen einem Jugendlichen oder Erwachsenem berichtet. Oft wollen Zeitzeugen
der jüngeren Generation Botschaften mitgeben, die im Laufe des Gespräches deutlich
gemacht werden.
Zudem spielt bei einem Zeitzeugengespräch die Art der Erzählung eine entscheidende Rolle.
Gesprächspausen sowie Mimik und Gestik kommen eine ebenso große Bedeutung zu wie
dem eigentlichen Bericht und dessen Struktur. All diese Faktoren spiegeln die Emotionen des
Zeitzeugen wider, mit denen der Zuhörer in einem solchen Gespräch konfrontiert wird. Die
Emotionen beeinflussen auch den Rezipienten in seinem Empfinden; der Zeitzeuge kann mit
der Art der Erzählung bestimmte Gefühle bei den Zuhörern hervorrufen: zum Beispiel
Betroffenheit oder Stolz.
Die Gespräche werden durch konkrete Fragen des Interviewers geleitet, die vor dem Gespräch
seinen entsprechenden Zielen nach aufgestellt wurden. Darauf werde ich im folgenden
Kapitel näher eingehen.
Um die Zeitzeugengespräche im Nachhinein de-konstruieren zu können, ist eine
Aufzeichnung dieser sehr vorteilhaft. Am besten eignet sich dabei die Aufnahme als Video,
die auch ich bei meinen Zeitzeugengesprächen anwenden werde, da bei dieser Form auch die
genaue Analyse von Mimik und Gestik im Prozess der De-Konstruktion möglich ist. Eine
andere Variante ist die Aufzeichnung als Tondokument.
44 vergleiche http://www.geschichtsunterricht-anders.de/lehrerfortbildung/Zeitzeugen.pdf, Aufruf am 07.12.2012.
18
3.3 Prinzip des Leitfrageninterviews45 – Struktur der Gespräche
Wie sich bereits aus dem Namen ableiten lässt, basieren Interviews dieser Form auf
Leitfragen46. Dabei werden, dem jeweiligen Ziel des Zeitzeugengespräches entsprechend,
thematische Gruppen erstellt, in denen Leitfragen und einige weiter differenzierende Fragen
formuliert gesammelt werden. Die Leitfragen sollen im Laufe des Interviews definitiv gestellt
und beantwortet werden, die weiteren Fragen können optional und dem Gesprächsverlauf
folgend gestellt werden.
Der Einstieg in das Interview kann auf unterschiedliche Art und Weise erfolgen. Denkbar sind
beispielsweise eine These oder ein Foto. Während des Gespräches werden die Reihenfolge
der Fragen und eventuell auch die Formulierung der Fragestellungen an die Erzählungen des
Zeitzeugen angepasst. Dazu ist ein ausgeprägtes Grund- und Fachwissen zur Thematik
essentiell47. Die Aufgabe des Interviewers besteht dabei darin, den Fokus auf die eigentliche
Zielstellung nicht zu verlieren und den Zeitzeugen, wenn erforderlich, durch gezieltes
Nachfragen wieder zurückzulenken. Weiterhin muss darauf geachtet werden, dass die
Leitfragen alle angesprochen und beantwortet werden.
Mein Ziel ist es, mich durch Gespräche mit mehreren Zeitzeugen einen Überblick über das
Geschehen in der Wendezeit in Riesa zu verschaffen, der zu einem differenziertem
Gesamtbild beitragen kann. Um ein solches Gesamtbild zu erstellen, sind Menschen aus
unterschiedlichen Bevölkerungsschichten und Bereichen des öffentlichen Lebens sowie die
Zeitspanne von 1989 bis zu den Volkskammerwahlen 1990 abzudecken. Ich habe
dementsprechend Fragegruppen nach folgenden Kriterien entworfen:
- Aktivitäten und Veränderungen in Riesa im Sommer/Herbst 1989 bis zu
den Volkskammerwahlen am 18. März 1990
- Fall der Berliner Mauer am 09. November 1989
- Entwicklung oppositioneller Gruppen/Neues Forum im Sommer/Herbst
1989 bis zu den Volkskammerwahlen am 18. März 1990
- Rolle der evangelischen Kirche
- Verhalten der Jugend
45http://www.univie.ac.at/igl.geschichte/kaller-dietrich/WS%2006-07/MEXEX_06/061102Durchf%FChrung%20von%20Interviews.pdf, Aufruf am: 27.11.2012. 46vgl. Mebus, Sylvia: Anregung zur Arbeit mit Zeitzeugen für Lehrer und Schüler. in: Schreiber, Waltraud; Árkossy, Katalin: Zeitzeugengespräche führen und auswerten. Historische Kompetenzen schulen. Themenhefte Geschichte 4. Neuried: arsuna 2009, S.65. 47 siehe Kapitel 1 und 2.
19
- Probleme in der Wirtschaft Riesas
- Wirken des „Runden Tisches“
- Ergebnisse der Volkskammerwahlen am 18.03.1990
Jeder dieser Gruppen ist ein Pool an Fragen untergeordnet, die jeweils die Aspekte
entsprechend den von mir ausgewählten Kriterien sowie einige sich im Verlauf des
Interviews ergebende vertiefende Fragen ansprechen.48
Während des Gespräches liegt der Fokus auf den Berichten des Zeitzeugen. Ich werde im
Interview durch einige gezielte Fragen das Abschweifen vom Thema verhindern, damit alle
genannten Bereiche abgedeckt und die Leitfragen beantwortet werden können. Hauptsächlich
jedoch soll der Zeitzeuge frei und mit nur wenigen Einschränkungen von seinen Erfahrungen
und Erlebnissen berichten können.
Zum Einstieg in die Interviews verwende ich ein Video, in welchem in zahlreichen Fotos und
kürzeren Videosequenzen Impressionen des Wendeprozesses in der DDR wiedergegeben
werden. Hinterlegt ist das Video mit dem Lied „Wind of change“ von den „Scorpions“,
welches in den Medien oft zur „Hymne der Wende“ erklärt wurde. Das Video zeigt
durchgängig Menschen, die unglaubliche Freude über die Ereignisse ausstrahlen. Damit wird
eine Seite der Gefühlswelt der großen Teile der Bevölkerung verdeutlicht. Dieser
Videoausschnitt erweckt den Eindruck, dass alle DDR-Bürger die Öffnung der Grenze
begrüßt hätten. Ausgeblendet sind zweifelnde oder auch von Zukunftsängsten geplagte
Menschen. Diese Problematik werde ich im Laufe der Interviews aufgreifen.
48
Die gesamte Fragelandschaft ist im Anhang unter 8.2 Übersicht der Fragelandschaft zu finden.
20
4. De-Konstruktion der Zeitzeugengespräche
4.1 Darlegung der Arbeitsmethode
Bezugnehmend auf den „Leitfaden zu De-Konstruktion „fertiger Geschichten“ im
Geschichtsunterricht“49 ist die De-Konstruktion von historischen Narrationen eine
Basisoperation bei der Auseinandersetzung mit Geschichte. Sie ist als die seitenverkehrte
Operation zur Re-Konstruktion zu betrachten: Während bei der Re-Konstruktion von
Vergangenem aus der Fülle historischer Quellen eine historische Narration (=Geschichte)
geschaffen wird, liegt für die De-Konstruktion eine solche Geschichte vor. Das Ziel der De-
Konstruktion besteht folglich darin, historische Narrationen, da sie ja Konstruktionen von
Vergangenem sind, in ihrem Konstruktcharakter zu entschlüsseln und somit in ihrer
Tiefenstruktur zu analysieren und zu erschließen.50 Beide Arbeitsmethoden sind nach dem
„Kompetenz-Struktur-Modell historischen Denkens“51 der historischen Methodenkompetenz
als Basiskompetenz historischen Denkens zuzuordnen. Die grundsätzliche Arbeitsweise wird
in der „Sechser-Matrix“ sehr gut veranschaulicht.52
Die De-Konstruktion der Zeitzeugengespräche erfolgt, dem vorgestellten Kompetenz-
Struktur-Modell folgend, in drei verschiedenen Fokussierungen. Begonnen wird dabei mit der
„Fokussierung auf Vergangenes“ (Fokus I), in der die sogenannten
„Vergangenheitspartikel“ herausgearbeitet werden. Hier wird das Interview zunächst
gegliedert und die wichtigsten inhaltlichen Schwerpunkte werden näher dargestellt. Weiterhin
werden die im Gespräch erwähnten bedeutenden historischen Fakten, wie Akteure,
Institutionen und Datierungen, benannt. Als letzter Punkt in diesem Bereich wird die
nonverbale (Mimik/Gestik) und verbale Darstellungsweise analysiert.
In der „Fokussierung auf Geschichte“ (Fokus II) wird untersucht, wie die
Vergangenheitspartikel vom Interviewpartner kontextualisiert werden und auf welche Art und
Weise er diese dargestellt. Die Analyse der Kontextualisierung geschieht auf zwei Wegen: Es
wird zum einen analysiert, welchen synchronen Zugriff der Interviewpartner bei seiner
Schilderung wählte, d. h. welche zeitgleichen Verbindungen er gezogen und wie er diese
49 Vgl. Leitfaden und Bausteine zur De-Konstruktion „fertiger Geschichten“ im Geschichtsunterricht. In: Mebus, Sylvia; Schreiber, Waltraud: a. a. O. 50 Vgl. Leitfaden und Bausteine zur De-Konstruktion „fertiger Geschichten“ im Geschichtsunterricht. In: Mebus, Sylvia; Schreiber, Waltraud: a. a. O. 51 vgl. Grafik, Anlage 3. 52 vgl. Darstellung „Sechser – Matrix“ , Anlage 4.
21
erläutert hat. Zum anderen wird der diachrone Zugriff der Darstellung untersucht, d. h. es
werden die von ihm im historischen Verlauf geschilderten Geschehnisse analysiert. Die
einzelnen, im Fokus I herausgearbeiteten, einzelnen Partikel werden nun klassifiziert und in
den historischen Gesamtzusammenhang eingeordnet. Nun lassen sich Zusammenhänge
zwischen der Biographie der Personen und dem Erzählten herstellen, um mögliche politische,
soziale, ökonomische usw. Einflüsse auf den Zeitzeugen zu erkennen. Wichtig für das
Verständnis des Gesagten ist außerdem, Verbindungen zwischen der Ausdrucksweise
(nonverbal/verbal) des Zeitzeugen und den entsprechenden Erzählungen herauszustellen.
Im Fokus III, d. h. in der „Fokussierung auf Gegenwart/Zukunft“ wird hinterfragt, welche
Bezüge des Erlebten und Dargestellten der Zeitzeuge zu seiner Gegenwart/Zukunft herstellt.
Dabei ist es besonders wichtig, Botschaften des Zeitzeugen zu erfassen, zu deuten und zu
prüfen, zu welchem Zweck sie diese der jüngeren Generation mit auf den Weg geben wollen.
Jetzt werden Bezüge zwischen den einzelnen Erfahrungen, Deutungen und
Orientierungsangeboten sowie der jeweiligen Darstellungsweise des Zeitzeugen hergestellt
und erörtert. Schließlich werden die Wirkung des Gesamtbildes auf den Rezipienten überprüft
und Chancen und Grenzen von Zeitzeugengesprächen hinterfragt.
22
4.2 Fokussierung auf Vergangenes (Fokus I)
4.2.1 Erläuterungen zur Fokussierung
Im Fokus I besteht der erste Schritt zunächst in der Aufnahme der wichtigsten biographischen
Daten des Zeitzeugen, die bereits im Gliederungspunkt 3.1 aufgeführt sind. Nun wird auch die
jeweilige individuelle Situation beleuchtet, in der sich der Zeitzeuge damals befand. Die
weitere Analyse erfolgt getrennt nach Inhalt und Darstellungsweise.53
Das Interview wird inhaltlich gegliedert, die getroffenen Aussagen und die Fakten werden
erfasst und berichtete Erlebnisse näher ausgeführt. Weiterhin wird analysiert, welche
Aussagen aus eigener Erfahrung getroffen worden und welche Informationen der Zeitzeuge
von anderen Zeitgenossen übernommen hat. Zum Schluss wird analysiert, inwieweit die
dargestellte Sichtweise die damaligen historischen Rahmenbedingungen spiegelt oder ob sie
von Folgeerfahrungen beeinflusst ist.54
Bei der Analyse der Darstellungsweise wird grundsätzlich der verbale und nonverbale
Ausdruck untersucht. Dabei gilt es herauszufinden, welche Aussagen dadurch besonders
gewichtet werden, auf welche Ereignisse er Wert legt und welche Emotionen dabei an den
Rezipienten übertragen werden. Weiterhin wird die Wirkung des Erzählten auf den Zuhörer
untersucht.55
In der Fokussierung auf Geschichte ist es zum Schluss von großer Bedeutung, die fachliche
Triftigkeit der Narration zu überprüfen. Dabei geht es vorrangig um die Feststellung der
sachlichen Richtigkeit der getroffenen Aussagen und deren Geltungssicherheit. Dazu ist es
notwendig, auf externe Fachliteratur zurückzugreifen.56
4.2.2 Zeitzeuge 1
Der erste Zeitzeuge, den ich zur Thematik befragt habe, ist Klinger. Im betrachteten Zeitraum
arbeitete er zunächst als leitender Mitarbeiter in der Abteilung Landwirtschaft im Kreisamt,
53 vgl. Mebus, Sylvia: Anregungen zur Arbeit mit Zeitzeugen für die Hand von Lehrern und Schülern. In: Schreiber, Waltraud; Árkossy, Katalin: Zeitzeugengespräche führen und auswerten. Historische Kompetenzen schulen. Neuried: ars una 2009, S.69. 54 vgl. Mebus, Sylvia: Anregungen zur Arbeit mit Zeitzeugen für die Hand von Lehrern und Schülern. a.a.O. 55 vgl. Mebus, Sylvia: Anregungen zur Arbeit mit Zeitzeugen für die Hand von Lehrern und Schülern. a.a.O. 56 Vgl. Leitfaden und Bausteine zur De-Konstruktion „fertiger Geschichten“ im Geschichtsunterricht. In: Mebus, Sylvia, Schreiber Waltraud: a. a. O.
23
wo er zuständig für Ökonomie und Planung war. Im Prozess der Umstrukturierung wurde er
im Dezember 1989 entlassen.57 Aus dieser Steller heraus hatte er über viele Jahre sowohl
Kontakt zu führenden Persönlichkeiten im Kreis als auch zu anderen Bevölkerungsgruppen,
vornehmlich zu Beschäftigten in den Agrargenossenschaften in und um Riesa, die er betreute.
Dieser teilweise sehr intensive Kontakt mit Menschen unterschiedlicher Bereiche und auch
seine persönliche Betroffenheit von den Umbrüchen machten ihn für mich als Zeitzeugen
interessant.
Im Jahr 1931 geboren, wuchs er in der Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland auf und
erlebte den Aufbau der DDR nach dem Zweiten Weltkrieg mit. Mitte der 50er Jahre trat er
seine Stelle als leitender Mitarbeiter für Ökonomie und Planung im Ressort Landwirtschaft im
Kreisamt Riesa an, die er bis 1989 behielt, sodass er die Entwicklung in der Landwirtschaft
der DDR am Beispiel des Kreises Riesa über Jahre aus derselben beruflichen Position
verfolgen konnte. Er war weder Mitglied in der SED noch in einer anderen Blockpartei der
Nationalen Front der DDR. Nach seiner Kündigung im Dezember 1989 war er wenige
Monate arbeitslos, bevor er im Mai 1990, bedingt durch seine langjährigen Erfahrungen in der
Landwirtschaft, recht schnell eine Anstellung als Buchhalter in einer der neu gegründeten
Agrargenossenschaften fand.
Auf meine Anfrage hat er sich bald zu einem Gespräch bereit erklärt. Es wurde ein sehr und
interessantes Gespräch in einer aufgeschlossenen Atmosphäre. Klinger erläuterte ausführlich
seine damaligen Erlebnisse und Ansichten sowie zahlreiche Hintergrundinformationen und
Nebengeschichten, mit denen er seine Hauptaussagen untermauerte. Zudem machte er seine
Standpunkte zu den verschiedenen Geschehnissen in begründeten Aussagen deutlich. Das
gesamte Gespräch war sehr aufschlussreich und stellte eine Wahrnehmung der Wendezeit in
Riesa dar.
Analyse des Gesprächsinhaltes
Klinger berichtete im Gespräch von folgenden Erlebnissen:
In das Interview stieg ich mit Hilfe des bereits im Abschnitt 3.3 vorgestellten Videos ein. Das
Betrachten des Videos beschrieb er als sehr emotional. Besonders thematisierte er daraufhin
die Sequenz der Ausreise tausender DDR-Flüchtlinge mit Sonderzügen aus der
57 siehe dazu auch 3.1 Vorstellung der Zeitzeugen.
24
bundesdeutschen Botschaft in Prag durch die DDR in die BRD. Er erlebte die Durchfahrt
dieser Züge durch Riesa hautnah mit und konnte somit einen persönlichen Bezug zu dem
Ereignis herstellen. Eben diese genehmigte Ausreise von DDR-Bürgern in die BRD, die
Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher Ende September 1989 verkündete, beschrieb
Klinger als Ereignis, welches in Riesa intensiv, vor allem in „Straßengesprächen“ diskutiert,
wurde. Dennoch blieb es ihm zufolge in Riesa recht ruhig; es wurden keine größeren
Protestaktionen ausgelöst. Das sieht er in der Tatsache begründet, dass es in Riesa und den
umgebenden ländlicheren Bereichen weniger aktive SED- Mitglieder gab als in den
Großstädten. Somit konnten größerer Aufruhr, Demonstrationen oder Protestaktionen eher
verhindert werden als in größeren Städten. Unterschwellige Äußerungen in seiner Dienststelle
hätten schnell zu Konsequenzen, wie z.B. einer Versetzung, führen können.
Weiteren Diskussionsstoff lieferten Missstände, die im Laufe der Wendezeit aufgedeckt
wurden. Als Beispiel führte er an, dass diverse „Westprodukte“ in der DDR billig produziert
wurden, um sie dann teuer in der Bundesrepublik oder in den Intershopgeschäften der DDR
weiter zu verkaufen. Das stieß bei ihm auf Unverständnis gegenüber den Westfirmen. Nach
Bekanntwerden der Vorwürfe nach der Wende führte dies ihm zufolge zu einem
Imageschaden für eben diese Firmen.
Ende der 80er Jahre wurde es Klinger immer offensichtlicher, dass die Wirtschaft der DDR
am Ende war. Er zog dieses Fazit für sich aus seinen Beobachtungen, und erläuterte es: So sei
es jahrelang üblich gewesen, dass Arbeiter aus anderen Firmen, in Riesa vorzugsweise aus
dem VEB Stahl- und Walzwerk Riesa, die Landwirtschaft in Stoßzeiten, wie der Ernte,
unterstützten. Im Gegenzug halfen die in den Landwirtschaftlichen Produktionsgesellschaften
(LPG) beschäftigten Mitarbeiter beispielsweise im Winter, wenn es bei ihnen nur wenig
Arbeit gibt, im Stahlwerk aus. Seit ca. 1985 sei diese Kooperation immer mehr
zurückgegangen, das Stahlwerk lehnte Anfragen zunehmend mit der Begründung ab, dass sie
vollkommen ausgelastet seien. Da die Unterstützung allerdings Jahre vorher stets funktioniert
hatte, schlussfolgerte Klinger daraus, dass es sehr schlecht um die Wirtschaft der DDR
bestellt sein musste. Die Zerschlagung vieler Industriegebiete in Riesa nach der Wende sah er,
begründet in diesen Erfahrungen, voraus. Das betrachtet er als eine der schlechtesten Folgen
der Wendezeit nicht nur für Riesa, sondern für die ganze DDR.
Als „größter Fehler“ des DDR-Regimes und der SED sieht er, dass die offiziellen
herausgegebenen Thesen des Politbüros nun für jeden offensichtlich falsch gewesen seien.
25
Dies entzog der Regierung die Unterstützung und das Vertrauen eines Teils der Bevölkerung,
die vorher an das System glaubte.
Er konnte damals dennoch keine generelle Unzufriedenheit der Bevölkerung mit den
bestehenden Verhältnissen erkennen. Auch diese Erkenntnis belegt er wieder mit einem
Beispiel aus der Landwirtschaft. Nach der Grenzöffnung, noch im November, sei ein Mann
aus Baden-Württemberg, den er als sehr patent beschreibt, in die Dienststelle gekommen, der
seine Unterstützung in der Neuordnung der Landwirtschaft im Raum Riesa anbot. Klinger
nahm ihn daraufhin mit in eine benachbarte LPG, um ihn persönlich mit den betroffenen
Menschen bzw. Bauern sprechen zu lassen. Die grundsätzliche Erwartung von beiden war,
dass die Menschen ihren Grund und Boden ab jetzt wieder allein bewirtschaften wollten.
Klinger berichtete, dass diese Erwartungshaltung jedoch nicht erfüllt worden sei, im
Gegenteil – die Bauern seien zufrieden mit der gemeinsamen Bewirtschaftung der Felder
gewesen und wollten dies beibehalten, auch wenn es einige Ausnahmen gab. Die
Genossenschaften und das gemeinsame Arbeiten sei als sehr positiv angesehen und in
zahlreichen LPG – bis heute – beibehalten worden. Viele Agrargenossenschaften, die nach
diesem Prinzip arbeiten, zeugen heute davon.
Dieses Beispiel betrachtet Klinger als ein Positives im Kontakt mit westdeutschen
Geschäftsleuten. Er berichtete auch von negativen Erfahrungen, beispielsweise Händler, die
Ackerland in großen Flächen zu geringsten Preisen gekauft und dieses bis heute
herunterwirtschaften hätten. Nach dieser Erkenntnis sei nicht nur bei ihm das Misstrauen
gegenüber Westdeutschen, sondern auch bei den Betroffenen gewachsen. Klinger ärgerten sie
sich außerdem über Vorwürfe der „Wessis“, „die ja immer alles besser wussten“.
Klinger sprach weiterhin von ca. drei bis vier Wochen Euphorie in Riesa, die er in die Zeit
rund um die Öffnung der Grenzen und dem damit verbundenen Fall der Berliner Mauer
(Oktober/ November 1989) einordnet. Nach diesem Ereignis habe er keine größeren
Erwartungen an weitere Schritte gehabt, sondern die Geschehnisse lieber auf sich zukommen
lassen. Er konnte in seiner Umgebung aber auch teilweise Desinteresse an den Geschehnissen
beobachten, von Menschen, die sich von allen Aktionen und Veränderungen nicht viel
erhofften.
Klinger berichtete darüber, dass in diesen Wochen schließlich auch erste
Podiumsdiskussionen durchgeführt worden seien. Er habe davon gewusst, aber selber nicht an
diesen teilgenommen. Infolgedessen trat auch das Neue Forum in den Vordergrund, er spricht
26
von Dezember 1989. Dann erfuhr er auch erstmals von Zielen des Neuen Forums in Riesa. Er
lobte die gute Vorbereitung der Organisation, ohne darauf jedoch näher einzugehen. Als eine
aktive Person im Neuen Forum ist ihm Andreas Näther bekannt, da dieser auch in dieser
Angelegenheit einmal in seiner Dienststelle war. Den Verdienst oppositioneller Gruppen und
Bürgerbewegungen, wie zum Beispiel des Neuen Forums, sieht er in konkreten Forderungen,
die zur richtigen Zeit hervorgebracht wurden und einem Teil der Bevölkerung aus der Seele
sprachen. Die Forderungen sind aber im Laufe des Wendeprozesses „verwässert“ worden.
Die Rolle der Kirche in Riesa und Umgebung schätzt er, trotzt diverser positiv eingeschätzter
Aktivitäten wie Friedensgebete, als zu passiv ein. Das sieht er teilweise in der allgemeinen
Rolle der Kirche in der DDR begründet, dennoch sei die Thematisierung der Neugestaltung
und Veränderung zu kurz gekommen.
Er sieht in Riesa keinen spezifischen Träger der Revolution; sowohl die jüngere als auch die
ältere Generation waren an der Gestaltung des Wendeprozesses beteiligt. Die Jugend sieht er
dabei eher in der euphorischen, emotionalen Rolle, während die ältere Generation für die
Durchsetzung der Forderungen verantwortlich war.
Über die Arbeit des Runden Tisches, den es auch in Riesa gab, berichtet er nur kurz.
Informationen über Ergebnisse konnte man damals in der Zeitung lesen, allerdings erschienen
sie ihm zu wenig konkret auf Riesa bezogen. Er bedauert, dass nur allgemeine Thesen
diskutiert worden sind und sich nicht die Entwicklung von Riesa und Umgebung bezogen
wurde.
Die Volkskammerwahlen am 18. März 1990 waren seinen Worten folgend ein wichtiger
Schritt in Richtung Neugestaltung. Er spricht von einer hohen Wahlbeteiligung, woran man
den Willen zur Mitbestimmung ablesen konnte. Er schätzt die Zeit, die für den Wahlkampf
blieb, als zu kurz ein, auch wenn er natürlich versteht, dass die Wahlen möglichst schnell
stattfinden sollten.
Die Wiedervereinigung sieht er als beste und einzige Lösung an, da die DDR wirtschaftlich
am Ende war und ein alleiniger Wiederaufbau nur schwer möglich gewesen wäre. Dennoch
betrachtet er die Art und Weise – das „Überstülpen“ des Systems der BRD – kritisch. Das
rigorose Vorgehen in diesem Prozess wirkte sich negativ auf die weitere Entwicklung
Ostdeutschlands aus, da die wirtschaftspolitischen Umstände damals schlecht waren. Die
Betriebe waren zu heruntergewirtschaftet; es fehlte an moderner Technik und, es gab nur
27
wenige Arbeitsplätze. Folglich suchten viele junge Menschen ihr Glück im Westen der
Bundesrepublik. Das ist ein Prozess, der bis heute zu spüren ist.
Analyse der Darstellungsweise
Während des Interviews wirkte Klinger auf mich sehr aufgeschlossen. Er war daran
interessiert, mir seinen persönlichen Eindruck über die Wendezeit aus seiner Perspektive zu
schildern.
Bei seinen vorwiegend synchronen Erzählungen berichtet er in Themenschwerpunkten, was
natürlich auch in der Ordnung der Fragestellungen zum Interview begründet liegt, die
thematisch geordnet waren. Bei Fragen nach konkreten Zeitabläufen ging er in die diachrone
Erzählweise über. Die Darstellung war stets sehr emotional, da er viele seiner Aussagen mit
persönlichen Erlebnissen verbunden hat und diese zum Teil auch näher ausgeführt hat. Er hat
immer wieder den Bezug zur Landwirtschaft, seinem Fachgebiet gesucht; viele Beispiele und
Ausführungen waren daran geknüpft. In fast allen meiner Themenschwerpunkte konnte er
Verbindungen zu diesem Ressort herstellen.
Bei konkreten Fragen nach seiner Meinung zum Wirken oppositioneller Gruppen oder der
Kirche war zunächst Zurückhaltung zu spüren, hier entstanden auch die Gesprächspausen. Es
war zu erkennen, dass er sich sehr genau überlegt hat, was er übermittelt: Teilweise setzte er
auch mehrmals an und unterbrach seine Ausführungen wieder.
Generell konnte ich feststellen, dass er sich noch sehr gut an die Ereignisse der Wendezeit
erinnern konnte. In seinen Ausführungen, vor allem den Beispielen, erwähnte er viele Details
zu Orts- und Personenangaben. Er konnte sich an vollständige Namen, aber auch an konkrete
Gesprächsteile erinnern.
Unterstrichen von Mimik und Gestik hat er immer wieder Botschaften an mich gerichtet. Die
wichtigste Botschaft, die er in mehreren Zusammenhängen äußerte und ihr damit eine große
Bedeutung zuspricht, war, dass man stets hinterfragen sollte, warum etwas getan wird, warum
jemand in dieser Art und Weise gehandelt hat.
Insgesamt war er sehr interessiert am Gespräch und hat oft nachgefragt, ob ich seinen sehr
verständlichen Ausführungen folgen konnte. Das hat mir gezeigt, dass er darauf bedacht war,
28
dass seine Darstellungen auch tatsächlich bei mir ankommen und ich das Gespräch und seine
Äußerungen in Erinnerung behalte.
4.2.3 Zeitzeuge 2
Die zweite Zeitzeugin, die ich zur Thematik befragt habe, ist Bärbel Heym. Sie wuchs in der
DDR im Kreis Riesa auf. Nach Beendigung ihres Studiums, das sie als
Diplomgesellschaftswissenschaftlerin 1983 abschloss, trat sie der SED bei. Im Jahr 1986
übernahm sie das Amt der Vorsitzenden des Rates des Kreises in Riesa, welches sie auch
noch zur Wendezeit innehatte. Ich habe sie als Zeitzeugin gewählt, da sie aus dieser leitenden
Position heraus einen umfangreichen Blick über die Geschehnisse hatte. Ihr Name tauchte in
verschiedenen Chroniken der Jahre 1989/90 immer wieder auf.
Zudem trug sie in ihrem Amt eine große Verantwortung für die Stabilität des Kreises und
natürlich auch für die künftige Weiterentwicklung im Raum Riesa. Sie erklärte sich nach
meiner Anfrage schnell zu einem Gespräch bereit.
Während des Gespräches schilderte sie mir ihre Sicht auf die Wendeereignisse 1989/90. Viele
Eindrücke der Zeit waren ihr noch sehr gut in Erinnerung. Zur genauen Angabe von Daten
nutzte sie eine Chronik des Jahres 1989, in der sie die wichtigsten Entwicklungen im Kreis
Riesa markiert hatte. Insgesamt war es ein sehr interessantes und informatives Gespräch,
welches mir eine neue Perspektive auf die Ereignisse in der Wendezeit eröffnete.
Analyse des Gesprächsinhaltes
Heym berichtete im Gespräch von folgenden Ereignissen:
Sie beschrieb das Betrachten des Videos als sehr emotional. Eine Beobachtung, die sie
machte, war, dass es zum Ende der DDR viele Probleme und ein breites Konfliktpotential
gab, auf das die Staatsführung nicht reagierte. Diese ignorierte auch den Reformkurs von
Glasnost und Perestroika in der Sowjetunion, was ebenfalls Frust und Enttäuschung der
Bevölkerung mit sich brachte.
29
Sie sprach weiterhin davon, dass sie58 die Entwicklungen der friedlichen Revolution
unterschätzt haben. In der DDR gab es zwar mehrere Parteien, diese waren aber in der
Nationalen Front zusammengefasst und hatten keinen Spielraum, ihren spezifischen
politischen Intentionen zu folgen.59 So wurden in Diskursen im Rat des Kreises nur die
Randprobleme thematisiert, die tatsächlichen Widersprüche, vor allem lokalpolitischer Sicht,
wurden außer Acht gelassen. Sie kritisierte außerdem den absoluten Wahrheits- und
Machtanspruch von Staat und Partei, fügt aber hinzu, dass es diese Erscheinung auch heute in
der BRD noch gebe. Dabei spielt sie auf die starren Strukturen der CDU an, die ihr zufolge in
dieser Hinsicht an jene der SED erinnerten. Zudem seien Versuche, auf lokaler Ebene
wirtschaftspolitische Probleme, v. a. im Stahlwerk Riesa, zu beheben und Veränderungen
herbeizuführen, stets von übergeordneter Instanz abgelehnt worden. Sie macht es sich selbst
zum Vorwurf, diesen Sachverhalt nicht weiter hinterfragt, sondern ihn nur akzeptiert zu
haben.
Ihren Ausführungen folgend, fand am 2. Oktober 1989 das erste Friedensgebet in der Kirche
Riesa – Gröba statt, das den Beginn der oppositionellen Aktionen in Riesa markiert.
Ihr waren bis auf das Neue Forum, welches auch in Riesa eine Ortsgruppe bildete, und zwei
in ihr wirkenden Personen, keine weiteren oppositionellen Gruppierungen in Riesa bekannt.
Eine der Personen war Andreas Näther. Er kam zu ihr, um mit ihr über das Neue Forum zu
sprechen. Sie wusste zu jenem Zeitpunkt allerdings noch nichts über diese Bewegung, nur,
dass sie verboten war. Auf Nachfrage erklärte sie sich gesprächsbereit, wofür sie aus den
Reihen der SED im Rat des Kreises kritisiert wurde – diese Funktionäre vermuteten, dass hier
ein politischer Hinterhalt geplant war. Die für die Riesaer Bürger offene Podiumsdiskussion
fand schließlich am 30. Oktober 1989 in der Kirche Gröba mit ca. 2000 Teilnehmern statt.
Das Gespräch gestaltete sich ihr zufolge recht schwierig, da sehr viele persönliche Probleme
aufgeworfen worden, die vor Ort nicht zu lösen waren. Zudem meinte sie, dass es unmöglich
sei, mit so vielen Menschen konstruktiv zu diskutieren.
Heym berichtete, dass sie im Oktober 1989 permanent zuhause Anrufe erhielt, in denen sie
beschimpft wurde. Viele dieser Anrufer blieben anonym und griffen sie persönlich an. Die
Anrufe hörten erst auf, als sie Ende Oktober/Anfang November ihre Telefonnummer ändern
ließ.
58 sie: SED-Funktionäre auf allen Ebenen, Anmerkung. 59 Alle Parteien der DDR trugen demokratischen Charakter, wurden aber von Seiten der SED auf deren Kurs verpflichtet. Dies stellte einen Eingriff in die Souveränität der Parteien dar.
30
Am 2. November 1989 fand ein weiteres Friedensgebet in Riesa statt und darauf folgte die
erste Demonstration durch das Stadtzentrum in Riesa. Ab dem 13. November 1989 fanden
fortan jeden Montag Dialoge im Club der Jugend und Sportler mit führenden
Persönlichkeiten des Kreises und oppositionellen Verantwortungsträgern statt. Auch dort
kamen Heym zufolge wiederum zahlreiche unlösbare Probleme zur Sprache, teilweise wurden
sie und andere von den Zuhörern verbal angegriffen. Bald darauf kam von Seiten der
Kreisleitung der SED der Vorschlag, den Dialog in Themenbereiche zu trennen und an
verteilten Orten zur gleichen Zeit durchzuführen, um sich auf wenige Themenbereiche zu
konzentrieren, um zu Ergebnissen gelangen zu können. Dafür wurden sie von Teilnehmern
mit dem Vorwurf kritisiert, die Kräfte spalten zu wollen.
Als eine weitere Veränderung berichtete sie von der Auflösung der Kreisdienststelle des
Ministeriums für Staatssicherheit am 5. Dezember 1989, die in ihrem Verantwortungsbereich
lag. Vor dem entsprechenden Gebäude fand an jenem Tag eine Demonstration statt, die sich
gegen die Arbeit der Staatssicherheit wandte. Auch dort ist Heym wieder mit Vorwürfen
konfrontiert worden, obwohl sie selbst nichts mit der Arbeit der „Stasi“ zu tun hatte und keine
detaillierten Informationen über deren Arbeit hatte.
Vom Fall der Berliner Mauer und der Grenzöffnung am 9. November 1989 erfuhr sie noch am
selben Tag in den Fernsehnachrichten der DDR, worauf sie zunächst ungläubig reagierte. Sie
befürchtete damals, dass die Sicherheit für die Menschen nicht mehr zu gewährleisten wäre,
und lobte die Grenzsoldaten der DDR für deren hervorragende, Ruhe bewahrende, Reaktion.
Heym sagte, dass die mit der Maueröffnung einher gehenden Veränderungen während der
folgenden Tage auch in Riesa spürbar wurden. Zum Beispiel bildeten sich vor der Sparkasse
in Riesa lange Warteschlangen, da jeder sein von der Regierung der Bundesrepublik in
Aussicht gestelltes Begrüßungsgeld von 100.- DM entgegennehmen wollte.
Im Folgenden kritisiert sie, dass die bald nach der Maueröffnung aufkommende Forderung
„Wir sind ein Volk!“ zu voreilig und zu euphorisch ausgesprochen wurde Sie hoffte damals
noch auf eine Reformierung des politischen Systems der DDR. Weiterhin beklagte sie, dass
von Teilen der DDR-Bevölkerung und den Bundesbürgern bisherige Lebensleistungen einiger
SED-Mitglieder missachtet wurden, denn nicht alle SED-Mitglieder beugten sich unkritisch
der Politik der SED-Führung. Sie berichtete von einer Art innerparteilicher Opposition, die
sogar recht groß war, die sehr aufmerksam nach Osten, in die Sowjetunion, schaute und
31
forderte, dem Vorbild Michail Gorbatschows folgend, Veränderungen durch Glasnost 60und
Perestroika61 entsprechend.
Neben dem Neuen Forum wusste sie in Riesa noch von der „AG Friedensgebet“, die sich,
dem Namen entsprechend, um die Organisation von Friedensgebeten kümmerte. Im
Wendeprozess 1989/89 wurden neue Parteien gegründet, wie zum Beispiel die SPD. Sie
selbst kann sich mit den Forderungen der Bewegungen nach mehr Offenheit und Transparenz
identifizieren, das war auch eines von ihren persönlichen Zielen. Den Beitrag dieser Gruppen
zur Neugestaltung sah sie in der Benennung der Themenschwerpunkte, die zu überdenken und
zu diskutieren waren.
Der Kirche weist sie im Allgemeinen keine tragende, sondern eher eine auffangende und den
Wendeprozess begleitende Rolle zu. Sie bot Räume für Diskussionen und Friedensgebete und
fing entsprechende Bewegungen auf. Nicht umsonst hätten die ersten Diskussionsrunden in
einer Kirche stattgefunden. Da die Kirche das Vertrauen vieler Bürger besaß, trug sie
außerdem zur Versachlichung des Dialoges zwischen den Seiten bei und half, den erstarrten
Zustand der Gesellschaft aufzubrechen.
Als die Träger der Friedlichen Revolution sieht sie die Generation, die damals zwischen 35
und 45 Jahren alt war. Diese sind in die DDR hineingeboren, hatten deren politisches System
bewusst erlebt und konnten auch noch von den Veränderungen, die kommen könnten,
profitieren. Die Jugend sieht sie in einer eher untergeordneten Rolle.
Die Stimmung in den Betrieben und Firmen in Riesa sei ebenfalls recht angespannt gewesen.
Heym berichtete darüber, dass nicht erst seit dem Reformkurs der Sowjetunion (Mitte der
80er Jahre), sondern schon einige Jahre zuvor in der Arbeiterschaft regelmäßig über politische
Themen diskutiert worden sei. Besonders aber im Herbst ’89 erlebte sie mit, dass sich die
SED-Austritte, auch in Riesa, häuften. Die Ursache für die Austritte war häufig die
allgemeine Unzufriedenheit mit dem bestehenden System. Heym hatte auch Befürchtungen
um den Industriestandort Riesa. Es sei vorauszusehen gewesen, dass das Stahl- und Walzwerk
Riesa mit seinen Tausenden Beschäftigten nicht gehalten werden konnte, was eine
angespannte Stimmungslage im Betrieb verursachte. Sie berichtete auch von
Westunternehmern, die die Region besuchten. Am Beispiel der Baumwollspinnerei, einem
vergleichsweise modernen Betrieb, erläuterte sie, dass diese Unternehmer nur an den
60 Glasnost (russ.): Öffnung 61 Perestroika (russ.): Umbau/Umgestaltung
32
Kundendateien, nicht an den Betrieben interessiert gewesen seien. Die Kundendateien
eröffneten den bundesdeutschen Firmen neue Absatzmärkte.
Heym war Mitglied des Runden Tisches in Riesa. Sie bemerkte, dass in den Beratungen alles
bisher Geltende in Frage gestellt wurde und sich meist über kleinste und unwichtigste Sachen
aufgeregt wurde. Sie schätzt ein, dass auch diese Diskussionen nicht immer sachlich, zum
Teil persönlich geführt wurden. Es wurden keine substanziellen Fragen angesprochen.
Insgesamt schätzt sie die Arbeit des Runden Tisches als nicht effektiv ein. Diese schwierige
Arbeit hat auch ihre Bereitschaft gelähmt, immer wieder an anderen, neuen Diskussionen
teilzunehmen.
Die Wahlen zur Volkskammer der DDR am 18. März 1990 und vor allem der vorhergehende
Wahlkampf waren ihren Berichten zufolge eine lehrreiche Zeit für die im Dezember 1989 von
der SED in SED-PDS umgebildete Partei. Sie hatte noch keinerlei Erfahrungen über die
Gestaltung eines Wahlkampfes. Das Wahlergebnis für Riesa gibt sie mit 46% für die CDU an,
darauf folgte die SED-PDS, dann die SPD, für diese beiden Parteien konnte sie allerdings
keine konkreten Zahlenangaben machen. Ihr zufolge war der Wahlsieg der CDU zu erwarten,
denn viele Bürger wollten so leben wie die Menschen im Westen, und da in der
Bundesrepublik die CDU gewählt wurde, machten die Menschen hier das auch. Sie selbst
kandidierte für den Kreistag in Riesa für die PDS und bekam schließlich die meisten Stimmen
aller Kandidaten aller Parteien. Das wertet sie als Anerkennung ihrer geleisteten
überzeugenden authentischen Arbeit in den letzten Jahren der DDR.
Zum Schluss formulierte sie als Botschaft, dass das politische System in der DDR nicht in
Ordnung war, dass das heutige aber auch nicht fehlerfrei sei. Es sei die Aufgabe der folgenden
Generationen, auch meiner Generation, die bestehende demokratische Gesellschaft hin zu
einer lebenswürdigen Gesellschaft weiterzuentwickeln.
Analyse der Darstellungsweise
Heym war während des Gespräches sehr konzentriert. Sie fokussierte auf die
Wendeereignisse, an die sie sich noch gut erinnern konnte; bis auf wenige Nebengeschichten
blieb sie stets beim Thema.
Sie hinterlegte ihre Ausführungen mit einer Chronik der Wendezeit, aus der sie die genauen
Daten- und Zahlenangaben entnahm. Ansonsten berichtete sie nur aus ihrem Gedächtnis.
33
Während des Gespräches entstanden kaum Pausen, der Gesprächsfluss wurde nicht
unterbrochen. Bei einigen wenigen Fragen überlegte Heym kurz nach einer passenden
Antwort, fand dann aber schnell wieder in das Interview hinein. An Stellen, wo sie mir
Botschaften mitgeben wollte, war zu beobachten, dass sie den Blickkontakt zu mir gesucht
hat. Zudem ist sie keiner meiner Fragen ausgewichen, sondern hat alle ihrem Kenntnisstand
entsprechend mehr oder weniger ausführlich beantwortet.
4.2.4 Zeitzeuge 3
Der dritte Zeitzeuge, den ich zur Wendezeit in Riesa interviewt habe, ist Andreas Näther. Zu
jener Zeit war er in der Jugendarbeit der Kirche tätig und aktives Mitglied des Neuen Forums
in Riesa. Als Mitorganisator von Friedensgebeten, Demonstrationen und
Podiumsdiskussionen hat er diese Zeit aktiv erlebt und mitgestaltet. Aus diesem Grund habe
ich ihn als Zeitzeugen gewählt.
Als Jugenddiakon kam er 1982 nach Riesa und arbeitete seitdem in der Kirchgemeinde Riesa-
Gröba. Der Frieden und eine gesunde Umwelt seien für ihn grundsätzlich die wichtigsten
Ziele gewesen, für die er sich schon in der DDR längere Zeit engagierte, sagte er mir.
Analyse des Gesprächsinhaltes
Während des Gespräches sprach Näther folgende Aspekte an:
Im Jahr 1987 begann er sich in einer „Umweltgruppe“ der Kirchgemeinde Riesa-Gröba zu
engagieren. Diese Gruppe wurde regelmäßig von 15 bis 20 Personen besucht. Als wichtige
Diskussionsthemen in der damaligen Zeit benannte er umweltpolitische Themen, die
Aufrüstung und den Wehrkundeunterricht in Schulen. Dabei lud die Gemeinde mehrmals im
Jahr zumeist gesellschaftskritische Liedermacher in der DDR ein, die in Großstädten zum Teil
schon mit Auftrittsverbot belegt wurden. Aufmerksamkeit konnte die Gruppe über sogenannte
Liedermacherveranstaltungen erreichen. Ihre Auftritte wurden auch jedesmal mit politischen
Diskussionen um die o. g. Probleme verbunden. Bei jeder dieser Veranstaltungen kamen
immer ca. 100 Besucher zusammen.
Am 2. Oktober 1989 fand das erste Friedensgebet in Riesa-Gröba statt, welches im Rahmen
mehrerer anderer Aktionen, wie Andachten, und in einer weiteren Liedermacherveranstaltung
34
angekündigt wurde. Die Gemeinde gestaltete dafür die Plakate selbst. Angebracht wurden sie
in der Stadt, mit Erlaubnis der Betreiber in deren Privatgeschäften. Auf dem Plakat wurde
weiterhin angekündigt, dass der Gründungsaufruf des Neuen Forums verlesen werden sollte.
Diesen hatte Näther über Berliner Kontakte erhalten.
An jenem Abend war der Zulauf so groß, dass das Friedensgebet in Gröba vom
Gemeinderaum kurzfristig in die Kirche verlegt wurde, damit die rund 100 Interessierten alle
Platz finden konnten. Näther zeigte sich überrascht – mit einem solchen Zuspruch hatte er als
Mitorganisator nicht gerechnet. Immer mehr Menschen fühlten sich von den Vorstellungen
des Neuen Forums angesprochen, sodass Näther im Laufe der darauffolgenden Woche vor
rund 3000 bis 3500 Menschen in Riesa sprach. All diese Besucher seiner Veranstaltungen
unterschrieben den Gründungsaufruf des Neuen Forums.
Im Vorfeld des Friedensgebetes am 2. Oktober 1989 wurde er von zwei Mitarbeitern des
Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) aufgesucht, die von im forderten, das Friedensgebet
abzusetzen. Näther berief sich jedoch auf die Religionsfreiheit und lehnte diese Forderung ab.
Er bot jedoch an, mit der Vorsitzenden des Rates des Kreises, Heym, über das Neue Forum
und dessen Forderungen zu sprechen. Auch sie zeigte sich gesprächsbereit und willigte in
einen öffentlichen Dialog ein, welcher einige Wochen später stattfinden sollte.
Bereits im ersten und auch in den darauffolgenden Friedensgebeten sowie den in dieser
Woche täglich veranstalteten Aktionen im Gemeindezentrum Gröba wurde dieser Dialog
angekündigt. Die Besucher wurden aufgefordert, Themenvorschläge für die Diskussion zu
sammeln, damit sie entsprechend den Vorstellungen der Bevölkerung gestaltet werden
konnte.
Ein Abend ist Näther besonders in Erinnerung geblieben. Es war eine dieser
Liedermacherveranstaltungen, am 11. Oktober 1989, die unter dem Thema „Bach und Blues“
stand. Eingeladen waren der Saxophonist Friwi Sternberger und Ulrich Kiehn62. Das
Rahmenprogramm sah eigentlich die Thematisierung von Umweltproblemen vor. Doch U.
Kiehn berichtete letztendlich unter Tränen von seinen Erlebnissen am 8. Oktober in Dresden,
als Truppen der Deutschen Volkspolizei auf die Demonstranten einschlug und einige von
ihnen in das Gefängnis nach Bautzen abtransportierte. Näther berichtete, dass diese
Schilderungen allen Zuhörern verdeutlichten, an welche Grenzen das politische System der
DDR gelangt war, da es nur noch mit Gewalt zu reagieren vermochte.
62 Beide waren freischaffende Künstler in Dresden.
35
In den folgenden Wochen fanden jeden Montag Gebete statt63, bei denen stets die Kirche in
Gröba mit interessierten Bürgern gefüllt war. An diesen Tagen wurden auch weiterhin
Unterschriften für das Neue Forum gesammelt.
Als eine weitere wichtige Aktion nannte Näther den bereits oben kurz angesprochenen Dialog
mit dem ganzen Rat des Kreises, auch mit Bärbel Heym, am 30. Oktober. Es war der erste
öffentliche Dialog in Riesa mit den bisherigen politischen Entscheidungsträgern, der in der
Kirche Gröba stattfand. Diese Veranstaltung fand großen Zuspruch, die Kirche war wieder bis
auf den letzten Platz gefüllt. Die Menschen wollten Antworten auf ihre Fragen haben, wie es
politisch und wirtschaftlich weitergehen soll und welche Veränderungen kommen werden.
Gleichzeitig wurde der Dialog vor die Kirche übertragen, da nicht alle Platz fanden. Er spricht
von ca. 2500 bis 3000 Menschen, die die Diskussion in und vor der Kirche verfolgten.
Am 2. November 1989 fand die erste Demonstration in Riesa statt, der ein Friedensgebet
voranging. Das Gebet wurde aufgrund des immer größer werdenden Zuspruchs in Riesas
größte Kirche, die Trinitatiskirche, verlegt. Danach formierte sich ein Demonstrationszug von
etwa 3500 Menschen zum Rathaus, der in einer kurzen Kundgebung endete. An diesem Tag
hat es noch keine Spruchbänder oder Plakate gegeben.
In den folgenden Wochen fanden regelmäßig Friedensgebete in der Trinitatis- oder der
Klosterkirche, danach Demonstrationen entlang der heutigen Hauptstraße, statt. Nach der
Öffnung der innerdeutschen Grenzen am 9. November 1989 nahm der Zuspruch der Riesaer
Bürger jedoch immer weiter ab, die Kirchen wurden wieder leerer.
Am 6. November 1989 fand ein Dialog im Club der Jugend und Sportler, der heutigen
Stadthalle „Stern“, statt, der vom Rat des Kreises initiiert wurde. Es nahmen Vertreter von
Bürgerbewegungen, so auch Näther, sowie vom Rat des Kreises und auch die damalige
Riesaer Bürgermeisterin teil. In der Diskussion wurden verschiedenste Themen angesprochen:
- Bildung, die vielen Bürgern zu sehr politisch belastet war (z. B. Wehrkundeunterricht)
- Versorgung der Bevölkerung/wirtschaftliche Lage
- Wahlfälschungen in Bezug auf die Kommunalwahlen im Mai 1989
- Forderung nach freien Wahlen
- Abschaffung der Führungsrolle der SED, die in der Verfassung verankert war
- Reisefreiheit
63 16. und 23. Oktober 1989.
36
Auch dieser Dialog wurde von den Riesaer Bürgern im überfüllten Lokal sehr gut
angenommen; wieder fanden nicht alle Besucher einen Platz, sodass viele von ihnen stehen
mussten.
Die Verkündigung der Grenzöffnung am Abend des 9. Novembers 1989 verfolgte Näther bei
Bekannten aus dem Neuen Forum im Fernsehen. Die Bedeutung und die ganze Tragweite
dieser Maßnahme habe er allerdings erst am nächsten Tag erfasst, als er darauf angesprochen
wurde. In Riesa machte sich dieser Tag auf verschiedene Art und Weise bemerkbar. Zum
einen war dieses Ereignis wie eine Ventilöffnung, nach der immer weniger Menschen
Friedensgebete besuchten und an Demonstrationen teilnahmen. Zum anderen bildeten sich in
den folgenden Tagen lange Warteschlangen vor dem Gebäude der Volkspolizei und der Bank,
wo die Menschen ihren Pass und das Begrüßungsgeld holten. Generell, so sagte Näther, löste
die Grenzöffnung aber keine große Euphorie in Riesa aus. Sie war auch kein erklärtes Ziel des
Neuen Forums, Näther und die anderen Mitglieder wollten einen besseren Sozialismus,
besonders in wirtschaftlicher Hinsicht, mitgestalten.
Das letzte Ereignis im Jahr 1989, von dem Näther berichtete, war die Versiegelung der
Kreisdienststelle des MfS in Riesa am 5. Dezember 1989, die er persönlich begleitete. Auch
an diesem Tag gab es eine Kundgebung vor dem Gebäude der „Stasi“ in Riesa.
Neben dem Neuen Forum als Bürgerbewegung in Riesa war vor allem noch die „AG
Friedensgebet“ aktiv, die, dem Namen entsprechend, maßgeblich an der Organisation der
Friedensgebete in Riesa beteiligt war. Diese Bewegung begann mit ihrer Arbeit ca. einen
Monat vor dem Entstehen des Neuen Forums. Kurzzeitig gab es auch eine Gruppe des
„Demokratischen Aufbruchs“, die aber bald in der CDU Riesa aufging. Anfang des Jahres
1990 wurde die Ortsgruppe der SDP, später SPD, in Riesa gegründet, zu der auch Näther
gehörte.
Näther sieht das Neue Forum als Bürgerbewegung, welche die Forderungen von vielen
Menschen widerspiegelte. Die Anzahl der aktiven Mitglieder beziffert er auf ca. 80
Menschen. Dazu zählten auch einige SED-Mitglieder, die, so Näther, „die Nase voll hatten“.
Er schließt aber nicht aus, dass sie auch durch Inoffizielle Mitarbeiter (IM) des MfS bespitzelt
worden sind. Die Aktivität des Neuen Forums war nach den nächsten Wahlen beendet, auch
wenn ein Teil der Gruppe unter dem Namen noch kurzzeitig im Stadtrat saß.
Die Kirche bot Näther zufolge als Einzige Raum für Opposition in der DDR. Die
evangelischen Kirchentage seien z. B. besonders in den 80er Jahren für die SED-Spitze der
37
DDR grenzwertige kirchliche Veranstaltungen gewesen, auf denen fast nur politische Themen
angesprochen und diskutiert wurden. Die Chance, die die Kirche auf diese Art und Weise
Andersdenkenden bot, schätzt er als sehr positiv ein.
Für Näther waren sowohl die ältere als auch die jüngere Generation Träger der friedlichen
Revolution. Vor allem in Großstädten bei Veranstaltungen wurde die Vermischung von
Jugend/Studenten mit der älteren Generation durch gemeinsames Agieren sichtbar. In Riesa
betraf dies größtenteils die Generation mittleren Alters, die Anteil an den
Veränderungen/Umbrüchen hatte.
In den Riesaer Betrieben, vor allem im Stahl- und Walzwerk als dem damals größten
Arbeitgeber der Region, blieb die Stimmung anfangs zunächst ruhig. Gegen Ende des Jahres
1989 wurden Betriebsräte gegründet und auch einige innerbetriebliche Demonstrationen und
Arbeitsniederlegungen durchgeführt. Die Arbeiter beklagten vor allem schlechte
Arbeitsbedingungen. Näther selbst sorgte sich um den Industriestandort Riesa, da Tausende
Arbeitsplätze mit der Stahlproduktion verbunden waren. Die schließlich eingetretene hohe
Arbeitslosigkeit in der Region wurde ihm zufolge im Laufe des Jahres 1990 immer deutlicher.
Die Neuvermittlung von Arbeitsplätzen und Neustrukturierung der Region in den kommenden
Jahren sieht er als große Leistung der Verantwortlichen an.
Der Runde Tisch in Riesa war vom Rat des Kreises initiiert worden und setzte sich aus allen
bekannten, aktiven Organisationen zusammen. Näther bemängelt im Interview, dass von
diesem Gremium keine Impulse ausgingen, dass es sich mehr um eine offene
Diskussionsrunde handelte, die zu keinen nennenswerten Ergebnissen führte. Er wurde
größtenteils zur Absicherung von Entscheidungen genutzt. Den Runden Tisch in Berlin
betrachtete Näther als interessant, weil dort auch gute Diskussionspunkte aufkamen.
Den Ausgang der Volkskammerwahlen am 18.03.1990 schätzt Näther als voraussehbar ein.
Die meisten Menschen wollten nichts mehr mit dem Sozialismus zu tun haben. Damals hoffte
er jedoch noch, dass die Forderungen des Neuen Forums verwirklicht und der Sozialismus
neu gestaltet würde.
38
Den Beitritt der DDR zur BRD am 3. Oktober 1990 nach Artikel 23 des Grundgesetzes sieht
Näther als Fehler an. Die Wiedervereinigung hätte zu einer kompletten Neuentwicklung
genutzt werden müssen.64 Die „alten“ Probleme der BRD werden heute wieder sichtbar und
sind nach wie vor nicht gelöst. Seiner Meinung nach wurde mit dem Beitritt die Chance
verspielt, etwas gemeinschaftlich Neues zu gestalten.
Eine Botschaft, die Näther mir mit auf den Weg gegeben hat, bezieht sich auf das fehlende
Engagement vieler Menschen in unserer Gesellschaft. Er wünscht sich, dass sich mehr
Menschen, auch junge, aktiv in das öffentliche Leben in unserem Land einbringen.
Analyse der Darstellungsweise
Während des Gespräches wirkte Näther sehr aufgeschlossen und überlegt. Die
Wendeereignisse waren ihm noch sehr gut in Erinnerung, er berichtete sehr detailliert über die
Geschehnisse.
Seine Erläuterungen unterstützte er mit zahlreichen Materialien aus der Zeit, die er gesammelt
hatte, darunter Fotos, Zeitungsausschnitte und Handzettel. Das ermöglichte mir einen sehr
anschaulichen Blick in die Zeit. Diese Originaldokumente präzisierten zum Teil auch seine
Aussagen, zum Beispiel die Angabe von Personenzahlen.
Näthers Berichte basieren größtenteils auf synchronen Darstellungen, nach
Themenschwerpunkten geordnet, was allerdings auch durch die synchron geordneten
Fragestellungen bedingt ist. Zum Teil ging er auch in die diachrone Darstellung über,
besonders als er den Verlauf der Wendezeit in Riesa schilderte. Die Gesamtdarstellung der
Ereignisse war zu Beginn emotionaler als zum Ende des Gespräches hin, seine Ausführungen
wurden immer sachlicher. Das könnte daran liegen, dass das von mir zu Beginn gezeigte
Video sehr ergreifende Szenen beinhaltet.
Im Gespräch gab es oft Gesprächspausen, in denen er entweder den Wortlaut seiner nächsten
Antwort überlegte, was oft bei Fragen nach seiner eigenen Meinung geschah, die er dann aber
64 Eine andere Möglichkeit der Wiedervereinigung wird im Grundgesetz, Art. 146 angebracht: „ Dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt, verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist“, in: Bundeszentrale für politische Bildung (Hgg.): Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland. Bonn, 2005.
39
überzeugt vertrat, oder, wenn er nach passendem Material zu den Erläuterungen in seinen
Ordnern suchte.
Auffällig war, dass er oft zur Seite oder nach oben geschaut hat, meist beim Überlegen, zum
Teil aber auch während seiner Ausführungen. An anderen Stellen hat er wiederum
Blickkontakt gesucht, zum Beispiel wenn er mir eine Botschaft mitgeben wollte.
Auf alle Fragen, die ich ihm gestellt habe, ist er eingegangen und hat sie in mehr oder weniger
ausführlicher Form beantwortet. Er ist auch keiner Frage ausgewichen.
Insgesamt war es ein Gespräch, in welchem ich vor allem detaillierte Informationen zu
Friedensgebeten und Demonstrationen erhalten habe, an die sich andere Zeitzeugen nicht so
präzise erinnern konnten.
4.2.5 Vergleichende Analyse
Trotzdem alle Zeitzeugengespräche unabhängig voneinander stattfanden und es sich um
Personen aus damals und heute unterschiedlichen gesellschaftlichen und politischen Gruppen
handelt, stimmen einige ihrer persönlichen Überzeugungen und Meinungen zu bestimmten
Themenbereichen ganz oder teilweise überein.
Analyse des Inhaltes (sachliche Triftigkeit)
So beschrieben alle drei Interviewpartner den Mauerfall als zwar bedeutendes Ereignis, an
welches sie aber keine weiteren, besonderen Erwartungen stellten. Auch stimmt ihre
Beschreibung überein, dass der Tag keine große Euphorie in Riesa auslöste, sich aber in den
folgenden Tagen durch Warteschlangen vor dem Gebäude der Volkspolizei und der Bank
bemerkbar machte. Letztere Beobachtung wurde von Heym und Näther geschildert, Klinger
ist darauf nicht eingegangen.
Eine weitere Übereinstimmung ist in der Beschreibung der Träger der Friedlichen Revolution
zu finden. Alle drei Zeitzeugen sehen eher die mittlere Generation als die aktive an: Sie seien
die Träger der friedlichen Revolution gewesen, indem sie in oppositionellen Gruppierungen
und Bürgerbewegungen mitarbeiteten, Gebete und Demonstrationen organisierten, daran
teilnahmen und aktiv in den Umgestaltungsprozess eingebunden waren. Die junge Generation
40
wurde übereinstimmend in einer eher untergeordneten Rolle gesehen. Die Ursache dafür kann
darin liegen, dass diese jungen Menschen mit dem System der DDR aufgewachsen und
verwurzelt sind und keine Alternativen kannten oder selbst erlebt hatten. Sie arrangierten sich
mit dem System.
Ebenfalls identisch ist die Wahrnehmung der Rolle der Kirche in der DDR und konkret in
Riesa. Sie wird als Institution beschrieben, die Räume für Andersdenkende und für die
Opposition geboten hat. Ihr wird allerdings keine aktive, sondern eher eine passive Rolle
zugeschrieben, indem sie politische Veranstaltungen, wie die von Näther und seiner Gruppe
initiierte „Liedermacherveranstaltung“, tolerierte.
Die Arbeit des Runden Tisches in Riesa wird von allen Zeitzeugen aus verschiedenen
Gründen als ineffektiv betrachtet. Klinger, der kein Mitglied des Runden Tischs war,
begründet seine Einschätzung damit, dass nichts die Region Betreffendes diskutiert und
erreicht wurde. Die anderen beiden Zeitzeugen waren Mitglied des Runden Tisches. Während
Heym zum einen die Art der Diskussion kritisiert, die häufig auf persönliche
Anschuldigungen sowie Schuldzuweisungen führte, und zum anderen dass wenige
substanzielle Fragen diskutiert wurden, bemängelt Näther fehlende Impulse.
Alle Zeitzeugen erwähnten im Laufe des Gespräches, ohne dass ich konkret danach gefragt
habe, dass der Beitritt der DDR zur Bundesrepublik nicht die richtige Lösung gewesen sei.
Sie alle hätten sich eine Neugestaltung für ein vereintes Deutschland gewünscht. Mit dem
Beitritt, meinten sie übereinstimmend, sei die Chance verspielt worden, etwas ganzheitlich
Neues für das wiedervereinigte Deutschland zu gestalten.
Analyse der Darstellungsweise
In allen drei Gesprächen gab es kürzere und auch längere Gesprächspausen, die oft in der
genauen Überlegung der nächsten Antwort begründet lag. Näther und Heym unterstützen ihre
Erläuterungen durch Literatur oder Originaldokumente, während Klinger nur aus dem
Gedächtnis berichtete.
Die Erzählungen von Klinger waren sehr emotional, außerdem war er stets darauf bedacht,
dass ich ihm folgen kann und seine Botschaft, das Geschehen um mich herum stets zu
hinterfragen, verstehe. Bei den anderen beiden Zeitzeugen waren die Berichte sehr viel
weniger emotional, sondern eher sehr sachlich. Auch sie übermittelten mir Botschaften,
41
machten die Wichtigkeit derer durch Mimik und Gestik deutlich, haben aber nicht öfter
nachgefragt.
Betrachtung der fachlichen Triftigkeit
Im Folgenden sind die Datierungen aufgelistet, die wenigstens zwei Zeitzeugen benannt
haben:
2. Oktober 1989: Erstes Friedensgebet in der Kirche Riesa-Gröba (Heym, Näther)
30. Oktober 1989: Erster öffentlicher Dialog in der Kirche Riesa-Gröba (Heym, Näther)
2. November 1989: Friedensgebet in der Trinitatiskirche und erste Demonstration (Heym,
Näther)
5. Dezember 1989: Versiegelung der Kreisdienststelle des MfS in Riesa, begleitet durch
Demonstration (Klinger, Heym, Näther)
Alle Daten werden in verschiedenen Dokumenten und in der Fachliteratur bestätigt. Diese
finden sich zum einen in der Chronik des Jahres 1989 der Stadt Riesa65, zum anderen in: „Die
Friedliche Revolution. Aufbruch zur Demokratie in Sachsen 1989/90“ von Michael Richter.66
Der 5. Dezember 1989 wird nochmals im Beiheft zur Karte DV3 im „Atlas zur Geschichte
und Landeskunde von Sachsen“, S. 48, bestätigt. Somit können diese Aussagen als fachlich
triftig betrachtet werden.
Weiterhin wurden einige Ereignisse nur von jeweils einem der Zeitzeugen beschrieben:
11. Oktober 1989: Andacht und Liedermacherveranstaltung mit Friwi Sternberger und
Ulrich Kiehn (Näther)
16. und 23. Oktober 1989: Friedensgebet in der Kirche Riesa-Gröba (Näther)
11. November 1989: Erklärung des Neuen Forums zur Grenzöffnung (Heym)
15. Dezember 1989: Erster Runder Tisch in Riesa (Heym)
Die Liedermacherveranstaltung und die beiden Friedensgebete, deren Datenangaben jeweils
von Näther stammen, hat er mit Originaldokumenten (Handzettel) belegt, sodass auch diese 65 http://www.riesa.de/deu/leben_in_riesa/stadtgeschichte/chroniken/media_chroniken/chronik_1989.pdf, Aufruf am: 25.10.2012. 66 Richter, Michael: Die Friedliche Revolution. Aufbruch zur Demokratie in Sachsen 1989/90. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2009, S. 301, 523, 636.
42
als fachlich triftig angesehen werden können. Die anderen beiden Angaben machte Heym, die
diese aus einer Chronik des Jahres 1989, herausgegeben vom Staatsministerium für Kultus,
übernommen hat. Die Konstitution des Runden Tisches ist auch in der Chronik der Stadt
Riesa67 zu finden, während die Erklärung des Neuen Forums in keiner anderen mir bekannten
Fachliteratur erwähnt wird. Da die Angabe aber aus einer offiziellen Chronik stammt, kann
auch sie als fachlich triftig betrachtet werden.
Es gibt aber auch eine Datierung, die nicht übereinstimmt. Heym und Näther gaben für das
Datum des ersten Dialoges im Club der Jugend und Sportler den 13. November, bzw. den 6.
November 1989 an. In der Abhandlung von Michael Richter „Die Friedliche Revolution.
Aufbruch zur Demokratie in Sachsen 1989/90“ und in der Chronik des Jahres 1989 der Stadt
Riesa wird davon gesprochen, dass ein wöchentlicher Dialog unter dem Motto „Worte –
Dialog – Taten“ im Club der Jugend und Sportler am 6. November 1989 angekündigt wurde,
nicht aber, dass er an diesem Tag bereits stattgefunden hat. Am 13. November, so wird in
beiden Darstellungen übereinstimmend berichtet, fand ein Dialog statt, ob dies der Erste war,
wird nicht näher erläutert. Somit kann die Angabe des 13. November als fachlich triftig, die
des 6. November allerdings nicht betrachtet werden.
Betrachtung der sprachlichen Triftigkeit
Alle drei Zeitzeugen bewegten sich während des Gespräches auf sprachlich gehobener Ebene.
Erkennbar war das an vor allem an der Benutzung verschiedener Fachtermini. Bei Klinger
waren dies vor allem landwirtschaftliche Fachbezeichnungen, wie z. B.
„Vollgenossenschaftlichkeit“ oder die genaue Angabe von damals geltenden Flächenmaßen.
Die Sprache von Heym und Näther, aber auch Klingers, zeichnete sich allgemein durch die
Verwendung von politisch-gesellschaftlicher Fachsprache aus, wie „absoluter
Führungsanspruch der SED“, „gesellschaftlicher Diskurs“ oder „Soziale Markwirtschaft“.
Näther verwendete zum Teil metaphorische Darstellungen zur Veranschaulichung der
Sachverhalte, z. B. „Ventilöffnung“ als Übertragung des Mauerfalls.
Die sprachlich korrekte und anspruchsvolle Darstellung bedeutet, dass alle drei
Zeitzeugenberichte auch als sprachlich triftig anzusehen sind.
67 http://www.riesa.de/deu/leben_in_riesa/stadtgeschichte/chroniken/media_chroniken/chronik_1989.pdf, Aufruf am: 25.10.2012.
43
Betrachtung der normativen Triftigkeit
Bei allen drei Zeitzeugen war aus den Gesprächen eine demokratische Grundeinstellung
herauszufiltern, was durch Akzeptanz der parlamentarischen Demokratie und im Fall von
Heym und Näther im Engagement in Parteien deutlich wurde. Weiterhin wurden
demokratische Grundwerte, wie Engagement und Meinungsfreiheit, von allen Zeitzeugen als
wichtig angesehen. Engagement als wichtiger Bestandteil für das Zusammenleben in der
Gesellschaft wurde mir von Heym und Näther auch als Botschaft übermittelt.
Die von den Zeitzeugen angesetzten Normen und Werte sind alle Bestandteil unserer heutigen
Demokratieansichten. Die Gespräche sind somit auch als normativ triftig anzusehen.
44
4.3 Fokussierung auf Geschichte (Fokus II)
4.3.1 Erläuterungen zur Fokussierung
Nachdem im Fokus I die einzelnen Vergangenheitspartikel herausgefiltert wurden, werden
nun im Fokus II die Art und Weise der Darstellung der Narration sowie die
Kontextualisierung der Vergangenheitspartikel untersucht. Jetzt werden auch Verbindungen
zwischen dem Inhalt der Narration und der Darstellungsweise gezogen, um die Wirkung auf
die Rezipienten zu analysieren.68
Der zunächst wichtigste Schritt im Fokus II ist die Gliederung des Interviews in thematische
Schwerpunkte. Dabei wird auch geprüft, inwieweit der Zeitzeuge auf die Fragestellungen
geantwortet hat, welche er nicht oder nur wenig ausgeführt hat und warum er dies getan hat.69
Ein weiterer Punkt ist die Analyse der Argumentationsstruktur der Narration. Dabei ist es für
das Erfassen der Tiefenstruktur des Gesagten wichtig, beschreibende, wertende und
belehrende Gesprächsteile zu unterscheiden, aber auch die Bedeutung von Gesprächspausen
und nicht oder nur teilweise beantworteter Fragen zu prüfen.70 Es wird untersucht, welchen
Einfluss über Biographisches hinaus äußere, gesellschaftliche und politische, Zustände auf die
Ansichten und Entscheidungen des Zeitzeugen haben.71
Es folgt die Erschließung der Position des Zeitzeugen gegenüber den entsprechenden
Geschehnissen. Dies geschieht durch die verbindende Analyse von Inhalt und seiner
Darstellungsweise/ seinem Verhalten. Dabei wird auch untersucht, ob, warum und in welcher
Weise sich der Standpunkt des Interviewpartners von der damaligen Position bis heute
verändert hat oder warum nicht.72
4.3.2 Zeitzeuge 1
Wie bereits im Fokus I festgestellt, erfolgte die Darstellung der Ereignisse primär synchron.
Das bedeutet, dass sie, nach thematischen Einheiten geordnet, sich an Zuständen orientiert,
68 vgl. Mebus, Sylvia: Anregungen zur Arbeit mit Zeitzeugen für die Hand von Lehrern und Schülern. a.a.O. S.69. 69 vgl. Mebus, Sylvia: a.a.O. S.67. 70 vgl. Mebus, Sylvia: a.a.O. S.68. 71 vgl. Mebus, Sylvia: a.a.O. S.69. 72 vgl. Mebus, Sylvia: a.a.O. S.68.
45
die sich zeitgleich ereigneten. In diesem Fokus stehen Zeitverläufe nicht im Zentrum der
Analyse.
Die Themen entsprechen dabei den von mir für das Gespräch ausgewählten Kategorien73,
nach denen ich im Gespräch gezielt gefragt habe. In dieser von mir im Voraus der Gespräche
vorgenommenen Strukturierung folgt der synchronen Darstellungsweise.
Klinger konnte mir grundsätzlich zu allen Bereichen Informationen geben und seine
persönliche Wahrnehmung schildern. Zum „Runden Tisch“ in Riesa hat er am wenigsten
berichtet, er verfügte auch nicht über nähere Informationen, die Inhalte der Diskussionen und
Ergebnisse betreffend. In diesem Bereich waren auch die Gesprächspausen am längsten, er
hat nach den Fragen stets sehr lange gezögert, bis er mir geantwortet hat. Die Antworten
waren kurz; er driftete recht schnell von den von mir vorgelegten Fragestellungen ab. Der
Befragte ging dazu über, mir bereits seine Gesamteinschätzung zum Wendeprozess und der
deutschen Einheit zu schildern.
Im Fokus I bin ich bereits kurz darauf eingegangen, dass er stets die Verbindung zur
Landwirtschaft gesucht hat. Dabei hat er allerdings nicht nur bezogen auf den Wendeprozess
erzählt, sondern ist zum Teil sehr weit vom eigentlichen Thema abgewichen. So hat Klinger,
vermutlich um mir ein besseres Verständnis der Materie zu ermöglichen, die komplette
Entwicklung der Landwirtschaft und Landwirtschaftspolitik in der DDR und seine alltägliche
Arbeit beschrieben. In diesen Teilen des Gespräches gab es auch die wenigsten Pausen, die
Berichte darüber waren sehr flüssig. Die Ursache dafür sehe ich in der die Tatsache, dass er
sich sein ganzes Berufsleben lang mit der Landwirtschaft in der DDR, beschäftigt und sein
Lebenswerk somit sehr stark verinnerlicht hat.
Als Mitarbeiter für Ökonomie und Planung der Abteilung Landwirtschaft im Kreisamt Riesa
war er oft mit Mitgliedern und Funktionären der SED zusammen. Er selbst trat nicht in diese
Partei ein, doch schätzte er einige seiner Kollegen, die SED-Mitglieder waren, sehr.
Gleichzeitig betonte er aber auch, dass er trotzdem stets aufpassen musste, was er wem
erzählen konnte und was nicht, wahrscheinlich aufgrund der Angst, nach kritischen
Äußerungen von der Stasi bespitzelt zu werden. Darin scheint auch der Grund zu liegen, dass
er sich damals sehr passiv verhielt und viele Dinge einfach auf sich zukommen ließ. Im
Gespräch übermittelte er mir an mehreren Stellen, dass er die Tragweite der Geschehnisse im
73 siehe dazu nochmals Kapitel 3.3 Prinzip des Leitfadeninterviews – Struktur der Gespräche.
46
Herbst 1989 damals noch nicht einschätzen konnte, so zum Beispiel die Folgen des Falls der
Berliner Mauer oder die Wirkungen der Friedensgebete/ Demonstrationen in Riesa.
Die politischen Veränderungen der Wendezeit 1989/90 schätzt er als notwendig ein. Es
musste etwas geschehen, da das System in der bestehenden Form marode war, besonders auf
wirtschaftlichem Gebiet. Dem Ergebnis des Wendeprozesses, der in die deutsche Einheit
durch Beitritt der DDR zur BRD mündete, stand und steht er jedoch kritisch gegenüber.
Grundsätzlich sei es die beste und einzige Lösung gewesen, betont er dennoch. Er sieht sich
durch seine Beobachtungen, die er in der heutigen Gesellschaft macht, z. B. die
„Ellenbogengesellschaft“, die er als Stichwort nannte, in seiner Meinung bestätigt, dass auch
die jetzige parlamentarische Demokratie nicht optimal ist und genauso Fehler hat, wie der
Sozialismus in der DDR. Auch dem Wirtschaftssystem in der Bundesrepublik, die soziale
Marktwirtschaft mit der nachfrageorientierten Wirtschaftspolitik, weist er Schwächen zu. Er
erwähnte, dass ein Wirtschaftssystem, das ständiges Wachstum verlangt, auf Dauer, also über
mehrere Jahrzehnte und Jahrhunderte, nicht funktionieren kann. Dennoch sei die
Wiedervereinigung die einzige Lösung gewesen, da die DDR am Ende war.
4.3.3 Zeitzeuge 2
Auch die Erzählungen von Heym sind synchron kontextualisiert.
Mithilfe persönlicher Quellen und Dokumenten konnte sie mir sachlich triftig genaue Daten
übermitteln, die für Riesa in der Wendezeit relevant waren. Da sie in die damaligen
Veränderungen aktiv eingebunden war, hat sie einen umfassenden Blick auf die Zeit. Ihre
Berichte waren in sich schlüssig, auch deshalb, weil sie ihre Erläuterungen mit zusätzlichem
Material unterstützte.
Heym beantwortete mir alle Fragen; es entstanden auch kaum Gesprächspausen. Vor jeder
Antwort hat sie jedoch kurz überlegt, bevor sie mit ihren Erzählungen begann. Das ganze
Gespräch war sehr flüssig und geriet nie in eine längere Pause, die störend wirkte.
Während des Gespräches war sie sehr auf den Inhalt bedacht, sie fügte kaum
Nebengeschichten an. Sie stellte immer wieder Bezüge zu ihrer aktuellen Parteiarbeit her, das
war die einzige Abweichung vom eigentlichen Thema des Gespräches.
47
Heyms Standpunkt zu den Ergebnissen der Wende unterscheidet sich kaum vom damaligen.
Sie war und ist der Meinung, dass der Sozialismus in der Form, wie er in der DDR praktiziert
wurde, nicht mehr tragbar war. Gleichzeitig empfindet sie das demokratische System der
BRD vor allem mit dem System der sozialen Marktwirtschaft als nicht effektiv. Die
Wirtschaft ist für sie momentan zu verschwenderisch und verbraucht zu viele Ressourcen. Die
soziale Marktwirtschaft als Wirtschaftssystem verlangt für wirtschaftliches Gleichgewicht ein
permanentes Wirtschaftswachstum. Das ist ihrer Meinung nach nicht auf Dauer umsetzbar.
Darüber hinaus kritisiert sie auch das Überangebot an Waren, was aber eines der Kennzeichen
für den Kapitalismus und die Marktwirtschaft ist. Wenn man dieses Überangebot beseitigen
wöllte, müsste man auch die soziale Marktwirtschaft als Wirtschaftssystem abschaffen.
Um für die Gestaltung einer lebenswürdigen Gesellschaft etwas beizutragen, engagiert sie
sich auch immer noch in der Partei „Die Linke“, für die sie im Kreistag Meißen sitzt.
4.3.4 Zeitzeuge 3
Wie die beiden anderen Zeitzeugenberichte sind auch die Berichte von Näther synchron
kontextualisiert.
Näther konnte mir die meisten konkreten Daten und Zahlen zu Friedensgebeten,
Demonstrationen und Podiumsdiskussionen/Dialogen von allen Zeitzeugen liefern. Er
erinnerte sich noch sehr gut an die damaligen Ereignisse. Der Grund dafür liegt nicht nur in
seinem intensiven Engagement damals, sondern auch darin, dass er schon oft als Zeitzeuge zu
diesem Thema befragt wurde. Seine Berichte wirken sehr plausibel, besonders dadurch, dass
er sie durch Fotos, Zeitungsausschnitte und Flugblätter aus der Zeit unterlegte. Dadurch
konnte er auch ziemlich genaue Angaben z. B. zur Anzahl an teilnehmenden Personen
machen.
Näther wich dabei weder vom Thema ab oder erzählte Nebengeschichten. Nur am Anfang des
Interviews berichtete er, zur Einordnung seines Lebens in Riesa, das er als Jugenddiakon 1982
begann. Er fokussierte seine Aussagen ganz auf die Wendezeit. Der Befragte ging auf alle
meine Fragen ein. Bei einigen Fragen zu seiner persönlichen Wahrnehmung und
Einschätzung der Geschehnisse entstanden Gesprächspausen, die allerdings nur von kurzer
Dauer waren. Er fand dann schnell wieder in das Gespräch hinein und stellte mir seine
Meinung umfassend und begründet dar.
48
Im Gespräch sagte Näther, dass er schon seit seiner Kindheit durch die evangelisch-kirchliche
Arbeit geprägt war, was seine Ansichten besonders zu Frieden und Umwelt prägte. In dieser
Arbeit hat er sich auch zuerst politisch engagiert, da sich im Raum der Kirche ein wenig
Widerstand entfalten konnte. Da er schon vor 1989 mit kritischen Veranstaltungen, wie dem
Liedermacherabend, immer viele Menschen erreichen konnte, setzte er sein Engagement zur
Wendezeit fort. Nachdem das Informationsmonopol der SED nicht mehr existierte und die
freie Meinungsäußerung nun ohne Konsequenzen möglich war, konnte er dieser Arbeit mit
viel weniger Problemen als vorher nachgehen.
Er sieht das Ergebnis der Wendezeit in der Einheit als Bundesrepublik dennoch kritisch, denn
sein eigentliches Ziel mit dem „Neuen Forum“ war die Neugestaltung des politischen Systems
der DDR, die Umwandlung in einen ‚besseren‘ Sozialismus. Auch die Art und Weise des
Vollzugs der deutschen Einheit sieht er kritisch, denn der Beitritt der DDR zur BRD laut GG
Art. 23, ohne Veränderungen am gesamten System, sei kein Fortschritt gewesen. Damals
wurde ihm zufolge eine Chance vertan, etwas Neues, Ganzheitliches für das wiedervereinte
Deutschland zu gestalten, diese Variante ist auch im GG Art. 146 verankert. Diese Position
vertritt er noch heute.
4.3.5 Vergleichende Analyse
Ich habe allen drei Zeitzeugen in den Interviews die gleichen Fragen gestellt.
Ihre persönlichen Meinungen bildeten alle drei Zeitzeugen durch ihre individuellen
Entwicklungen aus. Während Klinger sich als zur DDR-Zeit politisch nicht gebundener
Zeitgenosse auf sein Berufsfeld, die Entwicklung Landwirtschaft im Kreis Riesa,
konzentrierte und aus dieser Sicht urteilte, stellte Heym ihre Erläuterungen vor allem aus
politisch links orientierter Sicht dar. Näther argumentierte als evangelischer Christ. Klinger
setzt den Beginn der Veränderungen in Riesa im November/Dezember 1989 an, Näther ordnet
ihn schon in den Oktober ein. Die Meinungen aller drei Zeitzeugen bezüglich der deutschen
Einheit stimmen aber, trotz ihrer verschiedenen Prägungen, überein – sie sehen den einfachen
Beitritt der DDR zur BRD kritisch an und hätten sich eine andere Lösung gewünscht.
Auch sind die politischen Grundpositionen bei allen drei Zeitzeugen über die Jahre hinweg
identisch geblieben. Bei Näther und Heym liegt das auch in der engagierten Mitarbeit in der
SPD bzw. „Die Linke“ begründet, die eine gewisse Konstanz in den persönlichen
49
Einstellungen mit sich zieht. Klinger sagte selbst, dass er die Geschehnisse damals in ihrer
genauen Tragweite nicht genau einschätzen konnte und er seine Meinung erst im Laufe der
Jahre mit einem gewissen Abstand zu den Erlebnissen und mehr Erfahrungen mit dem neuen
politischen System herausbildete.
50
4.4 Fokussierung auf Gegenwart/Zukunft (Fokus III)
4.4.1 Erläuterungen zur Fokussierung
Der Fokus III beschäftigt sich mit den Bezügen, die der Zeitzeuge zur eigenen Gegenwart und
Zukunft herstellt. Dabei wird untersucht, welche Bedeutung er dem Vergangenen für
Gegenwart und Zukunft gibt und wie er seine Bedeutungszuweisung dem Rezipienten
vermittelt.74 In diesem Teil der De-Konstruktion werden nun auch die Botschaften und
Orientierungsangebote erfasst, die der Zeitzeuge dem Zuhörer mit auf den Weg geben will.75
Zudem werden jetzt Bezüge zwischen dem Erzählten, den Deutungen und schließlich den
Weisungen und Orientierungsangeboten erörtert. Dabei wird auch die Darstellungsweise
(Mimik und Gestik, sprachliche Gestaltung) einbezogen. Damit wird die Wirkung der
Narration auf den Rezipienten untersucht. Zum Schluss werden die Chancen und Grenzen von
Zeitzeugengesprächen für das eigene Geschichtsverständnis und persönliche Orientierung
hinterfragt.76
4.4.2 Zeitzeuge 1
Während des Gespräches mit Klinger stellte er nur wenige Bezüge zur Gegenwart her. Erst
auf die Frage nach seiner heutigen Einschätzung der damaligen Ereignisse nahm er Bezug auf
die aktuelle Situation. Im restlichen Gespräch suchte er an keiner Stelle die Verbindung zur
Gegenwart, sondern konzentrierte sich nur auf das Vergangene.
Aus dem ganzen Gespräch konnte ich aber eine Botschaft herausfiltern, die er mehrfach
äußerte – man soll immer alles hinterfragen – hinterfragen, wer etwas entscheidet und
verantwortet, warum etwas geschehen ist, wer von bestimmten Entscheidungen profitieren
könnte usw. Die Art und Weise der Übermittlung verstärkte seine Botschaft. Durch die lauter
werdende Stimme und erhobenen Zeigefinger verdeutlichte er mir, dass das Folgende von
Bedeutung ist. Alles zu hinterfragen, ist auch eine Schlussfolgerung, die er für sich selbst aus
den Erfahrungen sowohl mit dem politischen System der DDR als auch mit dem heutigen der 74 Vgl. Leitfaden und Bausteine zur De-Konstruktion „fertiger Geschichten“ im Geschichtsunterricht. In: Mebus, Sylvia, Schreiber Waltraud: a. a. O. S.5. 75 vgl. Mebus, Sylvia: Anregungen zur Arbeit mit Zeitzeugen für die Hand von Lehrern und Schülern. a.a.O. S.69. 76 vgl. Mebus, Sylvia: a. a. O. S. 69.
51
BRD gezogen hat. Klinger übermittelte mir hier eine Botschaft, die schon Jahrhunderte alt ist.
Bereits Immanuel Kant formulierte die Aufforderung: „Habe Mut, dich deinen eigenen
Verstandes zu bedienen“ im Rahmen der Aufklärung. Diese Botschaft ist meines Erachtens
sehr wichtig, denn das Hinterfragen hilft, Prozesse und Entwicklungen sowie deren
Hintergründe zu verstehen und ist alltäglich bedeutsam. Wenn man diese Prozesse verstanden
hat, die meist politischer Natur sind, kann man auch aktiv in das aktuelle Geschehen
eingreifen und seine eigene Meinung einbringen. Das ist in der parlamentarischen
Demokratie, in der wir leben, frei möglich und unbedingt notwendig. Denn nur wenn jeder
sich intensiv mit politischen Fragen auseinandersetzt und seine Forderungen deutlich macht,
können Veränderungen herbeigeführt werden.
Das Zeitzeugengespräch hat mir eine ganz neue Sicht auf die Geschehnisse der Wendezeit
eröffnet. Es war sehr interessant, das aus der Sicht des Sektors der Landwirtschaft geschildert
zu bekommen. Anhand dieses Bereiches konnte er mir die Wendezeit als Zeitzeuge vor
Augen führen. Er hat in fast jedem Themengebiet einen Bezug zur Landwirtschaft gefunden.
Aus diesem Blickwinkel habe ich die Geschehnisse vorher noch nicht betrachten können. In
Literatur wird meistens nur die politische und wirtschaftliche Sicht auf die Wendezeit
geschildert, oft auch aus Sicht der Stadtbevölkerung. Der Rest der Bevölkerung, hier speziell
aus der Landwirtschaft, der die Geschehnisse aus ihrer eigenen beruflichen und persönlichen
Perspektive beurteilt hat, wird meist außer Acht gelassen. Das Interview hat mir gezeigt, dass
eine multiperspektivische Betrachtung historischer Sachverhalte für eine umfassende
Beurteilung unbedingt notwendig ist.
4.4.3 Zeitzeuge 2
Heym stellte im Zeitzeugengespräch immer wieder den Bezug zur Gegenwart her. Sie zog
Parallelen vom damaligen System zum heutigen. So verglich sie zum Beispiel die Struktur der
SED mit jener der CDU. Dabei stellte Heym fest, dass die CDU der SED zum Teil sehr
ähnlich war und ist – eine sehr unbewegliche Partei mit festgefahrenen Strukturen und
vorgegebenen Karriereleitern. Dabei kritisierte sie vor allem, dass es schwierig ist, mit der
CDU zu diskutieren und Kompromisse zu finden. Sie selbst sieht in den Erlebnissen, die sie in
der DDR gemacht hat, einen großen Erfahrungsschatz, ebenso in ihren Erfahrungen im
politischen System der BRD. Sie sagte, dass man aus den Fehlern beider Staatssysteme lernen
müsste, um etwas Neues zu schaffen und stellte dabei den Bezug zu ihrer aktiven Arbeit in
52
der Partei „Die Linke“ her. Das zeigt, dass sie der Vergangenheit eine wichtige Rolle für die
Gegenwart/ Zukunft zuweist. Sie gestand auch Fehler in ihrem eigenen Verhalten ein – so
wirft sie sich zum Beispiel vor, von der SED-Führung vorgegebene Beschlüsse und
Weisungen nicht ausreichend hinterfragt zu haben.
Auch sie formulierte vor allem am Ende des Gespräches ihre Botschaften an mich. So
kritisierte sie fehlendes Engagement der jungen, also meiner, Generation in der Politik und
betonte, dass es unsere Aufgabe sei, die demokratische Gesellschaft weiter zu gestalten. In
diesem Zusammenhang übermittelte sie mir weiter, dass es unsere Aufgabe sei, eine
lebenswürdige Gesellschaft zu gestalten. Kritik übte sie dabei vor allem an der
verschwenderischen Konsumgesellschaft. Sie betonte, dass sie sich in ihrer Parteiarbeit für die
Gestaltung eben dieser lebenswürdigen Gesellschaft einsetzt.
Heym äußerte, dass die eher ineffektive Arbeit des Runden Tisches in Riesa ihre stetige
Diskussionsbereitschaft gelähmt habe, da man zu keinem Ergebnis gekommen sei. Auch das
verstand ich als eine Botschaft an mich, dass ständige Diskussionen bei fehlender Zielklarheit
und mangelnder Stringenz Ergebnisse vermissen lassen.
Das Gespräch hat mir gezeigt, dass es in den Reihen der SED viele reformwillige Mitglieder
gab, die positive Veränderungen am System der DDR bewirken wollten, um ihr Land besser
zu gestalten. Mir wurde bewusst, dass sich hauptsächlich die Führungsebene gegen alle diese
Bemühungen stemmte und den Fortschritt blockierte. Sie berichtete, dass sie sich eine
positive Reaktion der Staats- und Parteiführung auf den Reformkurs (Glasnost und
Perestroika) Gorbatschows in der UdSSR gewünscht hätte. Dass sie sich damals sehr schnell
und trotz Kritik aus den Reihen der SED auf Podiumsdiskussionen einließ und mit dem Rat
des Kreises selbst einige Diskussionsforen inszenierte, empfinde ich im Kontext der Zeit
betrachtet als sehr beeindruckend, besonders, da sie stets mit persönlichen Angriffen rechnen
musste.
4.4.4 Zeitzeuge 3
Auch Näther weist der Vergangenheit eine wichtige Rolle für die Gegenwart und Zukunft zu.
So formulierte er, dass er es als wichtigen Erfahrungsschatz betrachtet, dass er beide Systeme,
das der DDR und das der BRD, durchleben darf. Aus den strukturellen und politischen
Fehlern, die in der DDR gemacht wurden, konnte man lernen und sollte diese in Zukunft
53
vermeiden. Diese Erfahrungen helfen ihm auch in seiner politischen Aktivität als
Stadtratsabgeordneter für die SPD, da in dieser Funktion das Betrachten eines Sachverhaltes
aus verschiedenen Blickrichtungen von großer Bedeutung ist. Im Stadtrat als das Riesaer
demokratische Gremium kann Näther mit seiner Stimme und frei nach seinem Gewissen bzw.
mit seiner Partei gemeinsam über Beschlüsse entscheiden und diese mit beeinflussen.
Er formulierte während des Gespräches kaum Botschaften. Das Einzige, das er mir
übermittelte, war, dass nur mit Engagement Ziele erreicht werden können. Er kritisierte damit
auch die aktuell in unserer Gesellschaft immer mehr verbreitete Politikverdrossenheit.
Deshalb appelliert er an die junge Generation, sich mehr für ihre politischen Ziele und
Vorstellungen einzusetzen, die Möglichkeiten des Engagements und der freien
Meinungsäußerung in einer Demokratie auszunutzen. Diese Botschaft empfinde ich als sehr
wichtig, denn nur so kann der Willen der Bevölkerung umgesetzt werden. Nur aktive
Teilnahme am politischen Leben, wie sie viele Menschen zur Wendezeit unter Beweis
stellten, so Näther, verspreche Veränderungen.
Das Gespräch hat mir gezeigt, dass ohne solch engagierte Menschen wie Näther die
Wendezeit nicht die Veränderungen mit sich gebracht hätte, die schließlich in die deutsche
Einheit mündeten. Nur mit großem persönlichem Einsatz dieser Menschen, mit ihrem Mut
und ihrem Durchhaltevermögen, konnten Demonstrationen, Friedensgebete und Diskussionen
organisiert und durchgeführt werden.
4.4.5. Vergleichende Analyse
In allen drei Zeitzeugengesprächen habe ich Denkanstöße und Anregungen bekommen, die
unterschiedlicher Art waren und auf den persönlichen Erlebnissen der Zeitzeugen beruhten.
Auch die Botschaften waren unterschiedlich, doch gemeinsam betonten Näther und Heym, die
junge Generation sollte sich mehr für die Mitgestaltung und Weiterentwicklung unserer
demokratischen Gesellschaft engagieren. Dabei sprechen beide auch in ihrer politischen
Position als Kreistags- bzw. Stadtratsabgeordnete, aus der sie dieses Engagement erwarten.
54
5. Chronologie der Wendezeit in Riesa
In den drei Zeitzeugenberichten habe ich viele Informationen zu unterschiedlichen
Ereignissen zur Wendezeit in Riesa erfahren können. Alle Informationen, die ich so erhalten
habe, sind in folgender Übersicht zu zusammengefasst:
Datum Ereignis
2. Oktober 1989 Erstes Friedensgebet in der Kirche Riesa-
Gröba
11. Oktober 1989 Andacht und Liedermacherveranstaltung mit
Friwi Sternberger und Ulrich Kiehn
16. Oktober 1989 Friedensgebet in Riesa-Gröba
23. Oktober 1989 Friedensgebet in Riesa-Gröba
30. Oktober 1989 Erster öffentlicher Dialog in der Kirche
Riesa-Gröba
2. November 1989 Friedensgebet in der Trinitatiskirche und
erste Demonstration
6. November 1989 Friedensgebet in der Klosterkirche Riesa
11. November 1989 Erklärung des Neuen Forums zur
Grenzöffnung
13. November Dialog im Club der Jugend und Sportler
5. Dezember 1989 Versiegelung der Kreisdienststelle des MfS
in Riesa, begleitet durch Demonstration
15. Dezember 1989 Erster Runder Tisch in Riesa
An dieser Chronik ist zu erkennen, dass die Aktivität bei Friedensgebeten und
Demonstrationen der Riesaer Bürger vor allem im Oktober und November sehr hoch war, im
Dezember nach Bildung des Runden Tisches dann abflachte. Im Jahr 1990 gab es keine
weiteren Ereignisse in Riesa, nur die regelmäßigen Treffen des Runden Tisches. Wie A.
Näther berichtete, nahm das Interesse der Bevölkerung an Demonstrationen und
Friedensgebeten nach dem Fall der Berliner Mauer und der damit verbundenen erreichten
Freiheit stetig ab. Dennoch wollten die Menschen ihre Meinung äußern, was schließlich in der
55
hohen Wahlbeteiligung an den Volkskammerwahlen am 18. März 1990 deutlich wurde.
Während der Jahre in der DDR wurde stets nach Einheitsliste gewählt, die Menschen hatten
keine Chance, wirklich mitzubestimmen. Deshalb war die erst zweite freie Wahl in der DDR
etwas Besonderes, viele nutzten deshalb die Chance, dass sie ihre Stimme bei den Wahlen
tatsächlich frei vergeben und damit etwas bewirken konnten.
56
6. Vergleich der Ergebnisse mit Darstellungen in
wissenschaftlichen Publikationen
Wie in den meisten anderen Städten der DDR bildeten sich auch in Riesa oppositionelle
Bewegungen, die Friedensgebete, Demonstrationen und Diskussionen organisierten. Dennoch
ist die Wendezeit in Riesa im Vergleich zu anderen Regionen der DDR, insbesondere im
Vergleich mit den Großstädten, etwas anders verlaufen. Es fällt ins Auge, dass in Riesa erst
recht spät Aktionen, wie Friedensgebete, initiiert worden sind. Während in Leipzig schon
Anfang September 1989 das erste Gebet mit folgender Demonstration stattfand77, begann
diese Entwicklung in Riesa erst Anfang Oktober. Die erste Demonstration fand sogar erst
zwei Monate später als in Leipzig, nämlich Anfang November, statt. Die Ursache für die
spätere Entwicklung sieht Näther beispielsweise darin, dass in Riesa, begründet durch das
Stahl- und Walzwerk, eine hohe Anzahl an Arbeitern, also weniger an Intelektuellen, lebte.
Die Arbeiter wurden in der DDR sehr gefördert. Im „Arbeiter- und Bauernstaat“ bekamen
diese die besten Wohnungen, für deren Kinder gab es günstige Ferienprogramme. Sie hatten
also ein recht gutes Leben und Auskommen in der DDR, während Intelektuelle zumeist
benachteiligt waren und so den Staat eher kritisch betrachteten. Er berichtete weiterhin, dass
sich schließlich auch nur wenige Arbeiter bei Friedensgebeten und Demonstrationen
engagierten als z. B. die Ingenieure im Stahlwerk sich einbrachten.
Eine Besonderheit besteht auch darin, dass Riesa sehr stark von den wirtschaftlichen
Umbrüchen der Zeit betroffen war. Dass das Stahlwerk mit seinen ca. 11.000 Beschäftigten in
der bisherigen Form, mit der veralteten Technik, nicht weiter betrieben werden konnte, wurde
laut Heym und Klinger gegen Anfang des Jahres 1990 schnell bewusst. Dementsprechend
waren die Reaktionen gegenüber den wirtschaftlichen Veränderungen, die die Wende mit sich
brachte, unter den Arbeitern und damit einem Großteil der Riesaer Bevölkerung eher
verhalten, wenn nicht sogar negativer Art. Die Ursache dafür liegt darin, dass vielen
Menschen bewusst wurde, dass sie arbeitslos werden würden. Doch Arbeitslosigkeit, wie sie
in der Bundesrepublik auftrat, hat es in der DDR nicht gegeben. Die Bedrohung durch
Arbeitslosigkeit gab es sicherlich überall in Städten der DDR – Riesa war aber aufgrund der
einseitigen, auf Schwer- und Stahlindustrie ausgerichteten, Wirtschaftsstruktur besonders
davon betroffen.
77 vgl. J. Engelbrecht, W. Maron: Sechzig Jahre deutsche Geschichte 1949 – 2009. Aschendorff 2009, S.115.
57
Die beschriebene ineffektive Arbeit des Runden Tisches in Riesa hat mich zunächst sehr
erstaunt, wurde doch die Etablierung dieser Diskussionsplattformen allgemein als eine
sinnvolle und effektiv arbeitende Institution zum Diskurs über die Fortentwicklung der DDR
betrachtet.78 Die Begründung von Heym und Näther dafür ist allerdings insofern
nachvollziehbar, als die Diskussionen zu keinem Ergebnis führten und sie mitunter sogar in
persönlichen Angriffen und Vorwürfen endeten. Alle drei Zeitzeugen betonten, dass sie die
Diskussionen am Runden Tisch in Berlin als sehr interessant empfunden haben, aber der
Runden Tisches konkret in Riesa ineffektiv arbeitete und deshalb zu keinen Ergebnissen
führte. Der Grund dafür liegt in der Bevölkerungsstruktur Riesas. Hier lebten vor allem
Arbeiter der Schwerindustrie und nur wenige Intelektuelle. Diese waren aber meist die
Mitglieder des Runden Tisches, sodass es schwierig war, geeignete Diskussionspartner zu
finden.
Die Entwicklungen in Riesa sind folglich insgesamt insofern typisch für die Wendezeit und
die friedliche Revolution, als sich oppositionelle Gruppen/ Bürgerbewegungen gründeten, die
für eine Reformierung der DDR einstanden und dies mithilfe von Friedensgebeten,
Demonstrationen und Dialogen/Diskussionen erreichen wollten. Auch die Auflösung der
Kreisdienststellen des Ministeriums für Staatssicherheit, die am 5. Dezember 1989 stattfand,
kann als eine zeittypische Aktion für die Zeit betrachtet werden. Untypisch im Vergleich zu
den Wendereignissen in den Großstädten, z. B. Berlin, Leipzig, Dresden, sind hingegen die
allgemein recht späte Entwicklung des Widerstandes und die recht kurze Arbeit des Runden
Tisches, die zu keinem Ergebnis führte.
78 vgl. Richter, Michael: Die Friedliche Revolution. Aufbruch zur Demokratie in Sachsen 1989/90. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2009, S. 982f.
58
7. Fazit
Die Zeitzeugengespräche zur Wendezeit haben mir einen vielschichtigen Blick auf diese
historisch bedeutsame Zeit bereitet, als die DDR sich als Staat nicht mehr behaupten konnte
und mit ihrem Beitritt zur Bundesrepublik verschwand. Ich habe Ereignisse aus verschiedenen
Blickwinkeln geschildert bekommen und drei teilweise ähnliche, teilweise ganz
unterschiedliche Wahrnehmungen erfahren können. Jeder Zeitzeuge verknüpft diese Zeit mit
persönlichen Erinnerungen und Erlebnissen und hat eine individuelle Sicht auf die
Geschehnisse, die abhängig von Herkunft, Prägung und Funktion des jeweiligen Zeitzeugen
und nicht pauschalisierbar ist.
Meine Arbeit hatte zum Ziel, zu aufzuzeigen, dass Zeitzeugengespräche eine effektive
Möglichkeit sind, um besonders die regionale Geschichte greifbar für andere zu machen. Das
Zeitzeugengespräch bietet eine hervorragende Möglichkeit, einen umfassenden Blick auf ein
historisches Ereignis zu erhalten, da in diesem nicht nur Tatsachen und Ereignisse, sondern
auch damit verbundene Emotionen und individuelle Beobachtungen vermittelt werden, deren
Authentizität in der Literatur nicht so treffend wiedergegeben werden kann und die uns
Quellen nicht so vermitteln können. In meinen Gesprächen habe ich viele Details erfahren, die
in der Literatur nicht zu finden sind – detaillierte Fakten, genaue Inhalte von Diskussionen
und Friedensgebeten und persönliche Meinungen, usw. die mein bisheriges Wissen über
dieses spannende Kapitel deutscher Geschichte erweiterte.
Die Befragung mehrerer Zeitzeugen zu einem Thema mit gleichen Strukturen, so wie ich sie
durchgeführt habe, ermöglicht eine multiperspektivische Betrachtung der Ereignisse. Da diese
mehrmals aus verschiedenen Blickwinkeln mit unterschiedlichen Begründungen dargestellt
werden, hilft es, eine eigene Meinung zum Thema zu entwickeln bzw. diese zu überdenken
und sich ein umfassendes Bild der Ereignisse zu schaffen.
Zum Schluss möchte ich noch sagen, dass mir die Besondere Lernleistung eine sehr gute
Chance geboten hat, die regionale Geschichte eines für mich sehr interessanten historischen
Zeitabschnittes zu untersuchen und die Geschehnisse in Riesa allgemein zu betrachten, wie
auch die Besonderheiten der Region herauszustellen. Die Besondere Lernleistung war eine
gute Möglichkeit, einen Einblick in das wissenschaftliche Arbeiten zu erhalten und
Fähigkeiten zu entwickeln, die für das spätere studierende Arbeiten von Vorteil sein können.
59
Ich danke den drei Interviewpartnern, F. Klinger, B. Heym und A. Näther sehr herzlich für
ihre Bereitschaft, Zeit und Geduld, dieses Unterfangen mit mir gemeinsam zu wagen. Ich
habe sehr viel von ihnen lernen dürfen. Vor allem bedanke ich mich für ihre Offenheit und
Ehrlichkeit, all meinen Fragen gegenüber.
8. Anhang
8.1 Grafiken
Anlage 1:
Kursbuch Geschichte. Neubearbeitung Sachsen. Von der Industriellen Revolution bis zur Gegenwart. Cornelsen Verlag: Berlin, 2009, S. 367f.
60
Kursbuch Geschichte. Neubearbeitung Sachsen. Von der Industriellen Revolution bis zur Cornelsen Verlag: Berlin, 2009, S. 367f.
Kursbuch Geschichte. Neubearbeitung Sachsen. Von der Industriellen Revolution bis zur
Anlage 2:
Anzahl und soziale Zuordnung der DDR
Kursbuch Geschichte. Neubearbeitung Sachsen. Von der Industriellen Revolution bis zur Gegenwart. Cornelsen Verlag: Berlin, 2009,
61
Anzahl und soziale Zuordnung der DDR-Flüchtlinge1 1949 - 1961
Kursbuch Geschichte. Neubearbeitung Sachsen. Von der Industriellen Revolution bis zur Gegenwart. Cornelsen Verlag: Berlin, 2009, S. 369. Kursbuch Geschichte. Neubearbeitung Sachsen. Von der Industriellen Revolution bis zur
Anlage 3:
Prozessmodell und Kernkompetenzen „Historisches Denken; Ein Kompetenz(Forscherteam Prof. Schreiber)
62
Prozessmodell und Kernkompetenzen „Historisches Denken; Ein Kompetenz(Forscherteam Prof. Schreiber) Prozessmodell und Kernkompetenzen „Historisches Denken; Ein Kompetenz-Strukturmodell“
63
Anlage 4:
Sechsermatrix „Historisches Denken; Ein Kompetenz-Strukturmodell“ (Forscherteam Prof. Schreiber)
64
8.2 Übersicht der Fragelandschaft
Aktivitäten und Veränderungen in Riesa im Sommer/Herbst 1989 bis zu den
Volkskammerwahlen am 18. März 1990
Wie haben Sie von den Friedensgebeten in Riesa erfahren? Haben Sie daran teilgenommen,
warum?
In Riesa fanden Anfang November und Dezember auch Demonstrationen mit bis zu 3000
Teilnehmern statt. Haben Sie daran teilgenommen?
Wenn ja: Wie sind Ihre Eindrücke gewesen. An welche Parolen/Spruchbänder können
Sie sich erinnern?
Wenn nein: Wussten Sie von dieser Veranstaltung? Welche Eindrücke haben
Menschen aus Ihrer Umgebung übermittelt?
Wussten Sie von weiteren Aktionen, wie z.B. Podiumsdiskussionen? Haben Sie daran teil
genommen? Welche Forderungen wurden dort deutlich? Was genau wurde diskutiert und
angesprochen? Konnte man konkrete Ergebnisse erzielen?
In diesen eineinhalb Jahren gab es zahlreiche Veränderungen. Welche waren konkret in Riesa
zu bemerken? Wie haben Sie diese Veränderungen erlebt und wahrgenommen?
Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989
Der Fall der Berliner Mauer war ein bedeutendes Ereignis für viele Menschen. Wie haben Sie
davon erfahren? Wie haben Sie sich gefühlt?
Welche neuen Erwartungen stellten Sie an die weiteren Entwicklungen?
Wie wirkte sich dieser Tag auf die Stimmung und Wahrnehmung in Riesa aus?
Entwicklung oppositioneller Gruppen/Neues Forum im Sommer/Herbst 1989 bis zu den
Volkskammerwahlen am 18. März 1990
Das „Neue Forum“ als oppositionelle Gruppe war in Riesa z.B. mit Kundgebungen aktiv.
Wann und wie haben Sie davon erfahren?
Welche anderen oppositionellen Gruppierungen haben Sie in Riesa wahrgenommen?
65
Inwieweit konnten Sie sich selbst mit den Zielen des Neuen Forums oder einer anderen
oppositionellen Bewegung in Riesa identifizieren?
Kannten Sie Personen, die mit dem Neuen Forum von Anfang in Kontakt standen und dieses
unterstützten? Wenn ja, welche?
Wie schätzen Sie die Rolle des Neuen Forums auf dem Weg der Umgestaltung in Riesa ein?
Leisteten diese Leute einen Beitrag zur demokratischen Neugestaltung?
Rolle der evangelischen Kirche
Inwiefern waren Ihrer Meinung nach die Kirchen in den oppositionellen Prozess
eingebunden?
Wie schätzen Sie die Aktivitäten und Leistungen der Kirche damals ein? Waren Sie selbst
involviert?
Wie genau ging die Kirche mit dem Thema von Opposition und Neugestaltung um? Wurde
dies nur in den Friedensgebeten thematisiert oder auch in anderem Umfang?
Wussten Sie vom Engagement der Jungen Gemeinden? Wie beurteilen Sie dieses
Engagement?
Verhalten der Jugend
Wer war aus ihrer Sicht eher Träger der Revolution - die junge oder die ältere Generation?
Oder zog sich das durch alle Bevölkerungsschichten und Altersklassen?
Wie haben Sie das konkret in Riesa wahrgenommen?
Wissen Sie, welche Ziele die jungen Leute in Riesa hatten? Waren sie eher in oppositionellen
Gruppen organisiert als ältere Leute?
Probleme in der Wirtschaft Riesas
Riesa war und ist eine Industriestadt, besonders geprägt durch die Stahlindustrie. Was
wussten Sie über die Stimmung in den Betrieben?
Vor allem im November ’89 wurden vermehrt SED-Austritte in den Betrieben gemeldet.
Haben Sie davon erfahren? Wenn ja, auf welchem Wege?
66
Hatten Sie Befürchtungen um den Industriestandort Riesa, als mehr und mehr deutlich wurde,
dass es tiefgreifende Veränderungen in der Betriebslandschaft geben würde?
Wirken des „Runden Tisches“ in Riesa
Im Januar 1990 trat der erste Runde Tisch in Riesa zusammen. Wie haben Sie davon
erfahren?
Welche Eindrücke hatten Sie von der Arbeit des Runden Tisches? Wie bewerten Sie diese?
Ergebnisse der Volkskammerwahlen am 18.03.1990
Die Volkskammerwahlen am 18.03.1990 sollten die Entscheidung über die Zukunft der DDR
bringen. Welche Stimmungen herrschten vor den Wahlen in Riesa?
Welche Hoffnungen hatten Sie für die Zukunft?
Wie schätzen Sie die Geschehnisse von damals aus heutiger Sicht ein? Denken Sie manchmal
darüber nach, was „hätte“ passieren können?
67
8.3 Zusammenfassung der Antworten der Zeitzeugen
Frank Klinger
Welche Veränderungen waren im Herbst 1989 in Riesa spürbar?
- keine offiziellen Veränderungen, nur wenige Äußerungen von Seiten der SED
- kleinere Aktivitäten/Diskussionen im Zusammenhang mit Außenminister Genscher in
Prag
- keine große Welle in Riesa ausgelöst, Begründung:
o keine allzu große Unzufriedenheit
o Riesa ist in ländlicher Gegend gelegen, d. h. Herbst und Winter sind die
landwirtschaftlich traditionellen ruhigen Jahreszeiten, Menschen wollten
keinen Aufruhr
- zunächst keine Aktivität oppositioneller Gruppen/Bürgerbewegungen spürbar
- Aufdecken einiger Missstände z.B. das Westfirmen ihre Produkte im Osten
produzieren ließen
- DDR war wirtschaftlich am Ende
- herausgegebene Thesen des Politbüros waren offensichtlich falsch
- Landwirtschaft im Raum Riesa:
o 1960 kam die Vollgenossenschaftlichkeit, umgesetzt durch Druck von „oben“
o Genossenschaften schufen Gleichheit zwischen den Menschen, keine
unterschiedliche Landverteilung
o Zufriedenheit der Menschen mit der gemeinsamen Bewirtschaftung der Felder
o Erwartungshaltung vieler Menschen 1989: die Bauern wollten Grund und
Boden zurück, das geschah aber nicht, viele wollten die gemeinsame
Wirtschaft beibehalten
o Beispiel: Landwirtschaftsrat aus Baden-Württemberg wollte die
Privatwirtschaft im Aufbau unterstützen, seine Ratschläge wurden aber nicht
gebraucht, da der Genossenschaftsbetrieb als vorteilhafter angesehen wurde
o mehrere andere Unternehmer aus dem Westen versuchten, Land im Osten zu
erwerben um riesige Anbauflächen zu errichten
- insgesamt nur drei bis vier Wochen Euphorie
- Ärger bis heute über Vorwürfe der „Wessis“ und die Orientierung am Geld
Wann genau waren diese drei bis vier Wochen Euphorie?
68
- um den Mauerfall am 9. November
- grundsätzlich keine größeren Wellen, teilweise sogar Desinteresse der Bevölkerung an
den Geschehnissen (Demonstrationen, Podiumsdiskussionen)
Wie bekannt waren Podiumsdiskussionen?
- waren bekannt
- Verbreitung geschah hauptsächlich über „Buschfunk“
- das Neue Forum verbreitete aktiv Informationen, ein Vertreter war auch in der
Dienststelle
Welche neuen Erwartungen hatten Sie nach dem Mauerfall an die Entwicklungen?
- zunächst Erstaunen, dass nichts Schlimmes passiert ist
- Überlegung, warum Schabowski die Änderung so schnell bekannt gab – Handelte er
im Auftrag, von sich aus oder war es doch nur ein Versehen?
- keine großen, neuen Erwartungen
- abwarten, was passiert, welche Entwicklungen folgen werden
Ab wann war das Neue Forum in Riesa zu spüren?
- ab Dezember 1989
Konnten Sie sich mit Zielen des Neuen Forums identifizieren?
- Ziele des Neuen Forums in Riesa wurden erst im Dezember bekannt
- Lob der guten Vorbereitungsarbeit des Neuen Forums auf die Geschehnisse
Welche Personen waren Ihnen bekannt, die mit dem Neuen Forum in Kontakt standen?
- Andreas Näther
Was haben Gruppen wie das Neue Forum zu Veränderungen beigetragen, was haben sie
erreicht?
- Forderungen waren konkreter als das erzielte Ergebnisse
- diese Forderungen kamen allerdings nicht bei der gesamten Bevölkerung an
Wie war die Rolle der Kirche als Teil der friedlichen Revolution einzuschätzen?
- zu geringe Aktivität, zu wenig Thematisierung der Probleme
69
- die zu passive Haltung war zum Teil durch die allgemein untergeordnete Rolle der
Kirche in der DDR bedingt
Wie war der Zuspruch bei Friedensgebeten?
- keine genaue Angabe möglich
- Begeisterung für die Aktionen in den Großstädten wie Dresden und Leipzig
Welche Generation sehen Sie als den Träger der Revolution an?
- sowohl die jüngere, als auch die ältere Generation
- jüngere Generation: Emotionalität, Euphorie
- ältere Generation: Durchsetzung der Ziele, diese war in Riesa aktiver
- gute Mischung
Wie war die Stimmung in den Betrieben?
- Industrie unterstützte die Landwirtschaft stets mit Arbeitern
- ab 1985 wurde das immer weniger, das Stahlwerk Riesa konnte keine Arbeiter mehr
entbehren � Zeichen für die wirtschaftlich schlechte Lage der DDR
Welche Zukunftserwartungen hatten Sie für die Wirtschaft Riesas?
- Hoffnung, dass die Industriebetriebe bestehen bleiben
- viele offene Fragen: War die Zerschlagung der Industriebetriebe von Vorteil, auch
wenn die Produktionsanlagen veraltet waren? War die produzierte Arbeitslosigkeit
gewollt oder nicht vorhersehbar?
- Folgen sind bis heute spürbar
Was wurde von den Diskussionen am Runden Tisch in Riesa öffentlich?
- Informationen über die Zeitung
- zu wenig konkrete Diskussionen und Entscheidungen über die Zukunft des Raumes
Riesa, Übernahme der Diskussionen vom Zentralen Runden Tisch
- Beitritt der DDR zur BRD ist ein Fehler gewesen
- Vereinigung ja, aber die Art und Weise war nicht richtig und ideal
Welche Stimmungen herrschten vor und nach den Wahlen in Riesa?
- hohe Wahlbeteiligung zeigte den Willen der Menschen, ihre Meinung zu äußern
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- Zeit war zu kurz für einen richtigen Wahlkampf, es wurden zu wenige konkrete Ziele
bekannt
Wie schätzen Sie die Veränderungen aus heutiger Sicht ein?
- insgesamt gut
- Wiedervereinigung war die beste und einzige Lösung, da die DDR wirtschaftlich am
Ende war
Bärbel Heym
Welche grundsätzlichen Stimmungen herrschten in Riesa und besonders bei Ihnen?
- viele Probleme, breites Konfliktpotential
- Frust und Enttäuschung, da keine Reaktion der Staatsführung auf den Reformkurs der
UdSSR mit Glasnost und Perestroika
- war zum Teil verletzt, da sie nicht allein für Probleme verantwortlich war, für die sie
von Bürgern verantwortlich gemacht worden ist
- Unterschätzung der Entwicklung
- trotz der Nationalen Front gab es die Gleichschaltung, dadurch wurden tatsächliche
Widersprüche nicht diskutiert, sondern nur Randprobleme
- diese Gleichschaltung und Disziplination ist zu Hinterfragen � Selbstvorwürfe
- Versuche, etwas auf lokaler Ebene zu bewirken, wurden von höherer Instanz oft
abgelehnt
- absoluter Wahrheits- und Machtanspruch ist kritisch zu betrachten, dennoch gibt es
die Erscheinung auch noch heute in der BRD
Wann haben Sie bemerkt, dass sich etwas verändert?
- zuerst im Zusammenhang der Äußerung von Kurt Hager: „Wenn der Nachbar
tapeziert…“ � Erkenntnis, dass von der Führung keine Erneuerungen zu erwarten
waren
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Welche Veränderungen waren konkret in Riesa zu spüren? (Demonstrationen, Diskussionen,
Friedensgebete usw.)
- 2. Oktober 1989: Erstes Friedensgebet in der Kirche Riesa-Gröba
- 30. Oktober 1989: Erster öffentlicher Dialog in der Kirche Riesa-
- 2. November 1989: Friedensgebet in der Trinitatiskirche und erste Demonstration
- 11. November 1989 Erklärung des Neuen Forums zur Grenzöffnung: Die Menschen
sollten zurückkommen, nicht im Westen bleiben
- 13. November 1989 Erster Dialog im Club der Jugend und Sportler mit ca. 2000
Menschen � keine Lösung gefunden, persönliche Angriffe
- nach drei Diskussionen in dieser Form kam der Vorschlag von Seiten
des Rates des Kreises, Dialoge zu verschiedenen Themenbereichen zu
veranstalten
- 5. Dezember 1989: Versiegelung der Kreisdienststelle des MfS in Riesa, begleitet
durch Demonstration
- 15. Dezember 1989 Erster Runder Tisch in Riesa
Wie haben Sie vom Fall der Berliner Mauer erfahren?
- vor dem Fernseher in den Nachrichten
Was waren Ihre ersten Gedanken?
- Ungläubigkeit
- Angst, dass die Sicherheit der Menschen nicht mehr zu gewährleisten ist � Lob für
die hervorragende Reaktion der Menschen
- Slogan „Wir sind ein Volk“ war zu euphorisch
- beide Systeme zu vereinbaren wäre sehr schwer � ungutes Gefühl
Wie wirkte sich dieser Tag auf die Stimmung und Wahrnehmung in Riesa aus?
- viele Menschen holten Geld für einen Besuch im Westen, es bildeten sich lange
Warteschlangen vor der Sparkasse in Riesa
Wie haben Sie von oppositionellen Gruppierungen in Riesa, insbesondere dem Neuen Forum
erfahren?
- wenige allgemeine Informationen auf dem Dienstweg,
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- hauptsächlich durch ein persönliches Gespräch mit Andreas Näther und einem
weiteren Vertreter des Neuen Forums Riesa
Welche weiteren Gruppierungen waren Ihnen in Riesa bekannt?
- AG Friedensgebet, noch vor dem Neuen Forum aktiv
- neu gegründete Parteien, z.B. SPD
Inwieweit konnten Sie sich selbst mit Zielen des Neuen Forums identifizieren?
- Ziel nach mehr Offenheit und Transparenz
Welchen Beitrag leisteten oppositionelle Gruppierung wie das Neue Forum?
- Benennung der Themenschwerpunkte
Wie schätzen Sie die Rolle der Kirche im Wendeprozess ein?
- hat Räume für Opposition geboten, Auffangen der Bewegungen
- keine tragende Rolle
- trug zur Versachlichung des Dialoges bei
Wer war aus Ihrer Sicht eher der Träger der Revolution – die jüngere oder die ältere
Generation?
- die mittlere Generation, hat ihre Ziele sehr sinnvoll umgesetzt
Was wussten Sie über die Stimmung in den Betrieben?
- angeregte Stimmungslage, viele SED-Austritte, allerdings nicht nur unter den
Arbeitern
- kritisiert die teilweise Flucht der Arbeiter, dass sie sich nicht um Veränderungen
bemühten
Hatten Sie Befürchtungen um den Industriestandort Riesa?
- ja, da die Betriebe größtenteils veraltet waren
- Westunternehmer waren nur an den Kundendateien der Firmen interessiert, nicht an
der Unterstützung beim Wiederaufbau
- v. a. Sorge um das Stahlwerk in Riesa
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Welche Eindrücke haben Sie von der Arbeit des Runden Tisches?
- es wurde alles in Frage gestellt
- persönliche Diskussionsweise
- Arbeit war nicht effektiv � hat die Diskussionsbereitschaft für die Zukunft gelähmt
- es wurden keine substanziellen Fragen gestellt
Welche Stimmungen herrschten vor den Volkskammerwahlen in Riesa?
- Menschen wollten ihre Meinung äußern, vorrangig aber so leben wie der Westen �
im Westen wurde die CDU gewählt, also wählten auch die Menschen hier die CDU,
sodass das Wahlergebnis nicht verwunderlich war (46% CDU)
- kandidierte selbst für den Kreistag und erhielt von allen Kandidaten die meisten
Stimmen � Anerkennung für ihre jahrelange Arbeit
- Parteien waren ungeübt im Wahlkampf
Wie schätzen Sie die Geschehnisse von damals aus heutiger Sicht ein?
- Gestaltung einer lebenswürdigen Gesellschaft ist nach wie vor nicht erreicht � Ziel
ihrer Parteiarbeit
- weitere Bemerkung ihrerseits: im Oktober 1989 gab es oft Beschimpfungen am
Telefon, die erst nach einem Nummernwechsel aufhörten
Andreas Näther
Wann haben Sie zum ersten Mal wahrgenommen, dass sich etwas verändert?
- Eskalation in Dresden
- besonderes Ereignis: Mauerfall als Ventilöffnung
Welche grundsätzlichen Stimmungen herrschten in Riesa und besonders bei Ihnen?
- seit 1987 Beschäftigung mit Alternativen
- Wirtschaft war nicht mehr haltbar, Versorgung war nicht ausreichend gesichert
- geprägt durch die kirchliche Arbeit als Jugenddiakon, engagierte sich in einer
Umweltgruppe der Kirchgemeinde Riesa-Gröba (Diskussionen zur Aufrüstung,
Bildung, Umweltproblemen, Organisation der „Liedermacherveranstaltung“)
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Welche Veränderungen waren in Riesa zu spüren? (Friedensgebete, Demonstrationen,
Podiumsdiskussionen)
- 2. Oktober 1989: Erstes Friedensgebet in der Kirche Riesa-Gröba mit ca. 100
Besuchern, Gründungsaufruf des Neuen Forums verlesen, der in der nächsten Woche
von ca. 3000-3500 Menschen unterschrieben wurde
Stasi versuchte vergeblich, diese Veranstaltung zu verhindern
- 11. Oktober: friedliche Andacht mit Ulrich Kiehn und Friwi Sternberger, Berichte der
Erlebnisse in Dresden
- wöchentliche Friedensgebete in der Kirche Riesa-Gröba
- 30. Oktober 1989: Erster öffentlicher Dialog in der Kirche Riesa-Gröba, vorher
Gespräch mit Bärbel Heym über das Neue Forum, 2500 – 3000 Menschen,
Übertragung der Diskussion vor die Kirche
- 2. November 1989: Friedensgebet in der Trinitatiskirche und erste Demonstration
zum Rathaus, ca. 3500 Teilnehmer
- wöchentliche Gebete in der Trinitatiskirche mit anschließender Demonstration
- 6. November 1989: Dialog im Club der Jugend und Sportler
- 5. Dezember 1989: Versiegelung der Kreisdienststelle des MfS in Riesa, begleitet
durch Demonstration
An welche konkreten Themen, die diskutiert wurden, können Sie sich erinnern?
- Bildung, Versorgung, Umweltprobleme, Wahlen im Mai 1989
- Forderung nach freien Wahlen, Abschaffung der führenden Rolle der SED,
Reisefreiheit
Wie haben Sie vom Fall der Berliner Mauer erfahren?
- während Organisationsgesprächen des Neuen Forums
- erst am nächsten Tag bei Gesprächen mit verschiedenen Leuten realisiert
Welche Erwartungen stellten Sie an die weiteren Entwicklungen?
- Öffnung der Berliner Mauer war eigentlich kein Ziel des Neuen Forums, eigentlich
Kampf für einen besseren Sozialismus v. a. in wirtschaftlicher Hinsicht
Wie wirkte sich dieser Tag auf die Stimmung und Wahrnehmung in Riesa aus?
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- die „Luft war raus“
- keine größere Demo mehr, die Kirchen wurden wieder leerer
- Menschen wollten nun erstmal lieber in den Westen
Welche weiteren oppositionellen Gruppierungen außer dem Neuen Forum waren Ihnen in
Riesa bekannt?
- AG Friedensgebet, kurzzeitig der Demokratische Aufbruch, SPD als Partei
Wie schätzen Sie die Arbeit des Neuen Forums aus heutiger Sicht ein?
- Bürgerbewegung
- hat einen gesellschaftlichen Diskurs angestoßen, der für diese Zeit essentiell war
Welche Rolle weisen Sie der Kirche in diesem Prozess zu?
- Kirche hat Räume geboten, war der einzige Raum für Opposition in der DDR
- es gab oft grenzwertige kirchliche Veranstaltungen auf Kirchentagen etc. die eher
politisch waren
Welche Generation war Ihrer Meinung nach Träger der Revolution?
- mittlere Generation, dabei hauptsächlich die Intelligenz
- Jugendliche sorgten für die Verbreitung der Ideen
- bei Veranstaltungen war es sehr gemischt
Hatten Sie Befürchtungen um den Industriestandort Riesa?
- zunächst: Bevölkerung war versorgt, aber kein Vorwärtskommen in der Wirtschaft
- einige Bedenken
- hohe Arbeitslosigkeit war zeitig absehbar
- zeitige Vermittlung war gut und eine große Leistung
Wie schätzen Sie die Arbeit des Runden Tisches ein?
- es gab keine richtigen Impulse
- eher eine offene Diskussionsrunde, es wurden keine Ergebnisse erzielt
- diente der Absicherung von Entscheidungen
- Runder Tisch in Berlin war sehr interessant
Welche Stimmungen herrschten zu den Wahlen in Riesa?
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- keiner wollte mehr den Sozialismus � Einheit war vorherzusehen
- ein wenig Hoffnung, dass die Forderungen des Neuen Forums doch noch erfüllt
würden, war da
Wie schätzen Sie die Geschehnisse von damals aus heutiger Sicht ein?
- großer Erfahrungsschatz, beide Systeme zu erleben
- mit dem Beitritt der DDR zur BRD wurde eine einmalige Chance verspielt, etwas
ganzheitlich Neues für Deutschland zu schaffen
- Probleme, die schon vor Jahrzehnten in der BRD auftraten, kommen jetzt wieder
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8.4 Chronologie der Wendezeit 1989/90
02.05.1989 Ungarn beginnt mit dem Abbau der Grenzbefestigungen nach Österreich.
07.05.1989 Bei den Kommunalwahlen in der DDR können von Bürgerrechtlern
massive Fälschungen nachgewiesen werden.
ab Juli DDR-Bürger flüchten über Ungarn nach Österreich oder suchen Zuflucht in
der Ständigen Vertretung der BRD in Ostberlin und in den bundesdeutschen
Botschaften in Budapest und Prag.
08.08.1989 In Ostberlin muss die Ständige Vertretung der BRD wegen Überfüllung
vorübergehend geschlossen werden.
9./10.09.1989 Das Neue Forum veröffentlicht seinen Gründungsaufruf.
19.09.1989 Das Neue Forum beantragt seine Zulassung, die wegen
„Staatsfeindlichkeit“ abgelehnt wird.
25.09.1989 Erste Montagsdemonstration in Leipzig mit mehreren tausend Teilnehmern.
30.09.1989 5.500 DDR-Bürger, die sich in der überfüllten Prager Botschaft befinden,
erhalten die Genehmigung zur Ausreise. Sie werden ab dem 4. Oktober mit
DDR-Sonderzügen in die BRD gebracht.
4.-8.10.1989 In Dresden werden bei Auseinandersetzungen zwischen Ausreisewilligen,
Demonstranten und Sicherheitskräften über 1300 Personen festgenommen.
7./8.10.1989 In Ostberlin kommt es im Zusammenhang mit Demonstrationen gegen die
Feiern zum 40. Jahrestag der DDR zu zahlreichen Übergriffen von Polizei
und Staatssicherheit.
17./18.10.1989 Erich Honecker tritt als SED-Generalsekretär zurück, sein Nachfolger wird
Egon Krenz.
04.11.1989 Auf dem Alexanderplatz in Ostberlin demonstrieren etwa 500.000
Menschen.
06.11.1989 Erich Mielke gibt an die Dienststellen des MfS in den Bezirken die
Weisung, brisantes dienstliches Material zu vernichten oder auszulagern.
07.11.1989 Rücktritt des Ministerrates.
08.11.1989 Rücktritt des Politbüros.
09.11.1989 In der Nacht zum 10. November passieren die ersten Ostberliner die Grenze
nach Westberlin. Beginn der Maueröffnung.
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13.11.1989 Letzter Auftritt Erich Mielkes vor der Volkskammer.
17.11.1989 Die Volkskammer wählt einen neuen Ministerrat. Das MfS wird in Amt für
Nationale Sicherheit (AfNS) umbenannt, neuer Leiter wird Generalleutnant
Wolfgang Schwanitz, der vorher Stellvertreter Mielkes war.
22.11.1989 Das SED-Politbüro erklärt sich zu Verhandlungen mit Sprechern der
Opposition an einem zentralen „runden Tisch“ bereit.
29.11.1989 Der Leiter des AfNS, Schwanitz, setzt eine große Zahl dienstlicher
Bestimmungen und Weisungen außer Kraft.
03.12.1989 Erich Mielke wird aus der SED ausgeschlossen.
4./5.12.1989 Aufgebrachte Bürger, die die Vernichtung von Beweismaterial befürchten,
beginnen mit der Besetzung von Bezirksämtern und Kreisdienststellen der
Staatssicherheit.
4./5.12.1989 Das Kollegium des AfNS tritt zurück.
07.12.1989 Erich Mielke wird verhaftet.
14.12.1989 Der Ministerrat beschließt die Auflösung des AfNS und den Aufbau eines
Verfassungsschutzes und eines Nachrichtendienstes.
15.01.1990 Sturm der Bevölkerung auf die Stasi-Zentrale in Ost-Berlin.
29.01.1990 Nach Beschluss des „Runden Tisches“ treten die oppositionellen
Gruppierungen in eine „Regierung der nationalen Verantwortung“ ein.
18.03.1990 Wahlen zur Volkskammer. Erste freie, direkte und geheime Wahlen in der
DDR seit 58 Jahren.
01.07.1990 Die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion zwischen der BRD und der
DDR tritt in Kraft.
23.08.1990 Volkskammer beschließt Beitritt der DDR zur BRD.
31.08.1990 Unterzeichnung des Einigungsvertrages.
03.10.1990 Beitritt der DDR zur BRD. Tag der Deutschen Einheit.
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8.5 Abkürzungsverzeichnis
AfNS Amt für Nationale Sicherheit
BeLL Besondere Lernleistung
BRD Bundesrepublik Deutschland
CDU Christdemokratische Union
DDR Deutsche Demokratische Republik
KPD Kommunistische Partei Deutschlands
KPdSU Kommunistische Partei der Sowjetunion
LPG Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften
MfS Ministerium für Staatssicherheit
PDS Partei des Demokratischen Sozialismus
SED Sozialistische Einheitspartei Deutschlands
SPD Sozialdemokratische Partei Deutschlands
UdSSR Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken
VEB Volkseigene Betriebe
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8.6 Literaturverzeichnis
Dr. Ute Essegern; Klaus Gertoberens (Hrsg.): Unser Herbst 1989. Die Ereignisse der
Friedlichen Revolution. Eine Chronik mit persönlichen Erinnerungen. Dresden: Verlag
edition Sächsische Zeitung, 2009.
Fraude, Andreas: Die friedliche Revolution in der DDR im Herbst 1989. Erfurt:
Landeszentrale für politische Bildung Thüringen, 2009.
J. Engelbrecht; W. Maron: Sechzig Jahre Deutsche Geschichte. 1949 – 2009. Münster:
Aschendorff-Verlag, 2009.
Jesse, Eckhard: Friedliche Revolution und deutsche Einheit. Sächsische Bürgerrechtler ziehen
Bilanz. Berlin: Christoph Links Verlag, 2006.
Kabus, Sylvia: Neunzehnhundertneunundachtzig. Psychogramme einer deutschen Stadt.
Sonderausgabe der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung, Beucha/Dresden 2009.
Pötzsch, Horst: Deutsche Geschichte von 1945 bis zur Gegenwart. Die Entwicklung der
beiden deutschen Staaten und das vereinte Deutschland. München: Olzog-Verlag, 2009.
Richter, Michael: Die Friedliche Revolution. Aufbruch zur Demokratie in Sachsen 1989/90.
Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2009.
Rödder, Andreas: Deutschland, einig Vaterland. Die Geschichte der Wiedervereinigung.
München: C.H.Beck oHG, 2009.
Schreiber, Waltraud; Árkossy, Katalin: Zeitzeugengespräche führen und auswerten.
Historische Kompetenzen schulen. Themenhefte Geschichte 4. Neuried: arsuna 2009.
Schreiber, Waltraud; Mebus, Sylvia: Durchblicken. Dekonstruktion von Schulbüchern.
Themenhefte Geschichte 1. Neuried: arsuna 2006 (2. Auflage).
Ventzke, Markus; Mebus, Sylvia; Schreiber, Waltraud: Geschichte denken statt pauken in der
Sekundarstufe II. Dresden: Sächsisches Bildungsinstitut, 2010.
Vorländer, Hans (Hrsg.): Revolution und demokratische Neugründung. Dresden:
Landeszentrale für politische Bildung, 2011.
Wengst, Udo; Wentker, Hermann: Das doppelte Deutschland. 40 Jahre Systemkonkurrenz.
Berlin: Lizenzausgabe für die Landeszentralen für politische Bildung, 2009.
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Weitere Quellen:
http://www.riesa.de/deu/leben_in_riesa/stadtgeschichte/chroniken/media_chroniken/chronik_1989.pdf, Aufruf am: 27.11.2012 http://www.riesa.de/deu/leben_in_riesa/stadtgeschichte/chroniken/media_chroniken/chronik_
1990.pdf, Aufruf am: 27.11.2012.
http://www.geschichtsunterricht-anders.de/lehrerfortbildung/Zeitzeugen.pdf, Aufruf am 07.12.2012.
http://www.univie.ac.at/igl.geschichte/kaller-dietrich/WS%2006-07/MEXEX_06/061102Durchf%FChrung%20von%20Interviews.pdf, Aufruf am: 27.11.2012. Foto Titelseite:
http://haus-am-poppitzer-platz-riesa.de/images/stories/museum/wende.jpg, Aufruf am:
30.05.2013.
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Selbstständigkeitserklärung
Hiermit erkläre ich, dass ich die vorliegende Arbeit selbstständig und ohne fremde Hilfe
verfasst und keine anderen Hilfsmittel als angegeben verwendet habe. Insbesondere
versichere ich, dass ich alle wörtlichen und sinngemäßen Übernahmen aus anderen Werken
als solche kenntlich gemacht habe.
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