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Deutschland und Polen
im Spiegel amerikanischer Geheimdokumente, Teil 1+Teil 2
Dr. Alfred Schickel
Durch den provozierenden Papst-Besuch im deutschen Schlesien ist das deutsch-polnische
Verhältnis, an dem sich der Zweite Weltkrieg entzündete, erneut in den Vordergrund der
Diskussion gerückt. Unser Mitarbeiter, der sich als zeitgeschichtlicher Wahrheitsforscher in
den letzten Jahren einen Namen gemacht hat, stieß bei einem kürzlichen Studienaufenthalt in
den USA »auf neues Quellenmaterial, welches das überlieferte Bild von der Vergangenheit
ergänzen oder auch korrigieren kann«, wie er uns zu dem nachfolgenden Beitrag schrieb. Wir
sehen in Schickels Forschungsergebnis weit mehr: die Bestätigung für die von Hamilton Fish
in seinem sensationellen Buch »Der zerbrochene Mythos« angeprangerte Kriegstreiberei
Roosevelts. Dazu gehört, wie dieser US-Präsident durch einen seiner engsten und wichtigsten
Vertrauten, William C. Bullitt, den er zu seinem ersten Botschafter bei Stalin gemacht hatte,
die guten deutsch-polnischen Vorkriegsbeziehungen, deren Fortbestehen den Zweiten
Weltkrieg unmöglich gemacht hätte, torpedieren ließ.
Ein Mittelstaat wie die Republik Polen sah vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs in
Botschaftern, Senatoren oder Abgeordneten bereits bedeutsame politische Figuren. Das wurde
beispielsweise beim »Privatbesuch« des Botschafters William C. Bullitt in Warschau deutlich.
Da berichteten die polnischen Zeitungen ausführlich über Ankunft, Aufenthaltsdauer und
Aktivitäten des amerikanischen Besuchers und stellten ihn auch als Privatmann ihren Lesern
vor. Schließlich »war er der vierte prominente Amerikaner, der nach Gouverneur Earle,
Senator Guffey und Kongreßmann Lambeth Warschau in letzter Zeit besucht hat«, wie die
Warschauer Zeitung »Express Poranny« am 14. November 1937 schrieb - obwohl er seine
Visite lediglich als persönlicher Freund des USA-Botschafters in Polen, Drexel Biddle,
machte und keinerlei offizielle Funktion an der Weichsel wahrzunehmen hatte. Seine frühere
Stellung als Sekretär des Präsidenten Woodrow Wilson wie auch seine aktuelle Position als
amerikanischer Botschafter in Paris reichte in den Augen der Polen hin, um ihn mit solcher
Aufmerksamkeit zu bedenken und auch zu vermelden, »daß Botschafter Bullitt Witwer ist
und eine 15 Jahre alte Tochter hat, die für ihre Schönheit und Intelligenz gleichermaßen
bekannt ist«.
Daß auch das regierungsamtliche Polen den amerikanischen Gast aus Paris offiziell zur
Kenntnis nahm, schien daher fast selbstverständlich und drückte sich in einem Gespräch mit
dem polnischen Außenminister Jozef Beck am 16. November 1937 aus, dem dann noch ein
Dinner »in honor of Mr. Bullitt« folgte.
So kann es der Zeitgeschichtsforscher bei der Durchsicht der einschlägigen Geheimberichte
der US-Botschaft in Warschau vom November 1937 lesen. Er erfährt aus ihnen auch, daß
Bullitt als ein Freund Präsident Roosevelts galt und den Ruf »einer der hervorragendsten
Fachleute in Außenpolitik« genoß, der auch US-Außenminister Cordell Hull eng verbunden
war.
In der Tat gehörte der aus Philadelphia gebürtige, von französischen Einwanderern
abstammende William Christian Bullitt, dem im Herbst 1937 gerade die Ehrenbürgerschaft
von Nimes verliehen worden war, zu den persönlichen Freunden und Beratern Roosevelts, der
ihn gern mit »My dear Bill Buddha« anredete, er verwaltete im diplomatischen Dienst der
Vereinigten Staaten bislang ebenso exponierte wie wichtige Botschafterposten. Dazu gehörte
auch seine Entsendung als erster Missionschef der USA (nach Aufnahme der diplomatischen
Beziehungen) in die sowjetische Hauptstadt im Spätherbst 1933. Seit 1936 leitete er die USA-
Botschaft in Paris und sollte diesen Posten bis 1941 beibehalten.
Seine Besuche und Auftritte erregten immer Aufmerksamkeit und hatten letztlich nie bloß
»streng privaten Charakter«, wie er sie gern in der Öffentlichkeit herabzuspielen suchte. Das
zeigte sich auch bei seinem halbwöchigen Besuch Mitte November 1937 in Warschau. Nicht
umsonst traf sich der polnische Außenminister Beck dreimal mit dem »Privatgast« aus Paris
und führte auch ein Vieraugengespräch mit ihm, wie der amerikanische Botschaftsbericht
vom 17. November 1937 ausweist. Darunter war im übrigen eine unprotokollarische
»Selbsteinladung« des polnischen Außenministers zu einem »Kotelett-Essen« in der
amerikanischen Botschaft am 17. November 1937, die nach dem Bericht Drexel Biddles »eine
reizende und interessante Gelegenheit mit freimütiger und vertraulicher Unterhaltung«
gewesen ist.
Die Quintessenz der von Bullitt geführten Gespräche schlug sich schließlich in vier
vertraulichen Memoranden nieder, die US-Botschafter Biddle mit seinem
zusammenfassenden Bericht vom 26. November 1937 »streng vertraulich« an Außenminister
Hull sandte.
1937: Polen auf Hitlers Seite
Das »Memorandum A« beschäftigte sich mit der Entwicklung in Sowjetrußland und den von
Stalin gerade durchgeführten »Säuberungen«. Der ehemalige US-Botschafter in Moskau,
William Christian Bullitt, unterhielt sich über dieses Thema mit dem neuernannten
japanischen Missionschef in Warschau, Sako, und kam dabei zu der Erkenntnis, daß die
stalinistischen Verfolgungen die Sowjetunion momentan weitgehend inaktiv machten. Eine
Einschätzung, die Bullitt auch ein Jahr später noch vertreten wird und deretwegen er Moskau
vorläufig außerhalb einer Anti-Hitler-Koalition sah.
In »Memorandum B« geht es neben einer allgemeinen »Tour d'horizon« der politischen Lage
in Großbritannien, Frankreich und in der Sowjetunion besonders um das deutsch-tschechische
Verhältnis und um den Antisemitismus in Mittelosteuropa. Danach hat der polnische
Außenminister Beck der Auffassung Bullitts, daß Frankreich bei einem deutschen Angriff auf
die Tschechoslowakei »marschieren würde«, entschieden widersprochen, und zwar
»hauptsächlich wegen seiner innenpolitischen Lage«. Seiner Meinung nach hat Frankreich
bereits 1936 mit der ausgebliebenen Reaktion auf Hitlers Rheinland-Besetzung Schwäche
gezeigt und damit seine Haltung gegenüber ähnlichen Vorkommnissen angedeutet.
Entsprechend gedachte dann auch Polen sein Verhältnis zum Deutschen Reich zu gestalten;
das hieß: wenn Deutschland für seine Volksangehörigen in der Tschechoslowakei Autonomie
forderte, wollte dies Polen auch für seine Minderheit im Gebiet Teschen reklamieren.
Die ein Jahr später, im Oktober 1938, gemeinsame Vorgehensweise von Deutschland und
Polen gegen die ÜSR wurde demnach hier bereits anvisiert und damit Washington rechtzeitig
genug über die wahrscheinliche Lösung der nachmaligen Sudetenkrise ins Bild gesetzt.
Zumindest war nach diesem Gedankenaustausch zwischen Beck und Bullitt klar, daß sich
Warschau den jeweiligen Schritten Berlins anschließen werde. Das bedeutete, daß eine
etwaige Abtrennung der sudetendeutschen Gebiete von der Tschechoslowakei und eine
Einverleibung in das Deutsche Reich folgerichtig auch eine polnische Annexion des
Teschener Landes durch Polen nach sich ziehen würde, wie dies dann auch mit Vollzug des
Münchener Abkommens geschehen ist. Die Warschauer Außenpolitik verfolgte also in jenen
Monaten eine parallele Linie zur Berliner Tschechenpolitik.
Deutsch-polnische Übereinstimmung in der Judenfrage
Ähnlichkeiten wies die polnische Politik zur Praxis der deutschen auch auf dem Felde der
Judenbehandlung auf. Dabei ging es schlicht um das Bestreben der deutschen wie der
polnischen Regierung, möglichst viele Juden zur Emigration zu bewegen. Freilich lebten in
Polen damals auch fast sechsmal mehr jüdische Einwohner als im Deutschen Reich, nämlich
knapp drei Millionen. Sie machten rund zehn Prozent der Gesamtbevölkerung aus, während
die fünfhunderttausend deutschen Juden nicht einmal ein Prozent der Einwohnerschaft
Deutschlands darstellten.
Nach dem »streng vertraulichen« Memorandum B der US-Botschaft in Warschau waren sich
Beck und Bullitt darin einig, die prozentual überzähligen Juden nicht in ein einziges Land
umzusiedeln, sondern »weitverbreitet« ins Ausland zu bringen.
Im »streng vertraulichen Memorandum C« gibt die amerikanische Botschaft im wesentlichen
die Lagebeurteilung des polnischen Marschalls Rydz-Smigly wieder, die dieser beim Vierer-
Gespräch mit Außenminister Beck, Botschafter Bullitt und Botschafter Biddle abgegeben
hatte. Sie gipfelte in der Feststellung, daß weder die Franzosen noch die Sowjets im
Augenblick in der Lage seien, eine militärische Intervention durchzuführen, womit sich Rydz-
Smigly in völliger Übereinstimmung mit seinem Außenminister befand. Botschafter Biddle
vermerkte dies auch in seiner Niederschrift.
Im vierten Memorandum (»Memorandum D«) hielten Bullitt und Biddle das polnische
Großmachtstreben fest und beschrieben Warschaus - beziehungsweise Außenminister Becks -
Vorstellungen von der möglichen Rolle Polens in Europa.
Als »Drittes Europa« im Osten des Kontinents wollte es sich nicht nur als Großmacht
etablieren und die Region von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer beherrschen, sondern sich
auch auf selbstbewußte Distanz zur Sowjetunion und zum Deutschen Reich halten; eine
Politik, die Washingtons Interesse und Beifall finden mußte, da sie sowohl der
bolschewistischen Diktatur als auch dem NS-Regime die Stirn bot - und darauf legte die
Rooseveltsche Europa-Politik großes Gewicht. Die im November 1938 und zu Anfang 1939
zwischen Bullitt und polnischen Diplomaten geführten Gespräche in Paris und in Washington
verdeutlichten dann noch die Absicht Roosevelts, Polen jede mögliche Hilfestellung gegen
eine etwaige deutsche Bedrohung zuzusichern, um damit ein weiteres Ausgreifen des NS-
Reiches auf Osteuropa zu verhindern.
Beiderseitige Entspannungsbemühungen
Zur Zeit des Bullitt-Besuches erschienen freilich die deutsch-polnischen Beziehungen weder
feindselig noch gespannt; vielmehr hatten Berlin und Warschau wenige Tage vor Eintreffen
des amerikanischen Spitzendiplomaten an der Weichsel ein Minderheiten-Abkommen
geschlossen, das die bisherigen Belastungen des beiderseitigen Verhältnisses abzubauen
geeignet war. Im Zusammenhang mit dieser Vereinbarung empfingen synchron am gleichen
Tage, dem 5. November 1937, Reichskanzler Hitler in Berlin Vertreter des »Bundes der Polen
in Deutschland« und der polnische Staatspräsident Moscicki eine Abordnung der deutschen
Minderheit in Polen zur Demonstration der beiderseitigen Verständigung.
Und was die Haltung Warschaus zu den deutsch-tschechischen Spannungen betraf, so hegte
man an der Weichsel kaum freundlichere Gefühle gegenüber Prag, nachdem Anfang 1937 ein
Buch des tschechoslowakischen Gesandten in Bukarest, Jan Seba, erschienen war (»Rußland
und die Kleine Entente«), in welchem sich der Autor für eine gemeinsame Grenze zwischen
der und der Sowjetunion einsetzte - und zwar - wie man in Warschau feststellte, auf
Kosten Polens. Nach Meinung polnischer Kreise, die Marschall Rydz-Smigly nahestanden,
stellte dieses Buch, dem der amtierende tschechische Außenminister Krofta ein Vorwort
gewidmet hatte, einen weiteren Schritt Prags zu seiner Rolle als »Vorhut der Sowjetunion im
Kriegsfalle« dar. Bekanntlich wird Berlin ein Jahr später denselben Verdacht gegen die
Tschechoslowakei hegen und von einem bewußten Zusammengehen Prags mit Moskau
sprechen. Das geht neben anderen Quellen auch aus den amerikanischen Botschaftsberichten
aus Berlin während der sogenannten Sudetenkrise im Sommer 1938 hervor.
Die Zeit guter Nachbarschaft zwischen Deutschland und Polen setzte sich auch im folgenden
Jahr fort. Da hielt sich Anfang Januar 1938 der polnische Außenminister für einige Tage in
Berlin auf und wurde sowohl von Hitler als auch vom Reichsaußenminister und »weiteren
führenden deutschen Staatsmännern« zu Gesprächen empfangen. Und als im März 1938, im
Zuge der Angliederung Österreichs an Deutschland (»Anschluß«), die ausländischen
Missionen in Wien geschlossen wurden, hat Polen nicht das Beispiel Bulgariens oder der
Schweiz übernommen und seine bisherige Gesandtschaft in ein Generalkonsulat
umgewandelt, sondern seine diplomatische Mission ohne Ersatz aufgelöst, was den deutschen
Wünschen am meisten entsprach. In der sich immer deutlicher abzeichnenden Sudetenkrise
bewahrte Warschau weiterhin wohlwollende Neutralität gegenüber Berlin und zeigte sich
zuweilen ausgesprochen germanophil, obwohl sich der einstige Ministerpräsident und frühere
Heeresminister, General Ladislaus Sikorski, laut amerikanischem Botschaftsbericht vom 4.
November 1937 in einem vielbeachteten Aufsatz für den Kurs »Weder mit Deutschland noch
mit Rußland« ausgesprochen hatte und sich in Armeekreisen ein antideutsches Gefühl zu
regen begann.
Warschau verständigt sich mit Berlin
So verdächtigte die polnische Regierung die Tschechoslowakei nach wie vor latenter
Sympathien für den Kommunismus und richtete am 30. März 1938 eine Protestnote an Prag
gegen die antipolnische Tätigkeit von Angehörigen der Komintern und der Kommunistischen
Partei im Grenzgebiet zu Polen und zeigte sich von der tschechischen Antwortnote nicht ganz
befriedigt. Desgleichen bemängelte die polnische Öffentlichkeit die Minderheitenpolitik der
Prager Regierung und forderte für die polnische Minorität in der Autonomie und
»Entschädigung für die Verluste, welche die polnische Bevölkerung seit 1918 erlitten hat« -
ähnlich den Erwartungen, die man in Berlin gegenüber der tschechischen Staatsführung in
jenen Monaten hegte. Auch auf militärischem Gebiet lebten Prag und Warschau in
Spannungen - wie dies von Berlin und der bekannt ist. Polen und Tschechen warfen sich
gegenseitig aggressiv orientierte Truppenkonzentrationen an der Grenze vor, wobei Prag seine
Truppenbewegungen im Grenzgebiet mit »innerpolitischen Notwendigkeiten« begründete.
Diese bestanden in der Absicht, die für den 22. Mai 1938 vorgesehenen Kommunalwahlen in
den deutsch besiedelten Gegenden durch Demonstration von Staatsmacht im Sinne der
tschechischen Regierung zu beeinflussen. Als im Mai 1938 die Frage diskutiert wurde, ob
Frankreich seinem Bündnispartner Tschechoslowakei bei einem etwaigen Konflikt mit
Deutschland militärisch beistehen müsse, stellte Warschau unverblümt klar, daß es sich in
einem solchen Falle nicht verpflichtet fühle, auf der Seite Frankreichs für die zu Felde
zu ziehen.
Damit nicht genug: während das Deutsche Reich wegen der sich zuspitzenden Sudetenkrise in
Gegensatz zu Frankreich und Großbritannien zu geraten drohte und die Sowjetunion ihre
Bereitschaft zu einer Hilfe für die signalisierte, verständigte sich die Warschauer
Regierung mit Berlin über eine einheitliche Geschichtsdarstellung in den Schulbüchern und
vereinbarte am 1. Juli 1938 mit der Reichsregierung, daß »jene Zeitabschnitte, in denen die
beiden Länder in einem Gegensatz zueinander standen, sachlich und leidenschaftslos«
darzustellen seien, und daß »insbesondere alle Ausdrücke und Wendungen vermieden werden
sollen, die für das andere Land beleidigend oder herabsetzend wirken können«.
Schulbuchempfehlungen schon 1938
Mit diesen »Schulbuchempfehlungen« wollten Berlin und Warschau ein Signal für ähnliche
Abmachungen mit anderen Staaten setzen und sie auch auf die Lehrbücher der übrigen
UnterrichtsdisziPlinen ausdehnen. Die nach dem Zweiten Weltkrieg ausgehandelten
Schulbuchempfehlungen hatten also bereits ein Vorgängerunternehmen im Jahre 1938.
Fast im Gleichklang mit der Berliner Tschechenpolitik beschuldigte die Warschauer
Regierung die Prager Staatsführung immer wieder zu weitgehender Toleranz gegenüber
kommunistischen Umtrieben und übermittelte ihr beispielsweise am 23. Juli 1938 eine
weitere Protestnote »gegen antipolnische Tätigkeit kommunistischer Elemente in der
Tschechoslowakei«.
Und als im Herbst die Sudetenkrise ihrem kritischen Höhepunkt zustrebte, kommentierte das
offizielle Polen am 13. September 1938 die Hitler-Rede vom Vortag mit folgenden
Feststellungen:
»l. Die Rede des Kanzlers, die die internationale Lage klar darstellte, unterstreicht den Willen
Deutschlands zur Erhaltung des Friedens und zu seiner Stabilisierung mit einer Ausnahme,
nämlich der Tschecho-Slowakei, wo alles von der Regelung der sudetendeutschen Frage
abhängig gemacht wurde.
2. Die Rede unterstreicht die Bedeutung des Abkommens Deutschlands mit Polen aus dem
Jahre 1934 für die Sache des Friedens. Durch dieses Abkommen ist Polen in das System der
Stabilisierung der deutschen Grenzen als ein grundsätzliches Element für den Frieden
einbeschlossen worden. Diese Auffassung wurde in Polen mit voller Anerkennung
aufgenommen.
3. Die kategorische Herausstellung des Interesses Deutschlands an dem sudetendeutschen
Problem war in der gegenwärtigen Lage keine Überraschung.
4. Die Rede des Kanzlers schließt eine von den inneren Änderungen in der Tschecho-
Slowakei abhängige friedliche Regelung der sudetendeutschen Frage nicht aus.
5. Die Hervorhebung des Grundsatzes der Selbstbestimmung für die Sudetendeutschen
erfolgte vom Kanzler im Geiste der Verständigung. «
»Fast nahtlose Übereinstimmung«
Wer die aggressive Rede Hitlers auf dem NS-Parteitag in Nürnberg nachliest, kann diese
polnische Kommentierung und Interpretierung nur wohlwollend und »von freundschaftlichem
Verständnis getragen« finden. Immerhin hatte Hitler wenig Geduld gezeigt und sich nicht
dumpfer Drohungen an die Adresse Prags enthalten: »Ich habe … erklärt, daß das Reich eine
weitere Unterdrückung und Verfolgung dieser dreieinhalb Millionen Deutschen nicht mehr
hinnehmen wird, und ich bitte die ausländischen Staatsmänner, überzeugt zu sein, daß es sich
nicht um eine Phrase handelt … Wenn die Demokratien aber der Überzeugung sein sollten,
daß sie in diesem Falle, wenn notwendig, mit allen Mitteln die Unterdrückung der Deutschen
beschirmen müßten, dann wird dies schwere Folgen haben!«
Die fast nahtlose Übereinstimmung der polnischen Tschechenpolitik mit derjenigen
Deutschlands zeigte sich auch in einer Mitteilung der Warschauer Regierung an die beiden
Westmächte vom 17. September 1938, in der sie erklärte, »daß Polen ein Staat sei, der am
tschechoslowakischen Problem interessiert ist, und daß jedes Zugeständnis, das den
Sudetendeutschen gemacht wird, auch für die polnische Volksgruppe im Teschener Gebiet
Geltung haben müsse«.
Drei Tage später, am 20. September 1938, erläuterte der polnische Botschafter in Berlin, Josef
Lipski, dem deutschen Reichskanzler auf dem Obersalzberg diese Haltung seiner Regierung
und demonstrierte auf diese Weise die Konkordanz zwischen Berlin und Warschau in der
tschechoslowakischen Frage.
Am 21. September 1938, dem Tag der tschechischen Abtretungserklärung des Sudetenlandes,
forderte die polnische Regierung in einer Note an Prag, daß sie »für das Territorium der
polnischen Volksgruppe eine analoge Regelung« erwarte, »wie sie für das Territorium mit
deutscher Bevölkerung vorgesehen sei«, nämlich die Abtretung. Gleichzeitig kündigte
Warschau die polnisch-tschechoslowakische Konvention vom Jahre 1925 über die Lage der
polnischen Bevölkerung in der ÜSR und meldete gegenüber Frankreich und Großbritannien
Protest dagegen an, daß sie in ihrer Abtretungsempfehlung vom 18./19. September 1938 die
polnische Minderheit in der Tschechoslowakei übergangen hätten,
Am 22. September 1938 stellte die polnische Regierung ein »Freikorps für die Befreiung der
Polen in der Tschechoslowakei« auf und verbat sich in einer scharfen Stellungnahme vom 23.
September 1938 jegliche Einmischung Moskaus zugunsten der Führung, wie sie der
stellvertretende sowjetische Volkskommissar für Äußeres, Wjatscheslaw Petrowitsch
Potemkin, dem polnischen Geschäftsträger gegenüber angedeutet hatte (»Die zum Schutze
des Staates notwendigen Maßnahmen gehen lediglich die polnische Regierung etwas an, die
niemandem zu Erklärungen hierüber verpflichtet ist.«)
Nutznießer der Sudetenkrise
Ähnlich wie die deutsche Reichsregierung mit einer nachmaligen Autonomie der Slowakei
rechnete, vertrat das offiziöse Polen in jenen Tagen - zum Beispiel in Verlautbarungen vom
23. September 1938 - den Gedanken einer selbständigen Slowakei, welche einen
Zusammenschluß mit einer autonomen Karpatho-Ukraine eingehen und sich Ungarn
anschließen sollte, damit Polen eine gemeinsame Grenze mit dem Magyaren-Staat erhalte.
Und da die beiden Westmächte in der Tat zunächst nur die sudetendeutschen Gebiete in ihre
Abtretungsempfehlung aufgenommen hatten, bzw. Benesch in seiner Geheimofferte (»Necas-
Papier«) lediglich von sudetendeutschen Landstrichen gesprochen hatte, sah sich Warschau
genötigt, seine territorialen Ansprüche an die Tschechoslowakei separat zu vertreten. So
forderte die polnische Regierung am 27. September 1938 in einer Note an Prag eine
umgehende Grenzrevision und erhärtete dieses Verlangen - nach einer hinhaltenden Antwort
Beneschs - am 30. September 1938 zu einem Ultimatum, dem die ÜSR dann am 1. Oktober
1938 entsprach, da mittlerweile das Münchener Abkommen unterzeichnet und die Abtretung
des Sudetenlandes praktisch in die Wege geleitet worden war. Die Vereinbarung zwischen
Warschau und Prag lehnt sich im übrigen auffallend an die Bestimmungen des Münchener
Abkommens an (z. B. Räumung des Gebietes durch die Tschechen und Besetzung durch
polnische Truppen innerhalb von zehn Tagen, Verständigung über die Prozedur einer späteren
Abstimmung, unverzügliche Entlassung aller Polen aus der tschechischen Armee und
Freilassung der politischen Gefangenen polnischer Nationalität), wie ein Vergleich der beiden
Texte deutlich macht. Analog zum Grenzziehungs-Ausschuß des Münchener Abkommens
(Artikel 6), in welchem auch ein Vertreter der Prager Regierung Sitz und Stimme hatte,
vereinbarte Warschau mit der eine »gemischte Grenzkommission« zur endgültigen
Festlegung der polnisch-tschechischen Grenze und gab ihr zur Erledigung dieser Aufgabe bis
zum 15. bzw. 30. November 1938 Zeit.
Der »Internationale Ausschuß« des Münchener Abkommens beendete seine Grenzfestlegung
am 20. November 1938. Die Grenzregelung zwischen Warschau und Prag sah vor, daß nach
der Abtretung der Kreisbezirke von Teschen und Freistadt (= Olsagebiet) Anfang Oktober
1938 noch die Region nördlich von Cadca (Czacza) und die nördliche Hohe Tatra zu Polen
kamen. Ähnlich wie der deutsche Reichskanzler in seiner Berliner Sportpalast-Rede am 26.
September 1938 ausführte, »daß es - wenn dieses Problem gelöst ist - für Deutschland in
Europa kein territoriales Problem mehr gibt«, erklärte die polnische Regierung nach
Festlegung dieser endgültigen Grenzlinie, »keine weiteren territorialen Ansprüche gegen die
Tschechoslowakei zu haben«. Ein Grenzzwischenfall am 26. und 27. November 1938, bei
welchem nach Warschauer Darstellung zwei polnische Funktionäre verwundet worden waren,
veranlaßte die polnische Regierung dann am 28. November zur vorzeitigen Besetzung der
Polen zugesprochenen Landstriche an der Hohen Tatra.
Diese sich verzögernde Regelung des polnischen Minderheitenproblems in der
Tschechoslowakei - wie auch die noch ausstehende Beilegung der ungarischen Ansprüche -
fand dann in Zusatzerklärungen Chamberlains, Daladiers, Hitlers und Mussolinis in München
Berücksichtigung. Darin wurde festgestellt:
»Die Regierungschefs der vier Mächte erklärten, daß das Problem der polnischen und
ungarischen Minderheiten in der Tschechoslowakei, sofern es nicht innerhalb von drei
Monaten durch eine Vereinbarung unter den betreffenden Regierungen geregelt wird,
Gegenstand einer weiteren Zusammenkunft der hier anwesenden Regierungschefs der vier
Mächte bilden wird.« Und: »Seiner Majestät Regierung im Vereinigten Königreich und die
Französische Regierung haben sich dem vorstehenden Abkommen angeschlossen auf der
Grundlage, daß sie zu dem Angebot stehen, welches in Paragraph 6 der englisch-
französischen Vorschläge vom 19. September enthalten ist, betreffend eine internationale
Garantie der neuen Grenze des tschechoslowakischen Staates gegen einen unprovozierten
Angriff.
Sobald die Frage der polnischen und ungarischen Minderheiten in der Tschechoslowakei
geregelt ist, werden Deutschland und Italien ihrerseits der Tschechoslowakei eine Garantie
geben.«
So hatte Polen nicht nur sein »München« betrieben und erreicht, sondern auch Anschluß an
das Viermächte-Abkommen vom 29. September gefunden; und das weitgehend im Einklang
mit der Berliner Tschechenpolitik und oft streckenweise mit gleichem Vorgehen.
Erste Querschüsse aus Washington
Die USA-Regierung sah diese Analogie zwischen Warschau und Berlin mit zunehmendem
Unbehagen und reagierte auf doppelte Weise.
Sie gab in Ergänzung zu den Ausführungen Roosevelts auf einer Pressekonferenz am 30.
September 1938 und den Äußerungen Staatssekretär Hulls vom gleichen Tage auf
diplomatischem Wege den beiden Westmächten zu verstehen, daß sie »München« als eine
»Kapitulation der demokratischen Staaten« und als ein »Zeichen ihrer Schwäche gegenüber
dem Deutschen Reiche« betrachte - und sie stärkte Polen durch die gleichen
geheimdiplomatischen Kanäle nunmehr den Rücken gegen etwaige nachfolgende deutsche
Forderungen an die Adresse Warschaus.
So traf sich am 19. November 1938 William Christian Bullitt mit dem polnischen Botschafter
in Washington, Graf Jerzy Potocki, zu einem ausführlichen Gespräch über die aktuelle Lage
in Europa und konnte bei dieser Gelegenheit gleichsam den Gedankenaustausch von
Warschau vor Jahresfrist fortsetzen, zumal Potocki durch seinen Verwandten Joseph Potocki,
den Leiter der angelsächsischen Abteilung im polnischen Außenministerium, umfassend über
den Bullitt-Besuch im November 1937 in Warschau informiert worden war. Nach seinem
Geheimbericht an den polnischen Außenminister vom 21. November 1938 sprach Bullitt
»über Deutschland und den Kanzler Hitler mit größter Vehemenz und starkem Haß« und
davon, »daß nur Gewalt, schließlich ein Krieg der wahnsinnigen Expansion Deutschlands in
Zukunft ein Ende machen kann«. Auf Potockis Frage, wie sich Bullitt einen künftigen Krieg
gegen Deutschland vorstelle, gab dieser zur Antwort, »daß vor allem die Vereinigten Staaten,
Frankreich und England gewaltig aufrüsten müßten, um der deutschen Macht die Stirn bieten
zu können«.
Weiter führte Bullitt nach dem Bericht Botschafter Potockis aus, »daß die demokratischen
Staaten absolut noch zwei Jahre bis zur vollständigen Aufrüstung brauchten. In dieser
Zwischenzeit würde Deutschland vermutlich mit seiner Expansion in Östlicher Richtung
vorwärtsschreiten. Es würde der Wunsch der demokratischen Staaten sein, daß es dort im
Osten zu kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen dem Deutschen Reich und Rußland
komme«. Nach Ausbruch dieses Krieges, vermutete Bullitt, »könne es sein, daß sich
Deutschland zu weit von seiner Basis entferne und zu einem langen und schwächenden Krieg
verurteilt werde. Dann erst würden die demokratischen Staaten Deutschland attackieren und
es zu einer Kapitulation zwingen«.
Bullitt verspricht Kriegsteilnahme
Im übrigen sei die »Stimmung in den Vereinigten Staaten gegenüber dem Nazismus und
Hitlerismus so gespannt, daß schon heute unter den Amerikanern eine ähnliche Psychose
herrscht wie vor der Kriegserklärung der USA an Deutschland im Jahre 1917«. Auf Potockis
Zwischenfrage, ob die USA an einem solchen Krieg gegen Deutschland teilnehmen würden,
habe Bullitt geantwortet: »Zweifellos ja, aber erst dann, wenn England und Frankreich zuerst
losschlagen! « Zur Lage und Rolle Polens führte der US-Spitzendiplomat aus, »daß Polen
noch ein Staat ist, der mit Waffen in den Kampf schreiten würde, wenn Deutschland seine
Grenzen überschritte«, was zweifellos über ein Kompliment hinaus eine Ermunterung sein
sollte. Die Bemerkungen Bullitts über Warschaus Streben, eine gemeinsame Grenze mit
Ungarn zu erhalten: »Ich verstehe die Frage einer gemeinsamen Grenze mit Ungarn gut. Die
Ungarn sind gleichfalls ein tüchtiges Volk. Eine gemeinsame Verteidigungslinie mit
Jugoslawien würde es gegenüber der deutschen Expansion erheblich leichter haben«, gingen
in dieselbe Richtung und erreichten schließlich mit den Ausführungen über deutsche
Absichten in der Ukraine ihren offenkundigen Aufmunterungs-Charakter, wenn Bullitt
meinte, »daß Deutschland einen vollständig ukrainischen Stab habe, der in Zukunft die
Regierung der Ukraine übernehmen und dort einen unabhängigen ukrainischen Staat unter
deutschem Einfluß gründen solle«.
Unverblümt sagte Bullitt - nach dem Bericht Potockis - dazu wörtlich: »Eine solche Ukraine
würde natürlich für Sie sehr gefährlich sein, da dies unmittelbar auf die Ukrainer im Östlichen
Klein-Polen einwirken würde. «
Da bekannt war - und von Botschafter Potocki auch im Geheimbericht eingangs vermerkt
wurde -, daß Bullitt zu den persönlichen und einflußreichsten Freunden Roosevelts zählte,
kam diesen Mitteilungen entsprechend große Bedeutung zu; sie konnten als Gedanken des
Präsidenten gelten. Dies um so mehr, als derselbe Bullitt im Februar 1939 dem polnischen
Botschafter in Paris, Graf Juliusz Lukasiewicz, in gleicher Weise zuredete und Polen Mut
gegen Deutschland machte.
Roosevelts Scharfmacher
Diese Einreden der USA-Regierung gegen die bisherige Politik der europäischen Großmächte
und ihr massives Einwirken auf die Warschauer Staatsführung könnten den Hintergrund für
die sich fast schlagartig ändernde polnische Haltung gegenüber Deutschland abgeben. Denn
schon knapp zehn Tage nach Eintreffen des Geheimberichts Botschafter Potockis aus
Washington verlautete am 1. Dezember 1938 aus Warschau, daß man in Polen »im Falle des
Weiterbestandes eines autonomen Karpatho-Rußlands Rückwirkungen auf seine ukrainische
Bevölkerungsgruppe« befürchte - genau wie es am 19. November 1938 William Bullitt
Botschafter Potocki in Washington nahegebracht hatte.
Deutschland und Polen
im Spiegel amerikanischer Geheimdokumente, Teil 2
Dr. Alfred Schickel
Zum 1. Teil
Nachdem unser Mitarbeiter im ersten Teil seines Beitrages im letzten Heft die
Entspannungsbemühungen der Regierungen in Warschau und Berlin während der Mitte der
dreißiger Jahre beschrieben hatte, schilderte er noch die zunehmenden »Querschüsse aus
Washington« und den Beginn der Interventionspolitik Roosevelts und seines Pariser
Botschafters Bullitt. Mit der anschließenden Verschärfung der politischen Lage zwischen
Deutschland und Polen ab Winter 1938/1939 befaßt sich die folgende Fortsetzung dieser
Untersuchung.
Die deutsche Außenpolitik hatte sich seit Oktober 1938 dem Danzig-Problem zugewandt und
sich in zwei Treffen zwischen Außenminister Ribbentrop und dem polnischen Botschafter
Lipski geäußert. Danach sollte der vom Völkerbund verwaltete Freistaat in den deutschen
Staatsverband zurückkehren, Polen jedoch zum Ausgleich bestimmte Rechte in Danzig und
seinem Hafen erhalten, Daneben wünschte Berlin durch den Korridor »eine exterritoriale,
Deutschland gehörige Reichsautobahn und eine ebenso exterritoriale mehrgleisige
Eisenbahn« zwischen Pommern und Ostpreußen. Die polnische Seite konnte sich aber nicht
zur Annahme dieser reichsdeutschen Vorschläge verstehen. Weder vermochte Hitler bei
seinem Gespräch mit Beck noch Ribbentrop bei seinem Staatsbesuch in Warschau am 26./27,
Januar 1939 eine Zusage der polnischen Regierung zu erhalten, Polen hielt die bisherige
Danzig-Regelung offenbar nicht für verhandlungsfähig und machte auch nicht die leiseste
Andeutung einer Gesprächsbereitschaft in dieser Frage. Es liegt nahe, diese
Kompromißlosigkeit mit den Bullitt-Gesprächen in Washington und Paris in Zusammenhang
zu bringen.
Daß die polnischen Politiker, insonderheit der als »deutschfreundlich« geltende
Außenminister Josef Beck, bereits im Winter 1938/39 eine andere Sprache über Hitler und
seine Regierung sprachen als wenige Monate zuvor, erhellt aus amerikanischen Geheimakten
jener Tage.
Da teilte der US-Botschafter in Warschau, Biddle, unter dem Datum des 10. Januar 1939
»strictly confidential for the President and the Secretary‹‹ nach Washington mit, was ihm der
polnische Außenamtschef über seine Unterredungen mit Hitler und Ribbentrop am 5, und 6.
Januar 1939 in Berchtesgaden berichtete. Danach habe der deutsche Reichskanzler während
seiner allgemeinen »Tour d'horizon« eine »prahlerische Rückschau« auf seine Erfolge im
vergangenen Jahr gehalten und sich ziemlich verärgert über Präsident Roosevelts Botschaft an
den Kongreß vom 4. Januar 1939 gezeigt.
Die für Hitler ärgerliche Passage der Kongreß-Botschaft Roosevelts lautete: »Worte können
wertlos sein, aber der Krieg ist nicht das einzige Mittel, um der Auffassung der
Menschlichkeit die gemäße Achtung zu verschaffen. Es gibt viele Methoden, auch abgesehen
vom Krieg, die viel stärker und wirksamer sind als bloße Redensarten. Es gibt viele
Methoden, um den Angreifer-Regierungen die unseren Völkern gemeinsamen Gefühle
verständlich zu machen. Das wenigste, was wir tun können, ist, jede Handlung und jede
Unterlassung zu vermeiden, die einen Angreifer ermutigen, helfen oder stärken könnte. «
Nach dem Geheimbericht Biddles waren Beck und seine Regierung von diesen Ausführungen
tief beeindruckt und zogen daraus die Folgerung, daß sich Polen und Frankreich alsbald über
ihre Position gegenüber Deutschland einigen und schlüssig werden sollten, da man schließlich
im gleichen Boot sitze. Näheres wollten Beck und der amerikanische Botschafter »in aller
Ruhe« am Abend mit dem polnischen Generalstabschef besprechen. Aus den Bullitt-
Darlegungen vom 19. November 1938 in Washington hatten sich also schon konkrete
Regierungsvorstellungen über die künftige Haltung gegenüber Deutschland entwickelt.
Bei dem vertraulichen Abendgespräch zwischen Beck, Biddle und dem polnischen
Generalstabschef am 10. Januar 1939 in Warschau dürfte auch die antideutsche Stimmung
unter dem polnischen Offizierskorps nicht unbeachtet geblieben sein, die sich in den
nachfolgenden Wochen noch bemerkenswert steigerte. Sie fand der US-Botschafter immerhin
so wichtig, daß er sie in einem ausführlichen Kabel vom 20. Februar 1939 gleichfalls »strictly
confidential« nach Washington meldete. Gewährsleute seiner Mitteilung waren der
amerikanische Militär-Attaché in Warschau, Major Colbern, und der rumänische Botschafter
in Polen. Die gerade zu beobachtende Beruhigung in den deutsch-polnischen Beziehungen
betrachteten die polnischen Offizierskreise nach Mitteilung Biddles und seiner Informanten
als eine vorübergehende Atempause, der auf kurz oder lang neue deutsche Anschläge folgen
würden, die unter Umständen zu einer gewaltsamen Auseinandersetzung zwischen Polen und
Deutschland führen könnten.
Aus einem anderen Vorkommnis, von dem Biddle »in strictly confidence« erfahren hatte,
ging darüber hinaus hervor, daß auch die polnische Regierung von wachsender Antipathie
gegenüber Deutschland erfüllt war. Lediglich der polnische Justizminister Grabowski galt
noch als deutschfreundlich. Außenminister Beck, von dem vielfach behauptet wurde, daß er
Deutschland gegenüber keine ablehnenden Gefühle habe, war jedenfalls nach dieser Quelle
kein Sympathisant Berlins, wenn er sich auch vor sechs Wochen Hitler und Ribbentrop
gegenüber freundlich gezeigt hatte.
Antideutsche Demonstrationen
Die »increasing anti-German feeling in Army circles and preponderant anti-German feeling
in inner Government circles«, von denen in Botschafter Biddles Depesche No. 962 vom 20.
Februar 1939 die Rede war, schienen sich auch auf den Straßen Warschaus und Posens zu
verbreiten. Das bezeugt ein weiteres Geheimkabel der US-Botschaft in Warschau, In ihm
berichtete Biddle von antideutschen Studentendemonstrationen vor dem Kriegsministerium in
Warschau und dem deutschen Generalkonsulat in Posen. Sie wurden durch ein Schild
ausgelöst, das nationalistische deutsche Studenten an dem Eingang der Danziger
»Polytechnischen Hochschule« angebracht hatten und das die Aufschrift trug: »Für Hunde
und Polen Zutritt verboten!« Die daraufhin von polnischen Studenten gefaßte Resolution mit
der Forderung, Deutschland »wirtschaftlich, kulturell und sozial zu boykottieren«, schien
ihren Kommilitonen in Warschau und Posen nicht zu genügen, so daß sie sich zu eigenen
Protestzügen zusammenfanden, In der Hauptstadt sollen es nach Angaben des US-
Botschaftsberichtes rund 500 Studenten gewesen sein, die vor dem Kriegsministerium
»Nieder mit Hitler!« und »Nieder mit Becks prodeutscher Politik!« riefen, Danach riefen sie
nach Marschall Rydz-Smigly und forderten ihn auf, Truppen nach Danzig marschieren zu
lassen, Die Warschauer Polizei machte keinerlei Anstalten einzuschreiten, wodurch klar
wurde, »daß die Regierung Sympathie mit der Demonstration hegte«. Versuche, die deutsche
Botschaft zu erreichen, waren freilich vergebens, Laut amerikanischem Botschaftskabel
trugen die polnischen Studenten in Posen die gleichen Forderungen vor und konnten eine
Reihe von Fensterscheiben in der deutschen Bibliothek und den Büros einer deutschen
Zeitung einschlagen.
Weitere, ungleich größere Demonstrationen waren für den nachfolgenden Sonntag geplant,
unterblieben aber wegen des Eintreffens des italienischen Außenministers in der polnischen
Hauptstadt. Am 27. Februar 1939, also zwei Tage nach diesem amerikanischen
Botschaftsbericht, brachte die polnische Regierung dem deutschen Botschafter ihr Bedauern
über diese Vorkommnisse zum Ausdruck und sagte strenge Bestrafung der Schuldigen zu.
Nicht ausgeschlossen, daß die Anwesenheit Graf Cianos (vom 25. Februar bis 1, März) diese
Entschuldigung mit befördert hat, war doch Italien dem Deutschen Reich ideologisch und
durch die »Achse Berlin-Rom« mehrfach verbunden. Der sich vom 4, bis zum 6, März 1939
anschließende Besuch des rumänischen Außenministers Gafencu kam dagegen wieder dem
Selbstverständnis Polens als aufsteigender Großmacht entgegen, wurden doch dabei erneut
die Gedanken eines »dritten Europa« zwischen Ostsee und Schwarzem Meer - es war sogar
von der Ägäis die Rede! - erörtert und einschlägige politische und wirtschaftliche Fragen
besprochen.
Das polnische Großmachtstreben wurde am 11. März 1939 mit der Forderung der offiziösen
»Nationalen Einigung« nach Erwerb von Kolonien unterstrichen. Mit dem Erwerb geeigneter
Landstriche wollte man auch der freien Auswanderung »in Länder, in denen das Polenblut
entnationalisiert wird«, entgegenwirken und seine Volkssubstanz erhalten.
Die deutsche Besetzung der Rest-Tschechei am 15. März 1939 nahm das offizielle Warschau
zunächst gelassen hin und sprach schon am 16. März der nunmehr selbständigen Slowakei
seine diplomatische Anerkennung aus. Dagegen verurteilte bekanntlich die amerikanische
Regierung mit scharfen Worten das Vorgehen Deutschlands und weigerte sich, die de-facto-
Übernahme der Verwaltung Böhmens und Mährens durch Deutschland als legal
anzuerkennen. Unterstaatssekretär Sumner Welles erklärte am 18. März 1939 vor
Pressevertretern sein Bedauern über das Vorgehen Deutschlands, »das den vorübergehenden
Untergang der Freiheiten eines unabhängigen und freien Volkes zur Folge habe, mit welchem
das amerikanische Volk besonders enge und freundschaftliche Beziehungen unterhalten
habe«, und sprach in diesem Zusammenhang von »bewaffnetem Angriff« und
»Willkürakten«. Die Formulierung vom »vorübergehenden Untergang« dürfte besonders für
die Ohren des in Washington wohlgelittenen Expräsidenten Benesch gewählt worden
sein; sie könnte freilich auch schon als eine versteckte Zielangabe künftiger amerikanischer
Interventionspolitik verstanden werden. Der entschiedene Ton der Erklärung ist jedenfalls
nicht zu überhören und fand alsbald auch in Warschau sein Echo.
Kein Nachgeben Polens
Das bestätigt auch Botschafter Biddles »strictly confidential« Geheimtelegramm vom 29.
März 1939 an den »Secretary of State«. Darin gab er den wesentlichen Inhalt seines
Gesprächs mit Außenminister Beck vom 28. März wieder. Es drehte sich in der Hauptsache
um die deutsch-polnischen Beziehungen und die Entschlossenheit Warschaus, keinerlei Druck
seitens des Reiches nachzugeben. Dafür stünde auch Polens wehrhafte Abwehrbereitschaft als
»würdige, höfliche aber auch feste Antwort« auf bestimmte Ansinnen Berlins. Polen sei zwar
für jede Verständigung auf der Ebene der Gleichberechtigung, jedoch nicht zugänglich für
eine Lösung, die ihm durch Einschüchterung aufgenötigt werde. Daher wollte es einstweilen
den gegenwärtigen Stand der Mobilmachung beibehalten, bis die gegenwärtige internationale
Gefahr gewichen sei. Nach Auffassung Botschafter Biddles war Berlin in jenen Wochen
»machttrunken« und nicht gewohnt, auf Widerstand zu stoßen; vielmehr würden deutsche
politische Extremisten Hitler bedrängen, eine möglichst schnelle Annexion von Danzig
durchzusetzen und auch die Ansprüche auf Durchfahrtsrechte durch den Korridor zu
verwirklichen, Laut Biddles Bericht ist Marschall Rydz-Smigly damals davon überzeugt
gewesen, daß Berlin darauf aus war, einen Krieg mit Polen zu provozieren; doch erfreue sich
die feste Haltung der polnischen Regierung der geschlossenen Unterstützung durch das Volk,
Und würde sie, etwa im Falle Danzigs, nachgeben, wäre das nicht nur ein Zeichen von
Defaitismus, sondern würde auch zum Sturz der Regierung und damit auch Becks führen,
Nach Meinung Biddles wäre der seinerzeitige deutsch-polnische Gegensatz nur beizulegen
gewesen, wenn sich Berlin und Warschau auf eine klare Veränderung des Status von Danzig
hätten einigen können und Berlin sich mit einem Wegerecht durch den Korridor - aber nicht
einem exterritorialem Zugang - zufrieden gegeben und darüber hinaus auf weitere Streitfragen
verzichtet hätte, wobei das Nachlassen der entstandenen schweren Spannungen zwischen
beiden Ländern eine weitere Voraussetzung gewesen wäre.
Auf einen solchen Kompromiß einigten sich aber bekanntlich Polen und Deutschland nicht;
und die USA schienen auch nicht gewillt zu sein, ihn durch eine entsprechende Empfehlung
zu fördern, Freilich dürfte die polnische Führung solchen Ratschlägen gegenüber auch wenig
empfänglich gewesen sein. Das geht zumindest aus einem geheimen Diplomatenbericht
zweier britischer Emissäre hervor, die im Mai 1939 im Auftrag ihrer Regierung eine
Informationsreise durch Polen unternahmen und bei dieser Gelegenheit mit maßgeblichen
Warschauer Politikern und Militärs konferierten. Da gaben ihnen die polnischen
Gesprächspartner unmißverständlich zu verstehen, daß es für sie »hinsichtlich Danzigs
bestimmte Konzessionen gäbe, die kein Pole freiwillig mache«, und daß sie nicht begreifen
könnten, daß Engländer von »der Rechtmäßigkeit der Ansprüche Herrn Hitlers« sprächen;
dabei müßten sie fragen, »was die Deutschen eigentlich in Prag täten«. Schließlich wüßten
sie, die Polen, »mit den Deutschen besser umzugehen« als die Engländer.
Mit dem Hinweis auf den deutschen Einmarsch in die Rest-Tschechei ist der maßgebliche
Hintergrund für das polnische Verhalten aufgehellt.
Die Polen wollten nicht das nächste Opfer deutscher Revisions- und Expansionspolitik sein,
sondern Hitlers diesbezüglichen Ansprüchen gleich von Anfang an militant entgegentreten.
Die von Bullitt wiederholt zugesagte Unterstützung Polens durch die USA ermunterte
Warschau zweifellos noch zusätzlich zu seiner kompromißlosen Haltung.
Englands Garantieerklärung
Zwei Tage nach Absenden des amerikanischen Botschaftsberichts erklärte dann der britische
Premierminister Chamberlain am 31, März 1939 im Londoner Unterhaus, »daß die britische
Regierung sich verpflichtet fühlt, Polen alle in ihrer Macht liegende Unterstützung zu leihen,
wenn es … angegriffen werden sollte, namentlich wenn es klar wäre, daß der Angriff auf die
Vernichtung der polnischen Unabhängigkeit abzielte, so daß der polnischen Regierung nichts
anderes übrig bliebe, als sich mit ihren sämtlichen nationalen Mitteln zur Wehr zu setzen. Wir
haben der polnischen Regierung entsprechende Zusicherungen gegeben«.
Damit war diese bislang einzigartige britische Beistandsgarantie gegeben, die in den
Augusttagen dann noch bekräftigt wurde und schließlich am 1. bzw. 3. September 1939 zum
Eintritt Englands in den Krieg gegen Deutschland führen sollte, nachdem deutsche Truppen
am Morgen des ersten September-Tages nach Polen eingedrungen waren.
Einen ersten Schritt zur Mobilisierung seiner nationalen Wehrkraft hatte Polen im übrigen
bereits am 28, März 1939 getan, als es die Emission einer Landesverteidigungsanleihe zum
Zwecke des Ausbaus des Luftschutzes und der Luftstreitkräfte in einer Gesamthöhe von 1,2
Milliarden Zloty beschloß und General Skwarczynski am gleichen Tage erklärte, daß
Deutschland durch seinen Einmarsch in die Rest-Tschechei ein fait accompli geschaffen habe,
»wodurch Polen ohne Zweifel in eine schwere Lage« gebracht worden sei.
Nicht besser wurde die Lage Polens durch die Erklärung des faschistischen »Giornale d'Italia«
vom 4. April, in welcher Warschau an die von England und Frankreich nicht eingehaltenen
Garantien für die ÜSR erinnert wurde, und durch die Klarstellung Moskaus vom gleichen
Tage, wonach sich die Sowjetunion in keiner Weise verpflichtet fühle, Polen im Kriegsfall
mit Kriegsmaterial zu versorgen und seine Rohstoffquellen für Deutschland zu sperren. Der
Kreml signalisierte mit dieser Erklärung seine Bereitschaft, mit Berlin in näheren Kontakt zu
treten, falls dies von deutscher Seite gewünscht werde.
Am 6, April 1939 schloß Außenminister Beck seinen Staatsbesuch in London ab und konnte
zusammen mit Premierminister Chamberlain und Außenminister Lord Halifax ein
gegenseitiges Hilfeleistungsabkommen zwischen Polen und Großbritannien in Aussicht
stellen.
Der »Völkische Beobachter« Hitlers nannte dieses einen »gefährlichen Schritt« und zugleich
ein Verlassen der vom polnischen Nationalhelden, Marschall Pilsudski, »vorgezeichneten
klugen Bahn«, das zu einem »europäischen Brandstiftungsversuch« führen könnte. In diesem
Zusammenhang kritisierte das Zentralorgan der NSDAP auch die Teilmobilmachung der
polnischen Armee an der Grenze zu Deutschland und nannte sie eine »Herausforderung«.
Pilsudskis Weg verlassen
Im Schatten dieser hochpolitischen Ereignisse auf diplomatischer und publizistischer Ebene
ereigneten sich auch einige Vorkommnisse, die von der Nachwelt kaum registriert wurden. Zu
ihnen gehören der Selbstmord des früheren polnischen Ministerpräsidenten und engen
Mitarbeiters Marschall Pilsudskis, Oberst Walery Slawek, am 4. April 1939 und die durch
Strafaufschub ermöglichte Rückkehr des bisher im Exil lebenden Führers der polnischen
Bauernpartei Witos samt seinen anderen oppositionellen Gesinnungsfreunden am 11. April
1939. Kann dem Freitod des Pilsudski-Vertrauten Slawek das Motiv einer Verzweiflung über
den eingeschlagenen Kurs unterstellt werden, so ist es nicht ausgeschlossen, daß mit der
Heimkehr der bisher in Polen unerwünschten Bauernführer ein Zeichen der »nationalen
Konzentration« gesetzt werden sollte.
Unbestritten ist dagegen die Maßnahme des Warschauer Parlaments vom 11. April 1939 ein
weiterer Schritt zur Konfrontationsbereitschaft gewesen, als beschlossen wurde, »im Falle der
Mobilisierung oder bei sonstiger dringender Notwendigkeit« jedes im Privatbesitz befindliche
Verkehrsmittel der Nationalverteidigung zur Verfügung zu stellen und die Bauern im gleichen
Falle zu landwirtschaftlicher Kollektivarbeit zu verpflichten. Die Wehrbereitschaft Polens
sollte durch diese Verfügungen erneut nachdrücklich unter Beweis gestellt werden.
Am 25. April 1939 stellte die polnische Presse fest, daß sich die Beziehung zwischen Moskau
und Warschau angeblich in letzter Zeit »auf der Grundlage eines gutnachbarlichen
Verhältnisses entwickele und daß nunmehr seitens der Sowjetunion ein besseres Verständnis
für die polnischen Interessen zu bemerken« sei. Diese von Warschau mehr gewünschte als
tatsächlich zu beobachtende Entspannung zwischen der Sowjetunion und Polen sollte Berlin
andeuten, daß man immer größere Rückenfreiheit gewinne und sich nicht als eingekreistes
Land erpreßbar fühlen müsse. In Wahrheit hatte sich der Kreml bereits insgeheim auf eine
deutsch-sowjetische Annäherung eingestellt und stand der prowestlich ausgerichtete
Außenminister Litwinow kurz vor seinem Rücktritt, der am 4. Mai 1939 dann auch
offenkundig wurde. Im gleichen Ausmaße, wie das wohlwollende Interesse des Kremls an
Deutschland stieg, fielen die Sympathien der Sowjetführung für Polen.
Lediglich Großbritannien bestärkte den polnischen Abwehrwillen, indem die Londoner
Regierung am 26. April 1939 einen Gesetzentwurf über die Mobilisierung einbrachte, welcher
die Einberufung der Reserven und Hilfskräfte in Zukunft wesentlich erleichtern sollte. In
einem zweiten Gesetzentwurf war die Einführung einer beschränkten Dienstpflicht
vorgesehen.
Beide Vorlagen sollten für den Zeitraum der nächsten drei Jahre Gültigkeit haben. Damit
schien der Erwartung, daß in dieser Zeit ein militärischer Konflikt wahrscheinlich sein dürfte,
weitgehend entsprochen.
Hitlers Antwort
Hitler reagierte auf diese polnischen und britischen Mobilisierungsvorkehrungen mit einer
Rede vor dem Deutschen Reichstag, in welcher er am 28, April 1939 neben der Kündigung
des deutsch-englischen Flottenabkommens von 1935 auch den deutsch-polnischen Vertrag
vom Januar 1934 aufkündigte, was der Warschauer Regierung durch die Überreichung eines
Memorandums noch förmlich zur Kenntnis gegeben wurde. Damit schien zwischen Polen und
dem Deutschen Reich endgültig der Konfrontationskurs eingeschlagen, Dies wurde auch nach
der Rede des polnischen Außenministers Beck vor dem Warschauer Abgeordnetenhaus am 5.
Mai deutlich, als er auf das gegenseitige Hilfeleistungsabkommen mit England und die
»Verstärkung« der Abmachungen mit Frankreich hinwies und zugleich Hitlers Anregung,
neue Verhandlungen über einen künftigen deutsch-polnischen Vertrag einzuleiten, nur mit
Vorbehalten aufnahm, bzw. Bedingungen an sie knüpfte. Wörtlich meinte der polnische
Außenamtschef: »Unsere von Kriegen mit Blut getränkte Generation verdient gewiß eine
Periode des Friedens. Aber der Friede hat einen hohen, wenn auch bestimmbaren Preis. Für
uns Polen gibt es den Begriff des Friedens um jeden Preis nicht. Es gibt im Leben der
Menschen, der Völker und der Staaten nur ein Ding, das nicht bezahlt werden kann: die Ehre,
«
Damit stellte Beck klar, daß für sein Land weder ein zweites »München« noch gar eine
»Protektorats-Lösung« in Frage komme, sondern die Toleranzschwelle gegenüber den
deutschen Forderungen erreicht war.
Dies bekamen auch die Volksdeutschen in Polen immer schmerzlicher zu spüren. Mit ihnen
und ihrer Lage befaßte sich die amerikanische Botschaft in ihrem Telegramm Nr. 1023 vom
6. April 1939, Danach hatten zwischen 1919 und 1926 insgesamt 990000 Volksdeutsche
Polen verlassen, um sich in Deutschland niederzulassen, wobei der Anteil der städtischen
Bevölkerung, der Lehrer und Öffentlich Bediensteten aus den nun westpolnischen Distrikten
am größten war. Ausweislich der letzten Volkszählung in Polen betrug die Zahl der
Volksdeutschen in Polen - laut US-Botschaftsbericht vom 6. April 1939 - 741000 Personen,
was einen Anteil an der Gesamtbevölkerung von 2,3 Prozent ausmachte. Nach derselben
Quelle lebten 1931 insgesamt 31915800 Menschen in der Republik Polen. Die zahlenmäßig
stärksten deutschen Minderheiten lebten in den Provinzen Posen (193100), Lodsch (155300)
und »Pomorze« (105400). Diese - deutsche - Minderheit hatte neben den Juden in Polen am
stärksten die polnische »Staatshand« zu spüren und einschlägige Restriktionen der Regierung
hinzunehmen. Mit dem Erstarken des Deutschen Reiches und der »Heimkehr« der Deutsch-
Österreicher wie auch der Sudetendeutschen und der Memelländer erwachte auch bei den
Volksdeutschen in Polen ein stärkeres Selbstbewußtsein, dem die Polen und ihre Behörden
wiederum mit gesteigerten Amtsanmaßungen und Auflagen begegneten; eine
Vorgehensweise, die bereits Reichsaußenminister Stresemann in den zwanziger Jahren scharf
kritisiert und vor das Tribunal des Genfer Völkerbundes gebracht hatte, Mit den sich
verschlechternden politischen und diplomatischen Beziehungen zwischen Berlin und
Warschau gingen auch Verständigungsbereitschaft und Verträglichkeit unter Deutschen und
Polen in der Republik merklich zurück.
Diese Entwicklung beschleunigte sich noch, als Mitte Mai 1939 Agentenmeldungen in
Warschau eingingen, die von einem unmittelbar bevorstehenden deutschen Überfall auf Polen
meldeten. US-Botschafter Biddle berichtete davon »strictly confidential for the President and
the Secretary« am 15, Mai 1939. Danach wollte Hitler seine Weltmachtpläne mit einem
Angriff auf Polen im Juni zu verwirklichen suchen und einen Weltkrieg für den September in
Kauf nehmen. Die Attacke auf Polen würde mit motorisierten Kräften gleichzeitig von Nord
und Süd geführt und von einer schnellen Besetzung Danzigs flankiert. Darüber hinaus plante
angeblich das deutsche Oberkommando einen konzentrierten Ausbruch aus dem
Einkreisungsring im Osten und Südosten Deutschlands, bei gleichzeitigem Überrennen der
»Siegfried- und Maginot-Linie« im Westen und einer erwarteten Bindung französischer
Kräfte durch die Spanier im Pyrenäen-Gebiet sowie einem Einsatz großer Teile der deutschen
Luftwaffe gegen England.
In einem zweiten Telegramm vom gleichen Tage (dem 15. Mai 1939) gab Botschafter Biddle
die Einschätzung der aktuellen Lage und der Persönlichkeit Hitlers durch den polnischen
Außenminister Beck wieder und meldete nach Washington, daß man in Warschau Hitler in
der Defensive und ratlos sehe, da es deutsche - wie Österreichische - Mentalität sei, in der
Offensive stark, in der Defensive dagegen verstört zu sein. Beck sah Hitlers inneres
Gleichgewicht durch den englisch-polnischen Pakt, die Botschaft Präsident Roosevelts (vom
15. April 1939) an Hitler und Mussolini, den englisch-türkischen Pakt (vom 12. Mai 1939),
Becks Gespräche mit dem stellvertretenden Sowjetaußenminister Potemkin und die
Weigerung der skandinavischen Staaten, mit Deutschland einen Nichtangriffspakt abschließen
zu wollen, gestört und meinte, daß eine Fortsetzung solcher Niederlagen den deutschen
Diktator am ehesten in seine Schranken weisen dürfte. Nach Angaben Biddles war sich Beck
des Ernstes der Lage bewußt und schloß sogar einen Krieg für die nächsten Tage nicht aus,
Dennoch setzte er darauf, daß sich Hitler noch einen Rest von Vernunft bewahrt habe, um das
Äußerste zu vermeiden, Gleichwohl sei aber der Zeitpunkt gekommen, um den
Widerstandswillen unmißverständlich und Öffentlich zu bekunden. In diesem Zusammenhang
äußerte sich Beck nochmals sehr befriedigt über den englisch-polnischen Pakt, welcher nach
seiner Meinung das geeignete Mittel sei, um mit Diktatoren vom Schlage Hitlers
wesensgemäß umzugehen und ihre aggressive Politik entsprechend zu beantworten.
Zwischenfall in Danzig
Wenige Tage nach diesem Botschaftsbericht kam es in der Nacht zum 21. Mai in Danzig zu
einem Zwischenfall, bei welchem ein Danziger Bürger von einem polnischen
Staatsangehörigen, nämlich dem Chauffeur eines Kraftwagens, in welchem der polnische
Legationsrat Terkofwski saß, erschossen wurde, Nach polnischer Darstellung war die Tat des
Chauffeurs Notwehr, da er Ziel eines provokatorischen Überfalls gewesen sei; das heißt, die
Schuld an diesem Zwischenfall wiesen sich die deutsche und die polnische Seite gegenseitig
zu. Zwei Tage später beschloß das sogenannte Dreierkomitee des Völkerbundes für Danzig,
dem je ein Vertreter Englands, Frankreichs und Schwedens angehörten, in Übereinstimmung
mit der polnischen Regierung, an dem Statut der Freien Stadt Danzig keine Änderung
vorzunehmen und gleichzeitig den Hochkommissar des Völkerbunds für Danzig zu ersuchen,
sich baldigst wieder in die Stadt zu begeben und einen Bericht über die dortige Lage zu
verfassen. Am 24. Mai 1939 kam es zu einem scharfen Notenwechsel zwischen dem
polnischen Generalkommissär in Danzig und der Danziger NS-Regierung über die
Verantwortung für den blutigen Zwischenfall vom 21. Mai.
Am 31. Mai erhielt Polen eine indirekte Rückenstärkung durch Molotow, der in einer Rede
vor den beiden Kammern des Obersten Sowjets von einer Besserung der Beziehung zwischen
Moskau und Warschau sprach und im gleichen Zusammenhang die Politik Berlins gegenüber
der und gegenüber dem Memelland scharf verurteilte. Es steht dahin, ob diese
unfreundliche Rede des sowjetischen Ministerpräsidenten und Außenministers eine bewußte
Provokation Berlins sein sollte oder die Antwort auf die geheime Anweisung aus dem
Auswärtigen Amt war, vorläufig keine weiteren Anstrengungen für eine deutsch-russische
Annäherung zu machen. Nach einem vertraulichen Botschaftsbericht Steinhardts aus Moskau
vom 25. Mai 1939, soll der reichsdeutsche Missionschef, Graf von der Schulenburg,
entsprechend instruiert worden sein, da sich offenbar Japan dadurch beunruhigt fühlte. Schon
vierzehn Tage später hatte aber US-Botschafter Steinhardt »confidential« nach Washington zu
melden, daß die deutsche und die sowjetische Regierung dennoch weiteren Kontakt
miteinander halten. Drei Tage später, am 12. Juni 1939, berichtete der amerikanische
Botschafter in Warschau, A. J. Drexel Biddle, über ein Gespräch, das er mit dem
einflußreichen polnischen Handelsrat im Warschauer Außenministerium, Jan Wszelaki,
geführt hatte, und teilte »strictly confidential« dem »Secretary of State« mit, daß nach
Meinung seines Gesprächspartners die Polen bereit wären, für ihren Staat das Leben
einzusetzen. Vor allem würde die polnische Armee einer Aggression widerstehen, zumal
dabei auch noch auf die Hilfe rumänischer Truppen gezählt werden könnte. Auf alle Fälle
würden sich die Polen anders verhalten als die Tschechen und den aggressiven Deutschen die
Stirn bieten. Diese Entschlossenheit der Polen nahm man offenbar in Berlin immer noch nicht
gebührend ernst. Anders scheint die Rede Joseph Goebbels' am 17. Juni 1939 in Danzig kaum
erklärbar. Da qualifizierte Hitlers Propagandaminister die Ansprüche Warschaus und ihre
Vertreter als »polnische Scharfmacher« ab und bezeichnete sie als »polnische
Großsprechereien«, die man im Reich nicht sonderlich ernst nehme.
Die von Goebbels in seiner Ansprache erwähnten Bestrebungen Polens, Ostpreußen und
Schlesien zu annektieren, die Oder als Grenzfluß zu erhalten und die Deutschen bei einem
etwaigen Krieg »in einer kommenden Schlacht bei Berlin zusammenzuhauen«, sind freilich
nicht neu. Sie wurden schon von den beiden britischen Diplomaten, William Strang und
Gladwyn Jebb, in ihrem geheimen Reisebericht vermerkt und hatten insofern einen realen
Hintergrund - ganz davon abgesehen, daß sich diese polnischen Wünsche dann 1945 zu
erfüllen schienen.
Am 29. Juni 1939 unterstrich die polnische Führung wiederum den unerschütterlichen
Selbstbehauptungswillen ihres Landes, indem Staatspräsident Moscicki anläßlich des »Tages
des Meeres« eine Rede hielt, in welcher er feststellte: »Je mehr sich die außenpolitischen
Verhältnisse zuspitzen, um so größer ist die Entschlossenheit der polnischen Nation zur
Behauptung dieses Küstenstrichs an der Ostsee … Wir leben zwar in einer Zeit des
Rüstungswettlaufs. Wir sind entschlossen, am polnischen Ufer der Ostsee den Frieden
aufrechtzuerhalten; aber diese Absicht zwingt uns, die polnischen Streitkräfte zur See zu
vermehren. Mächtig auf der Erde und in der Luft, wollen wir auch auf dem Meer stark werden
zur Sicherstellung der Seemission der polnischen Nation.« .
Erklärungen Frankreichs und Englands
Im gleichen Zusammenhang gab die polnische Regierung bekannt, daß ihr von der
Organisation eines deutschen Freikorps in Danzig zuverlässige Information vorliege, was die
Krise um die Freistadt noch verschärfe. Der französische Außenminister Bonnet sah sich am
2. Juli veranlaßt zu erklären, daß Frankreich ebenso wie England getreu den übernommenen
Verpflichtungen fest entschlossen sei, nicht zu dulden, daß der Status quo in Danzig oder im
polnischen Korridor geändert werde, »sei es durch eine einseitige Aktion von innen, sei es
durch eine Gewalthandlung von außen«.
Hintergrund dieser Verlautbarung waren verbreitete Gerüchte, nach welchen Hitler angeblich
nach Danzig kommen wollte, um dort den Anschluß Danzigs an das Deutsche Reich zu
proklamieren.
Dies unterstellte auch Chamberlain, als er am 10. Juli 1939 vor dem britischen Unterhaus
erklärte:
»Die jüngsten Vorkommnisse in Danzig haben unvermeidlich Anlaß zu Befürchtungen
gegeben, daß beabsichtigt sei, den künftigen Status der Stadt durch eine einseitige, mit
verborgenen Methoden organisierte Aktion zu regeln und auf diese Weise Polen und andere
Mächte vor eine vollendete Tatsache zu stellen … Wir haben garantiert, daß wir Polen
unseren Beistand geben im Falle einer klaren Bedrohung seiner Unabhängigkeit, der mit
seinen nationalen Streitkräften Widerstand zu leisten es als lebenswichtig betrachtet, und wir
sind fest entschlossen, diese Verpflichtung auszuführen.« Die Anwesenheit des NS-Gauleiters
von Danzig, Forster, in Berchtesgaden und sein Gespräch mit Hitler auf dem Berghof am 13.
Juli verdichteten ausländische Zeitungen zu dem Gerücht, daß die Danziger
Nationalsozialisten Hitler zum Präsidenten der Freien Stadt Danzig wählen und auf diese
Weise durch Personalunion die Stadt mit dem Deutschen Reich vereinen wollten. Die
polnische Regierung reagierte auf diese Vermutungen mit der amtlichen Mitteilung vom 24.
Juli 1939, in welcher es hieß:
»Ohne Rücksicht auf die Art, in welcher Deutschland die Freie Stadt Danzig dem Reiche
einzugliedern wünscht, erklären die polnischen politischen Kreise, daß schon die Tatsache des
Anschlusses allein eine unerlaubte Beugung des derzeitigen politischen und gesetzlichen
Standes der Dinge darstellen und deshalb auch die entsprechende Antwort nach sich ziehen
würde.«
Mit diesen Erklärungen von britischer, französischer und polnischer Seite sollte in Berlin
nunmehr hinlänglich klar geworden sein, daß ein weiteres Rütteln am Status von Danzig zu
einer militärischen Auseinandersetzung führen müßte und sich mithin ein »Münchener
Abkommen« oder ein März 1939 nicht wiederholen dürfte. Warschau erklärte den
überkommenen Status quo Danzigs zum Ehrenpunkt, der nicht verhandlungsfähig sei, und die
verbündeten Westmächte bestärkten Polen in seiner Haltung nachdrücklich.
Die Meinung polnischer Militärs
Im Sinne der Beckschen psychologischen Strategie gegenüber Hitler, nämlich der
Demonstration von Entschlossenheit und Stärke, meldeten sich in den nachfolgenden Tagen
und Wochen zunehmend mehr Militärs zu Wort.
Unter ihnen spielte naturgemäß Marschall Rydz-Smigly eine herausragende Rolle. Und so
nahm es nicht wunder, daß er auch bevorzugt von ausländischen Diplomaten um seine
Lagebeurteilung angegangen wurde. US-Botschafter Biddle gehörte zu seinen ausgewählten
Gesprächspartnern und meldete ausführlich über seine Unterhaltung nach Washington. Dabei
erscheint das Geheimtelegramm »strictly confidential« vom 26. Juli 1939 »For the President
and the Secretary« besonders aufschlußreich. Es beinhaltet die neueste militärische
Lagebeurteilung des obersten polnischen Soldaten und zeugt von der schier unaufhaltsamen
Entwicklung zu einer kriegerischen Auseinandersetzung zwischen Polen und Deutschland,
Etwa, wenn die polnische Armeeführung zwei Divisionen zusätzlich an die deutsch-polnische
Grenze verlegte, stationierten die Deutschen im Gegenzug drei Divisionen in den
Gebietsstreifen gegenüber, In den letzten Tagen, so erläuterte Rydz-Smigly dem US-
Botschafter, hätte eine Konzentration deutscher Truppen vis-à-vis von Posen stattgefunden;
und in allerjüngster Zeit im Gebiet von Breslau-Oppeln, was aber immer noch nicht sehr
alarmierend wäre, Nach Meinung des polnischen Marschalls würden die Deutschen rund zwei
Wochen benötigen, um hinreichend Kräfte für einen Schlag gegen Polen zu mobilisieren: eine
Voraussage, welche Botschafter Biddle glaubte durch eine zusätzliche Nachricht ergänzen zu
müssen.
Nach jüngsten geheimdienstlichen Erkenntnissen, so vertraute Rydz-Smigly dem
amerikanischen Botschafter an, gäbe es bei den deutschen Offizieren eine Urlaubssperre und
wären im Ernteeinsatz befindliche Reservisten für den 10. August 1939 zur militärischen
Verwendung vorgesehen. Die Wahrscheinlichkeit eines Krieges sei in letzter Zeit größer
gewesen als die Möglichkeit seiner Verhütung, doch hätte sich die Politik der Stärke und
Entschlossenheit bewährt und die Anti-Aggressions-Front an Stärke zugenommen, was zu
Lasten der Achse gegangen sei. Die Zeit arbeitete letztlich gegen Deutschland; nach einem
Jahr dürfte die militärische Stärke der Anti-Aggressions-Front (= Polen mit England und
Frankreich samt ihren Verbündeten) ziemlich sicher jene der Achse eingeholt haben und in
zwei Jahren sogar überflügeln. So seien sich Rydz-Smigly und Außenminister Beck in der
Überzeugung einig, daß nur eine feste Haltung der Anti-Aggressions-Front letztlich ein
wirksames Gegengewicht gegen Deutschlands Expansionsgelüste darstelle und daß die
Sprache der Stärke die einzige sei, die Hitler mit Erfolg zum Stehen bringen könne. Der
braune Diktator gebrauche seine Streitkräfte eigentlich mehr als Erpressungsmittel denn als
»a factor intended to come actually to grips with formidable strength«, wie Biddle die
Meinung Becks und Smigly-Rydz' zusammenfaßte. Gleichwohl würde Hitler wachsam
bleiben, um jedes Zeichen von Schwäche der Anti-Aggressions-Front für sich auszunutzen
und loszuschlagen. Im State Department hielt man dieses Telegramm Biddles für so
bemerkenswert und wichtig, daß Unterstaatssekretär Sumner Welles es zusammen mit
anderen Depeschen aus Warschau Präsident Roosevelt zur persönlichen Kenntnisnahme
zuleitete, wie eine Briefanlage ausweist. Am 17. August 1939 wandte sich Botschafter Biddle
wiederum »strictly confidential« an den Präsidenten und an den Außenminister, um von den
Massenverhaftungen Volksdeutscher zu berichten, die unter dem Vorwand der Spionage und
Agententätigkeit festgenommen worden waren. Unter den Festgenommenen befand sich auch
Rudolph Weisner, einer der prominenten Führer der deutschen Minderheit in Polen, den die
Polen nunmehr als »ehemaliges« Mitglied des Polnischen Senats bezeichneten, wie Biddle in
seinem Geheimbericht vermerkte. Hintergrund für die Verhaftungswelle war der Verdacht,
daß die Volksdeutschen als »fünfte Kolonne« für Berlin arbeiteten und auch hinter
bestimmten Grenzzwischenfällen, bei denen polnische Menschen zu Schaden gekommen
waren, steckten, Das amerikanische Botschaftstelegramm vom 17. August 1939 erwähnt
einige Beispiele, die der deutschen Minderheit angelastet wurden. Ob die Vorwürfe objektiv
zu Recht bestanden, dürfte nicht mehr feststellbar sein, Für die aufgebrachte polnische
Mehrheit genügte jedenfalls bereits der Verdacht, um die Aktion als gerechtfertigt anzusehen.
Daß möglicherweise mehr Ressentiment und Stimmungsmache hinter dem Argwohn
gegenüber den Volksdeutschen stand, erhellt aus einer Bemerkung, die der schon erwähnte
Handelsrat Wszelaki in einem Gespräch mit den britischen Diplomaten Strang und Jebb im
Mai 1939 machte. Danach befürchtete er nach dem möglichen Ausbruch eines Krieges ein
schreckliches Massaker unter den Volksdeutschen, wie es dann in den ersten September-
Tagen tatsächlich eintrat und rund fünftausend Volksdeutschen das Leben kostete.
Von der emotional geladenen Stimmung der Polen hatte US-Botschafter Biddle schon am 9.
August 1939 nach Washington berichtet, als er die 25-Jahr-Feier der Gründung der Pilsudski-
Legion am 6. August in Krakau schilderte und die Rede Marschall Rydz-Smiglys wiedergab.
In ihr hatte der polnische Oberkommandierende mit markigen Worten klargestellt, daß die
Stadt Danzig Jahrhunderte hindurch mit Polen und seiner Wirtschaft verbunden gewesen sei,
daß Gewalt mit Gegengewalt beantwortet würde und daß sich die Polen an Vaterlandsliebe
nicht von den Deutschen übertreffen ließen, um dann beim Schluß seiner Ansprache aus dem
Munde der versammelten Legionäre und der über hunderttausend Zuhörer aus ganz Polen das
Gelöbnis zu hören: »Wir schwören, während eines Krieges ungebrochen bis zum Siege zu
kämpfen.« Biddle meinte, daß die in Krakau versammelte Volksmenge wohl die Stimmung
aller Polen wiedergegeben habe. Im übrigen habe Rydz-Smigly den Kern seiner Krakauer
Ausführungen auch schon in einem Interview mit der amerikanischen Journalistin Mary
Heaton Vorse zum Ausdruck gebracht. Biddle übermittelte dessen Wortlaut in einer Anlage
zu einem Geheimtelegramm vom 9. August. Danach sagte der Marschall seiner
Gesprächspartnerin, daß Polen entschlossen sei zu kämpfen, falls Deutschland seine
Anschlußpläne mit Danzig weiter verfolge. Darin seien sich im übrigen alle Polen einig, da
Danzig für Polen absolut notwendig sei. Im übrigen lerne schon jeder polnische Junge
gleichsam mit dem Gebet, daß er ein guter Soldat werden soll, um sein Vaterland verteidigen
zu können.
Quintessenz der Biddleschen Meldungen aus Warschau war, daß Marschall Rydz-Smigly -
wie Außenminister Beck - die Memung vertrat, »that durable peace could not be secured by
the granting of further territorial concessions in Eastern and Central Europe to Hitler«, also
mit weiteren Zugeständnissen an Hitler letztlich doch kein dauerhafter Friede aufrechterhalten
lasse.
Damit war der polnische Standpunkt oft und deutlich genug dem potentiellen Kontrahenten
im Westen klargemacht und eigentlich jeder Zweifel über seine Ernsthaftigkeit beseitigt. Die
deutsche Seite antwortete auf die zahlreichen Entschlossenheitsbekundungen Warschaus nur
in Reden untergeordneter Personen, etwa des Danziger Gauleiters Forster oder eines
beamteten Regierungssprechers.
Deutsch-sowjetische Verbindungen
Auf höchster Ebene enthielt man sich in Berlin auffallend einer eindeutigen Stellungnahme;
vielmehr arbeitete man dort an einem Überraschungscoup, der das ganze Bündnis- und
Beistandsgebäude, die sogenannte Anti-Aggressions-Front, zum Einsturz bringen sollte: an
einem Übereinkommen mit der Sowjetunion. Ausweislich der vertraulichen amerikanischen
Botschaftsberichte aus Moskau steuerte Berlin auf einen solchen Abschluß seit dem
Spätfrühjahr 1939 hin. Am 21. August 1939 waren die Verhandlungen dann soweit
fortgeschritten, daß sie in ein unterschriftsreifes Ergebnis mündeten und der Abschluß eines
Vertrages bekannt gemacht werden konnte.
Warschau, das man mit dieser deutsch-sowjetischen Annäherung einschüchtern wollte, zeigte
sich jedoch unbeeindruckt und ließ am 22. August erklären:
»Die Ankündigung des bevorstehenden Abschlusses des Nichtangriffspaktes zwischen
Deutschland und der Sowjetunion hat in den polnischen Kreisen keinen großen Eindruck
gemacht; denn im Grunde genommen bringt dieser Abschluß keine tatsächliche Änderung des
Gleichgewichts der Streitkräfte in Europa … Der Abschluß des Nichtangriffspaktes wird
keinen Einfluß auf die Lage und die Haltung Polens ausüben. « Man konnte an der Weichsel
kaum ahnen, daß der Nichtangriffspakt lediglich das Feigenblatt für das viel bedeutsamere
»Geheime Zusatzprotokoll« zwischen dem Deutschen Reich und der UdSSR war, in welchem
Polen in ein künftiges deutsches und ein sowjetrussisches Einflußgebiet aufgeteilt wurde, also
seine Selbständigkeit beendet werden sollte, wie es dann im September 1939 auch geschehen
ist.
USA täuschen Polen weiterhin
Von dieser höchst bedrohlichen Absicht Hitlers und Stalins hätte freilich die polnische
Regierung Kenntnis bekommen können, wenn sich das State Department oder das Weiße
Haus in Washington entschlossen hätte, sein insgeheim erworbenes Mitwissen um diese
Diktatoren-Allianz dem befreundeten Polen weiterzugeben. Seit Einsichtnahme in das
Geheimtelegramm der US-Botschaft in Moskau vom 24. August 1939 wissen wir, daß die
amerikanische Regierung schon wenige Stunden nach Unterzeichnung des »Geheimen
Zusatzprotokolls« über seinen Inhalt benachrichtigt worden ist. Bedenkt man die
Freimütigkeit, mit der die polnische Regierung die US-Vertreter in Warschau über alle
wichtigen Vorgänge informierte, wäre eine entsprechende Vertraulichkeit gegenüber Polen
seitens der amerikanischen Regierung natürlich zu erwarten gewesen; und erinnert man sich
der Öffentlichen Reaktionen westlicher Regierungskreise auf vermeintliche Unternehmungen
Berlins in Sachen Danzigs, muß man sich über die Hinnahme dieser ebenso imperialistischen
wie sensationellen Interessenaufteilung des polnischen Landes wundern.
Die nach dem 23. August 1939 feststellbaren Verlautbarungen der »Anti-Aggressions-Front«
nahmen zumindest keinen Bezug auf den Inhalt des sowjetisch-deutschen »Zusatzprotokolls«
zum Hitler-Stalin-Pakt, sondern kommentierten im wesentlichen die eingetretenen Ereignisse,
bzw. reagierten gezielt und Öffentlich auf den publizierten Text des deutsch-sowjetischen
Abkommens, So unterzeichnete die britische Regierung am 25. August 1939 das englisch-
polnische gegenseitige Hilfeleistungsabkommen und betonte dabei ihre Entschlossenheit, zu
ihren Verpflichtungen gegenüber Polen zu stehen, und bekräftigte der französische
Ministerpräsident Daladier am gleichen Tage die schicksalhafte Verbundenheit seines Landes
mit dem Volke der Polen. Und US-Präsident Roosevelt richtete am 25. August 1939 eine
Botschaft an Hitler: nicht um dessen Komplizenschaft mit Stalin anzuprangern, sondern um
eine schiedlichfriedliche Lösung des deutsch-polnischen Gegensatzes anzuregen und dabei
die eigenen Dienste anzubieten. Nach Eingang der polnischen Zustimmung zu Roosevelts
Verhandlungsvorschlägen wandte sich dieser am 26. August 1939 erneut an Hitler und führte
aus: »Moscicki hat in seiner Antwort erklärt, die polnische Regierung sei geneigt, auf der in
meinen Botschaften vorgeschlagenen Grundlage die Gegensätze zwischen Polen und dem
Deutschen Reich durch unmittelbare Verhandlungen oder durch ein Schlichtungsverfahren zu
regeln. Man kann noch das Leben zahlloser Menschen retten, und wir sind noch von der
Hoffnung erfüllt, daß die Nationen der modernen Welt die Basis friedlicher und glücklicherer
Beziehungen schaffen können, wenn Sie und die Reichsregierung der von der polnischen
Regierung angenommenen friedlichen Regelung zustimmen.«
Bei Eintreffen dieser Roosevelt-Botschaft sollte die deutsche Wehrmacht nach den Plänen
Hitlers bereits in Polen einmarschiert sein, hatte doch der deutsche Kanzler schon am 25.
August 1939, um 14:50 Uhr, den Befehl erteilt, am 26. August um 4:45 Uhr den Angriff auf
Polen zu eröffnen. Diesen Vormarschbefehl ließ er dann am gleichen Tage, um 18:15 Uhr,
widerrufen, um auf die neuesten diplomatischen Interventionen Englands, Frankreichs und
der USA eingehen zu können. Die von ihm in das deutsch-sowjetische Bündnis gesetzte
Erwartung, daß sich England und Frankreich nunmehr von ihren Zusicherungen an Polen
distanzieren würden und ein Feldzug gegen Polen mithin isoliert geführt werden könnte, hatte
sich als Fehlspekulation erwiesen und veranlaßte ihn zu einem Aufschub von einigen Tagen.
In dieser Zeit bemühte sich bekanntlich Großbritannien um eine direkte Verständigung
zwischen Berlin und Warschau und ließ Hitler (am 30. August) seinen 16-PunkteVorschlag
für eine Regelung des Danzig-Korridor-Problems sowie der deutsch-polnischen
Minderheitenfrage unterbreiten. Er sah die Rückkehr Danzigs in den deutschen Staatsverband,
im Gebiet des polnischen Korridors eine Volksabstimmung »nicht vor Ablauf von 12
Monaten« und einen danach stattfindenden Bevölkerungsaustausch vor sowie polnische
Sonderrechte im Hafen von Danzig, die Demilitarisierung der Halbinsel Hela und eine
»international zusammengesetzte Untersuchungskommission« zur Beilegung der
Minderheitenfrage. Bei Verständigung auf dieser Grundlage sollten sich Polen und
Deutschland bereit erklären, »die sofortige Demobilmachung ihrer Streitkräfte anzuordnen
und durchzuführen«. Ein Angebot, vor dem der deutsche Chefdolmetscher Paul Schmidt nach
dem Krieg berichtete, daß es von Hitler selbst nur als »Alibi« und nicht ernst gemeint
unterbreitet worden sei, wie ihm der braune Diktator »mit nicht zu übertreffender Klarheit
bestätigt« habe.
Fest steht jedenfalls, daß die polnische Regierung für den 30. August 1939 die
Generalmobilmachung angeordnet und bis zum Abend des 31. August keinen
bevollmächtigten Vertreter zur Entgegennahme der angeführten 16 Punkte nach Berlin
entsandt hatte, wie es auch aktenkundig ist, daß am 31. August 1939 um 12:40 Uhr die
Weisung an die deutsche Wehrmacht ging, am 1. September 1939, um 4:45 Uhr, die
Kampfhandlungen gegen Polen zu eröffnen.
Damit verstummten die Stimmen der Diplomaten und der Vernunft und dröhnten die Waffen -
begleitet von tönenden Deklamationen beider Seiten.
Die schlechteste aller Lösungen schien gekommen: der Krieg.
Quelle: Deutschland in Geschichte und Gegenwart 31(4) (1983), S. 18-26