ein neues produkt wird entwickelt - bosshard-farben.ch · 2020-06-06 · ein neues produkt wird...
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Prüfung der Produktstabilität
nach Wärmelagerung.
aus? Die Antwort ist simpel: Ein gutes
Produkt löst Probleme.
Ein innovatives Unternehmen beob-
achtet den Markt, spricht mit Kunden,
versteht Bedürfnisse und erkennt recht-
zeitig Veränderungen in der Bautechnik.
Es muss aber auch Produktschwächen
schonungslos offenlegen und immer
wieder hinterfragen, ob es wirklich ein
neues Produkt braucht. Viele Mitarbei-
ter und Fachberater sind auch Ideen-
Scouts. Sie versorgen ihren Arbeitge-
ber regelmässig mit Informationen aus
den Märkten. Die Aufgabe der Entwick-
lungsleitung ist es dann, aus der Viel-
zahl dieser Informationen diejenigen he-
rauszu$ltern, die letztlich zu einem re-
alisierbaren und erfolgreichen Projekt
führen könnten.
Ein neues Produkt wird
entwickelt
Text Wolfram Selter*
Bilder Bosshard + Co. AG
Wie entsteht ein neues Produkt, ein neuer Beschichtungsstoff, eine innovative
Innenfarbe? Von der Idee bis zum Ergebnis ist es in der Regel ein langer Weg,
bei Baumalerprodukten dauert dieser rund zwei Jahre. Die Bosshard + Co. AG
hat die Entwicklungsgeschichte am Beispiel der Wohnraumfarbe EmulSan
aufgezeichnet.
Früher waren Produktentwicklungen häu-
$g Entdeckungen nach dem Motto «man
nehme ganz viel Zufall, zahlreiche Zuta-
ten und würze das Ganze mit einer gros-
sen Portion Geheimniskrämerei». Heu-
te sind neue Erzeugnisse das Resultat
von geregelten Produkt-Entstehungspro-
zessen.
Erfolgreiche und schnelle Entwick-
lungen schaffen Wettbewerbsvorteile für
ein Unternehmen, nicht ausgereifte Pro-
dukte führen jedoch zu Reklamationen,
Image- und Umsatzverlusten. Deshalb
müssen beispielsweise Farben und La-
cke für den Ausseneinsatz zwingend na-
türliche und künstliche Bewitterungsver-
suche durchlaufen, bevor sie eingeführt
werden können. Beschichtungsstoffe für
die Innenanwendung können normaler-
weise schneller zur Marktreife gebracht
werden.
Die Abklärungen
In der Farben- und Lackindustrie ist
die Erfolgsquote für ein neu entwickel-
tes Produkt höher als in der Pharma-
industrie, aber nicht jede Entwicklung
wird auch ein kommerzieller Erfolg. Des-
halb braucht es im Vorfeld sorgfältige
Abklärungen, bevor ein Projekt gestar-
tet wird.
Kreativität ist eine wichtige Voraus-
setzung für die Entwicklung innovativer
Produkte – aber Innovation braucht Mut
und Durchsetzungsvermögen! Und was
zeichnet ein neues innovatives Produkt
* Bereichsleiter Technik und Entwicklung,
Bosshard + Co. AG
Das neue Produkt besteht
aus vielen Rohstoffen.
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Mitarbeiter in regelmässigen Abstän-
den Soll- und Ist-Vergleiche durchfüh-
ren muss.
Die Entwicklung
Am Anfang einer Entwicklungsarbeit
steht leider nicht der berühmt-berüch-
tigte Geistesblitz. Zuerst müssen fol-
gende Fragen beantwortet werden: Kann
man ein bestehendes Produkt optimie-
ren? Was bieten die Marktbegleiter für
Lösungen an und gibt es neue Rohstof-
fe mit neuartigen, vorteilhaften Eigen-
schaften?
Die eigentliche Entwicklungsarbeit
ist knallharte Laborarbeit: messen, mi-
schen, mahlen und immer wieder prüfen,
prüfen und nochmals prüfen. Hierbei fol-
gen die Projektverantwortlichen bewähr-
ten Abläufen.
Stecknadel im Heuhaufen
Nach wochenlanger Grundlagenarbeit im
Labor wird schliesslich klar, welcher Weg
eingeschlagen werden muss. Es zeigte
sich, dass die vorhandenen Bindemittel
nicht die geforderten Eigenschaften für
das neue Produkt erfüllen. Eine Feststel-
lung mit weitreichenden Folgen für den
Entwickler, denn die Rohstof$ndustrie
bietet Hunderte von Bindemitteln für In-
nenfarben an. Somit ist es ein Ding der
Unmöglichkeit, auch nur einen Bruch-
teil der Bindemittelvorschläge zu testen.
Die weitere Entwicklungsarbeit $n-
det deshalb am Schreibtisch statt. Es
folgen zahlreiche E-Mails, Telefonate
und Besprechungen mit Rohstof'iefe-
Marktanalysen sind aber auch mit
Vorsicht zu geniessen. Wer sich immer
nur am Wettbewerb orientiert und nichts
Neues wagt, wird niemals Technologie-
führer. Bei einer Neueinführung kommt
es oft vor, dass die Konkurrenz erst mal
abwartet, ob sich das Produkt bewährt.
Ist dies der Fall, kopiert sie es – mit dem
Resultat, dass sich letztlich alle Produk-
te mehr oder weniger gleichen.
Die Erkenntnis
Die Auswertung von Marktinformatio-
nen führt häu$g zu überraschenden Er-
kenntnissen. Im hier genannten Beispiel
wünschten sich der Markt beziehungs-
weise die Kunden eine innovative Wohn-
raumfarbe. Die vorhandenen, bisher er-
folgreichen Produkte konnten nicht mehr
alle Kundenbedürfnisse abdecken. Ergo
brauchte es ein neues und vor allem ein-
zigartiges Produkt.
Ideen und Anregungen für ein neues
Projekt reichen jedoch nicht aus, um es
umzusetzen. Es müssen auch alle Ent-
scheidungsträger durch möglichst vie-
le belegbare Fakten von der Notwendig-
keit und Richtigkeit des Projekts über-
zeugt werden.
Das Pflichtenheft
Bevor ein Entwicklungsprojekt geneh-
migt und gestartet werden kann, braucht
es ein detailliertes P'ichtenheft. Für
eine neue Wohnraumfarbe mit Emulsi-
onstechnik sieht dieses wie folgt aus:
■ an Decken und Wänden problemlos
einsetzbar
■ einzigartige Verarbeitungseigen-
schaften, beispielsweise nahezu
spritzfrei
■ tadellose Direkthaftung auf bauübli-
chen Untergründen
■ sehr lange Verarbeitungsmöglich-
keiten (offene Zeit)
■ hervorragender Verlauf
■ tuchmatte, glanzstellenfreie Ober-
'äche, das heisst keine Strei'icht-
probleme
■ hohe mechanische Widerstands-
fähigkeit – kein bis geringes Auf-
polieren
■ sehr gute Reinigungsfähigkeit
■ beste Renovierfähigkeit
■ Umweltetikette C oder höher
■ Nassabriebklasse 1
■ Deckvermögen Klasse 2
■ vergilbungsfrei
■ sehr gutes Preis-Leistungs-
Verhältnis.
Der Projektstart
Auf die Plätze, fertig, los! Los geht es
mit einem Entwicklungsprojekt, wenn
der Geschäftsführer das Projekt geneh-
migt hat. Die Abläufe sind in einem Qua-
litätssicherungsprozess detailliert be-
schrieben.
Der Laborauftrag
Der Laborleiter stellt für das genehmigte
Entwicklungsprojekt einen Laborauftrag
aus. In diesem sind alle Informationen
und P'ichten für den verantwortlichen
Entwicklungssachbearbeiter enthalten.
Das bedeutet beispielsweise, dass der
Laborarbeit: prüfen, prüfen
und nochmals prüfen.
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nologien für solche Farben. Für das hier
im Bericht beschriebene Produkt $el die
Wahl auf spezielle Emulsionsbindemit-
tel. Diese trocknen physikalisch und oxi-
dativ und ermöglichen spezielle Eigen-
schaftspro$le der damit formulierten In-
nenfarben.
Die Rückschläge
Produktentwicklung heisst auch Nie-
derlagen akzeptieren zu können. Viel-
versprechende Laborversuche erweisen
sich beispielsweise nach Lagerung als
instabil. Irgendwann weiss auch der er-
fahrenste Entwicklungstechniker nicht
mehr weiter. Hier helfen regelmässige
Besprechungen mit der Laborleitung, um
die Mitarbeitermotivation hochzuhalten.
Moderne Innenfarben bestehen aus
20 oder mehr Rohstoffen, von denen
einige auch wieder aus mehreren Roh-
stoffen zusammengesetzt sind. Entwick-
lungsarbeit heisst Rezepte entwickeln,
ansetzen, prüfen, verwerfen oder opti-
mieren. Dieser Prozess muss so lange
weitergeführt werden, bis im Labor das
erste Nassmuster entsteht, das die Vor-
gaben des P'ichtenhefts erfüllt.
Der Durchbruch
Laborversuch 127 bringt für die hier be-
schriebene Wohnraumfarbe mit Emul-
sionstechnik den gewünschten Durch-
bruch. Nun folgen noch einige Wochen
mit entwicklungstechnischer Feinarbeit,
Produktprüfungen und Kontrollen vieler
Zusatzparameter. Ein Entwicklungssach-
bearbeiter muss sich in vielen Fachge-
ranten. Diese Gespräche müssen mit
Bedacht geführt werden, denn man darf
kein Know-how preisgeben.
Das Bindemittel
Das sprichwörtliche A und O einer erfolg-
reichen Produktrezeptur ist das Binde-
mittel. Es bestimmt die wesentlichen Ei-
genschaften der Beschichtung. Für was-
serverdünnbare Innenfarben werden
überwiegend Kunststoff-Dispersions-
bindemittel eingesetzt. Diese Bindemit-
tel trocknen physikalisch. Daneben gibt
eine Vielzahl anderer Bindemitteltech-
Bestimmung der offenen
Zeit.
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Der Geschäftsführer eröffnet mit den
vorgeschriebenen Prozessschritten das
neue Produkt. Mit dem Kalkulations- be-
ziehungsweise Fertigungsrezept ist es
jedoch bei Weitem nicht getan. Nun be-
ginnt in allen Bereichen der Unterneh-
mung der Produkteröffnungsprozess.
Die Technik muss für alle begleitenden
technischen Dokumente und Texte, bei-
spielsweise für die Etikette, das Sicher-
heitsdatenblatt usw., sorgen.
Bei einem QS-zerti$zierten Unterneh-
men laufen diese Aktivitäten nach fest-
gelegten Arbeitsabläufen ab und garan-
tieren letztlich die Gesamtqualität des
Produkts und der verbundenen Dienst-
leistungen.
Schliesslich ist der Prozess abge-
schlossen und das abgefüllte und eti-
kettierte Produkt steht am Lager, bereit
für den Verkauf. Somit ist die Arbeit für
die Produktentwicklung getan, jetzt be-
ginnt sie für den Verkauf.
Der Rückblick
Das Endprodukt dieser Aufzeichnung,
die Wohnraumfarbe EmulSan, entwickel-
te sich für die Bosshard + Co. AG zu ei-
nem kommerziellen Erfolg: Bereits we-
nige Monate nach der Markteinführung
wurden die Verkaufsprognosen deutlich
übertroffen. ■
rekturmassnahmen eingeleitet, bis die
Mitarbeiter voll und ganz hinter dem Ent-
wicklungsprodukt stehen können.
Die Pilotproduktion
Nach erfolgter Kontrolle durch die Labor-
und Bereichsleitung werden alle bishe-
rigen Ergebnisse in einem Laborbericht
zusammengefasst. Die Geschäftsleitung
entscheidet nun über die Eröffnung ei-
nes Versuchsproduktes beziehungswei-
se einer ersten Pilotproduktion. Diese
erfolgt in Begleitung des Entwicklungs-
sachbearbeiters, falls noch verfahrens-
technische Hinweise nötig sind. Jede
Pilotproduktion wird dann wieder durch
das Labor und die Anwendungstechnik
auf alle vereinbarten Qualitätseigen-
schaften geprüft. Ist diese Prüfung be-
standen, steht das Produkt für Feldver-
suche zur Verfügung.
Die Kunden der Bosshard + Co. AG
beschichten mit den meistverkauften In-
nenfarben jährlich eine Fläche von insge-
samt mehr als 10 Millionen Quadratme-
tern. Produktmängel können bei dieser
Grössenordnung zu fatalen Folgen füh-
ren. Ziel ist es deshalb, möglichst vie-
le repräsentative Kundenversuche mit
dem neu entwickelten Produkt durchzu-
führen. Jeder Kunde erhält zu diesem
Zweck mit dem Versuchsprodukt einen
Beurteilungsbogen, der später systema-
tisch ausgewertet wird.
Diese Projektphase ist von entschei-
dender Bedeutung. Es ist auch die letzte
Gelegenheit, vor der Produkteinführung
noch Korrekturen anzubringen.
bieten auskennen, so auch mit Geset-
zen und Vorschriften. Schon bei der La-
borarbeit muss er darauf achten, dass
die Rohstoffe keine gefährlichen Inhalts-
stoffe aufweisen und Grenzwerte ein-
gehalten werden. Technisch gute Pro-
dukte müssen heutzutage nach stren-
gen toxikologischen und ökologischen
Gesichtspunkten konzipiert und reali-
siert werden.
Manches Projekt ist gescheitert, weil
die Übertragung vom Laboransatz in den
industriellen Massstab nicht gelang.
Deshalb wird dieser wichtige Schritt zu-
erst sorgfältig mittels Herstellung von
kleineren Mengen im Labor geprüft. Die-
se sogenannte Technikumsproduktion
liefert wichtige Erkenntnisse für die ers-
te grössere Pilotproduktion.
Prüfungen der Anwendungstechnik
Die Anwendungstechniker testen das
Entwicklungsprodukt nun auf seine
Praxistauglichkeit. Dies geschieht zu-
nächst mit der Technikumsproduktion
in den Räumlichkeiten der Anwendungs-
technik und immer unter Einbezug be-
kannter Produkte und Wettbewerbs-
produkte. Die Anwendungstechniker
müssen das Spektrum der Praxisgege-
benheiten nachstellen und die Grenzen
des Produkts ausloten.
Hier beginnt das Feintuning zwischen
Anwendungstechnik und Entwicklungs-
sachbearbeiter. Häu$g heisst es mit den
Worten von Elvis Presley: «Return to sen-
der» – nachbessern! Aufgrund dieser Ver-
arbeitungstests werden allfällige Kor-
Prüfung Nassabrieb.