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BERTRAND RUSSELL Einführung in die mathematische Philosophie Mit einer Einleitung von MICHAEL OTTE herausgegeben von JOHANNES LENHARD und MICHAEL OTTE FELIX MEINER VERLAG HAMBURG

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Page 1: Einführung in die mathematische Philosophie · BERTRAND RUSSELL Einführung in die mathematische Philosophie Mit einer Einleitung von MICHAEL OTTE herausgegeben von JOHANNES LENHARD

BERTRAND RUSSELL

Einführungin die mathematische

Philosophie

Mit einer Einleitung vonMICHAEL OTTE

herausgegeben vonJOHANNES LENHARD

und MICHAEL OTTE

FELIX MEINER VERLAGHAMBURG

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PHILOSOPHISCHE BIBLIOTHEK BAND 536

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation inder Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographischeDaten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN-13: 978 3-7873-1828-5ISBN-10: 3-7873-1828-3

2. Auflage 2006

Titel der Originalausgabe: Bertrand Russell, An Introduc-tion to Mathematical Philosophy. Originally published: 2nd

ed. London: G. Allen and Unwin; New York: Macmillan,1919. All Rights Reserved. Authorised translation fromEnglish language edition published by Routledge, a mem-ber of Taylor and Francis Group.© für die deutsche Übersetzung Felix Meiner Verlag GmbH,Hamburg 2002. Alle Rechte, auch die des auszugsweisenNachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und derÜbersetzung, vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfäl-tigung und Übertragung einzelner Textabschnitte durch al-le Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier,Transparente, Filme, Bänder, Platten und andere Medien,soweit es nicht §§ 53 und 54 URG ausdrücklich gestatten.Satz: Kusel, Hamburg. Druck: Carstens, Schneverdingen.Buchbinderische Verarbeitung: Schaumann, Darmstadt.Einbandgestaltung: Jens Peter Mardersteig. Werkdruckpa-pier: alterungsbeständig nach ANSI-Norm resp. DIN-ISO9706, hergestellt aus 100% chlorfrei gebleichtem Zellstoff.Printed in Germany.

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INHALT

Einleitung. Von Michael Otte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VIIZur Übersetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . LXLiteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . LXI

Bertrand RussellEinführung in die mathematische Philosophie

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31. Die Folge der natürlichen Zahlen . . . . . . . . . . . . 52. Die Definition der Zahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163. Endlichkeit und mathematische Induktion . . . . 264. Die Definition der Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . 365. Die Beziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 516. Ähnlichkeit von Beziehungen . . . . . . . . . . . . . . . 627. Rationale, reelle und komplexe Zahlen . . . . . . . 748. Unendliche Kardinalzahlen . . . . . . . . . . . . . . . . 909. Unendliche Folgen und Ordinalzahlen . . . . . . . . 103

10. Limes und Stetigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11111. Limes und Stetigkeit bei Funktionen . . . . . . . . . 12112. Die Theorie der Auswahlen und das

multiplikative Axiom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13213. Das Axiom der Unendlichkeit und

die logischen Typen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14814. Die Unverträglichkeit und die Theorie

der Deduktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16215. Satzfunktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17416. Beschreibungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18717. Mengen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20218. Mathematik und Logik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217

Schlagwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231

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EINLEITUNG

Michael Otte

I.

Das Buch ist sehr anregend zu lesen, wie beinahe alles,was Bertrand Russell geschrieben hat, und es ist ein Buchvon der Art, wie es nur jemand wie Russell schreiben kann,wenn er im Gefängnis sitzt und keine Hilfsmittel hat undsich daher entschließt, allen technischen Ballast abzustrei-fen und sich in einer mehr oder minder populären Darstel-lung zu ergehen. Russells »Einführung in die mathemati-sche Philosophie« von 1919 ist in diesem Sinne zuweilenund mit Recht »eine bewundernswerte Exposition des Mo-numentalwerks Principia Mathematica« genannt worden.Das Buch ist noch mehr, insofern in seine Abfassung dieErgebnisse aller grundlegenden Arbeiten Russells seit et-wa 1900 eingeflossen sind. Und es ist zugleich etwas ande-res, insofern es eine relativ eigenständige Einführung indie Grundlagen der Mathematik und der Erkenntnistheo-rie darstellt.

Anders als die heute üblichen Texte im Bereich der Phi-losophie der Mathematik läßt Russell einen immer an sei-nem Denken teilhaben, an seinen Vermutungen und Irrtü-mern und an der Begeisterung, die er bei der Beschäfti-gung mit seinem Gegenstand empfindet. Da er einer derherausragenden Protagonisten des modernen wissen-schaftlichen Empirismus und einer der Begründer der heu-te dominierenden Philosophie der Mathematik ist, gewinntman auf diese Weise aus seinen Schriften einen einzigarti-gen Eindruck in die Wechselfälle und Ideen der erkennt-nistheoretischen und logischen Diskussionen dieses Jahr-hunderts. Das Programm der logischen Weltauffassung,wie es unter anderem von Frege und Russell inauguriertund von ihren Schülern – zum Beispiel Carnap und Quine

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– fortgeführt worden ist, mag sehr trocken, technisch undgleichsam objektivistisch unmenschlich erscheinen, aberdie dahinterstehende Intention war durch und durch in ei-nem humanen und aufklärerischen Fortschrittsglaubenverankert.

Die Forderung nach einer strikt logisch-wissenschaftli-chen Arbeitsweise sollte einem dumpfen Irrationalismusund Traditionalismus entgegenwirken. Wie es einer vonRussells Schülern, Rudolf Carnap, im Vorwort zu seinem1928 erschienenen Werk »Der logische Aufbau der Welt«ausgedrückt hat, wird die logische Philosophie von demGlauben getragen, daß einer »Gesinnung die Zukunftgehört, […] die überall auf Klarheit geht und doch dabei dienie ganz durchschaubare Verflechtung anerkennt« und diedaher »logische Klarheit der Begriffe«, »Sauberkeit der Me-thoden« und »Verantwortlichkeit der Thesen« in den Diensteines Erkenntnisfortschritts durch Zusammenarbeit stellt(Carnap, 1928/1998, Vorwort zur ersten Auflage).

Es erscheint nicht zuletzt angesichts der Tatsache, daßdie Philosophie der Mathematik und die gegenwärtige ana-lytische Wissenschaftstheorie von Russell zwar die »techni-schen Errungenschaften« übernommen haben, aber anson-sten kein Wort über die damit verbundenen philosophi-schen und historischen Anliegen verlieren, angebracht, aufden historischen Ursprung der modernen Mathematik undErkenntnistheorie und auf den kulturellen und politi-schen Entstehungszusammenhang hinzuweisen. Mathe-matik und Logik entwickelten sich seit der Ausbreitungder industriellen Revolution im 19. Jahrhundert zuneh-mend unter dem Imperativ, vor allem der Kommunikationund der präziseren Verständigung zu dienen und wenigerder Sicherung eines allgemein verbindlichen Weltbildes.Und hier gibt es so etwas wie eine Heisenbergsche Un-schärferelation: Je differenzierter die Begriffsbildung imeinzelnen wird, desto unbestimmter erscheinen die ontolo-gischen Grundlagen und Gesamtzusammenhänge und um-gekehrt. Logische und empirisch-anschauliche Grundlagen

Michael OtteVIII

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eines Arguments sind, so sagt Russell, etwas durchaus Ver-schiedenes und begrenzen sich gegenseitig in ihren An-sprüchen.

Russell ist immer ein unabhängiger Geist gewesen, demdie Beschränkung auf ein besonderes Gebiet fremd bliebund der sich bemühte, alle Entwicklungen der Mathema-tik, der Philosophie, der experimentellen Naturwissen-schaften, aber auch die der Politik zu verfolgen, und erschrieb in seinem Leben über eine beeindruckende Vielfaltvon Gebieten, meistens mit großer Anschaulichkeit, so daßviele seiner Bücher im besten Sinne Popularwissenschaftdarstellten. Es war ihm dies nicht nur aufgrund seines um-fassenden Studiums möglich, sondern basierte auch aufseiner Überzeugung, daß Schreiben seine eigentliche Beru-fung sei.

II.

Der hauptsächliche Gegenstand des Buches ist die Zahlund alles was zur Zahl, zur Arithmetik und zur Logik derArithmetik gehört. Die Frage nach der Bedeutung der Zah-len und der Arithmetik steht überhaupt im Zentrum vonRussells Interesse an der Mathematik und der Logik. SeitBeginn des 19. Jahrhunderts war die Mathematik u. a.durch einen starken Arithmetisierungstrend gekennzeich-net. Nun sollte die Begründung derselben durch eineLogisierung der Arithmetik selbst vollendet werden. Wennhier jedoch von Begründung die Rede ist, dann geht es fürRussell nicht so sehr um eine Klärung der ontologischenGrundlagen der Arithmetik bzw. der Mathematik insge-samt, sondern um eine Differenzierung des Begriffsap-parates und um eine logische Präzisierung der Ableitungs-methoden. Wir werden im folgenden noch sehen, daß sichbeide möglichen Ziele sehr oft gegenseitig in die Querekommen.

Russell ist die neue Logik zum erstenmal auf dem inter-nationalen Philosophenkongreß von 1900 in Paris begeg-

Einleitung IX

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net, und zwar in der Gestalt von Peano. Und sosehr er auch beeindruckt war von der logischen Präzision Peanos,sowenig seinem eigenen Naturell und seinen an der Arith-metisierung der Mathematik ausgerichteten Interessenentsprechend empfand er doch die aus dem algebraischenund axiomatischen Denken herausgewachsene Form derLogik. Er selbst beschreibt ihre Entwicklung folgender-maßen: »An sich war die mathematische Logik damals(d. h. um 1900) schon längst kein ganz neues Fach mehr.[...] Boole hatte seine Laws of Thought 1854 veröffentlicht;C.S. Peirce hatte eine Relationenlogik ausgearbeitet, undSchröder hatte in Deutschland ein umfängliches dreibändi-ges Werk veröffentlicht, in dem er alles bisher Erreichtezusammengefaßt hatte. Whitehead hatte den BooleschenKalkül im ersten Teil seiner Universal Algebra behandelt[die 1898 erschienen war und in der neben den genanntenAutoren auch Grassmann, De Morgan u.a. behandelt wur-den, meine Einfügung M.O.]. Die meisten dieser Arbeitenwaren mir bekannt, aber ich hatte bei ihnen nicht den Eindruck, daß sie die logische Grammatik der Arithmetikin einem neuen Licht erscheinen ließen« (Russell, 1973b,67).

Und es ist wahr, daß die Logiker der algebraischen Rich-tung mathematisch vorgegangen sind und daß sie die ma-thematischen Gesetze auf den Bereich der Logik übertra-gen bzw. die Logik als eine universelle Algebra verstandenhaben, ohne die Methoden der Mathematik revidieren zuwollen. Die moderne axiomatische Methode repräsentiertnichts anderes als den Zielpunkt des neuzeitlichen Mathe-matisierungsprozesses, der seit Descartes und Leibniz zu-nehmend alle Phänomene und alle Wirklichkeitsbereicheergriffen hatte und der darin mündete, daß nun schließlichauch die Mathematik selbst mathematisiert werden sollte.Insbesondere markiert der Zahlbegriff seit jeher den Kern-bereich mathematischen Denkens. Und man kann sich ein-mal die Frage stellen, wieso erst in der zweiten Hälfte des19. Jahrhunderts, also mehr als 2000 Jahre nach Euklids

Michael OtteX

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Axiomatisierung der Geometrie, nun auch die Arithmetikaxiomatisiert werden sollte. Erst als man gegen 1870 be-gann, sich mit den Grundlagen der Arithmetik zu beschäf-tigen und nach spezifischen logischen Begründungen der-selben suchte, war man auch gezwungen, sich mit denüberlieferten erkenntnistheoretischen Systemen auseinan-derzusetzen, denn es ist unausweichlich, daß eine derarti-ge Selbstbezüglichkeit des Mathematisierungsprozessesdazu führt, fundamentale logische, erkenntnistheoretischeund auch psychologische Probleme aufzuwerfen.

Es macht einen nicht zu unterschätzenden Reiz von Rus-sels Untersuchung aus, daß sich die Diskussion immer ineinem weiten und sehr unterschiedlich bestimmten, durchSprachanalyse, Mathematik, Logik und Erkenntnistheorieabgesteckten Raum bewegt. Dabei fällt, was Russells Un-zufriedenheit mit der bisherigen Logik und Mathematikangeht, eine Eigentümlichkeit auf.

Einerseits macht Russell uns klar, daß wir in unsererErfassung der Naturerscheinungen nicht weiter gelangenkönnen als bis zu einer mathematischen Darstellung derRelationen und Relationsstrukturen – das Buch der Naturist in einer mathematischen Sprache abgefaßt, hat schonGalilei gesagt – und wir daher feststellen müssen, daß wirweit mehr über »die Form der Natur wissen als über ihrenInhalt« (65)1. Andererseits bemüht er sich, was die Mathe-matik und insbesondere den Zahlbegriff angeht, hart-näckig, »was-ist«-Fragen zu beantworten und Bedeutungenoder Interpretationen absolut festzulegen. Während er»dem unmathematischen Geist«, dem der abstrakte Cha-rakter unserer physikalischen Erkenntnis unbefriedigend erscheinen mag, antwortet: »Von einem künstlerischenStandpunkt aus oder unter dem Gesichtspunkt der An-schaulichkeit ist diese Abstraktion vielleicht bedauerlich,

Einleitung XI

1 Die »Einführung in die mathematische Philosophie« wird mitNennung der Seitenzahlen ohne weitere Angaben zitiert.

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aber vom Standpunkt der Praxis schadet sie nichts« (Rus-sell, 1972, 172), hält er bezüglich der Mathematik das Ge-genteil für wahr.

Gegenüber der Empirie rechtfertigt er die mathemati-schen Abstraktionen durch ihre Fruchtbarkeit und ihrenNutzen – »die Abstraktion, so schwierig sie auch sein mag,ist die Quelle praktischer Macht. Ein Finanzmann, dessenVerhältnis zur Welt von abstrakterer Art ist als das irgend-eines Praktikers, ist auch mächtiger als irgendein Prakti-ker. Er kann mit Weizen und Baumwolle handeln, ohnedaß er je etwas von beidem gesehen hat: alles was er davonwissen muß, besteht darin, ob ihre Preise steigen oder fal-len. Das ist abstraktes mathematisches Wissen, zumindest,wenn man es mit dem Wissen des Landwirts vergleicht«(Russell, 1972, 172). Dagegen möchte er diese Abstraktio-nen selbst durch reines Denken konstituieren, indem er ih-re Anwendbarkeit vollkommen apriorisch und in einemgleichsam Kantischen Sinne sicherstellt.

Also in allen Bereichen der Wissenschaft und des Lebenssollten wir unsere Darstellungen weitestgehend auf Zah-len und Zahlensysteme zurückführen. Aber was die Zahlselbst sei und was der Zahlbegriff bedeutet, das soll unab-hängig und vor aller Anwendung durch reines Denken undlogische Analyse bestimmt werden. Die Sinnesempfindun-gen und die Zahlen bilden seit Descartes die Grundlagenunserer Erkenntnis, so meint Russell. Indem wir nun dieBedeutung des Zahlbegriffs klären, tritt die Logik an dieStelle der Arithmetik.

Und während er glaubt, daß die Beschränkung unsererDarstellungsmöglichkeiten auf eine strukturelle Überein-stimmung zwischen der Welt und unseren mathemati-schen Beschreibungen derselben im Bereich der Naturwis-senschaften sogar ein Vorteil sei, denn »bei der mathemati-schen Behandlung des Naturgeschehens können wir beiweitem sicherer sein, daß unsere Formeln annähernd rich-tig sind, als wir es in der Frage der Richtigkeit dieser oderjener Interpretation der Formeln sein können« (Russell,

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1972, 164), möchte er die Mathematik doch nicht einfachdurch ihre Struktur beschrieben sehen.

Bezüglich der Naturerkenntnis vertritt er die Einsicht,»daß mit der Zunahme unserer Fähigkeit zu logischemDenken dieses immer weniger beansprucht, es könne Tat-sachen beweisen« (Russell, 1972, 164). Genau dies möchteer in bezug auf die Mathematik nicht wahrhaben. Ebenso-wenig wie seinen Grundsatz, daß die Logik uns eher lehre,»wie man Schlüsse nicht zieht«, anstatt »wie man zu den-ken habe«. Auch dieser Grundsatz gilt für ihn nicht mehr,wenn es darum geht, die Grundlagen der Arithmetik zuanalysieren und darzustellen.

III.

Russell beginnt sein Werk mit einem Kapitel zur »Folgeder natürlichen Zahlen«, in welchem dieselben auf derGrundlage der Peano-Axiome eingeführt werden, und hierspielt überhaupt nur der Ordinalzahlbegriff eine Rolle. VonKardinalität, also von den Mengeneigenschaften der Zah-len, ist keine Rede.

»Die fünf Grundsätze von Peano lauten:(1) Null ist eine Zahl.(2) Der Nachfolger irgendeiner Zahl ist eine Zahl.(3) Es gibt nicht zwei Zahlen mit demselben Nachfol-

ger.(4) Null ist nicht der Nachfolger irgendeiner Zahl.(5) Jede Eigenschaft der Null, die auch der Nachfol-

ger jeder Zahl mit dieser Eigenschaft besitzt,kommt allen Zahlen zu« (10).

Man könnte, so meint Russell am Ende des Kapitels, »viel-leicht den Vorschlag machen«, die dabei benutzten undefi-nierten Begriffe »sollten nicht Begriffe darstellen, derenBedeutung wir zwar kennen, aber nicht definieren können,sondern irgendwelche Elemente, die den fünf Axiomen Pea-nos genügen« (14). Dies ist die übliche Interpretation der

Einleitung XIII

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axiomatischen Vorgehensweise. Man kann sie auch so zumAusdruck bringen, daß man sagt, die Arithmetik handelenicht von konkret existierenden Dingen, sondern von allge-meinen oder idealen Gegenständen (vgl. dazu AbschnittVII der Einleitung).

In der axiomatischen Grundlegung der Arithmetik »wur-de vorausgesetzt, daß wir nicht zu wissen brauchen, waswir unter Null, Zahl und Nachfolger zu verstehen haben,sofern wir nur irgend etwas darunter verstehen, was denfünf Axiomen genügt. Aber dann zeigt es sich, daß es eineunendliche Anzahl möglicher Deutungen gibt. Es möge z. B.0 das bedeuten, was wir gewöhnlich als 1 bezeichnen, undes möge Zahl das bedeuten, was wir für gewöhnlich alsnatürliche Zahl außer 0 bezeichnen. Dann sind alle fünfAxiome auch richtig, und die gesamte Arithmetik kann be-wiesen werden, obwohl jede Formel eine ungewöhnliche Be-deutung hat. 2 bedeutet das, was wir gewöhnlich als 3 be-zeichnen. Aber 2 + 2 bedeutet nicht etwa 3 + 3, sondern 3 +2 … Solange wir im Gebiet der arithmetischen Formen blei-ben, sind alle diese Deutungen des Begriffs Zahl gleich gut.Wenn wir aber zum praktischen Gebrauch der Zahl zur Ab-zählung übergehen, dann finden wir einen Grund, die eineDeutung allen anderen vorzuziehen« (Russell, 1952, 236f.).

Aus zwei Gründen, meint Russell, kann man also auf dieaxiomatische Weise »nicht zu angemessenen Grundlagender Arithmetik gelangen. Zunächst weiß man nicht, ob esirgendwelche Folgen von Elementen gibt, die Peanos fünfAxiome erfüllen [...] Zweitens sollen unsere Zahlen für dasZählen der gewöhnlichen Gegenstände brauchbar sein,und dazu müssen unsere Zahlen eine bestimmte Bedeu-tung und nicht bloß gewisse formale Eigenschaften haben.Diese bestimmte Bedeutung wird in der logischen Theorieder Arithmetik definiert« (14/15). Dort wird, wie Russellmeint, die Frage »Was ist eine Zahl?«, die so oft gestelltwird, gemäß einem Vorschlag von Frege aus dem Jahre1884 »korrekt beantwortet« (16) durch die Feststellung,daß Zahlen Eigenschaften von Mengen sind.

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ZUR ÜBERSETZUNG

Der Mathematiker Emil Julius Gumbel (1891–1966), der1923 (zusammen mit W. Gordon) die vorliegende Überset-zung der englischen Originalausgabe von 1919 anfertigte,hat in der Weimarer Republik als »der Fall Gumbel« einigeProminenz erlangt. Der politisch unbeirrte »linke« Antimi-litarist mußte, von der Universität Heidelberg nach lan-gem Streit als ao. Professor für Mathematik 1932 entlas-sen, vor der nationalsozialistischen Verfolgung erst nachFrankreich und dann in die USA fliehen. Über GumbelsGeschichte als Statistiker, politischer Aktivist und Publi-zist informiert eine kleine Anzahl von Veröffentlichungen,unter ihnen C. Jansen: Porträt eines Zivilisten, Wunder-horn 1991. Gumbels erste nicht-mathematische Veröffent-lichung ist diese Übersetzung von Russells »Einführung indie mathematische Philosophie«. Sie wurde in einer durch-gesehenen Version ohne Nennung der Übersetzer seit den50er Jahren verschiedentlich wiederabgedruckt. Die Über-setzung besitzt eine durchweg hohe Qualität, so daß beider Durchsicht nur geringfügige Veränderungen erforder-lich waren. Der an der Rede orientierte HauptsatzstilGumbels (der denjenigen Russells noch übertrifft) wurdebeibehalten.

Johannes Lenhard

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Bertrand RussellEinführung in die mathematische Philosophie

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EINLEITUNG

Dieses Buch soll im wesentlichen eine »Einführung« sein:Es will keine erschöpfende Darstellung der behandeltenProbleme geben. Sein Ziel ist, gewisse Ergebnisse, die bis-her nur den Kennern des Logik-Kalküls zugänglich waren,in einer Form wiederzugeben, die dem Anfänger möglichstwenig Schwierigkeiten bereitet. Es wurde mit der größtenSorgfalt darauf geachtet, jede dogmatische Behauptungüber Gebiete, die tatsächlich noch zweifelhaft sind, zu ver-meiden. Diese Absicht war zum Teil für die Auswahl desStoffes maßgebend. Die Anfangsgründe der mathemati-schen Logik sind nicht so genau bekannt wie ihre späterenTeile, aber sie sind philosophisch mindestens ebenso inter-essant wie diese. Der Inhalt der kommenden Kapitel istzum großen Teil keine eigentliche »Philosophie«. Die hierbetrachteten Probleme wurden solange zur Philosophie ge-rechnet, als ihre wissenschaftliche Behandlung noch nichtbefriedigte. Das Wesen des Unendlichen und der Stetigkeitz. B. gehörte früher zur Philosophie und gehört heute zurMathematik. Wahrscheinlich kann man die hierbei erreich-ten exakten Resultate nicht zur mathematischen Philoso-phie im strengen Sinn rechnen. Von der Philosophie derMathematik wird man natürlich erwarten, daß sie Fragenbehandelt, die an der Grenze unseres Wissens liegen, beidenen also eine relative Sicherheit noch nicht erreicht ist.Eine spekulative Behandlung dieser Fragen wird kaumfruchtbringend sein, solange man die mehr wissenschaftli-chen Teile der Prinzipien der Mathematik nicht kennt. EinBuch über diese Gebiete kann daher beanspruchen, als ei-ne Einführung in die mathematische Philosophie zu gel-ten. Es beschäftigt sich aber nicht mit der eigentlichen Phi-losophie, ausgenommen an den Stellen, bei denen es sichaußerhalb seines Gebietes bewegt. Immerhin untergräbt

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das hier dargestellte wissenschaftliche System für seineAnhänger anscheinend viele Behauptungen der herkömm-lichen Philosophie und sogar vieles von dem, was heutenoch gilt. In dieser Hinsicht und wegen ihres Bezugs aufnoch ungelöste Probleme ist die mathematische Logik fürdie Philosophie von Bedeutung. Aus diesem Grund und wegen der Wichtigkeit des Gegenstands an sich ist einekurze Darstellung der Hauptergebnisse der mathemati-schen Logik, bei der weder Kenntnis noch Eignung für diemathematische Symbolik vorausgesetzt wird, für die Philo-sophie wertvoll. Hier wie auf anderen Gebieten ist für dieweitere Forschung die Methode wichtiger als die Resultate.Die Methode kann jedoch innerhalb der Grenzen eines Bu-ches wie des vorliegenden nicht gut dargestellt werden.Hoffentlich interessiert es manche Leser in dem Maße, daßsie sich dann dem Studium der Methode zuwenden, welchedie mathematische Logik bei der Untersuchung der tradi-tionellen Probleme der Philosophie verwendet. Aber diesesThema soll in den folgenden Zeilen nicht behandelt wer-den.

Einleitung4

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1. DIE FOLGE DER NATÜRLICHEN ZAHLEN

Das Studium der Mathematik kann, ausgehend von denallgemein bekannten Teilen, nach zwei entgegengesetztenRichtungen hin verfolgt werden. Die übliche Richtung istkonstruktiv, sie führt zu einer Schritt für Schritt sich stei-gernden Komplexität: Von den ganzen Zahlen gelangt siezu den Brüchen, reellen Zahlen, komplexen Zahlen, von derAddition und Multiplikation zur Differentiation und Inte-gration und weiter zur höheren Mathematik. Die andereRichtung ist weniger bekannt. Sie schreitet analytisch zuimmer größerer Abstraktion und logischer Einfachheit fort.Sie fragt nicht, was man aus den ursprünglichen Grundan-nahmen definieren und ableiten kann, sondern was für all-gemeinere Begriffe und Prinzipien gefunden werden kön-nen, durch die unser Ausgangspunkt definiert oder abge-leitet werden kann. Die Verfolgung dieser umgekehrtenRichtung charakterisiert die mathematische Philosophieim Gegensatz zur gewöhnlichen Mathematik. Der Unter-schied liegt aber wohlverstanden nicht im Wesen der Sa-che, sondern beruht auf dem Standpunkt des Forschers.Als die alten griechischen Geometer von den empirischenRegeln der ägyptischen Landmesser zu den allgemeinenSätzen, durch die diese Regeln gerechtfertigt wurden, undvon ihnen zu Euklids Axiomen und Postulaten übergingen,trieben sie nach der obigen Erklärung mathematische Phi-losophie. Wenn man aber einmal bis zu den Axiomen undPostulaten gelangt ist, so gehört ihre deduktive Verwen-dung, wie wir sie bei Euklid finden, zur Mathematik im ge-wöhnlichen Sinn. Der Unterschied zwischen Mathematikund mathematischer Philosophie hängt von den Zielen ab,die sich die Forschung stellt, und von dem Stand der For-schung, nicht aber von den Sätzen, die ihren Gegenstandbilden.

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Man kann den gleichen Unterschied noch anders aus-drücken. Die einfachsten und leichtesten Dinge in der Ma-thematik kommen, logisch genommen, nicht am Anfang.Sie gehören ihrer logischen Deduktion nach irgendwo indie Mitte. Geradeso, wie man diejenigen Gegenstände ambesten wahrnimmt, die weder sehr nah noch sehr fern, we-der sehr klein noch sehr groß sind, so sind auch diejenigenBegriffe am einfachsten zu verstehen, die weder sehr kom-pliziert noch sehr einfach sind; einfach im logischen Sinnverstanden. Zur Erweiterung unseres Gesichtsfeldes brau-chen wir zwei Instrumente, das Fernrohr und das Mikro-skop. So brauchen wir auch zwei Instrumente zur Erweite-rung unserer logischen Kräfte, eines, das uns vorwärts zurhöheren Mathematik führt, ein anderes, das uns rückwärtszur logischen Grundlage der Dinge führt, die wir in derMathematik für gesichert halten. Wir werden sehen, daßwir durch die Analyse unserer gewöhnlichen mathemati-schen Begriffe eine neue Einsicht, neue Kraft und die Mög-lichkeit erlangen werden, ganz neue mathematische Pro-bleme zu lösen, wenn wir nach unserer Rückkehr aufsneue vorwärts gehen. Der Zweck dieses Buches bestehtdarin, die mathematische Philosophie einfach und ohneden fachwissenschaftlichen Apparat darzulegen. Wir deh-nen unsere Untersuchungen nicht auf solche Gebiete aus,die so zweifelhaft oder schwierig sind, daß eine elementareBehandlung kaum möglich ist. Eine vollständige Behand-lung findet man in den Principia Mathematica.1 DiesesBuch ist nur als Einführung gedacht.

Leute von Durchschnittsbildung werden als Ausgangs-punkt der Mathematik natürlich die Folge der ganzen Zahlen

1, 2, 3, 4, . . . usw.

ansehen. Wahrscheinlich würde erst jemand, der eine ge-wisse mathematische Bildung besitzt, auf den Gedanken

Die Folge der natürlichen Zahlen6

1 Cambridge University Press, Bd. I, 1910; Bd. II, 1911; Bd. III,1913. Von A. N. Whitehead und B. Russell.

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kommen, mit der 0 statt mit der 1 anzufangen. Wir neh-men diesen Grad von Bildung an und legen unserer Be-handlung die Folge

0, 1, 2, 3, . . . n, n+1, . . .

zugrunde. Diese Folge wollen wir im folgenden die »Folgeder natürlichen Zahlen« nennen.

Nur ein hoher Grad von Kultur macht es uns möglich,diese Folge als Ausgangspunkt zu wählen. Es hat sicherviele Jahrhunderte gedauert, bevor man entdeckt hat, daßein Pärchen Fasanen und ein Paar Tage beides Beispielefür die Zahl 2 sind. Dazu gehört ein beträchtliches Ab-straktionsvermögen. Die Entdeckung, daß 1 eine Zahl ist,muß schwer gewesen sein. Was die 0 betrifft, so ist sie erstin neuester Zeit hinzugekommen. Die Griechen und Römerkannten eine solche Ziffer nicht. Hätten wir unsere Unter-suchung der mathematischen Philosophie in früherer Zeitgeschrieben, so hätten wir mit etwas weniger Abstraktemals der Folge der natürlichen Zahlen anfangen müssen. Wirhätten sie als eine Station auf unserer Rückreise angetrof-fen. Wenn einmal die logischen Grundlagen der Mathe-matik bekannter sind, werden wir in der Lage sein, nochweiter rückwärts anzufangen, also in einem Punkt, der inder heutigen Analyse viel später auftritt. Augenblicklichaber scheinen die natürlichen Zahlen das einfachste undbekannteste in der Mathematik darzustellen.

Obwohl sie uns vertraut sind, werden sie noch langenicht verstanden. Nur sehr wenige Menschen besitzen eineDefinition der »Zahl«, der »0« oder der »1«. Man sieht leicht,daß man ausgehend von der 0 jede andere natürliche Zahldurch fortgesetzte Addition von 1 erreichen kann. Aber wirwerden eben zu definieren haben, was unter »Addition von1« und »fortgesetzt« zu verstehen ist. Diese Fragen sindkeineswegs leicht. Man glaubte bis in die neueste Zeit, daßman zum mindesten einige von diesen ersten Begriffen derArithmetik ohne weiteres hinnehmen müsse, weil sie zueinfach und ursprünglich seien, als daß man sie definieren

Die Folge der natürlichen Zahlen 7

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könnte. Da alle definierten Ausdrücke wieder durch andereAusdrücke definiert werden, ist es klar, daß unser mensch-liches Wissen sich zufrieden geben muß, irgendwelche Aus-drücke als an sich ohne Definition verständlich hinzu-nehmen. Denn wir brauchen einen Ausgangspunkt für un-sere Definitionen. Es ist nicht sicher, ob es Ausdrücke gibt,die nicht definiert werden können. Vielleicht können wir,soweit wir auch mit unserer Definition zurückgehen, im-mer noch weiter zurückgehen. Andererseits ist es auchmöglich, daß wir einmal, wenn unsere Analyse weit genugfortgeschritten ist, zu Begriffen kommen, die wirklich ein-fach sind und die daher ihrer logischen Natur nach eineanalytische Definition nicht zulassen. Wir brauchen dieseFrage hier nicht zu entscheiden. Für uns genügt folgendeBemerkung: Da die menschlichen Kräfte endlich sind, somüssen die uns bekannten Definitionen immer von irgend-welchen Ausdrücken ausgehen, die augenblicklich, abervielleicht nicht endgültig undefiniert sind.

Man kann die gesamte herkömmliche reine Mathema-tik, einschließlich der analytischen Geometrie, als eine Rei-he von Sätzen über die natürlichen Zahlen auffassen, d. h.die vorkommenden Ausdrücke lassen sich mit Hilfe dernatürlichen Zahlen definieren. Und ihre Sätze lassen sichaus den Eigenschaften der natürlichen Zahlen unter Hin-zunahme der Begriffe und Sätze der reinen Logik ableiten.

Es ist eine ziemlich neue Entdeckung, daß die ganze üb-liche reine Mathematik sich aus den natürlichen Zahlenableiten läßt; aber man hat es lange vermutet. Pythagorasglaubte, daß nicht nur die Mathematik, sondern überhauptalles aus den Zahlen abgeleitet werden könne. Dabei ent-deckte er das stärkste Hindernis auf dem Weg der soge-nannten »Arithmetisierung« der Mathematik. Pythagorasstieß auf die inkommensurablen Größen, im besonderendie Inkommensurabilität der Seite des Quadrats mit derDiagonale. Wenn die Länge der Seite 1 cm beträgt, so istdie Länge der Diagonale in cm die Quadratwurzel aus 2,und das schien überhaupt keine Zahl zu sein. Das so ent-

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standene Problem wurde erst in unseren Tagen gelöst.Vo l l s t ä n d i g gelöst wurde es nur durch die Zurück-führung der Arithmetik auf die Logik, die in den folgendenKapiteln auseinandergesetzt wird. Vorderhand wollen wirdie Arithmetisierung der Mathematik hinnehmen, obwohldiese Tat von der größten Wichtigkeit war.

Nachdem die gesamte übliche reine Mathematik auf dieTheorie der natürlichen Zahlen zurückgeführt worden war,war es die nächste Aufgabe der logischen Analyse, dieseTheorie auf die geringste Zahl von Voraussetzungen undundefinierten Ausdrücken zurückzuführen, aus denen sieabgeleitet werden konnte. Das hat Peano geleistet. Er zeig-te, daß die gesamte Theorie der natürlichen Zahlen aus dreiGrundbegriffen und fünf Grundsätzen unter Hinzunahmeder Sätze der reinen Logik entwickelt werden kann. Diesedrei Begriffe und fünf Sätze wurden so die Garanten derganzen üblichen reinen Mathematik. Konnte man sie defi-nieren oder mit Hilfe anderer Sätze beweisen, so gilt diesfür die ganze reine Mathematik. Ihr logisches »Gewicht«,wenn man diesen Ausdruck einführen darf, ist gleich demder Gesamtheit der Wissenschaften, die sich auf die Theorieder natürlichen Zahlen gründen. Die Wahrheit diesesganzen Systems ist gesichert, wenn die Wahrheit der fünfGrundsätze gewährleistet ist, vorausgesetzt natürlich, daßder dabei verwendete logische Apparat keinen Irrtum ent-hält. Die Arbeit, die Mathematik zu analysieren, ist durchdiese Leistung Peanos außerordentlich erleichtert worden.

Die drei Grundbegriffe in Peanos Arithmetik sind:

0, Zahl, Nachfolger.

Unter »Nachfolger« versteht er die nächste Zahl in dernatürlichen Ordnung, d. h. der Nachfolger von 0 ist 1, derNachfolger von 1 ist 2 usw. Unter »Zahl« versteht er in die-sem Zusammenhang die Menge der natürlichen Zahlen.1

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1 Wir verwenden »Zahl« hier in diesem Sinne. Später werdenwir dieses Wort in einem allgemeineren Sinn verwenden.

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Er nimmt nicht an, daß wir alle Elemente dieser Mengekennen, sondern nur, daß wir wissen, was unter der Be-hauptung, dies und das ist eine Zahl, zu verstehen ist. Ge-radeso, wie wir den Sinn des Satzes: »Hans ist ein Mensch«verstehen, obwohl wir nicht alle Menschen einzeln kennen.

Die fünf Grundsätze von Peano lauten:(1) 0 ist eine Zahl.(2) Der Nachfolger irgendeiner Zahl ist eine Zahl.(3) Es gibt nicht zwei Zahlen mit demselben Nachfolger.(4) 0 ist nicht der Nachfolger irgendeiner Zahl.(5) Jede Eigenschaft der 0, die auch der Nachfolger jeder

Zahl mit dieser Eigenschaft besitzt, kommt allenZahlen zu.

Der letzte Satz ist das P r i n z i p d e r m a t h e m a t i -s c h e n I n d u k t i o n. Wir werden darüber im folgendensehr viel zu sagen haben. Augenblicklich kommt es für unsnur als Bestandteil der Peanoschen Analyse der Arithme-tik in Betracht.

Sehen wir einmal zu, auf welche Weise die Theorie dernatürlichen Zahlen aus diesen drei Begriffen und fünf Sät-zen folgt. Zunächst definieren wir 1 als »den Nachfolgervon 0«, 2 als »den Nachfolger von 1« usw. Natürlich könnenwir mit diesen Definitionen beliebig weit gehen. Denn we-gen (2) wird jede Zahl, die wir erreichen, einen Nachfolgerhaben, und wegen (3) kann dies keine der bisher definier-ten Zahlen sein. Denn wäre dies der Fall, so hätten zweiverschiedene Zahlen denselben Nachfolger. Und wegen (4)kann keine der Zahlen, die wir in der Folge der Nachfolgererreichen, die 0 sein. So ergibt die Folge der Nachfolger ei-ne endlose Reihe von immer neuen Zahlen. Wegen (5) kom-men in dieser Folge, die mit 0 beginnt und von einem Nach-folger zum nächsten fortschreitet, alle Zahlen vor. Denn a)0 gehört zu dieser Folge, und b) wenn eine Zahl n dazugehört, so gilt dies auch vom Nachfolger, und daher gehörtgemäß der mathematischen Induktion jede Zahl zur Folge.

Angenommen, wir wollen die Summe von zwei Zahlendefinieren. Wir nehmen irgendeine Zahl m, dann definie-

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ren wir m+0 als m und m+(n+1) als den Nachfolger vonm+n. Wegen (5) erhalten wir so eine Definition der Summevon m+n, welches auch die Zahl n sei. Ähnlich können wirdas Produkt von irgend zwei Zahlen definieren. Der Leserkann sich leicht davon überzeugen, daß jeder gewöhnlicheelementare Satz der Arithmetik aus unseren fünf Annah-men bewiesen werden kann, und wenn er irgendwelcheSchwierigkeiten hat, so kann er den Beweis bei Peanonachlesen. Jetzt müssen wir zu Betrachtungen übergehen,die uns notwendigerweise über Peano hinaus zu Fregeführen. Peano stellt die letzte Vollendung der »Arithmeti-sierung« der Mathematik dar, während es Frege als erstemgelungen ist, die Mathematik zu »logisieren«, d. h. die arith-metischen Begriffe, die, wie seine Vorgänger dargetan ha-ben, für die Mathematik ausreichen, auf die Logik zurück-zuführen. Wir werden in diesem Kapitel Freges Definitionder Zahl und besonderer Zahlen tatsächlich nicht bringen,sondern nur einige Gründe anführen, warum Peanos Be-handlung nicht so endgültig ist, wie es scheint.

Zunächst lassen sich die drei Grundbegriffe Peanos,nämlich »0«, »Zahl« und »Nachfolger« auf unendlich vieleArten deuten, und jede von ihnen genügt den fünf Grund-sätzen. Einige Beispiele:

(1) »0« soll 100 und »Zahl« soll die Zahlen von 100 auf-wärts bedeuten. Dann wird unseren Grundsätzen Genügegeleistet. Selbst (4) gilt, denn obwohl 100 der Nachfolgervon 99 ist, so ist 99 keine »Zahl« in dem Sinn, den wir jetztdem Wort »Zahl« geben. Offensichtlich kann man diesesBeispiel statt mit 100 mit jeder beliebigen Zahl bilden.

(2) »0« soll die übliche Bedeutung haben, aber unter»Zahl« soll eine »gerade Zahl« in der üblichen Bezeich-nungsweise und unter »Nachfolger« einer Zahl die Zahlverstanden werden, die aus ihr durch Addition von Zweientsteht. Dann bedeutet »1« die Zahl Zwei, »2« bedeutet dieZahl Vier usw. Die Folge der Zahlen lautet dann:

0, 2, 4, 6, 8, . . .

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Wieder werden alle fünf Annahmen Peanos erfüllt.(3) Es soll »0« die Zahl Eins bedeuten, »Zahl« soll die

Menge1, 1/2, 1/4, 1/8, 1/16, . . .

und »Nachfolger« »die Hälfte von« bedeuten. Für dieseMenge treffen dann alle fünf Axiome von Peano zu.

Es ist klar, daß man diese Beispiele ins Unendliche ver-mehren kann. In der Tat: Hat man irgendeine unendlicheFolge

x0, x1, x2, x3, x4, . . . xn, . . .

die keine Wiederholungen aufweist, einen Anfang hat undkeine Glieder besitzt, die vom Anfang an durch eine endli-che Zahl von Schritten nicht erreicht werden können, sohaben wir eine Folge von Elementen, für welche PeanosAxiome gelten. Dies erkennt man leicht, obwohl der forma-le Beweis etwas umständlich ist. »0« sei x0, »Zahl« dieganze Folge der Elemente, und »Nachfolger« von xn soll xn+1

sein. Dann gilt Folgendes:(1) »0 ist eine Zahl«, d. h. x0 ist ein Glied der Folge.(2) »Der Nachfolger irgendeiner Zahl ist wieder eine

Zahl«, d. h. nehmen wir irgendein Glied xn der Folge,so gehört xn+1 ebenfalls zur Folge.

(3) »Nicht zwei Zahlen haben denselben Nachfolger«,d. h. wenn xm und xn zwei verschiedene Glieder derFolge sind, so sind xm+1 und xn+1 verschieden. Diesfolgt aus der Voraussetzung, daß in der Folge keineWiederholungen vorkommen.

(4) »0 ist nicht der Nachfolger irgendeiner Zahl«, d. h.kein Glied in der Folge kommt vor x0.

(5) Unser Satz (5) wird zu: »Jede Eigenschaft von x0, diedem xn+1 zukommt, wenn xn sie besitzt, ist allen x’ngemeinsam«. Dies folgt aus der entsprechenden Ei-genschaft der Zahlen.

Eine Folge der Form

x0, x1, x2, . . . xn, . . .

in der es ein erstes Glied gibt, jedes Glied einen Nachfolger

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besitzt, (so daß es kein letztes Glied gibt,) keine Wiederho-lungen vorkommen und wo jedes Glied vom Beginn andurch eine endliche Zahl von Schritten erreicht werdenkann, heißt eine P r o g r e s s i o n. Progressionen sind fürdie Prinzipien der Mathematik von großer Wichtigkeit. Wiewir gerade gesehen haben, genügt jede Progression denfünf Axiomen Peanos. Man kann auch umgekehrt bewei-sen, daß jede Folge, die Peanos fünf Axiomen genügt, eineProgression ist. Daher kann man die fünf Axiome dazu ver-wenden, um die Gesamtheit der Progressionen zu definie-ren: »Progressionen« sind »solche Folgen, welche den fünfAxiomen genügen«. Irgendeine Progression kann zurGrundlage der reinen Mathematik gewählt werden. Ihr er-stes Glied können wir »0«, die ganze Folge ihrer Glieder»Zahlen« und das nächste Glied in der Progression »Nach-folger« nennen. Die Progression braucht nicht aus Zahlenzu bestehen; an ihre Stelle können Raum- oder Zeitpunkteoder irgendwelche andere Elemente treten, wenn es nurunendlich viele gibt. Jede der verschiedenen Progressionenerlaubt eine verschiedene Auslegung aller Sätze der übli-chen reinen Mathematik. Alle diese Auslegungen sindgleichberechtigt.

Wir haben in Peanos System keine Möglichkeit, zwi-schen den verschiedenen Interpretationen seiner Grundbe-griffe zu unterscheiden. Es wird vorausgesetzt, daß wir dieBedeutung der »0« kennen und nicht annehmen, daß mitdiesem Symbol 100 oder Kleopatras Nadel oder irgend et-was anderes gemeint sei.

Diese Tatsache, daß »0«, »Zahl« und »Nachfolger« durchdie fünf Axiome Peanos nicht definiert werden können,sondern unabhängig davon verstanden werden müssen, istsehr wichtig. Unsere Zahlen brauchen wir nicht bloß zurVerifikation mathematischer Formeln, sie sollen auch aufalltägliche Dinge richtig anwendbar sein. Wir müssen zehnFinger, zwei Augen und eine Nase haben. Ein System, indem »1« 100 und »2« 101 usw. bedeutet, kann für die reineMathematik ganz gut brauchbar sein, jedoch nicht für die

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Bedürfnisse unseres täglichen Lebens. »0«, »Zahl« und»Nachfolger« müssen eine solche Bedeutung haben, daßwir sie auf Finger, Augen und Nase richtig anwenden kön-nen. Wir haben schon eine gewisse Kenntnis, was wir unter»1«, »2« usw. verstehen, obwohl sie nicht hinreichend zer-gliedert oder analytisch ist. Unsere Verwertung der Zahlenin der Arithmetik muß diesem Wissen entsprechen. Wirsind dessen nicht sicher, daß dies bei Peanos Methode zu-trifft. Stellen wir uns auf seinen Standpunkt, so könnenwir bloß behaupten: »Wir wissen, was »0«, »Zahl« und»Nachfolger« ist, aber wir sind nicht imstande, es mit Hilfeanderer einfacherer Begriffe zu erklären.« Diese Stellung-nahme ist ganz berechtigt, wenn wir dazu genötigt sind,und i r g e n d e i n m a l tritt für jeden diese Notwendigkeitein. Aber die Aufgabe der mathematischen Philosophie be-steht darin, diesen Punkt möglichst weit hinauszuschie-ben. Die logische Theorie der Arithmetik erlaubt uns diesfür lange Zeit.

Man könnte vielleicht den Vorschlag machen: »0«, »Zahl«und »Nachfolger« sollen nicht Begriffe darstellen, derenBedeutung wir zwar kennen, aber nicht definieren können,sondern i r g e n d w e l c h e Elemente, die den fünf AxiomenPeanos genügen. Sie sind dann nicht mehr Elemente, dieeine bestimmte, wenn auch undefinierte Bedeutung haben:Es sind veränderliche Elemente geworden, über die wir ge-wisse Hypothesen machen, nämlich die in den fünf Axio-men aufgestellten. In anderer Hinsicht aber sind sie unbe-stimmt. Wenn wir diesen Vorschlag annehmen, so sind un-sere Sätze nicht für eine bestimmte Folge von Elementen,genannt die natürlichen Zahlen, bewiesen, vielmehr für al-le Folgen von Elementen mit gewissen Eigenschaften. Die-ses Vorgehen ist keineswegs fehlerhaft. In der Tat stellt eseine für gewisse Zwecke vollkommen berechtigte Verall-gemeinerung dar. Aber aus zwei Gründen kann man aufdiese Weise nicht zu angemessenen Grundlagen der Arith-metik gelangen. Zunächst weiß man nicht, ob es irgendwel-che Folgen von Elementen gibt, die Peanos fünf Axiome er-

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füllen. Man hat nicht den geringsten Anhaltspunkt, deruns zur Auffindung derartiger Folgen führen könnte. Zwei-tens, wie schon oben bemerkt, sollen unsere Zahlen für dasZählen der gewöhnlichen Gegenstände brauchbar sein,und dazu müssen unsere Zahlen eine b e s t i m m t e Be-deutung und nicht bloß gewisse formale Eigenschaften ha-ben. Diese bestimmte Bedeutung wird in der logischenTheorie der Arithmetik definiert.

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