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Erhart | Neil Young

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Erhart | Neil Young

Walter ErhartNeil YoungMit 12 Abbildungen

Reclam

RECLAM TASCHENBUCH Nr. 11049Alle Rechte vorbehalten© 2015 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, StuttgartUmschlaggestaltung: Stefan Schmid Design, Stuttgart Umschlagabbildung: Neil Young 2012 – © Imago / UPI PhotoGesamtherstellung: Reclam, Ditzingen. Printed in Germany 2015RECLAM ist eine eingetragene Marke derPhilipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, StuttgartISBN 978-3-15-011049-2

Auch als E-Book erhältlich

www.reclam.de

Inhalt

Die unwahrscheinliche Geschichte des Neil Young 7»Eine Stadt in Nord-Ontario« – Kindheit und Jugend in Kanada

(1945–1965) 20Gebrannte Kinder, panische Büffel (1966–1968) 33Goldrausch, Erntedank und der Nerv der Zeit (1969–1972) 45Die Zurücknahme: Worte zum Film (1972) 62Reisen ans Ende der Nacht (1973–1975) 71Zeitreisen, flussaufwärts (1975–1979) 85Maskeraden, Dekonstruktion (1980–1988) 100Politik, Wiederholung und die Essenz der Rockmusik (1989–1992) 114Das Ende der Postmoderne: Mit Engeln schlafen (1993–1994) 123Flussabwärts. Leidenschaft (1995–2002) 130Eine Stadt am Meer (2003–2004) 141Kindheit, Krieg, Umwelt. Auf der Suche nach Musik (2005–2011) 151Die wiedergefundene Zeit (2012 ff.) 162

Literaturverzeichnis 179Diskographie 182Filmographie 184Abbildungsverzeichnis 185Register 186

Die unwahrscheinliche Geschichte 7

Die unwahrscheinliche Geschichte des Neil Young

Am Anfang war keine Stimme. Die erste veröffentlichte Schallplatte von Neil Young: instrumentals ohne Gesang. Es spielten »The Squi-res«, eine Schülerband, die sich Anfang der 1960er Jahre in Winni-peg, Kanada, zusammengefunden hatte; 1963 durften sie im Tonstu-dio eines Radiosenders eine Platte aufnehmen, eine Single mit zwei von Neil Young geschriebenen Songs: »The Sultan« und »Aurora«. Nur wenige Jahre später war Young mit der Band Buffalo Springfield bereits in den amerikanischen Hitparaden, gleich neben den Beatles und Bob Dylan, den Rolling Stones und den Beach Boys. Und doch war er noch kein Sänger: Die erste Single der Band war ein von ihm geschriebener, jedoch nicht von ihm, sondern von Richie Furay ge-sungener Song (»Nowadays Clancy Can’t Even Sing«). Auf der B-Sei-te war der zweite Songschreiber und der zweite Sänger der Band zu hören, Stephen Stills mit »Go And Say Good-Bye«. 1968 erschien Neil Youngs erstes Soloalbum, und auch hier, am Anfang, in Erwar-tung der ersten Plattenseite, ein Lied ohne Sänger, ein instrumental: »The Emperor Of Wyoming«. Und nach dem Umlegen der Vinyl-Platte dasselbe Spiel, man hört einen eigentümlichen Country-Song – ohne Stimme: »String Quartet From Whiskey Boot Hill«.

All dies waren keine Zufälle. Der Sänger Young kam aus dem Ver-borgenen. Obwohl seine Stimme zu einem eigenen Markenzeichen in der Geschichte der Pop- und Rockmusik wurde, war sie anfangs nichts wert. Und obwohl sie nicht wenig zur Bedeutung dieses ne-ben Bob Dylan vermutlich einflussreichsten Rockmusikers beitra-gen konnte, hat er sie zunächst versteckt. »Seine Stimme war selt-sam, zittrig«, erinnerte sich einer seiner ersten Produzenten, Ahmet Ertugan vom Plattenlabel Atlantic. »Er hatte nicht viel Zutrauen zu seiner Stimme«, gab sein zweiter Produzent Jack Nitzsche zu Proto-koll. Er »hasste seine Stimme«, so erzählte es der Produzent seines ersten Soloalbums, Elliot Roberts, in den späten 1970er Jahren.

Kein Wunder, dass diese Beobachtungen auch das Bild des Sän-gers von sich selbst beeinflusst haben. Bereits nach den zweiten Plat-tenaufnahmen in einem kanadischen Radiosender soll ihn der Ton-ingenieur beiseitegenommen haben: »Du bist ein guter Gitarren-spieler, aber du wirst es nie zu einem Sänger bringen.« Wenig später,

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bei Buffalo Springfield, als es immer wieder darum ging, welche Songs der Gruppe für die entscheidenden (und dann doch mäßig er-folgreichen) Singles ausgewählt werden sollten und wer auf den Al-ben wie oft mit eigenen Kompositionen vertreten sein durfte, habe sich kein Geringerer als der enge Freund Stephen Stills darüber be-schwert, wie quietschend und piepsig (»squeaky«) Neils Stimme nun mal klingen würde.

Anders als Bob Dylan, dessen herber Gesang schon immer das ganze Selbstbewusstsein dieses Sängers verkörperte und der dieses Organ von Anfang an virtuos und für alle seine musikalischen Zwe-cke und Strategien einzusetzen wusste, begann der Sänger Young als Außenseiter, seiner selbst nicht sicher, von Kollegen und Kritikern beargwöhnt. »Neil hatte panische Angst vor dem Mikrophon«, und darüber habe sich auch niemand wundern können, so noch einmal Jack Nitzsche: »Diese ganze seltsame Sache mit seiner Stimme – all dies Zittern und Schütteln, man könnte meinen, der Kerl hat gerade einen Nervenzusammenbruch.« Heute markiert seine Stimme so-wohl die Innigkeit von Folkballaden als auch die Vehemenz und Ag-gressivität der ganz großen, mit den elektrischen Gitarren wett-eifernden Rock-’n’-Roll-Stimmen. Kurz: Er konnte nicht singen, und trotzdem wurde sein Gesang berühmt. Vielleicht ist deshalb der Weg dieses Sängers geradezu typisch für die Rockmusik selbst: für ihre Herkunft aus einer zunächst abseitigen und verborgenen Ge-genkultur, für eine anfangs befremdliche Klangwelt, die in kurzer Zeit ihren Siegeszug über die ganze Welt angetreten hat.

Es gehört zu den Rätseln dieser an Rätseln nicht gerade armen Ge-schichte der Pop- und Rockmusik, warum Young also nicht trotz, sondern gerade wegen seines Gesangs zu einem Klassiker und einer großen Figur dieser Geschichte werden konnte. Man muss dabei gar nicht – wie Rockkritiker es natürlich getan haben – zu einem be-rühmten Vertreter der postmodernen Theorie, zu Roland Barthes’ Ausführungen über die »Körnung der Stimme« (»le grain de la voix«) greifen, nach der es nicht das Melodiöse, das technisch Brillante und Gekonnte einer Stimme ist, aufgrund dessen sie geliebt und bewun-dert wird. Es gehe vielmehr um ihre mit dem Körper geheimnisvoll verbundene, sich den Zuhörerinnen und Zuhörern mitteilende, nur schwer in Worte zu fassende Fleischlichkeit, eine stimmliche und je-

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weils regellos und einzigartig geformte Einheit von Leib und Seele. Youngs Gesang ist beileibe kein Liebhaberobjekt, vielmehr konnte seine Stimme die Bedeutung dieses Künstlers genau deshalb so ge-nau repräsentieren, weil sie den Weg von der Peripherie ins Zen-trum, den Wechsel von Befremdung und überraschender Souveräni-tät immer wieder neu vorführt. Ihr fast »außerirdischer« Klang habe sie paradoxerweise stark und intensiv gemacht, aber auch Neil Youngs Außenseitertum begründet, so hat es der Rock-Historiker Bob Hoskyns in seinem Buch über die kalifornische Musikszene der späten 1960er Jahre beschrieben.

Diese Stimme, sie gibt in der Tat Rätsel auf und lässt seltsam auf-horchen, »eigensinnig und zerbrechlich«, wie sie der französische Schriftsteller Michel Houellebecq in einem Essay zu umschreiben versucht hat:

»Sie kommt von weit her, aus den Tiefen der Seele. Sie gibt nicht auf. Es ist keine sehr männliche Stimme. Sie klingt ein wenig wie die einer Frau, eines Greises oder eines Kindes.«

Diese Stimme gehört »dem bis heute wohl schwächsten unter den schwachen Sängern«, so hat es Diedrich Diederichsen in seinem Standardwerk Über Popmusik (2014) noch einmal harsch hervorge-hoben (und zugleich die Erfolgsgeschichte solch schwacher Stimmen nachgezeichnet).

»Neils Stimme ist eine Stimme und ist keine Stimme«, so formu-lierte es Bruce Palmer, der frühe Weggefährte und Bassist von Buffa-lo Springfield: »Sie ist ein Geheimnis, aber sie muss irgendeinen ze-lebralen Punkt in unserem Unbewussten treffen.« Und Young selbst? »Meine Stimme ist ein verdammtes Mysterium für mich. Ich habe verschiedene Stimmen in mir.« Handfester und praktischer wusste es Navid Kermani in seinem Buch Das Buch der von Neil Young Getöteten (2002) zu berichten: Die Darmkoliken seiner neu-geborenen Tochter konnten überraschenderweise nur durch die Stimme von Neil Young gelindert werden, noch dazu am besten mit einem seiner stimmlich fragilsten, most squeaky Lieder: »The Last Trip To Tulsa« (1968). Die beruhigende Wirkung, so sinniert auch Kermani, könnte von dem intra-uterinären, vorgeburtlichen Klang

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ausgelöst worden sein, einem ätherischen, von anderswo und von weit her kommenden Laut. »It’s a voice and it isn’t a voice.«

Der unerwartete Erfolg dieser Stimme, der verhaltene Seitenein-stieg des zunächst nur Gitarre spielenden Sängers und die alsbald unbestrittene Stärke und Bedeutung des von Neil Young verkörper-ten Gesangs: Etwas Ähnliches scheint sich bei dem Gitarristen Neil Young zu wiederholen. Technik und Bandbreite seines Gitarren-spiels, zumal im Vergleich mit seinen Zeitgenossen Eric Clapton, Ji-mi Hendrix oder Jimmy Page, seien durchaus begrenzt, so war und ist es häufig zu lesen. Und doch steht gerade dieser Sound – mit der akustischen und der elektrischen Gitarre – für eine eigentümliche Virtuosität und hat wie wenig andere über ein halbes Jahrhundert lang die Rockmusik geprägt: mit Riffs, Melodien und ohrenbetäu-benden Gitarrensolos, mit kreischenden Rückkoppelungen und Pinch Harmonics (bei denen kurz mit dem Fleisch die Saite ange-schlagen wird und ein quiekender oder pfeifender hoher Ton ent-steht). Die dabei entstandenen Songs, Alben und Live-Konzerte wurden vor allem im symbiotischen Zusammenspiel mit seiner Band Crazy Horse einzigartig und unverwechselbar: »Southern Man«, »Like A Hurricane«, »Cortez The Killer«, Rust Never Sleeps oder »Rockin’ In The Free World«.

Die Stimme, das Gitarrenspiel, die beschwerlichen Anfänge in der kanadischen Provinz, aber auch das oftmals Skurrile von Neil Young, das nur bedingt Medientaugliche und so wenig Medienwirk-same seiner Person – all dies macht seinen Erfolg als ein Zentralge-stirn der Pop- und Populärkultur immer auch unwahrscheinlich und überraschend. Und genauso oft, wie er sich als ebenso berühmter wie historisch bedeutsamer Rockmusikkünstler hervorgetan hat, ist er auch immer wieder im Abseits des Musikbusiness gelandet. Nicht seine Stimme, auch die ihn treibende, oftmals als ›stur‹ bezeichnete egomanische Leidenschaft für zuweilen abseitige Musikrichtungen, für eigentümliche Filmproduktionen, kostspielige Hobbys (Young kaufte irgendwann die darniederliegende amerikanische Spielzeug-eisenbahnindustrie im Alleingang auf), aber auch für technologische Großprojekte (eines konzentrierte sich auf umweltfreundliche Elek-troautos, das andere auf ein gegen die gesamte Musikindustrie ge-richtetes neues Aufnahmeverfahren namens Pono), die Regelmäßig-

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keit, mit der er seine Fans und Kritiker vor den Kopf stieß und deren Erwartungen enttäuschte – all das deutet nicht gerade auf einen um-jubelten Rockstar, sondern eher auf einen eigenbrötlerischen Tüftler und Besessenen, einen Außenseiter und Hobbykünstler, der es viel-leicht nur durch Zufall zu einiger Bekanntheit gebracht haben mag.

Pop- und Rockmusik feierte das Außergewöhnliche und das Re-bellische, ist counterculture und doch schnell wieder mainstream. Genauso gehörte es zu den Merkmalen ihrer Vertreter und ihrer Hel-den, dass diese schnell Kultstatus bekommen und kommerzielle Er-folge feiern können und sich trotzdem immer noch als Außenseiter, Abweichler und Rebellen inszenieren.

Young scheint diese Pendelbewegung zwischen Randständigkeit und Mittelpunkt auf charakteristische und doch auf ganz eigene Weise zu verkörpern. In den 1960er Jahren prägte er mit Buffalo Springfield in Kalifornien den Westcoast-Sound – obwohl er nur ein einfaches und dabei eigentlich stimmloses Mitglied dieser Band war. Mit einer der ersten sogenannten supergroups, mit Crosby, Stills, Nash & Young, spielte er 1969 auf dem sagenumwobenen Wood-stock-Festival (ist aber – auf eigenen Wunsch – im berühmten Film nicht zu sehen), wurde in den 1970er Jahren als Gitarrist und Sänger zu einer Ikone der Rockmusik und taucht seither immer dann auf, wenn es die noch tätigen bzw. noch lebenden Großmeister des Rock ’n’ Roll zu feiern gilt.

Gleichzeitig aber war Young nie auszurechnen, sorgte immer wie-der für Überraschungen und hat verlässlich und in regelmäßigen Ab-ständen seine eben erst neugewonnenen Fans vergrault und die Kri-tiker düpiert: Nach seinem erfolgreichsten Album mit seinem einzi-gen Billboard-Number-One-Song (Harvest mit »Heart Of Gold«) hat er stilistisch genau entgegengesetzte Platten veröffentlicht. Und nachdem er in den späten 1970er Jahren (mit Rust Never Sleeps und Live Rust sowie dem Best-of-Dreifachalbum Decade) seinen fast schon musealen Kultstatus (zurück)gewonnen hatte, produzierte er in den 1980er Jahren nahezu unverkäufliche Schallplatten – und dürfte der einzige Musiker in der Rockgeschichte gewesen sein, der von seiner neuen Plattenfirma Geffen Records verklagt wurde, weil er entgegen vermeintlicher Absprachen und kommerzieller Hoff-nungen ›nicht-repräsentative‹ Musik produziert hatte.

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»Zerstörung« sei das Wesen seiner Musik, hat Young einmal ge-sagt – und damit nicht nur das Geheimnis seiner wandlungsfähigen Produktivität und mancher Klangmuster seines E-Gitarren-Spiels benannt, sondern auch einen wesentlichen Impuls der gesamten rockmusikalischen Kultur. Zu seinem Werk gehören bis heute Filme, mit denen er sein Fanpublikum und die Filmkritiker zutiefst verstör-te, schräge, fast unerträgliche Schallplatten (wie die Kakophonie-An-sammlung Arc) sowie rätselhafte Kehrtwendungen. Als man sich in den 1990er Jahren darauf eingestellt hatte, von ihm nur noch Wie-derholungen zu hören und eine abschließende Werkschau besichti-gen zu können (die lange angekündigten und erst 2008 erschiene-nen Archives Volume One), legte er 2003 ein bis heute kolossal unter-schätztes Konzeptalbum über eine amerikanische Kleinstadt im 21. Jahrhundert vor (Greendale), wenig später eine voluminöse Auto-biographie (Waging Heavy Peace, 2012), und davon sogar eine Fort-setzung, mit eigens gemalten Aquarellen des Autors, nämlich Spe-cial Deluxe. A Memoir of Life  & Cars (2014). William Echard hat in seinem Buch Neil Young and the Poetics of Energy 2005 einige dieser Neil-Young-Bewegungen quer durch die Rockgeschichte und die musikalischen Stile nachverfolgt. Zu nennen sind Folk, Rock ’n’ Roll, Rockabilly, Country, Blues und auch Punk. Young hat diese musika-lischen Stile immer wieder kombiniert, integriert, miteinander ver-schmolzen, sie gleichzeitig jedoch in ihrer Vereinzelung bis ins ver-störende Extrem getrieben: Das Country-Album Old Ways aus dem Jahr 1985 zum Beispiel wollte niemand richtig hören; die meisten Liebhaber des Folkmusikers Young wiederum konnten mit den lär-migen E-Gitarren-Klanggewittern der Crazy-Horse-Konzerte we-nig anfangen.

Neil Young: ein verlässliches ›Urgestein‹ der Rockmusik und gleichzeitig ein Chamäleon, dem niemand auf seiner Spur folgen kann, der immer wieder in neuen Verwandlungen auftaucht und in immer neue Richtungen geht. Auch dies verbindet sich mit einer klassisch gewordenen Geschichte der Rockmusik, die vom Aufstieg, dem Fall und dem Überleben ihrer Helden erzählt. Nie hat Neil Young solche Drogen- und Alkoholexzesse durchgemacht wie Eric Clapton, David Crosby, Joe Cocker oder Keith Richards – und doch gilt auch er als einer der Überlebenden, einer jener Helden, die mehr

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oder weniger gezeichnet durch die Rock-Ära hindurchmarschiert und erstaunlicherweise immer noch da sind. Bereits 1972 hat Young über die Gefährdung der Musik durch ihre Drogenopfer einen Song geschrieben (»The Needle And The Damage Done«); sein düsterstes Album Tonight’s The Night von 1975 war Trauerarbeit nach dem Tod seiner Freunde Danny Whitten und Bruce Berry; mit Sleeps With Angels (von 1994) setzte er einen denkwürdigen Grabstein für Kurt Cobain (und eine ganze Epoche). Zur Mythologie der Rockmusik ge-hört es auch, dass schon immer ihr eigener Tod ausgerufen wurde – ihre Erstarrung im mainstream, das Ableben ihrer besten Musiker und Sänger, die Erschöpfung einstmals ungebändigter Energien. »The day the music had died«, heißt die berühmte Songzeile bereits 1971 in Don McLeans »American Pie« (gemeint war damals der Tod von Buddy Holly im Jahr 1959). »Hey hey, my my, Rock and Roll can never die«, lautet die entsprechende Songzeile in einer schon selbst zum mainstream-Zitat gewordenen Hymne von Young auf seinem Album Rust Never Sleeps von 1979.

Young hat an diesem Mythos der sterbenden und doch immer überlebenden Rockmusik mitgeschrieben, zugleich ist er selbst einer ihrer mythischen Repräsentanten geworden. Eindringlich ist sein ei-genes Muster von Wiederkehr und Verwandlung gerade deshalb, weil es mit einer charakteristischen Geste verbunden ist, die ein wei-teres großes Thema der Rockgeschichte variiert: Einsamkeit und Lie-beskummer, Schmerz und Trauer, die Klage um den Verlust sowie der mit jedem Aufbruch verknüpfte Wehmut des Abschieds. Der 24jährige Folksänger imaginierte sich bereits in den späten 1960er Jahren als »old man«, er betrauerte den Auszug aus der nie überwun-denen Kindheit (»Sugar Mountain«, »I Am A Child«), dann das düstere Ende der Hippie-Jahre und der Flower-Power-Träume (»Tonight’s The Night«, »Hippie Dream«), er beschrieb die Eroberung des unberührten lateinamerikanischen Kontinents durch »Cortez The Killer« und klagte über die Niederlagen der amerikanischen Ur-einwohner, aber auch über die vergebliche Suche der Siedler nach ih-rem nie gesehenen homeland (»Broken Arrow«, »Pocahontas«), er wetterte gegen die Zerstörung der Erde durch Menschenhand (»Af-ter The Gold Rush«, »Mother Earth«, »Natural Beauty«, »Be The Rain«) und sah in dem schon lange zurückliegenden Verfall Ameri-

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kas (»Are There Any More Real Cowboys?«) den Auszug aus einem imaginären Paradies, mehr noch: die verlorene Unschuld einer viel-leicht einmal heil gewesenen Welt.

Auch dies ist zuallererst mit seiner Stimme verbunden gewesen. Ein »präadoleszentes Jaulen und Jammern« hörte 1970 ein Kritiker auf dem Album After The Gold Rush, seine Stimme sei durchgängig klagend und leidend, »perpetually mournful«, kommentierte der Rolling Stone sein zweites Soloalbum Everybody Knows This Is Nowhere von 1969. Über die Jahrzehnte hinweg ist Young eine Art Schmerzensmann der Folk- und Rockmusik geblieben. Dabei war den meisten wohl gar nicht bewusst, dass der vermeintlich schwer-mütige Kanadier manche Schmerz- und Verlusterfahrungen auch der eigenen Biographie verdankte. Als er 14 war, ließen sich seine El-tern scheiden; in einigen Folksongs des über 50jährigen wurde die Versöhnung zwischen Vater und Mutter, zu der es nie gekommen war, in der Phantasie nachgeholt (»Red Sun«, »Daddy Went Walk-ing«, 2000).

Seine Biographie trägt jedoch auch in anderer, viel konkreterer Hinsicht Züge einer Leidens- und einer Krankengeschichte: eine le-bensbedrohliche Kinderlähmung in der Kindheit, ein daraus resul-tierendes muskuläres Ungleichgewicht der linken Körperhälfte, epileptische Anfälle, schwere Bandscheibenvorfälle in den frühen 1970er Jahren, eine Kehlkopfoperation, zuletzt während der Auf-nahmen zu Prairie Wind 2005 ein Gehirnaneurysma mit kompli-zierter Operation. Zwei seiner drei Kinder, der erste Sohn Zeke (aus der Beziehung mit der Schauspielerin Carrie Snodgress) und der zweite Sohn Ben aus der Ehe mit Pegi Young, wurden mit einer Behinderung (Zerebralparese) geboren; mit dem schwerstbehinder-ten Ben organisierte das Ehepaar Young über Jahre hinweg aufwen-dige Therapie-Programme. Manche seiner Alben, etwa Tonight’s The Night (1975), Sleeps With Angels (1994), Broken Arrow (1996) und Le Noise (2010), sind Trauer- und Grabgesänge für die gestor-benen Freunde und Kollegen, auch die Autobiographie Waging Heavy Peace von 2012 besteht aus einer Reihe von Gedenkreden und Nekrologen für die zahlreichen, inzwischen gestorbenen Weg-gefährten.

In vielerlei Hinsicht hat immer auch das Private die Musik von

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Young beeinflusst, anders als etwa bei Bob Dylan sind die Lieder und Verse, auch die Entwicklung der Werkphasen zutiefst (auto-)biographisch geprägt. »Für mich ist jede meiner Schallplatten eine fortgesetzte Autobiographie«, gab er bereits 1975 in einem Interview zu Protokoll. Mit all den privat motivierten Erfahrungen ist er je-doch nicht im Rahmen der eigenen Biographie verblieben. Sowohl Wandel als auch Kontinuität dieses Musikers erzählen nicht nur von ihm selbst, sondern in sehr viel größerem Maße von etwas ande-rem, von einer Person, die ihr Eigenes immer auch als etwas Allge-meines und Zeittypisches präsentiert hat. Der melancholische Ges-tus seiner Songs und seiner Stimme, jene von Neil Young besunge-ne Welt, in der alles mit Trauer unterlegt scheint, intoniert nicht nur eine typische Erzählung der Rockmusikgeschichte, sondern ist mit einer viel größeren (Verlust-)Geschichte verbunden, die bald keine historischen und geographischen Grenzen mehr kennen sollte.

Nicht ohne Grund verbindet sich die Klage über das Ende der Rockmusik mit einer Bilderwelt, die bei Neil Young immer wieder die Anfänge Amerikas, die indianische Urbevölkerung und den ›Wilden Westen‹ des späten 19. Jahrhunderts beschwört, in vielen Songs und Zitaten, aber auch in der Choreographie der Konzerte und den Emblemen öffentlicher Auftritte: der zerbrochene Pfeil, der ei-nem frühen Lied und Youngs Ranch »Broken Arrow«, unweit von San Francisco, den Namen gegeben hat, auf der Bühne platzierte in-dianische Totempfähle, Bilder von Indianern, Westernstädten und Teepees auf den Plattencovern. Einer klugen Beobachtung des Pop-journalisten Simon Reynolds zufolge befindet sich Youngs Musik im Windschatten zweier traumatischer amerikanischer Desillusionen: der Schließung der western frontier am Ende des 19. Jahrhunderts (man war in Kalifornien angekommen, der Pazifik beendete durch seine bloße Präsenz die immer wieder neue Auswanderung nach Westen und die Erweiterung des gelobten Landes) sowie der Schlie-ßung einer psychologischen und existentiellen Grenze, die in den 1960er Jahren aufgebrochen war und den Subjekten eine utopische Freiheit und Erlösung versprochen hatte. Auf diese Weise haben Neil Youngs Lieder die Mythologien des amerikanischen Kontinents noch einmal bevölkert, ein imaginäres Amerika, das Young nicht müde wird zu besingen.

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Dabei ist er beileibe kein nostalgischer Geschichtsschreiber ge-blieben, stattdessen hat er mit seinen Songs eine aus all diesen Ver-gangenheiten stets neu entstehende poetische und musikalische Bilderwelt geformt, die sich immer auch für die Gegenwart öffnet. Fast ein halbes Jahrhundert lang hat Neil Young auf historisch-politi-sche Ereignisse reagiert: vom Vietnam-Krieg bis zum 11. September 2001, von Woodstock bis zu den ökonomischen Krisen der Jahrtau-sendwende, von den Kriegen in Nahost bis zu drängenden Fragen der Umweltzerstörung und des Klimawandels im 21. Jahrhundert. Dabei wurden seine Alben und Lieder immer auch konkret: in der Anklage amerikanischer Politik (»Ohio«, 1970; Living With War, 2006), im Eintreten für die Wehrhaftigkeit Amerikas (»Hawks And Doves«, 1980; »Let’s Roll«, 2002), aber auch mit einem Appell zur Absetzung des Präsidenten (»Let’s Impeach The President«, 2006). Er protestierte gegen die Kommerzialisierung der Rockmusik (»This Note’s For You«, 1988) und gegen die Digitalisierung ihrer Tonträger (»Driftin’ Back«, 2014), er warnte vor den Übergriffen von Free TV und Medienindustrie (Greendale, 2003), attackierte die Ölindustrie (»Who’s Gonna Stand Up«, 2014) und machte zuletzt ein Engage-ment für erneuerbare Energien zu einem neuen Leitmotiv seiner Musik.

Zweifellos gehört er zu den Vertretern und den Erben jener in den 1960er Jahren entstandenen Folk- und Protestbewegung, die sich die Kritik der ›Gesellschaft‹ auf ihre Fahnen geschrieben hat; an-ders als Bob Dylan aber hat er dieses Engagement immer fortgesetzt, nicht als Intellektueller und nicht als politischer Kommentator, son-dern mit Musik und mit Songtexten, nie überlegt oder mit langem Atem beim selben Thema verbleibend, sondern eher eruptiv und emotional, auch hier kaum berechenbar und in immer neuen Ver-wandlungen.

Romantik und Rebellion, Nostalgie und Kritik gehen bei Young eine für die Rockmusik vielleicht nicht untypische Allianz ein. Und an dieser Stelle kommt seine einzigartige Stimme wieder ins Spiel: Sehnsüchtig und klagend besingt er die verschwundenen Welten amerikanischer Landschaften und paradiesischer Unschuld, laut, ag-gressiv und böse hingegen klingen Ton und Sprache, wenn er die Welt gegen die ihren Untergang betreibenden Kräfte verteidigt. An-

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ders als manche frühen Rebellen und Revolutionäre des Rock ’n’ Roll ist gerade der sich mit traurigen Liebesliedern hervortuende Kanadi-er zu einem Wortführer eines anderen Amerikas und zu einem Chronisten amerikanischer Zeitgeschichte geworden – auch dies ge-hört zu der eigentümlichen Geschichte seiner Biographie.

Mit der Beschwörung amerikanischer Träume und der Klage über ihre regelmäßige Zerstörung ist er immer erzkonservativ und kri-tisch zugleich, zuweilen auch eher schlicht und naiv. Seine ›Politik‹ spiegelt die seismographische Macht der Rockmusik, sich zu äußern, Stellung zu nehmen, eine Gegenkultur zu etablieren, sich mit der Politik und der offiziellen Kultur immer wieder zu berühren oder anzulegen, zugleich aber verfehlt sie häufig auch die Komplexität ih-rer Gegenstände und beschreibt auf diese Weise ebenfalls eine auf-schlussreiche, vielleicht wiederum typische Geschichte der Rock-musik selbst: ihr zutiefst gespaltenes und emotionales Verhältnis zu Politik und Zeitgeschehen, eine seit Rock ’n’ Roll und Folk-Bewe-gung spürbare Widersprüchlichkeit zwischen Parteinahme und Un-abhängigkeit, Kritik und Ignoranz.

Gerade dieses musikalische Werk provoziert deshalb eine ganz allgemeine Frage: Wie reagiert Pop- und Rockmusik auf Gesell-schaft? Darüber ist viel, vermutlich viel zu viel geschrieben worden, und doch stellt sich diese Frage im Hinblick auf diesen Musiker im-mer wieder neu. Dabei kommt es keineswegs auf die einzelnen poli-tischen Statements an, mit denen Neil Young das Weltgeschehen begleitet, vielmehr auf welche Weise die gesellschaftlichen und his-torischen Ereignisse jeweils in die Form und die Verwandlungen sei-ner Musik und seiner Texte eingegangen sind. Gerade dieses Werk entstand nicht ruhend aus sich heraus, blieb nicht unverändert, in-dem es – wie heute zum Beispiel bei den Rolling Stones – die ewig heroische Zeit der Rockmusikgeschichte einfach zu konservieren versuchte. Insbesondere der für Young charakteristische Gestus der rückwärtsgewandten Diagnose war immer von neuem darauf einge-stellt, sich dem historischen Wandel und der gesellschaftlichen Ge-genwart zu öffnen. Vom musikalischen und gesellschaftlichen Auf-bruch der 1960er bis zur Desorientierung der 1970er Jahre, von der rätselhaften (post)modernen Vielfältigkeit der 1980er Jahre bis zu den globalen, politischen, ökonomischen und ökologischen Erschüt-

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terungen der Jahrtausendwende ist seine das Zeitgeschehen beglei-tende Musik inzwischen selbst zu einer rockmusikalischen (Kultur-)Geschichte Amerikas geworden.

Und ein letztes Paradox dieses höchst unwahrscheinlichen Musi-kers gilt es zumindest anzudeuten: Obwohl Neil Young – »perpetu-ally mournful« – allzu oft das Ende aller Hoffnungen und Illusionen besungen hat, ist er wie kein zweiter Poet und Rocksänger doch auch eine immer wieder sich erneuernde Kraft- und Energiequelle der Rockmusik geblieben. Er hat den frühen Ausdruck des Leidens, den Schmerz seiner Stimme, seines Lebens und seiner Musik verwandelt und im Laufe der Jahre kontinuierlich in etwas anderes übersetzt: ins Positive und Produktive, in Therapie, Kunst, Anteilnahme, Zorn, Erinnerung – und in schiere musikalische Energie. Wieder scheint damit ein Nerv dieser gesamten Musik getroffen: die Entfernung von ihren Ursprüngen durch steten Wechsel einerseits, die Ur-sprünglichkeit einer gleichbleibenden, nie erlöschenden und die Ju-gendlichkeit bewahrenden Impulsivität andererseits. »People my age / They don’t do the things I do«, beteuert der 50jährige in dem mit Pearl Jam eingespielten Song »I’m The Ocean« auf Mirror Ball 1995. Während Bob Dylan stets als der große nobelpreiswürdige Künstler verehrt und interpretiert wurde, als ein ›sentimentalischer‹ Dichter, der kunstvoll die Einfachheit herzustellen versucht, galt Neil Young immer als der große ›Naive‹ (um ein häufig benutztes Be-griffspaar Friedrich Schillers aufzunehmen), als direkt und unge-künstelt, als ehrliche Haut und als ungeschliffener Diamant, weniger anspruchsvoll, dafür aber vital und leidenschaftlich, forever young und – von Ausnahmen und Abwegen abgesehen – immer er selbst.

Daran ist einiges richtig, aber auch einiges falsch und allzu einfach gedacht. Gerade an diesem Musiker ist der »Authentizitätsmythos« des Rock-’n’-Roll-Zeitalters, wie ihn zuletzt Roger Beebe, Denise Fulbrook und Ben Saunders kritisch beschrieben haben, nur allzu häufig durchgespielt worden: dass die Rockmusik einen Ursprung und einen Kern besitze, die stets in Gefahr stünden, verunreinigt und verschüttet, kommerzialisiert und verdorben zu werden. Young hat diesen Mythos gleichzeitig genährt und immer wieder zerstört. Statt Authentizität zu verkörpern, hat er gerade deren Verlust be-sungen und betrauert; von Anfang an hat er Grabgesänge auf die

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Illusionen und Träume der Unschuld angestimmt und sie zugleich als mythische Vorgaben der gesamten amerikanischen Geschichte beschworen. In diesem Sinne ist seine Kunst naiv, also unreflektiert, spontan, von irgendwoher kommend (so hat er selbst es häufig um-schrieben) und doch zugleich sentimentalisch, also berechnet und rhetorisch-kunstvoll: der Versuch, zu einer Naivität vorzudringen, die doch schon immer verloren war, das Bemühen, an die Naivität mit den Mitteln der Musik zu erinnern und doch gleich wieder auf sie zu verzichten. Als Folksänger singt er sich mit innigen Balladen und Liebesliedern die Unschuld und das Paradies herbei, mit Crazy Horse zelebriert er brachialen unverfälschten Garagenrock; zugleich aber neigte er immer auch dazu, sich technologischen Experimenten, der Künstlichkeit von Tonstudios und allerlei technischen Kontrol-len zu verschreiben. Auch in der Frage von Authentizität und Künst-lichkeit – ein weiteres großes Thema der Rockmusik – war auf ihn niemals Verlass, war er genau so wenig auszurechnen wie in seiner Parteinahme für gesellschaftliche Phänomene.

»Neil ist sehr ehrlich«, fasste Dylan 2008 in einem Interview mit dem Rolling Stone seinen eigenen Eindruck zusammen; zugleich fin-det er für die charakteristischen Widersprüche seines kanadischen Kollegen ein rätselhaftes Bild: Dieser könne sich in die Niederungen des Geschmacks begeben und gehe dann doch mit grandiosen und erhebenden Melodien wieder daraus hervor (»He could be at his most thrashy, but it’s still going to be elevated by some melody«). Youngs Stimme kam aus der Unsicherheit und dem Verborgenen – und hat sich auf immer noch rätselhafte Weise als eine der großen Gesangsstimmen des 20. und 21. Jahrhunderts etabliert. Sein musi-kalischer Stil – ob mit Akustikgitarre, mit Mundharmonika, am Pia-no oder mit E-Gitarre und Verstärker – ist eher schlicht, gehört in-zwischen jedoch zu den stets ›erhebenden‹ und grundlegenden We-senszügen der amerikanischen (Rock-)Musik. Neil – so Bob Dylan weiter – sei der einzige, der so etwas tue, es gäbe keinen in seiner Kategorie (»Neil’s the only one who does that. There is nobody in his category«). Wie es dazu kam und um welche Kategorie es hier geht, von der unwahrscheinlichen Geschichte des Neil Young, soll im fol-genden erzählt werden.

20 Kindheit und Jugend in Kanada

»Eine Stadt in Nord-Ontario« – Kindheit und Jugend in Kanada (1945–1965)

»There is a town in North Ontario« – so beginnt »Helpless«, einer der berühmtesten Songs von Neil Young. Und anders als der Titel es na-helegt, ist von etwas Schönem die Rede, von einer Idylle, die ein Le-ben lang anhält (»with dreams, memory, comfort to spare«). Die Kleinstadt und die von diesem Ort ausgehenden Träume, die Erin-nerung und das damit verbundene gute Gefühl – all dies trägt den Namen Omemee. Obwohl Young dort, in einer ländlichen Gegend nördlich von Toronto, nur fünf Jahre seiner Kindheit verbracht hatte, blieb es für ihn lebenslang ein sagenumwobener Erinnerungsort, der die gesamte Kindheit und Jugend verdichtete und aufbewahrte. Um diesem Ort nachzuspüren, fuhr Young mit dem Filmemacher Jona-than Demme für ein 2012 fertiggestelltes filmisches Porträt mit dem Titel Journeys nach Omemee zurück. »Born In Ontario« heißt ein Song auf dem gleichzeitig veröffentlichten Album Psychodelic Pill von 2012, mit dem sich der Sänger auch musikalisch auf eine Erinne-rungsreise begab und über die entscheidenden, ihn damals prägen-den Lebenserfahrungen singt:

»I was born in OntarioWhere the black fly bitesAnd the green grass growsThat’s where I learned most of what I knowCause you don’t learn muchWhen you start to get old.«

Young wurde am 18. November 1945 in Toronto, Kanada, geboren und verbrachte die ersten 20 Jahre seines Lebens fast ausschließlich in Kanada. Schon früh ist darüber spekuliert worden, was das beson-ders Kanadische am Musiker Neil Young sein könnte. In einem Ge-spräch mit der nur ein Jahr jüngeren Patti Smith auf einer Buchmesse im Jahr 2012 (beide hatten zu dieser Zeit gerade Autobiographien veröffentlicht) kam die Rede auf die exakt gleichen musikalischen Einflüsse: Bob Dylan, die Animals, die Rolling Stones und die Bea-tles. Im weiteren Gespräch aber entdeckte Neil Young angesichts der

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eben erst von ihm gelesenen Autobiographie Just Kids von Patti Smith zugleich die entscheidenden Unterschiede in beider Leben und beider Musik: die früh prägenden Landschaften, die maßgebli-chen Eindrücke, die atmosphärisch wirkenden Räume. Patti Smith, die als Teenager von Philadelphia nach New York zog, schreibe und singe immer noch Großstadtlieder, die vom Rhythmus der Straßen-kreuzungen, der städtischen Parks, von Brücken und City Lights er-zählen. Seine eigene Musik hingegen sei von gänzlich anderen Bil-derwelten geprägt: von Prärien, Highways, weiten Landschaften, offenen Horizonten.

Als Kind hat er die Weiten Kanadas erlebt. Seine Eltern stammen aus der Provinz Minetoba in der Mitte des riesigen Landes; das Le-ben der Familie mit zwei Söhnen war von ständigen Umzügen ge-prägt. Besonders eingeprägt hat sich ihm aber jene Kleinstadt Ome-mee, wo die Familie von 1949 bis 1954, mit einer kurzen Unterbre-chung in Florida, in ländlicher Abgeschiedenheit lebte. Irgendwann nach seinem zehnten Geburtstag bekam er sein erstes Instrument, eine Ukulele, geschenkt. Sein Vater und sein Onkel brachten ihm das Spielen bei; auf dem Album Prairie Wind von 2005 taucht »Unc-le Bob« in dem Song »Far From Home« wieder auf: Der Vater spielt auf der Gitarre das Lied »Bury Me On The Lone Prairie«, Onkel Bob sitzt am Klavier, die Cousinen singen im Chor – »those were the good old family days«, wieder eine Idylle, wieder eine Verklärung. Er habe die ganze Zeit gar nicht gewusst, dass er zur Country-Musik zurückkehren werde, aber »es sind immer meine Wurzeln gewe-sen« – so Young später, als er 2011 mit A Treasure ein Album mit Auf-nahmen einer Mitte der 1980er Jahre erfolgten Country- und Wes-tern-Tour veröffentlichte und kommentierte. Die Ansammlung be-kannter kanadischer Folksänger/innen in den 1960er und 1970er Jahren – Leonard Cohen, Joni Mitchell, Gordon Lightfoot, Neil Young – war kein Zufall; anders als in den USA gab es in Kanada ei-nen fließenden regionalen Übergang zwischen der alten, weit in die 1940er und 1950er zurückreichenden Volks- und Country-Musik und der später einsetzenden, dort auch viel weniger politisch orien-tierten Folk-Bewegung.

In der Mitte des 20. Jahrhunderts war Kanada ein Land zwischen ganz alter und ganz neuer Zeit: zutiefst ländlich geprägt und insbe-

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sondere außerhalb der wenigen Großstädte noch tief in der Welt des 19. Jahrhunderts verankert. Neils Vater, Scott Young, war ein Sport-reporter, Journalist und Romancier (1940 hatte er in Toronto Edna »Rassy« Ragland geheiratet), und so erschienen die ersten öffentli-chen Fotos und Berichte von und über Neil schon damals in lokalen Zeitungen: ein vierjähriger Junge, der einen riesigen Fisch gefangen, ein Elfjähriger, der ein chicken business eröffnet und Hühnereier an die Nachbarn verkauft hat.

Prärie und Kleinstadt, Landleben und Volksmusik – das Familien-leben der Youngs aber war keine Idylle. Schon während der Jahre in Omemee gab es die ersten Ehekrisen, am Ende blieb der Vater länge-re Zeit von zu Hause weg, hatte Affären, später kam es zu Trennun-gen auf Zeit, zu kurzzeitigen Versöhnungen, schließlich zur endgül-tigen Trennung: 1960 zog Rassy Young mit ihren Söhnen in die Hei-mat ihrer Eltern, nach Winnipeg. Der ältere Sohn Bob kehrte bald wieder nach Toronto zurück, Young blieb über 2000 Kilometer von seinem Vater entfernt. Gelegentliche Treffen verliefen frostig und steif, die Eltern haben sich seitdem nur einmal kurz gesehen und nie miteinander versöhnt.

Das Auseinanderbrechen der Familie, die vaterlosen Jugendjahre und die häufigen Ortswechsel haben Young tief geprägt, umso stär-ker war der nostalgische Bezug auf die scheinbar idyllischen Jahre in Omemee, umso empfindlicher der diesen Bezug ebenso prägende Schmerz des Verlusts. Damals waren Trennung und Scheidung von Eltern nicht selbstverständlich; in Winnipeg begann das Schüler-Le-ben des 14jährigen mit der Ausgrenzung dieses seltsam schüchter-nen Jungen aus einer zerrütteten und vaterlosen Familie. Die kanadi-sche Schriftstellerin Alice Munro, berühmt durch den ihr im Jahr 2013 verliehenen Literaturnobelpreis, hat das Kanada jener Jahre, in denen Neil Young aufwuchs, in ihren zumeist in Ontario spielenden Erzählungen eindrucksvoll dargestellt. Es sind genau jene ländlichen Idyllen, in denen immer schon die Katastrophen lauern: Außensei-ter und Ausgegrenzte, Ehebruch und seelische Grausamkeiten, Tra-dition und Moderne, enge Provinz und weit entfernte moderne Großstädte. Eine Welt ähnlicher Spannungen mag Youngs kanadi-sche Jahre bestimmt haben, zumindest jene Kombination aus Idylle und sich bereits ankündigender Gefährdung, sogar in Omemee, dem

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Ort seiner glücklichen Kindheit, ein vorzeitliches und fast paradiesi-sches Stück Kanada – und doch bereits ein Ort des Unheils.

Der Sechsjährige erkrankte an Kinderlähmung, Folge einer im ganzen Land ausgebrochenen Epidemie, die in kurzer Zeit sogar To-desopfer forderte. Die Poliomyelitis oder Hirnhautentzündung ge-hörte noch zu den schicksalshaft hereinbrechenden Krankheiten, gegen die sich die Menschen vergeblich zu schützen suchten. Auch hier war das 19. Jahrhundert noch lebendig, und zur Schicksalsmacht einer fast mittelalterlich wirkenden Seuche – so Scott Young in sei-nem Buch Neil and Me 1984 – gehörte auch, dass die Opfer meist Kinder waren, mit zunächst undefinierbaren Schmerzen in Rücken und Rachen, die innerhalb einer Nacht zum Tod führen konnten. Der sechsjährige Neil erwachte mit diesen Schmerzen in einer Sep-tembernacht des Jahres 1951, am nächsten Tag wurde er ins Kranken-haus nach Toronto gebracht und für sechs Tage isoliert. Heute würde man zweifellos von einem traumatisierenden Erlebnis sprechen. Der Junge überlebte, aber es war der Beginn seiner nicht enden wollen-den Krankheitsgeschichte: Eine ganze Körperseite blieb schwächer als die andere, die späteren epileptischen Anfälle und Bandscheiben-vorfälle sind vermutlich Spätfolgen der damals in Mitleidenschaft gezogenen physischen Konstitution.

Kinderlähmung, Scheidung der Eltern, Verlust des Vaters, jene »schnell und heftig kommenden Schläge«, die den Außenseiter und das Scheidungskind in der neuen Schule in Winnipeg erwarteten (von denen er 1973 im autobiographischen Song »Don’t Be Denied« erzählte: »The punches came fast and hard / Lying in the back of my schoolyard«). Mit diesen Erinnerungen fand er zugleich ein Motiv, einen Rhythmus und ein großes Thema: den Verlust dessen, was einmal unversehrt da war und doch schon, fast schmerzhaft, vom Verschwinden bedroht ist. Auch »Helpless« selbst ist ein kanadisches Stimmungsbild, eine Kurzgeschichte im Stil von Alice Munro: Die Boten des Unglücks tauchen mitten in der Idylle auf, »big birds flying across the sky / Throwing shadows on our eyes«, die über die Tür verteilten Ketten und Schlösser (»the chains are locked and tied ac-ross the door«) deuten an, dass es keinen Weg zurück ins Paradies mehr gibt.

Brock Road in Pickerton, eine andere Kleinstadt in der Nähe von

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Toronto, out of Omemee. Neil Young erinnerte sich genau an je-nen Ort, an dem ihn in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre der Rock ’n’ Roll erreichte: Die Eltern waren oft weg, mit einem Schul-freund, Comrie Smith, der sich ein Elvis-Presley-Outfit zugelegt hatte, hörte Young die Schallplatten von Chuck Berry, Little Ri-chard, Jerry Lee Lewis und Fats Domino, aber auch die Schlagerbal-laden der Chantels, die Folksongs des Kingston Trios, die Rockabil-ly-Hits von Roy Orbison und der Everly Brothers. Zu zweit phanta-sierten sie sich als Band – Neil an der Ukulele, Comrie an den Bongos.

Auf der Kelvin Technical High School in Winnipeg fand er die ersten Mitspieler für eine Band. Unbestrittenes Vorbild der sich da-mals zahlreich formierenden Klassen- und Schuljungenbands, viel-leicht geschuldet dem britischen Einfluss in Kanada, war eine engli-sche Band, die als Back-up-Gruppe für Cliff Richard spielte: The Shadows. In den frühen 1960er Jahren hatten sie einige Hits in Großbritannien, Instrumentalstücke, die »Apache« oder »Atlantis« hießen, und berühmt in Kanada – mehr als in den USA – waren sie für die Fender Stratocaster ihres Leadgitarristen Hank Marvin und für die Tremolo- und Echoeffekte ihrer Songs. In diesen Jahren spiel-te Neil Young in schnellem Wechsel in Bands, die sich The Jades, The Esquires, The Stardusters und The Classics nannten. Mit seinem engsten Freund Ken Koblun gründete er schließlich The Squires, die bald zu einer lokalen Größe in der High-School-Szene wurden. Schon kurz nach seiner Ankunft in Winnipeg hatte er seine erste Akustikgitarre bekommen, eine Harmony Monterey, die von ihrem vorigen Besitzer mit einem DeArmond-Pickup elektronisch ver-stärkt worden war. Wenig später schenkte ihm seine Mutter zum 16. Geburtstag die erste elektrische Gitarre, eine gebrauchte Gibson Les Paul Junior. Mit seinen Bands spielte er zunächst mit improvi-sierten und geliehenen Verstärkern, und als die alte Les Paul Junior immer schwerer zu stimmen war und darüber hinaus kleine Elektro-schocks erzeugte, erfüllte er sich 1963 seinen ersten großen musika-lischen Traum: eine orangefarbene Gretsch 6120 Chat Atkins, wie sie damals in Winnipeg nur wenige besaßen (darunter übrigens der zwei Jahre ältere, schon erfolgreiche und Youngs Gitarrenspiel be-einflussende Randy Bachmann, der genau zu dieser Zeit die Band

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The Guess Who gründete). Die Gretsch kam mit einem Bigsy-Vibra-tor, alles auf Pump gekauft und doch eine Anschaffung für die Ge-schichtsbücher: Auf dieser Gitarre waren die ersten eigenen Songs von Neil Young zu hören.

Nach einem Musikwettbewerb konnten die Squires im Tonstudio eines Radiosenders 1963 ihre erste Single mit zwei von Young ge-schriebenen instrumentals aufnehmen: »Aurora« und »The Sultan«, Stücke ganz im Stil der Shadows. Und schon bald durfte die Band an besseren und weiter entfernten Orten spielen. Die Schule wurde

Toronto, out of Omemee. Neil Young erinnerte sich genau an je-nen Ort, an dem ihn in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre der Rock ’n’ Roll erreichte: Die Eltern waren oft weg, mit einem Schul-freund, Comrie Smith, der sich ein Elvis-Presley-Outfit zugelegt hatte, hörte Young die Schallplatten von Chuck Berry, Little Ri-chard, Jerry Lee Lewis und Fats Domino, aber auch die Schlagerbal-laden der Chantels, die Folksongs des Kingston Trios, die Rockabil-ly-Hits von Roy Orbison und der Everly Brothers. Zu zweit phanta-sierten sie sich als Band – Neil an der Ukulele, Comrie an den Bongos.

Auf der Kelvin Technical High School in Winnipeg fand er die ersten Mitspieler für eine Band. Unbestrittenes Vorbild der sich da-mals zahlreich formierenden Klassen- und Schuljungenbands, viel-leicht geschuldet dem britischen Einfluss in Kanada, war eine engli-sche Band, die als Back-up-Gruppe für Cliff Richard spielte: The Shadows. In den frühen 1960er Jahren hatten sie einige Hits in Großbritannien, Instrumentalstücke, die »Apache« oder »Atlantis« hießen, und berühmt in Kanada – mehr als in den USA – waren sie für die Fender Stratocaster ihres Leadgitarristen Hank Marvin und für die Tremolo- und Echoeffekte ihrer Songs. In diesen Jahren spiel-te Neil Young in schnellem Wechsel in Bands, die sich The Jades, The Esquires, The Stardusters und The Classics nannten. Mit seinem engsten Freund Ken Koblun gründete er schließlich The Squires, die bald zu einer lokalen Größe in der High-School-Szene wurden. Schon kurz nach seiner Ankunft in Winnipeg hatte er seine erste Akustikgitarre bekommen, eine Harmony Monterey, die von ihrem vorigen Besitzer mit einem DeArmond-Pickup elektronisch ver-stärkt worden war. Wenig später schenkte ihm seine Mutter zum 16. Geburtstag die erste elektrische Gitarre, eine gebrauchte Gibson Les Paul Junior. Mit seinen Bands spielte er zunächst mit improvi-sierten und geliehenen Verstärkern, und als die alte Les Paul Junior immer schwerer zu stimmen war und darüber hinaus kleine Elektro-schocks erzeugte, erfüllte er sich 1963 seinen ersten großen musika-lischen Traum: eine orangefarbene Gretsch 6120 Chat Atkins, wie sie damals in Winnipeg nur wenige besaßen (darunter übrigens der zwei Jahre ältere, schon erfolgreiche und Youngs Gitarrenspiel be-einflussende Randy Bachmann, der genau zu dieser Zeit die Band

Abb. 1: Eine der vielen Bands aus Winnipeg, Kanada: The Squires (1964) mit Neil Young, Bill Edmondson, Jeff Wuckert und Ken Koblun (von links)