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1 Fallbeispiel 15 aus „Führen und führen lassen© 2017 UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz und München uvk-lucius.de/fuehren Fallbeispiel 15 aus dem UTB-Buch Wandel gestalten – Führung als wesentlicher Bestandteil der Unternehmenskultur von Karl-Heinz Reitz und Roman Schachtsiek, Unitymedia KabelBW

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1 Fallbeispiel 15 aus „Führen und führen lassen“

© 2017 UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz und München � uvk-lucius.de/fuehren

Fallbeispiel 15

aus dem UTB-Buch

Wandel gestalten – Führung als wesentlicher Bestandteil der

Unternehmenskultur

von Karl-Heinz Reitz und Roman Schachtsiek,

Unitymedia KabelBW

2 Fallbeispiel 15 aus „Führen und führen lassen“

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Wandel gestalten – Führung als wesentlicher Bestandteil der Unternehmenskultur

1 Hintergrundbeschreibung

Unitymedia KabelBW mit Hauptsitz in Köln ist aktuell mit etwa 2.500 Mitarbeitern der zweitgrößte Kabelnetzbetreiber in Deutschland und eine Tochtergesellschaft von Liberty Global, Inc. Das Unternehmen erreicht 12,5 Millionen Haushalte in Nordrhein-Westfalen, Hessen und Baden-Württemberg mit Breitbandkabeldiensten. Zum 30. Juni 2012 hatte Unitymedia KabelBW rund 7 Mio. Kunden.

2 Entwicklung des Kabelmarkts in Deutschland

Der Markt für Kabelnetzbetreiber befindet sich in Deutschland zurzeit im Übergang von einer Wachstums- in eine Konsolidierungsphase. Die Kabelunternehmen stehen in einem zunehmenden Wettbewerb mit Telefonanbietern, die verstärkt TV-Anschlüsse über Inter-netverbindungen vermarkten. Die Kabelkonzerne drängen wiederum in das Geschäft mit Telefon- und Internetanschlüssen. Die Erlaubnis des Bundeskartellamts für den Zusam-menschluss von Unitymedia und KabelBW im Jahr 2012 legt nahe, dass die Wettbewerbs-hüter den Kabelmarkt nicht mehr wie bislang als abgeschlossen bewerten, sondern als eine Einheit mit dem Telekommunikationsmarkt. Damit ist mit einer weiteren Konsolidierung des Marktes in den nächsten Jahren zu rechnen. Aus technologischer Sicht stehen der Aus-bau der digitalen Infrastruktur sowie die Integration der einzelnen Dienste im Vordergrund der Entwicklung.

3 Der Zusammenschluss Kabel BW und Unitymedia: Grundsätzliches und Spezifisches

Mitte 2012 hieß es in der Presse: „Unitymedia KabelBW – Zusammenschluss vollzogen“. Nun ist der wirtschaftliche Zusammenschluss etwas anderes als tatsächlich „zusammenzu-wachsen“. Damit war auch gleich ein passender Name für die Integration gefunden. Gleichzeitig war es auch das Motto, an dem wir seit einem knappen Jahr arbeiten und das uns auch noch die nächsten Jahre beschäftigen wird: „ZusammenWachsen“.

Bevor wir die Herangehensweise beschreiben, hier ein paar zentrale wirtschaftliche Fakten. Mit dem Zusammenschluss hatte sich folgende Situation ergeben:

— Deutschlands wachstumsstärkster Telekommunikationsanbieter war entstanden. — Ein leistungsfähiges Breitbandnetz ermöglicht hohe Bandbreiten bis tief in den länd-

lichen Raum hinein. — Die Kundenmarken Unitymedia und KabelBW sollten bestehen bleiben.

Die nunmehr 2.500 Mitarbeiter, verteilt auf die drei Bundesländer Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg und Hessen, wurden von einem breit aufgestellten Managementteam unter Leitung des CEO Lutz Schüler geführt. In einem durch externe Experten durchge-

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führten Management Assessment1 wurden die einzelnen Führungsrollen besetzt. Die letzt-lich ausgewählten Personen stammen zum überwiegenden Anteil aus den beiden ursprüng-lichen Unternehmen. Nur sehr selektiv wurden Neueinstellungen vollzogen. Dies galt so-wohl für die oberste Führungsebene als auch für die Ebenen darunter. Mit der Auswahl der Führungskräfte sollte ein deutliches Zeichen gesetzt werden, dass es um einen Neuanfang geht: Wir bauen gemeinsam eine neue Firma, mit neuer Vision, Strategie, Marke und Kul-tur, wobei wir das „Beste aus beiden Welten“ erhalten wollen.

Wir haben von Anfang an diesen Prozess des Zusammenwachsens als etwas „Organisches“ betrachtet. Theoretische Hintergründe des Ansatzes finden sich also eher in der „systemi-schen Schule“, wobei neben den Prinzipien „Räume schaffen“, „Impulse geben“ und „ent-stehen lassen“ auch ganz klassische Vorgehensweisen des „Change Management“ zum Einsatz kamen (und kommen). Darunter verstehen wir vor allem Verwendung von Stan-dardinstrumenten wie „Stakeholder-Analysen“, „Change Impact-Analysen“, „Kommunika-tionspläne“, „Mobilisierung“ und „Trainings/WS“. Von Beginn an haben wir nach den Prinzipien von „Appreciative Inquiry (AI) 2“ gehandelt und nach dem „positiven Kern“ geforscht. Was gilt es zu bewahren? Wo liegen unsere Stärken? Der Veränderungsprozess sollte unbedingt unter positive Vorzeichen gesetzt werden, um Wertschätzung gegenüber den vergangenen Leistungen zu zeigen und Ängste in der unsicheren Übergangsphase ab-zubauen. Da mit dem Zusammenschluss auch ein Personalabbau verbunden war, mussten wir durch Transparenz und Fairness auch klare Botschaften bezüglich der „negativen“ As-pekte des Wandels senden.

Wir haben dann zunächst intern die Ziele des Wandels konkretisiert:

Abbildung 1: Ziele und Annahmen des kulturellen Wandels

1 Klassisches Verfahren über Interviews, Persönlichkeits-Assessment und 360o-Feedback, welches zu-

sammen mit Egon Zehnder durchgeführt wurde.

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Dabei war uns wichtig, die Initiative nicht wie ein zusätzliches Projekt zu positionieren, sondern als Teil des täglichen Erlebens unserer Mitarbeiter zu verankern. Die Maxime war: „Wir wollen mit vereinter Kraft daran arbeiten, unsere gemeinsame Vision und Kultur zu leben – jeden Tag, in jedem Bereich und auf jedem Level“. Dazu musste zunächst eine gemeinsam getragene Vision geschaffen werden. Die Vision lautete nach mehreren Work-shops: „Leidenschaftlich und innovativ erschließen wir den Menschen eine Welt voll Un-terhaltung und Kommunikation. Einfach und zuverlässig.“

Wir wollten als nächsten Schritt diese Vision übersetzen und in die Erlebniswelt jedes ein-zelnen Mitarbeiters bringen. Und zwar auf natürliche Art und Weise, nicht kurzfristig „ge-hyped“ durch irgendwelche Projekte und Hochglanz-Broschüren. Sondern durch das Vor-leben und gemeinsame Erleben der Vision und Ableitung zentraler Werte. Auch hier haben wir den kollaborativ-partizipativen Ansatz gewählt und mehr als 120 Führungskräfte einge-bunden.

In zahlreichen Workshops mit Mitarbeitern aus jeder Business-Unit und auf Führungskräfte-tagungen wurden in einem mehrwöchigen Prozess fünf Werte definiert, welche das Unter-nehmen und seine Vision tragen sollen:

Abbildung 2: Die fünf Unternehmenswerte als Fundament für die Unternehmensvision

Dabei wurden für jeden der fünf Werte entsprechende Ausprägungen formuliert, sodass es für die Mitarbeiter greifbar und verständlich wurde, wie diese Werte im Alltag Anwendung finden sollen (vgl. Abb. 3).

Nachdem mittels dieser Ableitung der Zielzustand für die Organisation bestimmt wurde, galt es mit Hilfe einer Fit-Gap-Analyse die Handlungsfelder zu identifizieren, um sich der angestrebten Kultur anzunähern. Dabei wurde allen Beteiligten klar gemacht, dass es sich um einen Prozess handelt, der durchaus einige Jahre dauern kann.

In der Kommunikation wurde stets darauf geachtet, dass die Integration der Anstoß für die Neudefinition der gemeinsamen Vision und der gemeinsamen Werte war – ohne die jeweils zuvor bestehenden Kulturen als schlecht oder unzureichend darzustellen. Da es nicht die „eine richtige“ Kultur für alle Unternehmen gibt, waren die Kulturen von Unitymedia und

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KabelBW auf ihre Weise berechtigt und wertvoll, was nicht zuletzt durch den Erfolg beider Unternehmen am Markt belegt wurde.

Doch die reine Definition und Kommunikation von Werten und einer Zielkultur schafft noch keine wirkliche Veränderung. Erst wenn die Werte und die korrespondierenden Ver-haltensweisen in den Alltag der Mitarbeiter und damit in die DNA der Organisation über-gehen, kann man von einem kulturellen Wandel sprechen. Aus diesem Grund wurde ein breit angelegtes Kulturwandel-Programm aufgesetzt, das an den in den Workshops identi-fizierten Handlungsfeldern ansetzte.

Für jedes identifizierte Handlungsfeld wurden Maßnahmen abgeleitet, die wiederum einer Priorisierung unterzogen wurden. Die insgesamt 32 Maßnahmen wurden thematisch in 13 Versprechen an die Organisation zusammengefasst, die binnen Jahresfrist umgesetzt wer-den sollten. Jedes Versprechen war wiederum einem der fünf Unternehmenswerte zuge-ordnet. Das Programm wurde zu einem der drei wichtigsten Vorhaben des Jahres ernannt und so weit oben auf der Agenda des Management Boards platziert.

Abbildung 3: Die 13 Versprechen zur Umsetzung des kulturellen Wandels

Im Folgenden werden wir thematisieren, wie „Führung“ auf zwei unterschiedlichen Ebe-nen ein zentrales Element für den Erfolg des Kulturwandels Programm war. Einmal als Motor für die Veränderung und den Wandel und einmal als Objekt des Kulturwandels selbst.

4 Führung als Motor des Kulturwandels

Kulturprojekte oder -programme haben häufig einen schweren Stand. Dafür gibt es mehre-re Gründe. Die Ergebnisse und der angestrebte Return-of-Investment der Programme sind oftmals nicht quantifizierbar und daher fällt eine greifbare Vorteilsargumentation schwer.

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Zudem wird häufig der Bezug zum Tagesgeschäft nicht unmittelbar deutlich, sodass es primär als „weiches“ HR-Thema wahrgenommen wird. Zuletzt sind die Effekte von Kul-turprogrammen nicht unmittelbar messbar, denn eine Veränderung der Kultur braucht Zeit.

Ein Blick in die Literatur verrät dagegen, dass Unternehmen, die sich mit ihrer Kultur be-schäftigen, einen Wettbewerbsvorteil erzielen können.2 GE und IBM sind zwei Beispiele für solch eine erfolgreiche Strategie. So bestätigt Lou Gerstner, in seiner Funktion als CEO von IBM: „I came to see, in my decade at IBM, that culture isn’t just one aspect of the game - it is the game”3.

Neben der Skepsis gegenüber Kulturveränderungsprogrammen wird in der (Fach)Literatur immer wieder die hohe Anzahl an gescheiterten Change-Projekten thematisiert.4 Einer der am häufigsten aufgeführten Gründe ist die mangelnde Unterstützung der Unternehmenslei-tung bzw. des mittleren Managements. Im Fall von Unitymedia KabelBW war die Organi-sation zudem intensiv mit den Nacharbeiten der Integration beschäftigt, wie der Harmoni-sierung von Prozessen oder der Konsolidierung der IT-Landschaft. Somit liefen zahlreiche Projekte parallel und die Auslastung der Belegschaft war neben dem Tagesgeschäft inten-siv.

In diesem Kontext ein Kulturwandel-Programm durchzuführen stellte daher eine besonde-re Herausforderung dar. Ein klares und starkes Signal der Unternehmensführung und des mittleren Managements sowie eine bedachte Anwendung des bekannten Change-Manage-ment-Instrumentariums war notwendig, um die notwendigen Rahmenbedingungen für den Erfolg zu schaffen. Des Weiteren ist bei kulturellen Veränderungsprogrammen die Funkti-on der Führungskraft als Vorbild und Rollenmodell sehr wichtig, denn nur wenn die ge-wünschten Verhaltensweisen vorgelebt und gezeigt werden, können sie in der Organisation etabliert werden. Dabei sind symbolische Handlungen ebenso bedeutend wie sichtbare Entscheidungen, welche Themen mit Aufmerksamkeit, Lob oder auch Kritik bedacht wer-den.

Um dem Programm die notwendige Wichtigkeit auf der Unternehmensagenda zu verschaf-fen und das Sponsorship des Management Board zu verdeutlichen, wurde für jedes der 13 Versprechen ein Pate aus dem Management Board benannt. Jeder Pate war für die erfolg-reiche Umsetzung der Maßnahmen „seines“ Versprechens verantwortlich. Um diese zu verdeutlichen und in die Organisation zu kommunizieren, wurde ein animiertes Video er-stellt, in dem jeder der Management Board-Mitglieder sein Versprechen zum Kulturwandel

2 Vgl. Organizational Culture and Leadership, Edgar H. Schein, John Wiley & Sons (27. August 2010); Journey to

the Emerald City: Implement the Oz Principle to Achieve a Competitive Edge Through a Culture of Accounta-bility, Roger Connors and Tom Smith, Prentice Hall Press (1. Juli 2002); Culture Connection: How Developing a Winning Culture Will Give Your Organization a Competitive Advantage, Marty Parker, McGraw-Hill Profession-al (1. Dezember 2011)

3 Who Says Elephants Can't Dance?: How I Turned Around IBM, Louis Gerstner, Harpercollins UK; Auflage: New Ed (4. August 2003)

4 Vgl. Leading Change, John P. Kotter, Harvard Business Review Press (1. September 1996); http://www.mckinsey.com/App_Media/Reports/Financial_Services/The_Inconvenient_Truth_About_Change_Management.pdf; http://hbr.org/2007/01/leading-change-why-transformation-efforts-fail/ar/1; Immunity to Change: How to Overcome it and Unlock the Potential in Yourself and Your Organization (Leadership for the Common Good), Robert Kegan, Lisa Lahey, Harvard Business Review Press (1. Januar 2009); Why Organiza-tional Change Fails: Robustness, Tenacity, and Change in Organizations (Routledge Studies in Management, Or-ganizations and Society) Jaap Van' T. Hek, Leike Van Oss, Routledge Chapman & Hall (25. Mai 2011)

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in die Kamera sprach. Das Video wurde über eine unternehmensweite E-Mail und eine eigens kreierte Microsite im Intranet publiziert. Damit war ein klares Bekenntnis für das Programm und seine Inhalte dokumentiert. Zudem wurde eine Erwartungshaltung in der Belegschaft geschaffen, die es nun zu beantworten galt.

Im nächsten Schritt verkündete der CEO öffentlich, dass er bis zu 20% seiner verfügbaren Zeit in das Programm des kulturellen Wandels investieren werde und ein vergleichbares Engagement vom oberen und mittleren Management erwarte. Damit war die Relevanz und Wichtigkeit des Programms für das Unternehmen klar formuliert.

Im Rahmen der Umsetzung der Maßnahmen waren die Führungskräfte dann doppelt ge-fordert. Damit die gewünschten Veränderungen durch sie vorgelebt werden konnten, mussten die Führungskräfte sich teilweise erst selber verändern und anpassen. Sie waren also zeitgleich der Motor und auch Objekt des Wandels.

5 Führung als Objekt des Kulturwandels

Der Peter Drucker zugeschriebene Satz „Culture eats strategy for breakfast“ hat maßgeb-lich unsere Überlegungen im „ZusammenWachsen“-Projekt beeinflusst, insbesondere im Kontext von Führung und „Leadership“. Das Wort „Führung“ und „Führungskultur“ ist de facto durch die deutsche Geschichte vorbelastet. Und obwohl wir wissen, dass wir uns dem oft zu Recht geäußerten Vorwurf aussetzen, englische Wörter ungefiltert in den deut-schen Sprachgebrauch zu übernehmen, benutzen wir „Leadership“ als Überbegriff für Ak-tivitäten und Prozesse in diesem Kontext. Gleichzeitig benutzen wir aber den Begriff „Führungsleitbild“, „Führungskraft“ oder ähnliches.

Als wir uns Gedanken über die Bedeutung von Leadership im Zusammenhang mit Kultur gemacht haben, kam zunächst der Aspekt des „Vorbilds“ bzw. „Rollenmodells“ auf. Erst im zweiten Schritt wurde uns bewusst, wie viel wir unsererseits investieren müssen, um Instrumente zu schaffen, die dieses Rollenmodell und die damit verbundenen Erwartungen überhaupt ermöglichen. Drei zentrale Aspekte greifen wir hier exemplarisch heraus, die jedoch keinesfalls das gesamte Spektrum im Bereich Leadership widerspiegeln: Ein gemein-sames Leitbild, unterstützende Prozesse für eine „kulturell prägende Leadership-Kultur“ und Entwicklungsprogramme.

5.1 Aufbau eines Führungskräfte-Leitbildes

Uns war die Gefahr eines Leitbildes, das lediglich auf Hochglanzbroschüren eine ideale Welt beschreibt, von Beginn an bewusst. Doch wie ist das zu verhindern? Nur und aus-schließlich durch aktives Einbinden derjenigen, die dieses Führungsleitbild auch leben sol-len. Daher war die Erstellung des Leitbildes gleich als aktiver Dialog angelegt. Natürlich gab es eine solide Ausgangslage und bereits bestehende Leitplanken. Die Vision sollte un-verändert bleiben. Auch kulturelle Leitlinien waren bereits durch die fünf definierten Werte vorgegeben. Durch den eingangs beschriebenen Prozess, die fünf Werte mit Leben zu fül-len, gab es schon unternehmensspezifische Kompetenzen und Verhaltensweisen. Diese haben wir als Startpunkt genommen.

Nun standen wir erneut vor der Frage, ob der nächste Schritt durch eine breite partizipative bottom-up-Initiative oder doch top-down getrieben werden sollte. Wir haben uns letztlich

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für ein zwar abgemildertes aber doch klar top-down angelegtes Vorgehen entschieden. Hier spielte sicherlich auch der antizipierte Aufwand für einen bottom-up-Ansatz eine Rolle. Aber letztlich hat aus unserer Sicht ein Leitbild auch eine richtungsgebende „Verantwor-tungs-Komponente“. „Führen“ heißt auch vorangehen. Wir waren überzeugt, dass jede Führungskraft in unserem Unternehmen in der Lage sein muss, sowohl ein aus unserer Kultur abgeleitetes Zielbild zu füllen (also einem Leitbild zu folgen), als auch dieses durch Diskussion mit den Mitarbeitern zu konkretisieren (und selbst zu führen). Diese beiden Aspekte bestimmten dann auch unser Vorgehen. Über moderierte Workshops mit unserem Senior Leadership-Team wurden die Kompetenzen und Verhaltensweisen in ein kurzes und prägnantes Leitbild gegossen. Dieses Leitbild war dann die erste Komponente unseres darauf folgenden Leadership Development-Programms.

Neben den Führungskräften wurden bereits schon früh auch die Betriebsräte eingebunden, um auch aus dieser Perspektive die zentralen Aspekte und Sichtweisen einzubinden. Letzt-lich ist das Führungsleitbild sowohl eine Beschreibung unserer Ambitionen (für Mitarbeiter und Führungskräfte gleichermaßen) als auch ein wesentlicher Bestandteil und Startpunkt unserer Weiterbildung.

5.2 Aufbau einer Führungskräfte-Kultur und Instrumente

Rückblickend muss man eingestehen, dass vor dem Kulturpragramm unsere Landschaft für Führungskräfte-Entwicklung vernachlässigt worden war. Es gab die üblichen rudimentären Trainingskurse und formulierten Verantwortlichkeiten bei Standardprozessen (primär bei der Zielvereinbarung und -bewertung). Darüber hinaus gab es weder in die Unternehmens-strategie integrierte Führungskräfte-Instrumente noch ausformulierte Erwartungen, wel-chen Beitrag die Führungskräfte zum Unternehmenserfolg leisten oder wie sie dies tun sollen. Aus dem Maßnahmenkatalog seien an dieser Stelle zwei aus unserer Sicht wesent-liche Interventionen herausgegriffen: das 360 Grad-Feedback-Instrument und ein verän-derter Performance Management-Prozess.

5.2.1 Das 360 Grad-Feedback

Diese Initiative wurde im Rahmen unseres Wertes „Feedback & Coaching-Kultur“ ins Le-ben gerufen, um einen wertschätzenden Feedbackprozess im Unternehmen zu etablieren. Ziel war es, eine Kultur zu schaffen, in der wir einander Rückmeldungen zu unserem Ver-halten geben, konstruktiv zusammenarbeiten und somit einander helfen, uns stetig zu ver-bessern.

Wie im Namen bereits angelegt, geht es vor allem darum, eine „Rundumsicht“ über das eigene Wirken zu erlangen. Eben von der Führungskraft, den Kollegen und Mitarbeitern den Spiegel vorgehalten zu bekommen, um Stärken zu fördern, „blinde Flecke“ zu erken-nen und über einen Austausch Hinweise zu erhalten, wie man sich verbessern kann. Die Kriterien, auf welcher Basis die Bewertung stattfinden sollte, wurde direkt aus den Unter-nehmenswerten und Kompetenzen abgeleitet.

An dieser Stelle kann keine detaillierte Beschreibung des Prozesses erfolgen. Es sei lediglich erwähnt, dass entgegen mancher Praxis wir das Feedback einzig und allein auf die persönli-che Weiterentwicklung ausgerichtet haben und nicht in die Leistungsbewertung einbezogen haben. Zudem wurde in den Berichten sehr großer Wert darauf gelegt, die eigenen Stärken in den Mittelpunkt der Nachbearbeitung zu stellen, nicht die Schwächen oder „blinden

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Flecke“. Wir sehen es als essentiell an, dass wir seitens der Personalabteilung Vorreiter sind und in allen HR-Instrumenten, insbesondere im Bereich der Führungskräfte, die Unter-nehmenskultur glaubhaft und nachhaltig einfließen lassen. Wenn man so will, ist die Kul-tur-Initiative der hauptsächliche Filter bei der Definition des HR-Portfolios und gleichzeitig kommunikativ übergreifend der sinnstiftende Schirm.

5.2.2 Performance Management Prozess

Die Art und Weise, wie wir kulturkonform miteinander umgehen wollen, findet sich ver-mutlich in keinem anderen Prozess so deutlich wieder wie im Performance Management-Prozess. Wir möchten weg von der Vorstellung, unsere Mitarbeiter durch das sprichwört-liche „Vorhalten einer Karotte“ zu motivieren. Wir glauben hingegen daran, dass jeder Mit-arbeiter in seiner Funktion täglich „sein Bestes“ gibt. Gemeinsam mit dem Manager arbei-tet jeder Mitarbeiter daran, unser Unternehmen erfolgreich zu machen. Diese Sichtweise alleine ist bereits ein Paradigmenwechsel.

Unsere Interpretation einer Leistungskultur versucht nicht zwangsläufig alle Mitarbeiter nach dem Verlauf einer „Normal-Verteilung“ in ihrer Leistung zu differenzieren. Die Ver-antwortung für das Erbringen einer Leistung liegt nach wie vor beim Mitarbeiter – aber genauso beim Manager. Dazu ist ein intensiver und kontinuierlicher Dialog zwischen Füh-rungskraft und Mitarbeiter notwendig, der die Eigenverantwortung und Motivation steigert und der dazu führt, dass jeder einzelne versteht, welchen sinnvollen Wertbeitrag er für das Unternehmen im Kontext der eigenen Funktion leistet. Übergreifende Ziele, wie beispiels-weise der „Net Promoter Score“5 bauen zudem die Silomentalität ab und stellen alleine den Unternehmenserfolg in den Mittelpunkt. In letzter Konsequenz wird dies dazu führen, den variablen Anteil des Gehalts ausschließlich an das Erreichen der Unternehmensziele zu koppeln. Hieran arbeiten wir zurzeit.

5.3 Aufbau einer Führungskräfte-Entwicklung

Die wenigsten Leser dürfte überraschen, dass Leadership Development weit mehr ist als Trainingsangebote. Selbst wenn man das Thema Weiterbildung breiter fasst und mit dem bekannten Konzept „70-20-10“6 operiert, muss die Führungskräfte-Entwicklung noch mehr umfassen.

5 Gem. Wikipedia, Stand 03/2013, ist „der Net Promoter Score (NPS) bzw. Promotorenüberhang ein Index, der

hoch mit dem Unternehmenserfolg (in bestimmten Branchen) korreliert ist. Die Methode wurde von Satmetrix Systems, Inc., Bain & Company und Fred Reichheld entwickelt. Berechnet wird der Net Promoter Score durch die Differenz zwischen Promotoren und Detraktoren des betreffenden Unternehmens. Der Anteil der Promoto-ren und Detraktoren wird ermittelt, indem einer repräsentativen Gruppe von Kunden ausschließlich die Frage gestellt wird: „Wie wahrscheinlich ist es, dass Sie Unternehmen/Marke X einem Freund oder Kollegen weiter-empfehlen werden?“ Gemessen werden die Antworten auf einer Skala von 0 (unwahrscheinlich) bis 10 (äußerst wahrscheinlich). Als Promotoren werden die Kunden bezeichnet, die mit 9 oder 10 antworten. Als Detraktoren werden hingegen diejenigen angesehen, die mit 0 bis 6 antworten. Kunden, die mit 7 oder 8 antworten, gelten als „Indifferente“ und werden bei der Berechnung des NPS nicht berücksichtigt. Der Net-Promoter-Score wird nach folgender Formel berechnet: NPS = Promotoren(%) − Kritiker(%) Der Wertebereich des NPS liegt damit zwischen plus 100 und minus 100.“

6 Der Ursprung des Konzepts geht zurück auf Morgan McCall, Robert Eichinger und Michael Lombardo (1996), Center for Creative Leadership in North Carolina. Vgl. ergänzend Lombardo, Michael M./Eichinger, Robert W. (1996): The CAREER Architect Development Planner. Lominger.

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Abbildung 4: Das 70-20-10-Konzept

Der entscheidende Punkt ist, dass die Interventionen so positioniert werden, dass sie sich als natürlicher Bestandteil der Rolle und Aufgabe eines Managers „anfühlen“. Dies war zumindest unser Ziel im Design eines umfassenden Plans. Startpunkt und wesentliches Element war ein professionell vorbereiteter und durchgeführter Workshop im Rahmen der Erstellung des Leitbildes. Wir haben viel Zeit gemeinsam mit unserem Management Board investiert, das Leitbild mit Leben zu füllen und die Frage zu beantworten: „Was bedeutet die Umsetzung der Prinzipien im täglichen Leben?“. Dies kann für jeden einzelnen Mana-ger verschiedene Ausprägungen haben, jenseits des prinzipiell schnell erreichten Grund-konsenses über Verhaltensweisen.

Nach dem ersten Workshop war es von zentraler Bedeutung, dass wesentliche Elemente der Kaskadierung durch unsere Manager selbst durchgeführt werden. Das Prinzip „Leaders as Teachers“ mag zwar manchen Kompromiss bezüglich Moderationsstil und Präsentati-onstechniken nötig machen, aber durch die Glaubwürdigkeit des Prozesses wird dies mehr als aufgewogen. Neben diesem stringent durchgeführten Plan, der innerhalb eines Jahres alle Manager im ganzen Unternehmen einbezogen hat, gibt es weiterhin die klassischen Komponenten einer modernen Führungskräfte-Entwicklung: Auf einzelne Level zuge-schnittene Programme und individuelle Trainings, Coaching- und Mentoring-Elemente, Rotationsprogramme, etc. Hier wird sich künftig entscheiden, inwiefern wir es geschafft haben, eine sich aktiv einbringende, Verantwortung übernehmende und mündige Füh-rungskultur zu etablieren.

Kultur ist nichts „Statisches“. „Wer aufhört, besser zu werden, hat aufgehört, gut zu sein“. Wir befinden uns nach wie vor in einer Veränderungsphase. Wir müssen nun konsolidieren und Vertrauen aufbauen. Dazu sind wir aus unserer Sicht gut gerüstet und können selbst-bewusst die nächsten Schritte tun und jeden Tag ein bisschen besser zu werden.

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6 Autoren

Karl-Heinz Reitz ist seit 1.7.2012 im Personalbereich von Unitymedia Kabel BW tätig und leitet die HR-Business-Partner- sowie die Personal- und Organisationsentwicklung. Er ist zudem Fachgruppenleiter „Change Management“ des BPM (Bundesverband der Perso-nalmanager).

Seit Anfang Januar 2013 arbeitet Roman Schachtsiek in der Organisationsentwicklung bei Unitymedia KabelBW. Dort verantwortet er unter anderem als Programm-Manager das hier beschriebene Kulturwandel-Programm. Zuvor war er über 8 Jahre bei der Accenture GmbH im Bereich Management Consulting, Talent & Organisation tätig, zuletzt als Senior Manager.