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Familienberatung in der pflegenden Familie
Studienbrief
Autorin:
Prof. Dr. Katharina Gröning
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© Universität Bielefeld 2016
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Inhaltsverzeichnis
Vorwort s 05
1. Beraten und Verstehen s 07
1.1 Seelisches Verstehen s 09
1.2 Lebensweltliches Verstehen s 12
1.3 Lebensweltliche Sinnstrukturen und Deutungsmuster s 13
- wie die Familie denkt
1.4 Verstehen mit dem „soziologischen Ohr“ s 14
2. Familie – Gesellschaft – Politik: Der familiale und der soziale s 15
Generationenvertrag und sein Bedeutungswandel
2.1 Der demografische Wandel und die Familien heute s 16
2.2 Der Diskurs über die Alterslast s 17
2.3 Die Utilitaristen oder wenn das Leben zur Schuld wird s 20
2.4 Pflegearbeit, Sorgearbeit, Hausarbeit s 21
2.5 Die vergeschlechtlichte Pflege s 24
2.6 Symbolische Gewalt s 25
2.7 Zwischenfazit: Welche Fähigkeiten müssen Familien s 28
entwickeln, um die Entwicklungsaufgabe der
Pflege zu meistern?
3. Pflegebedürftigkeit als Problem der Neuausrichtung von Rollen s 29
(Lerneffektstudie)
4. Normalismus und die Grenze der Respektabilität s 31
– wie Familien über Pflegebedürftigkeit denken
5. Familien sind Gruppen s 33
5.1 Kohäsion der Familie s 34
5.2 Wie Kommunikation in Familien verläuft s 36
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6. Prinzipien der Gestaltung eines Familiengespräches s 37
6.1 Der Anfang s 37
6.2 Arbeitsbündnis s 39
6.3 Verstehen, Ordnen und Reflektieren – die Interventionen s 40
im Beratungsprozess
6.4 Abschied und Perspektive s 43
6.5 Fallbeispiele s 43
6.5.1 Zur Geschichte der Familie R. s 43
6.5.2 Familie C. – Normalität und Familie s 48
Literaturverzeichnis s 51
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Vorwort
Der folgende Studienbrief zur Familienberatung führt den Ansatz des Modellpro-
gramms „Familiale Pflege“ weiter und verbindet die Theorie des Projektes mit der
Methode der Familienberatung. Zudem werden Fälle und Familien hinsichtlich ihrer
Entwicklung und ihrer Probleme vorgestellt. Im Mittelpunkt steht dabei die Annahme,
dass es sich bei der familialen Pflege um eine Entwicklungsaufgabe für die ganze
Familie handelt. Diese Entwicklungsaufgabe der Sorge für ein Familienmitglied steht
jedoch in Spannung zu den Rollenanforderungen, den Funktionen und vielfach auch
den Familienbildern in den modernen Familien. Von Familien wird heute sehr viel
erwartet. Wer eine Familie gründet, sucht dort Sicherheit, emotionale Zustimmung,
Anerkennung und Respekt und die Gewissheit, dass für ihn oder sie gesorgt wird.
Gleichzeitig haben sich Familien sehr verändert. Sie sind, wie Leopold Rosenmayr
(1996) sagt, zur „Bohnenstangenfamilie“ geworden. Das heißt, weniger Kinder wer-
den geboren, dafür haben diese Kinder die Chance, ihre Großeltern, ja sogar ihre
Urgroßeltern, kennenzulernen. In einer historischen Zeit leben vier Generationen
gleichzeitig.
Jede dritte Ehe wird heute geschieden. Jedoch ist es interessanterweise der Genera-
tionszusammenhalt, der dann die Scheidungsfolgen abmildert. Durch den Moderni-
sierungsprozess entstehen „gesellschaftliche, biografische und kulturelle Unsicherhei-
ten“, die laut Ulrich Beck auch vor der Familie nicht haltmachen und „Familienformen,
Geschlechtslagen, Ehe, Elternschaft – und man könnte auch hinzufügen generative
Sorge unsicher werden lassen“, (Beck 1986, S. 115). Menschen würden, so Beck, aus
ihren wichtigen sozialen Lebensformen entlassen und „freigesetzt“ (ebd., S. 206),
was Beck vor allem als Herauslösung von Menschen aus traditionellen Bindungen
und sozialen Zusammenhängen beschreibt.
Gleichzeitig haben sich vor allem die guten Beziehungen der Generationen als wich-
tigster Puffer für Modernisierungsrisiken herausgestellt. Zum einen ermöglichen die
Großeltern ihren Töchtern vielfach den Beruf und unterstützen die Erziehung der Kin-
der. Anders als Beck, der vom Verschwinden der Solidarität spricht, scheint es so,
dass sich die Solidarität transformiert. Sie ist nicht mehr ohne weiteres mechanisch
oder durch Blut und Abstammung begründet, sondern, wie Anne-Christin Kunstmann
(2010) es ausdrückt, durch Verbundenheit. Gleichzeitig gilt dies nicht für alle sozialen
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Milieus oder für alle Familien. Familien übernehmen auch heute noch die Pflege, weil
sie sich andere Versorgungsformen nicht leisten oder nicht vorstellen können. Den
Erfahrungen im Projekt nach, sind gerade die armen Familien oder die bescheidenen
Familie von besonderen Defiziten, was den Zugang zu Ressourcen angeht, betroffen.
Sie kennen häufig nicht ihre Rechte und Ansprüche und pflegen unter erschwerten
Bedingungen.
Aus der Perspektive einer psychosozialen Entwicklungsaufgabe fordert der Eintritt der
Pflegebedürftigkeit als Familienereignis von den Familien ganz neue instrumentelle,
soziale und psychische Fähigkeiten. Eine Pflegebeziehung schiebt sich als instrumen-
telle Rolle in die Familie. Es entsteht manchmal schlagartig, manchmal schleichend,
ein völlig neues Rollenbündel mit einer Fülle von instrumentellen und fachlichen An-
forderungen, um eine gute Versorgung sicherzustellen. Diese Anforderungen gehen
weit über die Liebe und die primäre, für Familien typische Anerkennung hinaus. Es ist
deshalb bedeutend, im Rahmen des Fähigkeitenansatzes (vgl. Nussbaum 1999) zu
klären, wie Familien diese Entwicklungsaufgabe bewältigen können und welche Fä-
higkeiten nötig sind, um diese Aufgabe der Sorge in eine Idee des guten Lebens zu in-
tegrieren. Um diese Frage zu klären, werden Fälle in den Studienbrief aufgenommen.
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1. Beraten und Verstehen
Im Zentrum jeder Beratung steht das Verstehen und hier müssen sehr unterschied-
liche Arten des Verstehens unterschieden werden. Eine Art des Verstehens kann auf
(wissenschaftlicher) Beobachtung beruhen oder auf dem Zergliedern eines Phäno-
mens in seine Einzelteile (Analyse). Eine andere Art des Verstehens kommt aus der
Betrachtung eines Gegenstandes bzw. Objektes und der Identifizierung mit ihm. Eine
weitere Art ist schließlich das Interpretieren und Rekonstruieren von Sinn. Zunächst
einmal gilt, dass das Verstehen eines Menschen etwas anderes ist als das Verstehen
einer Maschine oder einer Sache. Um einen Menschen zu verstehen, muss ich mich
ihm ähnlich machen.
Was ich verstehe und ob ich etwas verstehe, hängt zudem mit meinem Interesse und
meiner Rolle zusammen. Insofern ist die/der Pflegetrainer_in nicht neutral. Sie/er hat
ein Ziel und ist in der Familie auch ein_e Akteur_in.
Gregor Bongaerts (2010) unterscheidet das Verstehen einer Sache, welches er als
technisches Verstehen bezeichnet, vom Verstehen eines Menschen, welches er als
Miteinander-Verstehen bezeichnet. Will man z. B. ein Pflegehilfsmittel verstehen, dann
kann nach seiner Funktionsweise gefragt werden. Es ist verstanden, wenn man weiß,
wie die einzelnen Elemente zusammenwirken, wenn man also weiß, wie es funktio-
niert. Um zu verstehen, muss ich etwas technisch und funktional rekonstruieren. Diese
funktionale Rekonstruktion kann sich auch auf Handlungsketten beziehen, z. B. wenn
ich mich danach erkundige, wie die Abläufe in einer Familie am Morgen sind, und
wenn ich wissen will, warum es jeden Morgen zum gleichen Konflikt kommt. Hier
aber reicht es nicht, nur die Funktionsweise zu verstehen, weil ich dann wahrschein-
lich nichts verstehe – sondern ich muss mich wechselseitig identifizieren und in die
beteiligten Menschen hineinversetzen.
Beraten ist deshalb immer ein Akt des Verstehens, der beide Dimensionen beinhaltet.
Ich muss das Problem der Familie verstehen, aber ich muss der Familie auch zustim-
men, sie anerkennen, mich mit ihnen verstehen. Verstehen setzt zudem gemeinsame
sprachliche und kulturelle Zeichen voraus, damit es nicht zu Projektionen und zu
Übertragungen kommt. Soll ein anderer Mensch verstanden werden, so fragt man
gewöhnlich nach Gründen und Motiven, nach Intentionen und Absichten. Warum
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hat sie/er dieses oder jenes getan oder gesagt und warum lebt sie/er so, wie sie/er
lebt und nicht anders? Diese Art des Verstehens führt fast immer über die Biografie,
die Erkundung von Erfahrungen dieses Menschen und ihren/seinen Erkenntnissen,
die sie/er aus der Erfahrung gezogen hat. Entsprechend braucht man zum Verstehen
das Erzählen und das Raum-Geben. Will man hingegen eine Handlung verstehen,
so Bongaerts (2010), dann muss nicht unbedingt nach den individuellen Motiven und
Absichten gefragt werden, auch wenn dies möglich bleibt. Wenn jemand einen ande-
ren wäscht, ihm bei der Bewegung hilft, für ihn einkauft oder die Wohnung in Ord-
nung bringt, dann könnten diese Handlungen als Handlungen an sich verstanden
werden. Sind sie angemessen, richtig, erfolgversprechend? Was ist der Zweck und
das Ziel dieser Handlungen? Das richtige Anwenden einer Anleitung oder das Aus-
führen einer Pflegehandlung kann die/der Pflegetrainer_in verstehen, wenn sie/er es
sich zeigen lässt. Sie/er versteht aus der eigenen Beobachtung, was die/der Angehö-
rige ggf. weiß, welches Alltagswissen sie/er voraussetzt und welche Erfahrungen sie/
ihn zur Durchführung einer Handlung veranlassen. Ohne gleich einzugreifen, kann
dem Angehörigen mitgeteilt werden, was sie/er von seiner/ihrer Handlung verstan-
den hat. Erst dann wird sie/er einen Zugang haben, Handlungen auch zu verbessern
oder Handlungsoptionen anzubieten.
Das Verstehen von gesprochener oder geschriebener Sprache setzt nach Bongaerts
(2010) wiederum notwendig die Kenntnis sprachlicher Zeichensysteme voraus. Dies
ist bei der interkulturellen Pflege von großer Bedeutung. Um sprachliche Äußerungen
verstehen zu können, muss offenbar noch mehr beherrscht werden als das konventi-
onelle Zeichensystem. Komplexes Wissen um die Welt und die kulturelle Wirklichkeit,
in der man sich befindet und in der man an sprachlicher Kommunikation beteiligt
ist, ist erforderlich, um die Bedeutung sprachlicher Äußerungen zu erfassen. Dieses
Wissen umfasst, so Bongaerts (2010), Konventionen, welche jedoch nicht die sprach-
lichen Zeichen, sondern die sozialen Situationen, also die Kontexte regeln. Für die
Arbeit mit den Familien sind hierfür besonders die Anfänge zu berücksichtigen. Hier
kommt es auf die Zeichen, die Rituale und die Konventionen an, um in der Familie zu
einem Arbeitsbündnis und zur Anerkennung zu kommen.
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1.1 Seelisches Verstehen
Wie steht es aber um das Verstehen, wenn sich zwei Menschen miteinander verste-
hen? Wenn man sich mit jemandem versteht, dann ist seelische Zustimmung gemeint.
Diese gehört immer auch zum Beratungsprozess dazu. Seelisches Verstehen meint,
dass ich beim Verstehen einen inneren Raum in mir schaffen muss, in dem sich das
Erzählte und die Person des Anderen teilweise in mir abbilden können. Ich muss mich
in das, was ich wahrnehme, tendenziell hineinfallen lassen. Um etwas zu verstehen,
muss ich eine Fantasie entwickeln können. Eine allein auf Beobachtung basierende
Haltung reicht für das seelische Verstehen nicht aus. Ob und welche Fantasie ich ent-
wickele, hängt zudem von meinem Standort und meiner Rolle ab. Seelisches Verste-
hen wird zumeist als empathischer Akt bezeichnet (vgl. Bongaerts 2010). Es handelt
sich um die menschliche Fähigkeit, mich mit dem anderen ähnlich zu machen (vgl.
Hörster 1992, S. 629). Hörster nennt diese Fähigkeit, sich ähnlich zu machen, das
mimetische Vermögen. Dies ist der Anfang jedes Bildungs- und Beratungsprozesses.
Zum seelischen Verstehen gehören insbesondere vier Fähigkeiten: der Takt, das Hal-
ten, das Entgiften und das Spiegeln (Gröning 2013). Seelisches Verstehen ist zuerst
eine Art der Aufmerksamkeit, eine Haltung der Anerkennung, der emotionalen Zu-
stimmung und Zugewandtheit. Leon Wurmser bezeichnet dieses auch als seelisches
Sehen. Umgekehrt ist die Seelenblindheit zu nennen (vgl. Wurmser 2004, S. 34ff.).
Sie bedeutet taub zu sein für die eigenen Gefühle und Stimmungen. Im Kontext sol-
cher Taubheiten entstehen Scham- und Schuldgefühle.
Der Takt
Die Fähigkeit zur Herstellung des Vertrauens wurzelt im Takt (vgl. Muth 1967), in der
Rollenbewusstheit der beratenden Person und in ihrer/seiner Fähigkeit, die Familie
seelisch zu sehen. Dieses seelische Sehen steht im Gegensatz zum Beobachten, Eti-
kettieren und Einleiten von Maßnahmen. Takt besteht aus Zurückhaltung und Fein-
gefühl, der es den Familien ermöglicht, sich zu öffnen (ebd., S. 15). Takt stehe im
Gegensatz zur Aufdringlichkeit, zu Veränderungswillen und Aggressivität, so Jakob
Muth. Er äußert sich in der Verbindlichkeit der Sprache, in ungekünsteltem Verhalten,
in der Vermeidung der Verletzung des/r anderen und in der Wahrung einer gewissen
Distanz. Muth (1967) beschreibt den Takt als eine Form der Empathie (ebd., S. 67).
Er sei eine innere Stimme, die zur Zurückhaltung mahnt und weder Beschämung,
Bewertung noch pastorales Moralisieren erlaubt. Takt braucht Zeit. Es ist für Familien
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beschämend, wenn die/der Pflegetrainer_in keinen zeitlichen Rahmen vorgibt, zu we-
nig Zeit hat oder die Familie über ihre Zeit nicht informiert. Takt meint, auf Verfügung
über den anderen zu verzichten. Takt setzt Rituale ein, von denen die Zuvorkommen-
heit, das gute Benehmen und die Ehrerbietung die wichtigsten Rituale sind. In der
Pflege ist Takt ein großes Thema, weil man es mit den verletzten, den abgewerteten
Teilen des Körpers zu tun hat. Zudem ist davon auszugehen, dass sich die Familie und
auch die/der Pflegebedürftige für ihre Verletzlichkeit schämen. Der Takt in der Pflege
ermöglicht wieder einen Zugang zum Selbst, indem die Scham durch gute Pflege
gemildert und beruhigt wird (vgl. Gröning 2014).
Das Halten
Seelisches Verstehen hat manchmal mit der Wiederbelebung alter oder auch tauber
Gefühle zu tun. Diese als Verlebendigung beschriebenen Formen des Verstehens ha-
ben damit zu tun, dass die/der Pflegetrainer_in haltende, unterstützende und schüt-
zende Angebote macht. Halten ist Teil der Beratungs-, aber auch der Pflegekunst. In
der Pflegekunst ist sie unmittelbar körperbezogen. Ein_e Patient_in wird gehalten,
indem ihre/seine unmittelbaren körperlichen Bedürfnisse nach Schmerzfreiheit, nach
Hygiene und Sauberkeit, nach Nahrung und Wärme etc. befriedigt werden. Mit der
Pflege stellt sich ein seelisches Gefühl des Gehaltenseins ein. Auch Kommunikation,
Ansprache und Sorge gehören zum Halten. Fehlt das Halten, so entsteht ein Gefühl
der seelischen Verlorenheit und Angst. Halten heißt entsprechend das wieder auffin-
den, was verloren gegangen ist. Ein kleines Kind, ein_e demenzkranke_r Patient_in,
jemand, der einen Schlaganfall hatte, muss gehalten werden. Halten kann durch
Zuwendung, durch Strukturierung und Orientierung oder durch unmittelbaren Bei-
stand erreicht werden. Kränkungen, Ängste und die Erfahrung, als Objekt behandelt
zu werden, können zur Taubheit, Blindheit und zum Ressentiment führen. Halten ist
die Fähigkeit den inneren Raum zu schaffen, der wiederum die Voraussetzung für das
Entgiften ist.
Das Entgiften
Trauma, Schmerz, Verlassenheitsgefühle, Scham, Schuldvorwürfe und ähnliches ge-
hören zu den sogenannten Beta-Elementen der Seele. Sie vergiften. Ein seelischer
Entgiftungsprozess kann in Beratungen sehr wichtig sein. Seelische Entgiftung ist von
Wilfred Bion (1963, 2002) zuerst als Alpha-Funktion in der frühen Mutter-Kind–Be-
ziehung beschrieben worden. Mittels Containing, also dem Auffangen von negativen
Emotionen, den sogenannten Beta-Elementen, nimmt die Bezugsperson die negativen
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Affekte des Kindes auf und gibt sie ihm entgiftet zurück, wodurch Affektstabilisierung
erreicht wird. Diese Entgiftungsfunktion, die Bion beschreibt, wird ebenfalls „seelischer
Verdauungsprozess“ genannt. Die Fähigkeit zum Entgiften basiert auf der Erfahrung
bzw. dem Erfahrungsvorsprung der beratenden Person. Er bzw. sie weiß, was die Fa-
milie noch nicht weiß und wozu sie vielleicht nur schlechte Fantasien (Beta-Elemente)
oder Sorgen hat: Wie wird es noch werden, was passiert noch alles? Entgiften heißt,
die Familie ernst zu nehmen ohne die Verzweiflung oder die Panik mit ihnen zu teilen,
Antworten zu haben, an die Fähigkeiten der Familie zu glauben, sie zu ermutigen, zu
trösten und ihre Stärken zu benennen.
Das Spiegeln
Spiegeln gehört zum Kernprozess des seelischen Verstehens und des Beratens. Ge-
meint ist hier die Fähigkeit der beratenden Person, auch die latenten und unter-
schwelligen Botschaften einer Kommunikation zu verstehen. Jede Kommunikation hat
einen vordergründigen, offensichtlichen und einen dahinter liegenden latenten Sinn.
Häufig verläuft die Kommunikation in Chiffren, aus denen die wirklichen Botschaften
erst herausgehört werden müssen. Spiegeln heißt faktisch, das seelische Ohr ein-
zusetzen und den latenten Sinn, das sind häufig Gefühle, anzusprechen. Spiegeln
ergibt sich zumeist wie von selbst durch aufmerksames Zuhören. Es geht zurück auf
Carl Rogers‘ Konzept der personenzentrierten Gesprächsführung (vgl. Rogers 1972).
Spiegeln heißt im Beratungsprozess auch zu „markieren“. Was der Berater oder die
Beraterin für besonders wichtig hält, das wird markiert, indem ich es aufnehme, Re-
sonanz gebe, es verstärke oder auch hinterfrage.
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1.2 Lebensweltliches Verstehen
Unter lebensweltlichem Verstehen kann man den Übergang zwischen objektiven ge-
sellschaftlichen Strukturen und subjektiver sinnhafter Verarbeitung eben dieser Struk-
turen verstehen. Ursprünglich geht das Lebensweltkonzept zurück auf Edmund Hus-
serl (1936). Verstehen heißt für Husserl Betrachten und die Sinnstrukturen in dem
Phänomen erkennen können, welches ich betrachte. Einen großen Einfluss auf das
Lebensweltkonzept hat die Theorie von Alfred Schütz (1932/1974) zum sinnhaften
Aufbau der sozialen Wirklichkeit (1932). Weitere wichtige Arbeiten sind jene von Pi-
erre Bourdieu (1997) zum Habitus und Feld und von Gabriele Rosenthal zur biogra-
fischen Forschung (1995). Während das seelische Verstehen auf einer Bewegung von
Anerkennung, einem inneren Raum, einem seelischen Halten und einer Zustimmung
beruht, fragt das lebensweltliche Verstehen danach, wie jemand sich seine/ihre Welt
ausdeutet, was für ihn/sie Sinn macht. Angesprochen sind hier auch die Alltagsideo-
logien. Diese Sinnhaftigkeit des Denkens ergibt sich aus der Lebensgeschichte, dem
sozialen Ort und dem Alltag, in dem jemand lebt. Wie denkt jemand über sich? Über
die Ordnung ihres/seines Alltages, über die Dinge und ihr/sein Leben? Lebensweltli-
ches Verstehen setzt immer lebensweltliches Erzählen voraus. Die Erzählungen bilden
nach Rosenthal (1995) ein Gesamt, eine Ordnung, so dass die/der Zuhörer_in ein
schlüssiges Bild bekommt. Fehlen in diesem Bild Stücke, so können diese erfragt wer-
den. Das Verstehen eines Menschen setzt dabei die Fähigkeit voraus, seinen Alltag
vorstellen zu können, was wiederum heißt, selbst an den sozialen Ort zu gehen, in
dem jemand lebt. Das Handeln des Menschen in seinem Alltag wird von Schütz als
weder logisch noch systematisch oder rational angesehen – sondern sinnhaft. Jede
Handlung eines Menschen ist das Ergebnis bisheriger Erfahrungen und Erlebnisse.
Die Erfahrungen werden in bewusste oder unbewusste Sinnzusammenhänge geord-
net und verbinden sich zu einer Erfahrungswelt im Alltag. Diese Erfahrungswelt hat
eine räumliche, zeitliche und soziale Struktur. Tritt nun die Pflege ein, kommt diese
Ordnung der Lebenswelt unter Druck. Sie muss einerseits neu organisiert werden,
gleichzeitig aber dem Alltag und der Sinnhaftigkeit der Erfahrungswelt entsprechen.
Dieser Prozess, zwischen den alltäglichen Sinnstrukturen und den Anforderungen an
die Pflege einen Weg zu finden, ist Pflegekunst und im Rahmen der Familiengesprä-
che zu erarbeiten. Lebensweltliches Verstehen kommt neben den Familienberatungs-
gesprächen sehr gut in Pflegekursen zum Einsatz.
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1.3 Lebensweltliche Sinnstrukturen und Deutungsmuster - wie die Familie denkt
Unter Deutungsmustern versteht man einen relativ festen Wissensvorrat, mit dem
sich jemand die Welt und die aktuelle Situation erklärt und nach der er/sie das eige-
ne Handeln ausrichtet. Deutungsmuster entstehen durch biografische, soziale, mili-
eu- und gruppenspezifische Erfahrungen, die jedoch nicht unbedingt im Sinne einer
Reflexivität verarbeitet sein müssen. Deutungsmuster sind „Argumentationszusam-
menhänge, die auf subjektiver Erfahrung beruhen“ (Meuser/Sackmann 1992, S. 16).
Deutungsmuster müssen als Alltagsdenkweisen verstanden und erkannt werden und
man muss sie reflektieren wollen. Es geht beim Lernen und Beraten um die Ausei-
nandersetzung mit den Deutungsmustern nicht nur um das Verstehen, sondern um
das Erkennen und das Herausarbeiten und die Überführung in Reflexion. Beraterisch
heißt das, dass ich Deutungsmuster als solche benennen und konfrontieren muss und
zwar unter der Perspektive der praktischen Vernunft.
Deutungsmuster werden in der Beratung verteidigt und gehen mit bestimmten Ab-
wehrmechanismen, wie Abstreiten, Verallgemeinern, Rationalisieren einher. Dann ist
es nicht sinnvoll darum zu kämpfen, wer Recht hat, sondern die Deutungsmuster als
Denkweise und Muster zu beschreiben und darum zu bitten, den Prozess der Ver-
ständigung über diese Denkweisen nicht aufzugeben. Lebensweltliches Verstehen ist
immer subjektiv, es gibt hier keine Hierarchie der Erfahrungen. Sehr häufig wird in
Familiengesprächen aber genau das versucht. Die Familie reproduziert eine Rang-
ordnung: Wie darf man denken; was ist richtiges Denken, was ist falsches Denken;
was darf sein, was nicht? Die Generationen und die Geschlechter haben in der Regel
sehr unterschiedliche alltägliche und lebensweltliche Erfahrungen und Deutungsmus-
ter entwickelt. Das prallt in Familiengesprächen häufig zusammen. Ein Kampf um
das richtige Denken entsteht. Es gilt aber, dass jedes Denken einer lebensweltlichen
Erfahrung zuzuordnen ist und kein Denken über dem anderen stehen sollte, sondern
die Erfahrung verhandelt werden muss.
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1.4 Verstehen mit dem „soziologischen Ohr“
Der Begriff des soziologischen Ohrs oder des soziologischen Auges stammt von Pi-
erre Bourdieu (1997, S. 779ff.) in seinem Beitrag zum Verstehen im Rahmen der
Forschungsarbeit „Das Elend der Welt“ (vgl. Bourdieu et al. 1997). Mit dem soziologi-
schen Ohr/Auge meint Bourdieu die Fähigkeit, aus den alltäglichen Erzählungen die
Wirkkräfte des Feldes und der Organisationen quasi herauszuhören bzw. zu sehen.
Er entwirft seine Haltung zum Verstehen in einer Abgrenzung z. B. zu den gekünstel-
ten Beratungssituationen (und Beratungs- bzw. Therapie-Dramaturgien), die wissen-
schaftliche, therapeutische und beraterische Settings auszeichnen. Bourdieu fordert,
sich geistig auf den sozialen Ort und das Feld einzulassen, von dem z. B. eine Familie
erzählt.
Es geht auch beim Beraten nicht um eine Art religiöser, methodischer Strenge, die nur
eine Imitierung von statushohen Wissenschaften und auch Professionen ist. Bourdieu
(1997) empfiehlt, die Menschen mit großem Respekt zu behandeln, aber sich eben
nicht in Strenge zu distanzieren (vgl. S. 779). Die Beziehung zu den Ratsuchenden,
wie zu der_n Klient_innen oder zu den Interviewpartner_innen bleibe, so Bourdieu
(1997, S. 789), eine soziale Beziehung. Der/die Berater_in soll die sozialen Lebens-
schwierigkeiten an dem jeweils untersuchten Ort wahrnehmen. Allein diese Reflexivi-
tät, so Bourdieu, erlaube es, im Feld die Effekte der gesellschaftlichen Struktur wahr-
zunehmen und zu kontrollieren (vgl. ebd. S. 780). Zunächst geht es um die Effekte
der Einmischung. Wie groß und welcher Art ist das Gefälle (vgl. ebd. S. 781)? Mit
Bourdieu könnte man sagen, dass pflegende Familien einer gewissen symbolischen
Gewalt unterliegen, die von Institutionen ausgeht, die selbst beschleunigt und effizi-
ent arbeiten und kaum einfühlend, haltend oder stützend sind.
Er spricht weiterhin von sozialer Aufrichtigkeit (vgl. ebd., S. 785) von einem Vertrau-
ensverhältnis, die das offene und freie Reden förderlich macht. Bourdieu fordert als
reflexive Haltung, „sich gedanklich an jenen Ort zu versetzen, den der Befragte im
Sozialraum einnimmt, um ihn von diesem Punkt aus zu fordern und von dort aus
sozusagen Partei für ihn zu ergreifen“ (ebd., S. 780), was eben nicht bedeute, das
eigene Selbst auf den anderen Menschen zu projizieren, wie es in naiven Solidaritäts-
bekundungen vorkommt, es gehe vielmehr darum, so etwas wie ein grundständiges,
genetisches Verständnis der Existenz des anderen nachzuvollziehen und eben auch
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hier die Wirkkräfte des Feldes und das Spiel des Habitus zu erkennen. Für die Bera-
tung sind die Positionen von Bourdieu vor allem dahingehend von großer Bedeutung,
weil sie ein helles Licht auf die Scham werfen, die den sozialen Kämpfen um den
Lebensstil sowie um die Lebensweise und ihrer Anerkennung innewohnt.
2. Familie – Gesellschaft – Politik: Der familiale und der soziale Generationenvertrag und sein Bedeutungswandel
Seit den 1990er Jahren nimmt die Pflegebedürftigkeit älterer Menschen kontinuier-
lich zu (vgl. Kunstmann 2010, S. 73). Gleichzeitig wächst die Zahl derjenigen, die bis
ins hohe Alter selbstständig leben (vgl. Schneekloth 2005, S. 62 zit. n. Kunstmann
2010, S. 73). Seit 1999 hat der absolute Anteil der pflegebedürftigen Menschen die
Zwei- Millionen-Grenze überschritten und ist heute auf ca. 2,8 Millionen gestiegen.
Die Zahl der zu Hause versorgten pflegebedürftigen Menschen ist dabei erstaunlich
stabil und liegt bei einer Quote von ca. 70 % (vgl. Statistisches Bundesamt 2015).
Von diesem Personenkreis erhält etwa die Hälfte ausschließlich Pflegegeld, das heißt,
sie werden ausschließlich von Angehörigen versorgt. Im Zeitraum von 2005–2015
ist die Zahl der Pflegebedürftigen sprunghaft angestiegen. Der Anteil der pflegenden
Angehörigen steigt damit nominal deutlich an. Er würde nominal auch dann eine
beachtliche Größe bleiben, wenn die familiale Pflege prozentual zurückginge.
Kunstmann (2010) zeigt auf, dass innerhalb der Bundesländer deutliche Unterschie-
de bezogen auf die Pflege in der Familie sichtbar werden. So komme beispielsweise
der Heim-Pflege in Schleswig Holstein die höchste Bedeutung zu, während sie in Hes-
sen und Brandenburg die geringste Rolle spiele. Dabei konnten für Hessen Zusam-
menhänge zwischen einer geringen Relevanz der Heime und einer hohen Bedeutung
der familialen Pflege hergestellt werden, für Brandenburg wiederum nicht. Küsten-
länder wie Schleswig-Holstein ziehen zudem Rentner an, die hier meist entfernt von
der Familie ihr „junges“ Alter verbringen und an die Zeit der Pflegebedürftigkeit nicht
unbedingt denken. Außerdem wird angenommen, dass ein „skandinavischer Ein-
fluss“ die Pflege zur Sache von Professionen und Institutionen macht. Wie viel famili-
ale Pflege und Unterstützungssysteme von Professionellen und Institutionen gefördert
und gestützt werden und welche Bilder Professionelle haben, wie sie Entscheidungen
vorbereiten und die Lebenslage Pflege institutionalisieren, ist eine Leitbildfrage, die
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bearbeitet werden muss. Allerdings sind das Thesen und Annahmen. Es fehlen, so
Kunstmann, differenzierte Untersuchungen mit regionalem Fokus und Vergleiche von
urbanen mit ländlichen Gegenden ebenso wie genauere Analysen von Infrastruktur,
pflegerischer Kultur und sozialen Faktoren. Die Verteilung der Pflege zeigt aber, dass
das alte Urteil, dass Pflege in der Familie vor allem auf dem Land in den traditionel-
len ländlichen Familien vorherrscht und in urbanen Gegenden verschwinde, so nicht
greift. Vielmehr muss das Verhältnis von Pflegepolitik, Geschlechterpolitik und Fami-
lienpolitik deutlich stärker Berücksichtigung bei der Beurteilung der Entwicklung der
Pflege in Familien finden. Pflegepolitik gilt als Teil der Gesundheitspolitik und geht
vom Individuum aus, nicht von der Interdependenz der Generationen, der Familie
oder gar einer innerfamilialen Gerechtigkeit. Leitbild der Pflegepolitik ist souveräne
Seniorität und der Fokus liegt auf kombinierbaren und einkaufbaren Dienstleistun-
gen. Von der Familie wird die Pflege hier aufgrund kindlicher oder ehelicher Lo-
yalität quasi als vorstaatlich vorausgesetzt. In der Pflegepolitik finden sich deshalb
kaum Anstrengungen zum Schutz der familialen Pflege. Familienpolitik wiederum
blendet die späte Familie aus und beide Politikfelder haben eine große Distanz zur
Geschlechterpolitik und Geschlechterforschung. Beiden ist weiterhin eine eher funkti-
onale Sichtweise auf die Familie eigen. Der Alltag in den Familien, die Arbeitsteilung,
Männer- und Frauenrollen und Familienbilder werden von dieser Politik ebenso we-
nig erfasst, wie die Frage danach, wie in den Familien ein sinnvoller Alltagszusam-
menhang hergestellt werden kann. Vor allem in der Pflegepolitik dominiert das Bild
der Konsumgesellschaft und des funktionalen beliebig kombinierbaren Services.
2.1 Der demografische Wandel und die Familien heute
Seit den 1990er Jahren publizieren Theoretiker_innen aus Sozialpolitik, Gerontologie,
Psychologie, Soziologie, Gesundheitswissenschaften, Sozialethik u. a. regelmäßig zur
Zukunft der (häuslichen) Pflege und zur Sorge für die Hochaltrigen. Insbesondere
der Pflege in Familien wird wissenschaftlich ein Zusammenbrechen vorausgesagt,
sie wird gleichzeitig aber politisch unter dem Stichwort von Zivilgesellschaft bis zur
neuen Kultur des Helfens propagiert (vgl. Kunstmann 2010, S. 113). Der demo-
grafische Diskurs wird wissenschaftlich, wie Anne-Christin Kunstmann aufzeigt, „eng
geführt“, er sieht die Familie nicht als Institution mit einer ganz eigenen ethischen
Berechtigung, sondern fast immer im Zusammenhang mit den Funktionen, die die
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Familie für die Gesellschaft auszuüben hat. Die Familie soll die generative Reproduk-
tion bereitstellen, es sollen Kinder geboren und aufgezogen werden, Alte versorgt
und gepflegt werden. Die Familie soll die alltägliche Reproduktion bereitstellen. Sie
soll durch die spezielle Familienarbeit die Arbeitskraft erhalten und ist für das tägliche
Leben verantwortlich. Hierhin gehören auch die Gesundheitsleistungen. Schließlich
soll die Familie Erziehungsleistungen erbringen und auf diese Weise Werte und kul-
turelle Praktiken vermitteln sowie Normalität und Stabilität herstellen. Das alles leistet
die Familie, ohne dass ihre Produktivität ins Bruttosozialprodukt eingeht (vgl. Dierks
2008). Es handelt sich vielmehr um Schattenarbeit, zumeist von den Frauen erbrach-
te familiale Dienst- und Herstellungsarbeit. Wer Familien beraten will, muss deshalb
zunächst diese zumeist latenten Spannungen verstehen, denn bei der Frage, „wer
pflegt“, geht es im Kern immer darum, ob die Familie zu einer neuen Gerechtigkeit
findet, oder ob sie eben auf der Basis alter Ungleichheiten leben will. Zweitens müs-
sen Berater_innen im Gegensatz zur Politik nicht die Funktionen der Familie im Blick
haben, sondern ihren Alltag, es geht also nicht um Herstellung der Funktionsfähigkeit
der Familie, sondern um einen gelingenden Alltag (vgl. Thiersch 1992). Dazu sind
eine Rollenentwicklung in der Familie und die Reflexion von Denkweisen und Über-
zeugungen nötig. Im Folgenden werden deshalb Denkweisen aufgefächert, die das
Denken von Familien in Bezug auf die Pflege zu Hause beeinflussen.
2.2 Der Diskurs über die Alterslast
Der Diskurs über die Alterslast speist sich aus funktionalistischen und wertkonservati-
ven, modernisierungstheoretischen und ökologischen Argumenten. Begonnen haben
diese Diskurse zur Zukunft des Alters in den 1980er Jahren mit der Erfahrung der
ökonomischen Krisen. Die funktionalistische Argumentation ist sozialtechnisch und
fragt, wie Gesellschaften in Bezug auf die Verteilung von sozialen Leistungen funk-
tionieren bzw. welches Humankapital dazu vonnöten ist. Seit den 1980er Jahren ist
mit der Debatte um die Zukunft des Sozialstaates zudem ein funktionalistischer Dis-
kurs entstanden, der nach den Grenzen des Sozialstaates und seiner Finanzierbarkeit
fragt. Argumentiert wird hier vor allem technisch, mit empirischer Forschung und
langfristigen Prognosen sowie mit der Untersuchung von Aggregaten. Die Dynamik
der familialen Beziehungen und Bindungen können von diesem Forschungsansatz
nicht erfasst werden, weil er nur Merkmalsausprägungen misst und annimmt, dass
18
Pflege eine sozialnormative Einstellung ist; sprich dass aus Pflichtgefühl gepflegt wird
und dieses Pflichtgefühl verschwindet. Die Generationen werden als Ansammlung
von Individuen gesehen und nicht als eine soziale Interdependenz. In Bezug auf den
demografischen Wandel wird gefragt, wie viel „Bevölkerungsschrumpfung“ und nicht
produktiv tätige Menschen eine Gesellschaft sich erlauben kann, wie viel Verände-
rung in der Bevölkerungspyramide einer Gesellschaft zuträglich ist und vor allem
wann eine Gesellschaft durch die Versorgung von bedürftigen, aber nicht selbst pro-
duktiv tätigen Menschen quasi aus der Normalität herausfällt.
Umgekehrt wird gefragt, welche Rollen, Institutionen und Funktionen gestärkt werden
müssen, um eine Gesellschaft funktional zu erhalten. In Bezug auf den funktionalis-
tischen Diskurs, an dem Bevölkerungswissenschaftler_innen, Soziolog_innen, Wirt-
schaftswissenschaftler_innen und Politikwissenschaftler_innen beteiligt sind, werden
in Bezug auf die Pflegebedürftigkeit gesamtwirtschaftliche Risiken und nicht zuletzt
Probleme der Legitimation diskutiert (vgl. Koslowski 1990; kritisch dazu Kunstmann
2010). Alle Argumente fokussieren das Problem der Alterslast(-quote) und die aus
der Alterslast entstehenden Risiken für die Gesellschaft und ihre Subsysteme. Pfle-
gebedürftigkeit wird definiert als Risiko für die Alten, als Last für die Jungen und
für die gesamte Gesellschaft (vgl. Kunstmann 2010, S. 62ff.). Mit dieser doppelten
Argumentation, Risiko für die Alten und Last für die Gesellschaft, relativiert sich die
Solidaritätsnorm. Es entsteht eine Art Pflicht der Pflegebedürftigen, der Gesellschaft
nur in dem Rahmen zur Last zu fallen, wie diese im Stande ist, die Last zu tragen.
Die Diskurse um die Zukunft der Solidarität und die Grenzen der Finanzierbarkeit des
Sozialstaates bekommen durch einen weiteren Diskurs Unterstützung, da die Pra-
xis und der Alltag der Pflege zu Hause von Belastungen gekennzeichnet ist. Diese
Debatte um die Belastung der konkreten Pflegeperson durch den pflegebedürftigen
Menschen moralisiert das Thema noch einmal.
Die Belastung scheint zudem immer vom Pflegebedürftigen auszugehen. Ausge-
blendet wird jedoch die verletzliche Lebenslage der pflegenden Angehörigen, die
schwierige Familiendynamik, wenn Geschwister oder Partner sich zurückziehen, die
Schuldzuweisung gerade gegenüber den Frauen, die versuchen, die Familie zusam-
menzuhalten und die Pflege mit der Familienarbeit zu synchronisieren. Pflege zu den
Bedingungen des traditionellen Generationenvertrages, auch wenn dieser für die
funktionalistische, wertkonservative und strukturalistische Argumentation als Garant
19
verstanden wird, ist aus der Perspektive der Praxis weder wünschenswert noch zu-
mutbar. Eine alleinverantwortliche Pflegeperson, die Buchstabierung von Pflege als
Frauenschicksal und Frauensache und die damit einhergehenden Konfliktdynamiken
in Familien, sind in der Familienberatung ein wichtiges Problem. Auch im Zusam-
menhang mit der These von der gesellschaftlichen Modernisierung wird der Sorge
für die Alten nur noch der Status einer „Restsolidarität“ zugebilligt. Diese Solidarität
sei traditional begründet und würde sich mit zunehmendem Modernisierungsprozess
auflösen. Zudem fokussiert der Modernisierungsdiskurs ein Argument, welches in
der Geschlechterforschung eine beachtliche Rolle spielt: die Debatte um die sinken-
de Pflegebereitschaft der Frauen. Frauen von heute, so die Geschlechterforscherin
und Modernisierungstheoretikerin Elisabeth Beck-Gernsheim (1993), seien anders als
die Frauen von gestern und würden sich die Sorge weder für Kinder noch für Alte
nicht mehr zu den Bedingungen des alten Generationenvertrages zumuten lassen
(vgl. S. 159). Vor allem in der gestiegenen Erwerbsorientierung von Frauen sehen
die Modernisierungstheoretiker_innen das zentrale Hindernis, da die Verantwortung
für die Sorge und die Pflege die Möglichkeiten zur Erwerbsarbeit stark einschränke.
Da Erwerbsarbeit ein integrierter Bestandteil des weiblichen Lebensentwurfes sei, falle
das Caregiving aus der weiblichen Normalbiografie zunehmend heraus. Während
die Modernisierungstheoretiker_innen die Prognosen zur sinkenden Pflegebereitschaft
und zum Rückgang der Sorge aus der Modernisierungsdynamik als Sachlogik der ge-
sellschaftlichen Entwicklung selbst ableiten, steht ihnen eine wertkonservative Position
gegenüber, die die Problematik zur Zukunft der Sorge moralisch bearbeitet.
Hier wird vor allem eine Verantwortung für künftige Generationen formuliert und
der Generationenkonflikt aus der Perspektive der Jungen neu bestimmt. Junge Leute
weigerten sich, Kinder zu bekommen, so die Argumentation (vgl. Koslowski 1990)
weil sie zu viel Geld im Rahmen von sozialstaatlichen Transferleistungen für die Alten
auszugeben hätten. Damit untergrabe der Sozialstaat die Familie und säge den Ast
ab, auf dem er sitzt. Der Sozialstaat alter Prägung im Sinne eines Wohlfahrtsstaates
habe sich überlebt. Er sei aus einer historischen Situation von Kriegen und sozialen
Krisen entstanden (vgl. ebd., S. 56). Heute spielten jedoch diese Kriterien der Abwen-
dung von Not bedingt durch Kriegsfolgen, Flucht, Vertreibung kaum noch eine Rolle.
Insofern komme dem Staat nicht mehr die Aufgabe der Daseinssorge zu, sondern
lediglich die Aufgabe der Abwendung von unmittelbarer Not.
20
2.3 Die Utilitaristen oder wenn das Leben zur Schuld wird
Die Übersteigerung der funktionalistischen Argumentation von der Alterslast wird noch
einmal zugespitzt durch utilitaristische Positionen auf der Basis einer utilitaristischen
Sozialethik. Diese fragt nach dem Verhältnis von Würde und Wert eines Menschen.
Bekannt ist hier die Position von Peter Singer (vgl. Kunstmann 2010, S. 54). Während
die funktionalistische Argumentation das Verhältnis von Ökonomie und Ethik bein-
haltet (Diessenbacher 1990), fokussieren utilitaristische Positionen vor allem ein Men-
schenbild, welches direkt nach der grundsätzlichen moralischen Schutzbedürftigkeit
von Hochaltrigen, Pflegebedürftigen und Menschen in der letzten Lebensphase fragt,
so Kunstmann (2010, S. 54). Bei Singer gelten Vernunft und Selbstbewusstsein als
Kriterien des Menschseins. Das alte, kranke und sterbende Leben besitzt im Rahmen
dieser Position keinen oder nur einen geringen Wert und sei deshalb auch nicht mehr
uneingeschränkt schützenswert. Die gewonnenen Jahre seien teure Jahre, so diese
Argumentation weiter (ebd.), die aufgrund des Anstiegs der Ausgaben für Medizin
und Pflege weder für die betroffenen Menschen einen großen Wert hätten, weil sie
zwar lebten, aber nicht selbstständig bzw. gar von Sinnen seien. Möglicherweise litten
sie unter ihrer Existenz, möglicherweise seien sie sogar durch eigene Schuld in die
Lage gekommen, für andere eine Last zu sein. Aus allem ergibt sich, dass der Lebens-
abschnitt der Pflegebedürftigkeit eine gestufte Wertigkeit und Würde der betroffenen
Menschen hat, wodurch Aggressionen gegen sie strukturell legitimiert sind. Die Sor-
ge für eben diese pflegebedürftigen, unzurechnungsfähigen und aus utilitaristischer
Sicht wertlosen Alten bedeutet dann auch eine Hinderung an der Selbstentfaltung für
diejenigen, die sich um die pflegebedürftigen Personen kümmern. Sie geraten in die
„Pflegefalle“, anstatt sich selbst zu entfalten, und sie werden an die Siechen, Kranken
und Sterbenden gebunden, was faktisch einer Strafe gleich kommt. Bezogen auf die
Familien ist zu berücksichtigen, dass auch in Familien ein solches Denken – Leben als
Schuld – vorherrschen kann (vgl. Gröning u. a. 2004). Pflegende Angehörige können
auf diese Weise in einen Legitimationsdruck geraten. Sie machen nicht nur die Pflege
vielleicht allein, sondern müssen sich auch Vorwürfe gefallen lassen, warum der Pfle-
gebedürftige noch nicht gestorben sei.
Auf den utilitaristischen Diskurs haben vor allem Ethiker_innen und Theolog_innen
kritisch reagiert. Eine besondere Position hierzu hat das Theologen-Ehepaar Mari-
anne und Reimer Gronemeyer. Die Familie sei am Ende, eine Sorge und Pflege für
21
die Alten werde es in Zukunft kaum noch geben, weil das moralische Gefühl der Zu-
sammengehörigkeit in Familien fehle. An die Stelle der familialen Gegenseitigkeit sei
die Versorgung durch Institutionen getreten. Bei Gronemeyer ist die Familie tot. Das
Dach, unter dem Generationen lange Zeit gemeinsam gesessen hätten, sei zerstört.
Grund dafür sei der Zwang zur Liebe und zum gegenseitigen Verständnis, weil die
Familie nicht mehr Interessengemeinschaft sein durfte, sondern Gefühlsgemeinschaft
sein musste, wurde sie zerstört. Die Familie sei deshalb kein Schutzbündnis der Gene-
rationen mehr, sondern eine Brutstätte von Gewalt und Krankheiten (vgl. Gronemey-
er 1994, S. 93f). Gronemeyers Position ist ungeheuer populär. Sein 1989 in erster
Auflage erschienenes Buch „Die Entfernung vom Wolfsrudel“ ist in sechs Auflagen
erschienen. Wie auch in den anderen Diskursen werden hier Positionen zur Gene-
rationsbeziehung und zur Pflege in sehr unterschiedlichen sozialen Milieus sichtbar.
Wer Familien berät, wird sich mit diesen Denkweisen auseinandersetzen müssen bzw.
sollte sie zumindest kennen.
2.4 Pflegearbeit, Sorgearbeit, Hausarbeit
In ihrer Dissertationsschrift (vgl. Dierks 2005) setzt sich Marianne Dierks mit dem Teil
menschlicher Existenz auseinander, deren Bewältigung früher unhinterfragt den Frau-
en zugeschrieben wurde; also die Arbeit, deren Verrichtung von der Frauenbewegung
und der feministischen Forschung als wesentliche Ursache für die Diskriminierung
von Frauen in unserer Gesellschaft identifiziert worden ist (vgl. Dierks 2008, S. 63ff).
Dierks argumentiert, dass Hausarbeit bzw. Reproduktionsarbeit, von der auf das Kind
bezogenen Alltagsarbeit über die konkrete materielle Hausarbeit bis hin zur psycho-
sozialen Unterstützung der Familienmitglieder und der Bildungsbegleitung für die
Kinder entwertet ist. Diese Entwertung bezieht sich auf folgende Dimensionen:
•
•
•
•
eine monetäre Gegenleistung oder soziale Sicherheit für die Hausarbeite-
rinnen fehlt;
Familienarbeiterinnen werden auf dem Arbeitsmarkt benachteiligt;
Familienarbeit wird als Nichtarbeit entwertet und hat nur ein geringes so-
ziales Prestige;
Hausarbeit wird durch die Definition als private Arbeit in Bezug auf ihre
22
•
•
Die Entwertung der Familienarbeit heute wird als so massiv empfunden, dass auch
die Politik von einer „strukturellen Rücksichtslosigkeit“ der Gesellschaft gegenüber
Eltern mit Kindern spricht (vgl. Bundesministerium für Familie und Senioren 1994,
S. 21). Alltagsvergessen sei die bundesrepublikanische Gesellschaft, zitiert Dierks
(2008, S. 64) eine Reihe von Experten (vgl. Beik/Spitzner 1995). All dies passiert,
obwohl der Umfang der gesamten unbezahlten Arbeit in Deutschland 96 Milliarden
Arbeitsstunden beträgt, das Gesamtvolumen der Erwerbstätigkeit dagegen nur 56
Milliarden Stunden; d. h. der Umfang der unbezahlten Arbeit ist um das 1,7 fache
höher ist als das der Erwerbsarbeit, so Dierks (2008, S. 64).
Dierks hat herausgefunden, dass die Entwertung der Familienarbeit vor der Fami-
lie und auch vor den Frauen keineswegs Halt macht. Im Gegenteil ist eine wichti-
ge Erkenntnis ihrer Studie, dass gerade die berufsorientierten Frauen ihre doppelte
Belastung gar nicht mehr wahrnehmen. Der „mütterliche Blick“ auf die Familie hat
sich verändert. Er ist ebenfalls funktional geworden. Die gesellschaftliche Entwick-
lung zur Dominanz der Erwerbstätigkeit würde nicht durch ein „Mehr“ an innerfa-
milialer Gerechtigkeit ausgeglichen, sondern individualisiert, das heißt anstelle von
Gerechtigkeit ist die Rede von der freien biografischen Entscheidung der Frauen.
Und die Individualisierung der Familienarbeit als freie biografische Entscheidung der
Frauen betrifft eben auch die Frage der Pflege. Gleichzeitig wird Berufsarbeit heute
entgrenzt. Die Vereinbarung von Beruf und Familie führe, wie Dierks eine Reihe von
Studien anführt, zu einer „Verbetrieblichung der Lebensführung“ oder „Taylorisierung
des Familienlebens“ (Oechsle 2002, S. XIII). Gemeint ist damit, dass die Ganzheit der
Familienarbeit in sehr kleine Teile zerlegt wird und daraus Funktionen entstehen, die
delegiert werden können, die sich umgekehrt aber wieder auf die Familie auswirken.
Man muss nicht mehr kochen, sondern kann essen gehen oder sich etwas bestellen,
Wohlfahrtsproduktion unbewusst gemacht und ins gesellschaftspolitische
Abseits gedrängt;
Haus- und Familienarbeit wird biologisiert und als Naturressource, die be-
liebig ausbeutbar ist, angesehen;
Reproduktionsarbeit gilt als unqualifiziert und sei der Gesellschaft nichts
wert, auch wenn diese Arbeit dringend benötigt werde. (vgl. Arn 1997/3;
Hungerbühler 1988; Kettschau/Methfessel/Piorkowsky 2000; Kontos/Wal-
ser 1979; Meier 2002; Ochel 1989; Pross 1975; Schneider/Schweitzer
2001; Schweitzer 2001; Stiegler 1997).
23
man hat ggf. eine Hilfe beim Putzen etc. Das alles kostet aber Zeit und Geld. Übrig
bleibt, dass die Familie trotzdem wieder synchronisiert werden muss. Zwar stehen
sehr viele Serviceleistungen der Konsumgesellschaft zur Verfügung, sie müssen aber
immer wieder zu einem sinnvollen Ganzen zusammengebracht werden.
Dierks‘ Fazit aus ihrer Forschungsarbeit ist, dass die häusliche Arbeit aus den Erzäh-
lungen der Frauen verschwindet. Sie managen, aber sie reden nicht mehr darüber.
Sie trivialisieren teilweise selbst die Hausarbeit und ihre Arbeit in der Familie. Dierks
(2008) kommt zu folgendem Ergebnis: „Hiermit werden nicht nur gesellschaftlich
und individuell notwendige Tätigkeiten missachtet, sondern auch eine wesentliche
Grundlage der Für- und Mitsorge im alltäglichen Zusammenleben trivialisiert, und
der Versorgung von hilfebedürftigen Menschen werden Wertschätzung und Anerken-
nung entzogen“ (S.69). Abwehrend und reserviert hätten sich die befragten Frauen
in Bezug auf diesen Teil ihres Lebens geäußert. Im Vergleich zur Berufsarbeit gelte
diesen Frauen die Hausarbeit als nachrangig und wertlos. Es fehle, so Dierks (2008,
S. 69) an Möglichkeiten, geleistete Haus- und Sorgearbeit als positiv und wertvoll
darzustellen und sich so zu präsentieren.
Dies gelte besonders für aufstiegsambitionierte Familien und Frauen. Dierks (2008)
kritisiert die Formel von der Vereinbarkeit von Beruf und Familie oder (für den Ge-
genstand des Studienbriefs) der Vereinbarkeit von Pflege und Beruf. Diese Formel
suggeriere, dass es sich um gleichberechtigte Bereiche handele. Dabei sei die Er-
werbsarbeit eigentlich dominant. Die Arbeitsteilung zwischen Beruf und Familie, die
früher zum Ausschluss aus der Berufsarbeit geführt hat, werde jetzt vor allem von den
Frauen innerhalb des eigenen Lebens geleistet. Es entstünden Zerreißproben und
Spannungen. Um eine echte Balance zwischen Beruf und Familie zu ermöglichen,
sind aus der Sicht von Dierks‘ Studie institutionell abgesicherte Freiräume herzustel-
len, die die generative Familienarbeit schützen. Dazu gehören sowohl einzelbetrieb-
liche Angebote zur Überbrückung familienzyklischer Phasen wie auch gesetzgebe-
rische Vorgaben für den Arbeitsmarkt. Eine einzig auf Fremdbetreuung und Service
ausgerichtete Politik ist bei der Versorgung von Kindern genauso eindimensional wie
von Hochaltrigen. Das „Nanny-Modell“ bei Kindern wie bei Alten, die Illusion, dass
die Hausarbeit durch Dienstboten und Services zu bewältigen sei, vernachlässigt die
Synchronisierungsleistungen, die Frage der Wertschätzung und des Lebens in Fami-
lien. Ohne dass Männer und Frauen sich diesen Fragen gemeinsam stellen, ist die
Bewältigung der Herausforderungen eine Illusion.
24
2.5 Die vergeschlechtlichte Pflege
Dass Pflege zu Hause wie in professionellen Institutionen stark feminisiert ist, ge-
hört zu den durchgängigen Erkenntnissen in allen Pflegestudien. Erst kürzlich hat der
DAK-Report mit einer Angabe unter den eigenen Mitgliedern aufgerüttelt und von
90 % Frauenanteil bei der Pflege zu Hause gesprochen (vgl. DAK Report 2015, S.
20). Insgesamt schwanken die Zahlen je nach Forschungsstandpunkt und Stichpro-
be der Untersuchungen. So spricht der Männerforscher Manfred Langehennig von
einer Entwicklungslinie des zunehmenden männlichen Engagements in der familia-
len Pflege. Schon im Vierten Altenbericht von 2002 wurde von einem überraschend
hohen Engagement der Männer gesprochen. In der Studie über die Möglichkeiten
und Grenzen selbstständiger Lebensführung im Alter (MUG III) ist die Rede von 27
% Männeranteil an der Pflege; vor allem das Engagement der älteren Männer habe
deutlich zugenommen (vgl. Langehennig (2009, S. 44). Langehennig (2009) betont,
dass 1991 der Männeranteil in der Pflege laut MUG III lediglich 17 % betragen habe,
danach also innerhalb von 15 Jahren um 10 % gestiegen sei (vgl. ebd.).
Die Quoten aus der repräsentativ gestalteten Erhebung des TNS Infratests liegen bei
72 % weiblichen und 28 % männlichen Hauptpflegepersonen, Tendenz steigend (vgl.
Schmidt/Schneekloth 2011, S. 27). In der Evaluation des Projektes „Familiale Pflege“
sind im Mittel 74,8 % der Pflegenden weiblich. Allerdings fällt auf, dass der Anteil der
Frauen bei der Pflege von Angehörigen mit Demenz in unseren eigenen Evaluationen
auf 81,1 % Frauen ansteigt (vgl. Seifen/Kamen 2015, S. 21). Es ist dieser Anstieg
des Frauenanteils an der Pflege bei Demenz und eine weitere Zahl, nämlich die
der geringen Hilfenetzwerke pflegender Ehefrauen, die zeigt, dass die Pflege durch
Frauen eine ganz besondere qualitative Problemlage mit sich bringt. So konnten wir
feststellen, dass ca. 29 % der Pflegepersonen ohne weitere Unterstützung durch Fa-
milienangehörige pflegen. Vor allem allein pflegende Ehe- oder Lebenspartnerinnen
gehören mit 44 % zu dieser Risikogruppe, wohingegen nur 23 % der pflegenden
Partner allein pflegen. Und auch bei der Elternpflege fällt eine deutliche ‚Gender
Gap‘ auf: Während 20 % der Töchter allein verantwortlich sind, sind es nur 6 % der
pflegenden Söhne, die ohne familiale Hilfe auskommen müssen (vgl. Seifen/Kamen
2015). Gekoppelt mit kumulativen Benachteiligungen im Lebenslauf wie Lohndiskri-
minierung entsteht schließlich durch die Vergeschlechtlichung der Pflege eine eigene
problematische Lebenslage besonders der pflegenden Frauen, die jedoch nur auf
25
mehreren Ebenen zu verstehen ist. So sind familiendynamische Prozesse hier genau-
so zu berücksichtigen wie gesellschaftliche Bewertungen von Frauenarbeit, Lohndis-
kriminierung, diskontinuierliche Erwerbsbiografien oder Einstellungen und Denkwei-
sen von Professionellen über die pflegenden Frauen.
2.6 Symbolische Gewalt
Der Soziologe Pierre Bourdieu (2005) hat das Geschlechterverhältnis als ein Verhältnis
der symbolischen Gewalt bezeichnet. „Männlich“ und „weiblich“ nennt er verwoben
mit Kategorien von Über- und Unterordnung, die von Herrschenden wie Beherrsch-
ten anerkannt werden (vgl. Bourdieu 2005, S. 7). Bourdieu staunte ferner über die
scheinbare Mühelosigkeit, mit welcher sich diese Doxa, die Blindheit und Unbewusst-
heit gegenüber den Machtverhältnissen, und das Unvermögen, diese Verhältnisse
in Frage zu stellen, sich immer wieder erneuerte. Er schrieb dies dem Habitus zu,
einem Phänomen, welches sich im Laufe der Sozialisation dadurch verfestigt, dass
eine gesellschaftliche Ordnung in den Körper und die Psyche eingeschrieben wird.
Bourdieu weist darauf hin, dass das Verhalten von Männern und Frauen viel seltener
geschlechtsspezifisch ist als vielmehr kontextabhängig. Es wird nur in dem Moment
im Sinne der Geschlechterordnung geglättet, in welchem über das Verhalten gespro-
chen wird. Dann erscheint etwas typisch oder untypisch, richtig oder grenzwertig, so
dass es durch die Sprache zur Klassifikation und gleichzeitig zu einer Herstellung von
symbolischer Ordnung komme (vgl. Bourdieu 2005, S. 11).
In den an der Universität Bielefeld durchgeführten qualitativen explorativen Studien
zur Pflege von Frauen hat sich die Forscherinnengruppe vor allem mit dem Zusam-
menhang von Vergeschlechtlichung und dem Zusammenhalten der Familie, der Her-
stellungsleistung oder „doing family“ befasst. Danach erfolgt die Deutung der Pflege
auch innerhalb der Familie auf der Ebene der Tradition, im Sinne von linearen Ethi-
ken. Entweder tut man das für seine Eltern, was die Eltern einem selbst getan haben
(vgl. Schultheis 1993, Bourdieu 1997) oder die Pflege ist eine „freie“ Entscheidung.
Meist wird diese freie Wahl zur Pflege demenzkranker Personen von Ehefrauen/Part-
nerinnen, Töchtern und Schwiegertöchtern getroffen. In diesem Kontext werden dann
Werte bedeutsam, die aus dem Rollenhandeln der jeweiligen Familienmitglieder ent-
stehen. Die für die Familienarbeit hauptverantwortlichen Frauen deuten die Pflege
26
aus ihrem jeweiligen Familienverständnis, welches Jurczyk/Schier (2007) „Familien
als Herstellungsleistung“ nennen. Familie ist hier eine Integration von zeitlichen, rol-
lenbezogenen, materiellen, funktionalen und emotionalen Dimensionen zu einem
sinnhaften Ganzen. Diese sinnhaften Handlungsketten werden von Jurczyk/Schier
(2007), aber auch von Hans Bertram (2000) „doing family“ genannt. Wertekonflikte
in Familien entstehen, wenn diese Integration nicht mehr gelingt. In diesem Zusam-
menhang ist das Erleben von Pflegeverantwortung in der Familie vom sozialen Ort
geprägt, an dem eine Familie lebt. Dieser soziale Ort beeinflusst das Rollenarrange-
ment, das Verhältnis der Generationen und die hier zu Grunde liegende Moral.
Beratung, so viel sei gleich gesagt, muss sich diesen sinnhaften Dimensionen der
jeweiligen Lebenswelten und Milieus zuwenden, sonst wird sie ihre Ziele verfehlen.
Gerade in unseren Fallstudien konnten wir im Zusammenhang mit den Erzählun-
gen pflegender Frauen nachvollziehen, warum sie die Pflege auch dann fortführten,
wenn sie ohne Netzwerk pflegten oder wenn sie für die Pflege von der Familie kaum
Anerkennung bekamen. Die Sinnstrukturen ihrer Lebenswelt bezogen sich darauf,
die Familie durch die Pflege zusammenzuhalten und dieses sahen sie als ihre ur-
eigene Aufgabe an. Es war nicht so, dass diese Frauen über die gesellschaftlichen
Konsequenzen der Pflegetätigkeit nicht aufgeklärt waren. Sie wussten um die Be-
nachteiligungen auf dem Arbeitsmarkt oder dass sie für ihre Arbeit in der häuslichen
Pflege später einmal mit Altersarmut würden bezahlen müssen. Auch haben wir keine
Begründungen mehr gefunden, dass die Pflege eine natürliche Sache der Frauen
ist. Vielmehr teilten uns die befragten Frauen mit, wie diese Pflege aus den fortlau-
fenden Generationsbeziehungen entwickelt worden ist, so dass „Natürlichkeit“ und
Selbstverständlichkeit, die als Motiv für die Pflege angegeben wurde, etwas zu tun
hatte mit der Kontinuität des Austausches von konkreten und symbolischen Leistungen
zwischen den Generationen in einer Familie, die man nicht mehr zählte. Man lebte
schon Jahrzehnte Tür an Tür und half sich, man lebte entfernter voneinander, war
aber im Notfall verfügbar, man hatte die Sorge für die alten Eltern seit langer Zeit so
geplant, man hatte eine gemeinsame Flucht- und Vertreibungsgeschichte oder eine
andere Geschichte als Minderheit, man hatte Erfahrungen mit der Versorgung von
Institutionen und wollte dieses Schicksal den eigenen Eltern ersparen – dies sind nur
einige der Begründungen, die zeigen, dass die Verwobenheit in Beziehungen, die seit
langer Zeit auf Geben und Nehmen beruhen, einen wichtigen Kern des familialen
Generationenvertrages ausmacht. Entsprechend sind die pflegenden Frauen mit ei-
ner gewissen „Wir-Erwartung“ in die Pflegesituation hineingegangen. Die Pflegekrisen
27
zeichneten sich dadurch aus, dass dieses Ineinander, diese Verwobenheit und Inter-
dependenz von Geben und Nehmen mit der Pflegebedürftigkeit und der Frage der
Verantwortungsübernahme endet und nun eine Art Kontoklärung die Familiendyna-
mik bestimmt (vgl. Buchholz 2007). Das lange geltende Wir zwischen den Generatio-
nen und in der Geschwisterreihe macht Platz zu Gunsten eines „Kassensturzes“. Und
hier stellt sich heraus, dass es in der Familie durchaus unterschiedliche „Währungen“
gibt, dass die Schwester z. B. anders zählt als der Bruder, wenn es um die Pflege der
demenzkranken Mutter geht. Während, wie Kunstmann (2010) in ihrer Dissertation
hervorhebt, bei den Frauen Aspekte der Verbundenheit in den Vordergrund rücken,
rücken bei den Männern Aspekte der Natürlichkeit der Arbeitsteilung oder Schicksals-
haftigkeit in den Vordergrund.
Daneben haben wir vorgefunden, dass die pflegenden Frauen nur sehr unzurei-
chend auf ihre Rolle vorbereitet sind. Die vorwiegend auf Verrichtungen ausgerich-
teten Pflegekurse bilden nur einen winzigen Teil von dem ab, was die Aufgaben der
pflegenden Angehörigen letztlich ausmachen. Alltagsbilder über die Pflege, die diese
vor allem als Körperpflege sehen, ignorieren den enormen organisatorischen Auf-
wand, wie z. B. die Bearbeitung von Anträgen und die Sicherung des Alltags durch
Vermögenssorge und Ähnliches. Angehörige üben zunehmend advokatorische Rol-
len aus. Sie vertreten die Interessen der Pflegebedürftigen gegenüber Dritten, das
ist ein Gegensatz zu den eher dienenden Bildern über die gute Pflege. Schließlich
sind noch spezielle Kompetenzen zu erwähnen, wie sie z. B. für die demenzgerechte
Pflege nötig sind, und letztlich weiten sich die materielle Hausarbeit und die zeitliche
Synchronisierungsarbeit zwischen Familie und Pflege deutlich aus (vgl. dazu auch
Dierks 2005). Wir haben dies am Fall von Familie R. (siehe Kapitel 6.5.1) aufgezeigt,
den wir für repräsentativ für eine ganze Gruppe von vor allem therapeutisierenden
Deutungsmustern halten (vgl. Gröning/Röwekamp 2007, Gröning 2005).
28
2.7 Zwischenfazit: Welche Fähigkeiten müssen Familien entwickeln, um die Entwicklungsaufgabe der Pflege zu meistern?
In der Beratung von Familien wird die Pflegetrainerin, der Pflegetrainer immer wieder
auf Denkweisen und Haltungen treffen, die den genannten Diskursen entstammen.
Zu beraten heißt eben auch zu reflektieren. Ohne Reflexion breitet sich in den Fa-
milien ggf. ein vergeschlechtlichtes, utilitaristisches oder sehr funktionales Denken
aus, welches die zu lernenden Fähigkeiten von Beginn an konterkariert oder zerstört.
Die Rolle kann nicht gelernt werden, wenn Denkweisen und Überzeugungen wie die
eben aufgeführten in den Familien vorherrschen. Familienberatung heißt auch diese
Denkweisen anzusprechen und vor allem die Risiken aufzuzeigen, die darin liegen,
eine hauptverantwortliche Person mit der Pflege allein zu lassen, die Pflege als freie
biografische Entscheidung zu betrachten, um zu betonen, dass man selbst eine an-
dere biografische Entscheidung getroffen habe oder die Sorge in den Gegensatz zu
Geschlechterrollen oder zur Modernisierung zu stellen. Am Beispiel der Familie R.
sollen diese Dimensionen aufgezeigt werden (vgl. Kap. 6.5.1).
29
3. Pflegebedürftigkeit als Problem der Neuausrichtung von Rollen (Lerneffektstudie)
Im Studienbrief zur Familiendynamik haben wir den Eintritt der Pflegebedürftigkeit
vor allem auf der Basis eines Modells von Entwicklungsaufgaben im Familienzyklus
bezeichnet sowie aus der Familiendynamik von Loyalität heraus begründet. Aufgrund
von eigenen Befragungen der Pflegetrainer_innen ist indessen ein rollentheoretischer
Aspekt hinzugekommen, der die Krise der Familien als Zusammenbrechen und Neu-
aufbau von Rollen beschreibt. Eine instrumentelle Rolle schiebt sich in ein ggf. jah-
relanges Gefüge von Arrangements, von Arbeitsteilung und Alltag. Auf die Familie
wartet eine Fülle von neuen Aufgaben, die sie in bestehende Rollen integrieren muss.
Gleichzeitig ist die Familie erfahrungsarm. In eigenen explorativen Studien (vgl. Grö-
ning/Lagedroste/Kamen 2015) haben wir folgende Dimensionen des Rollenlernens
gefunden:
•
•
•
•
•
•
Ob die Rollen angenommen werden können, hängt zu Beginn der Pflegebedürftig-
keit mit einer Fülle von Faktoren zusammen: Vorwissen, Ressourcen, Motivation, all-
gemeine Handlungskompetenz, Erwerbsarbeit bzw. ein familienfreundlicher Betrieb.
Angehörige lernen zudem im Kontext einer unmittelbaren Vertrauensbeziehung ihre
neue Rolle. Der Zeitpunkt der Auseinandersetzung mit neuen Rollen und der Prozess
der Rollenübernahme beginnt dann, wenn die Pflegebedürftigkeit feststeht und häu-
fig die Entlassung aus dem Krankenhaus geplant oder umgesetzt wird. Der Erfolg
beim Aufbau der neuen Rolle wird positiv beeinflusst von einer stabilen unmittelbaren
Lernbeziehung im Rahmen eines Vertrauensverhältnisses. Auf diese Weise kann sich
der Möglichkeitssinn der Angehörigen erweitern und es entstehen Verständnis- und
Handlungsspielräume. Von Bedeutung für die erfolgreiche Wahrnehmung der Rolle
ist die Reflexion von Normalitätsängsten und Schamgefühlen. Daneben spielen das
Annahme der Rolle und ihre Störungen
Differenzierung der Rolle
Erfolgreiches Rollenhandeln durch Erlernen pflegerischer Handlungskom-
petenz
Kompetenzentwicklung im Umgang mit dem Gesundheitsmarkt
Transformierung und Aufgabe der Rolle
Umgang mit Krisen.
30
pflegerische Verrichtungslernen, die Hygiene und die Organisation des Alltags eine
wichtige Rolle für die erfolgreiche Bewältigung des pflegerischen Alltags.
Ein eigenes Rollensegment ist der Umgang mit den Akteur_innen des Gesundheitswe-
sens, mit Pflegediensten, Pflegekassen und Einrichtungen. Schließlich ist eine Balance
von Pflegen und Leben zu erlernen. Die Rollendifferenzierung kann sich z. B. aus der
Balance von Pflegen und Leben, aus dem Pflegenetzwerk und der Einbeziehung von
Dienstleistungen ergeben. Zur Rollenübernahme gehört ebenfalls die Auseinander-
setzung mit informellen Rollen – Schuld, Macht, Loyalität. So sind regressive Rollen-
entwicklungen zu reflektieren und Kollusionen im Kontext der Rolle zu vermeiden.
Kollusionen sind dabei Rollenentwicklungen, in denen der eine Partner nur eine Seite
des Konfliktes lebt und der andere Partner nur die andere Seite. Jürg Willi (1975) hat
dies als progressive-regressive Konstellation bezeichnet. Es kann es passieren, dass
sich die Rolle so entwickelt, dass ein Partner nur noch passiv und der andere nur noch
aktiv ist. Dann spricht man von rollengebundener Abwehr. Dies kann auf der Ebene
der Pflege vorkommen, dann wird der eine Partner zum Pflegling und der andere
zum Helfer, oder auf der Ebene der Macht, dann wird der eine machtvoll und der an-
dere ohnmächtig. Vor allem Hilfsbedürftigkeit kann laut Buchholz (2007) zur Macht
führen, wenn der andere Partner die Rolle des Schuldigen übernimmt. Opferrollen,
Machtrollen, Pfleglingrollen, Helferrollen sind die häufigsten der rollengebundenen
Abwehr in der Pflege.
31
4. Normalismus und die Grenze der Respektabilität – wie Familien über Pflegebedürftigkeit denken
Familien und ihre Wertesysteme sind nicht isoliert zu betrachten, sondern stehen in
Abhängigkeit zu den Werten des sozialen Milieus, in dem die Familie lebt, sowie
zur gesamten Gesellschaft. Ein durchgängiges Wertesystem ist die Normalität, der
Wunsch der Familie, als normal und gesellschaftlich integriert, ehrbar und respekta-
bel zu gelten. Pflegebedürftigkeit kann nun im Rahmen des Familienzyklus als etwas
Normales und Selbstverständliches oder als etwas Beschämendes und Unehrenhaf-
tes angesehen werden. Zu den beschämten Alterskrankheiten gehören die Demenz,
in Teilen auch Depression und ähnliche psychiatrische Erkrankungen und Suchtpro-
bleme bzw. Suchterkrankungen im Alter – auch z. B. eine alkoholbedingte Demenz.
Dies berührt das Normalgefühl der Familien bzw. den Normalismus.
Beschrieben wurde die Spielarten des Normalismus vom Kulturwissenschaftler Jürgen
Link (2013). Link zeichnet die historische Entwicklungslinie des Normalismus dahin-
gehend, dass Messdaten über die gesamte Bevölkerung zunächst seit dem frühen
19. Jahrhundert flächendeckend und routinemäßig erhoben wurden, um Massen-
verteilungen empirisch rekonstruieren zu können. Diese Verdatung habe, so Link, mit
direkt physisch messbaren Feldern wie Geburten und Sterbefällen begonnen, welche
eine wichtige Datenbasis für den Aufstieg des normalistischen Versicherungswesens
lieferte, sei über ökonomische Daten wie Besitz, Waren- und Kapitalströme weiter-
gegangen, um ein Steuerwesen aufzubauen, über meteorologische Daten, körper-
bezogene, medizinische Daten (Körpertemperatur, Blutdruck usw.) und soziologische
Daten wie die Einkommensverteilung usw. Link beschreibt aber nicht nur das Phäno-
men von Big Data, er analysiert auch den spezifisch normalistischen Blick, der mit der
Verdatung einhergegangen sei. Mit Hilfe der Daten war es möglich, eine Verteilung
zu sehen. So konnte das mehrheitliche und das mittlere Maß zum Normalen erklärt
werden, wohingegen an den Rändern das Nicht-Normale angesiedelt wurde. Aus
der empirischen Verteilung wurde ein normativer Blick. Das Nicht-Normale wurde
das Böse, welches möglichst in Anstalten verwahrt werden musste. Umgekehrt seien
mit der Definition des Normalen Ängste in der Bevölkerung vor dem Nicht-Normalen
aufgetreten. Diese Epoche der rigiden Normalität, die alles Nicht-Normale ausstößt,
nennt Link den Protonormalismus.
32
„Jedes protonormalistisch als ‚anormal‘ konstituierte Individuum wird als ‚wesenhaft
anormal‘ fabriziert – es bleibt sein Leben lang stets ‚anormal‘. Die ‚Anormalen‘ er-
scheinen nun also kulturell als eine ‚ganz andere Sorte Mensch‘ als die ‚Normalen‘
und zwar als potentiell ‚gefährlich‘ – wegen der dennoch zugrunde liegenden norma-
listischen Kontinuität wächst die Denormalisierungsangst der ‚Normalen‘ im Protonor-
malismus in durchaus ‚pathologische‘ Dimensionen: Die ‚Normalen‘ fürchten eine Art
‚Ansteckung‘ durch die ‚Anormalen‘.“ (Link 2014, S. 8).
Historisch hat der Normalismus sich gewandelt. Waren die Normalitätsgrenzen zu Be-
ginn des 20. Jahrhunderts noch bestimmt von der Eugenik, der Menschenökonomie
und der Erbhygiene und den damit verbundenen Mauern, so führten die Erfahrung
des NS-Staates und der Schock über diesen radikalen Normalismus in der gesamten
ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts dazu, Normalitätsgrenzen flexibler zu bestimmen
und sie zu liberalisieren. Dem alten Protonormalismus hat Jürgen Link die neue Figur
eines neuen, flexiblen Normalismus gegenübergestellt. Heute wird die Veränderbar-
keit, die Lernfähigkeit und schließlich, wie Link sagt, die Verwendungsfähigkeit der
Menschen betont. Menschen sollen sich optimieren, verändern, verbessern, anbieten
und Grenzen überwinden. Die Aufgabe der Institutionen wandelt sich, sie haben nicht
mehr die Funktion, die Bevölkerung normalistisch zu überwachen, sondern ihnen bei
ihrer Optimierung zu helfen.
Das neue Krankenhaus arbeitet heute nicht mehr proto-normalisierend, sondern op-
timierend, dafür bekommt es Geld. Im Interesse des Krankenhauses steht an erster
Stelle die finanzielle Rentabilität, die sich aus der Optimierung rechtfertigt. Zu opti-
mierende Patient_innen sind anerkannt, weil hier die Kultur des institutionalisierten
Neo-Normalismus funktioniert. Die Pflegetrainer_innen betonen dies am Beispiel der
institutionellen Bewertung von Geburten.
„Und es gibt eigentlich nur noch zwei Argumente, Zahlen und Außenwerbung. (?: Ja)
also […] man muss jetzt nicht mit den armen, kranken, demenziell Orientierungslosen
zu kommen. Also man muss Zahlen vorlegen. (?: Ja) sonst geht die Türe überhaupt
nicht auf, dass man die Argumentation los wird, und das ist das Schwierige […] mit
der Demenz im Krankenhaus. Ich glaube, da fehlen die Einnahmequellen (?: Ja, das
denke ich auch) und deswegen wird das nicht so nach (?: vorangetrieben) vorne ge-
trieben […].“ (Morys/Reinisch 2014, S. 151; Transkript Morys/Reinisch 2014, Z. 509-
516 zit. n. Gröning/Lagedroste/Weigel 2015, S. 24f.).
33
„Und das ist halt einfach so eine Sache: Patienten, die ich nicht will, da tue ich nichts
für. Produkte, die ich nicht will, da tue ich nichts für. Aber die, wo ich was dran verdie-
ne, […] da gucke ich, wie kriege ich davon noch mehr. […] Jetzt enttäuscht es mich, ich
verstehe es aber, warum es so ist, weil es wirklich nur um die Zahlen geht, es ist einfach
nur ein Wirtschaftsunternehmen. […] Und die Patienten, die halt nicht so viel bringen
oder nicht so gewollt werden, deswegen, meiner Meinung nach, kann man nur was än-
dern, indem es irgendwas gibt, dass der Demenzpatient einen Anreiz für ein Kranken-
haus bietet, […]. Sonst wird da auf jeden Fall sich nichts Großes bewegen“ (Transkript
Morys/Reinisch 2014, Z. 711-722 zit. n. Gröning/Lagedroste/Weigel 2015, S. 25).
5. Familien sind Gruppen
Die Arbeit mit Familien begann in den 1930er Jahren mit der Einbeziehung von
Müttern bei Erziehungs- und Verhaltensproblemen ihrer Kinder. Danach dauerte es
allerdings weitere 20 Jahre, bis die direkte Erforschung und Arbeit von Kommunika-
tion und Beziehungsprozessen in der Familie forciert wurde. Allerdings war man sich
einig, dass Familien an vielen Stellen wie Gruppen mit institutionalisierten Rollen von
Geschlecht und Generationen funktionieren. Die Grundlage der Arbeit mit Familien
ist demnach die Gruppenarbeit. Die Familie ist eine primäre Gruppe, weshalb sich in
Familien Gruppenprozesse finden, genauso, wie sich in Gruppen Familialisierungen
finden. Familien gehören zu den Gemeinschaften und stehen im Unterschied zu Ge-
sellschaften (vgl. Tönnies 1987/1979). „Gemeinschaft“ und „Gesellschaft“ werden
als Gegensätze verstanden. Die Gemeinschaft basiert bei Tönnies auf Abhängigkeit,
aber auch auf emotionaler Zustimmung. Gemeinschaften sind familial organisiert
und zeichnen sich durch Ungleichheit und Asymmetrien aus. Tönnies unterscheidet
drei Arten der Gemeinschaft: die „des Blutes“ (Verwandtschaft), „des Ortes“ (Nach-
barschaft) und „des Geistes“ (Freundschaft). Den drei Gemeinschaftsformen entspre-
chen drei historische Örtlichkeiten, in denen sie vorzugsweise auftreten: das Haus
bei der Verwandtschaft, das Dorf bezüglich der Nachbarschaft und die Stadt, in der
man gleichgesinnte Freunde trifft. Die „Gesellschaft“ ist bei Tönnies eine ideelle Kon-
struktion. „Gesellschaft“ ist ein Kreis von Menschen, die formal miteinander als Bür-
ger_innen verbunden sind. Sie sind gleiche Träger von Rechten. In jeder Beratung
gehört es zur Aufgabe der Berater_innen, aus einer Gemeinschaft eine Gesellschaft
zu machen, also im Beratungssetting Gleichheit und Gesellschaftlichkeit herzustellen.
34
5.1 Kohäsion der Familie
Ein faszinierendes Phänomen ist die Kohäsion einer Familie, ihre Fähigkeit, eine Ge-
stalt zu bilden und wie „ein Körper“ zusammenzuhalten. Schütz spricht von einer „An-
ziehung“ (Schütz 1989, S. 19), die Mitglieder von Nicht-Mitgliedern unterscheidet und
nach außen hin abgrenzt. Die alten Theorien, wie jene von Freud (1921) oder auch von
Theodor Geiger (1930), nennen die Kohäsion einen wirksamen Schutz gegen äußere
Gefahren. Die amerikanischen Forschungen betonen den inneren Halt, also bindungs-
theoretische Gründe. Die kohäsionsauslösenden Energien in Familien wie in sozialen
Gruppen können sehr unterschiedlich sein. Es können Personen sein, die für das Zu-
sammenhalten stehen, es kann die Attraktivität der Familie als Ganzes sein, es können
besondere Rituale sein, die das Wir-Gefühl herstellen und zelebriert werden. Kohäsion
kann aber auch unfreiwillig durch soziale Kontrolle hergestellt werden und durch hi-
erarchische und funktionale Abhängigkeit, über die räumliche, soziale und kulturelle
Nähe der Mitglieder und über materielle Ressourcen. Für das Verstehen von Familien
ist die Quelle der Kohäsion sehr wichtig. So ist es möglich, dass der nun alte pflege-
bedürftige Mensch früher einmal der Träger der Kohäsion gewesen ist, wie das in der
nachfolgenden Familie R. der Fall ist, oder Trägerin des Wir-Gefühls ist die pflegende
Angehörige. Sehr häufig übernimmt derjenige oder diejenige die Pflege, welche(r) Trä-
ger der Kohäsion ist bzw. in der alten Familie war.
Jede Gruppe neigt im Sinne von Georg Simmel (1986) oder Jacob Moreno (1967)
zum Phänomen, Beliebtheits- und Freundschaftsformen auszubilden, die als sozio-
metrische Struktur einer Gruppe beschrieben werden. Die Soziometrie ist ein Teilge-
biet der Kohäsionsforschung und ist vor allem durch die Arbeiten von Jacob Moreno
(1967) bekannt geworden. Seine soziometrische Analyse richtet sich vor allem auf
die emotionale Struktur, die Gemeinschaftsseite einer Gruppe/Familie. Seine Un-
tersuchung der Stellung des Einzelnen in der Gruppe/Familie wird an Beliebtheit
und Sympathie festgemacht. Zuneigung, Abneigung, Gleichgültigkeit, Beliebtheit
und Unauffälligkeit werden in der sogenannten Soziomatrix erfasst und in einem
Soziogramm grafisch dargestellt. Dazu werden bestimmte, auf das Gruppennetz-
werk bezogene Fragen an alle Mitglieder gestellt. Das Soziogramm stellt schließlich
die Beziehungen der Gruppenmitglieder grafisch als Netzwerk dar. Mittels verschie-
denster Formeln können dann Kennzahlen (Status eines Einzelnen, soziales Integra-
tionsmaß etc.) ermittelt werden. Pflegenetzwerke sind letztlich soziometrisch bedingt.
Diejenigen die sich mögen, helfen und unterstützen sich. Gegen die Soziometrie
35
einer Familie kommt niemand gut an. Ein Pflegenetzwerk sollte auf der Soziometrie
einer Familie aufbauen. In diesem Zusammenhang sind familiale Rollen wichtig. Das
Konzept der familialen Rollen geht auf H. E. Richter (1963) zurück und beschreibt,
dass sich durch die Mehrgenerationalität und die affektiven Einstellungen in Familien
soziometrische Strukturen so verfestigen können, dass man von Rollen in Familien
z. B. von Sündenbockrollen sprechen kann. Die Entdeckung der Sündenbockrolle in
der Familie hat gezeigt, dass die Mitglieder die als problematisch in einer Familie
gelten, von dieser in Interaktionen und Zuschreibungen so gelabelt werden, dass
eine schwierige Rolle quasi in der Familie durch Kommunikation entsteht, die alle
anderen Familienmitglieder psychisch entlastet. Nach Richter (1963) sind jedoch
sehr verschiedene Rollenkonstellationen in Familien möglich. Richter hat die Rollen
als latent verstanden und war davon überzeugt, dass durch eine besondere Rolle,
die jemand in der Familie bekommt, die Familie als Ganzes stabilisiert wird. Diese
Stabilisierung geschieht durch Projektion und für den betroffenen Rollenträger durch
projektive Identifizierung. Eltern projizieren zum Beispiel eigene unbewusst Ich-Antei-
le, Bedürfnisse oder Liebeserwartungen aus ihrer Kindheit auf ihr Kind und das Kind
identifiziert sich mit den elterlichen Projektionen oder Erwartungen. So entstehen klei-
ne Ersatzpartner, wenn z. B. der Partner nicht genug Liebe und Anerkennung schenkt
und dann ein Ersatz gesucht wird. Oder es entsteht der Bundesgenosse und der
Komplize gegen den Partner. Eltern können auch Bedürfnisse auf Kinder richten, von
diesen wie von den eigenen Eltern versorgt werden zu wollen. Wenn das Kind zum
Ersatz für eine Elternfigur wird, spricht man von Parentifizierung. Schließlich ist noch
die Abbildfunktion zu nennen: das Kind soll dem eigenen Selbst entsprechen wie ein
Abziehbild. Dies ist z. B. im Fall der Erbes möglich. Es entstehen Generationenketten
mit den gleichen Vornamen, den gleichen Berufen und dem gleichen Habitus. Eltern
können aber auch Größenphantasien auf ihre Kinder projizieren und erwarten, dass
das Kind etwas erreicht, woran sie selbst gescheitert sind. Dann spricht man vom
Kind als vom idealen Selbst. Umgekehrt ist die anfangs erwähnte negative Projektion
der Sündenbock.
Eine der zentralen Fähigkeiten von Familien und eine Ressource in der Familienma-
trix ist die Fähigkeit, zu halten, sich gegenseitig zu identifizieren, sich zu stützen und
zu solidarisieren. Umgekehrt ist die Dynamik der Isolation, der Rivalität, der Scham
oder des Schuldgefühls ebenso etwas, was zur Familienmatrix gehört. Die Fähigkeit,
die Pflege zu übernehmen, hat viel mit den positiven Ressourcen zu tun, die aus dem
Haltgeben, dem Gefühl der Nähe und Identifizierung bzw. dem Gefühl der Solida-
rität entstammen. Diesen Teil der Matrix gilt es im Familiengespräch zu unterstützen.
36
5.2 Wie Kommunikation in Familien verläuft
Um Familien beraten zu können, ist es wichtig ihre Kommunikation zu beobachten
und zu beeinflussen. Dazu verwendet man die Interaktionsanalyse. In den 1950er
Jahren entwickelte Robert F. Bales (1972) eine Methode zur Untersuchung kleiner
Gruppen, die nach ihm benannte Balessche Interaktionsanalyse bzw. Analyse des
Interaktionsprozesses (IPA). Diese Methode eignet sich gut für ein Familiengespräch
zum Verstehen der Kommunikation.
Inhalte der Interaktionsanalyse sind Orientierung – Bewertung – Kontrolle – Entschei-
dung – Spannungsbewältigung – Integration. Damit kann die Familie ein Feedback
darüber erhalten, wie ausgeglichen ihre Problembewältigung ist, welche Aspekte
überwiegen. Das Ziel der Interaktionsanalyse ist nach Bales, aus der Beobachtung
der Gruppeninteraktion die Bedeutung jeder Handlung für die Lösung der Probleme
zu verstehen. Er hat zwölf Kategorien entwickelt und jede Handlung einer dieser Ka-
tegorien zugeordnet.
Spiegelbildlich sind die Kategorien 7-12 das passive Gegenteil der Kategorien 1-6
und zwar absteigend (7 entspricht 6, 8 entspricht 5 usw.) Die Gegensatzpaare ent-
sprechen einem funktionellen Problem in der Gruppe. Bales untersuchte mit diesem
Schema verschiedene Gruppen in seinem Labor, denen er die Aufgabe stellte, ge-
gebene Fragen zu erörtern und Probleme zu lösen. Die Beobachter verfolgten das
Zeigt Solidarität (z. B. Hilfe, Belohnung, Bestärkung)
Zeigt Entspannung (z. B. Scherze, Lachen)
Zeigt Zustimmung (z. B. Nachgeben, Konsens)
Macht Vorschläge
Äußert Meinung (z. B. Bewertung, Analyse)
Gibt Information (z. B. Orientierung, Erklärung)
Erfragt Informationen
Erbittet eine Meinungsäußerung
Erbittet Vorschläge
Stimmt nicht zu
Zeigt Spannung
Zeigt Antagonismus
1.
2.
3.
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5.
6.
7.
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10.
11.
12.
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Geschehen hinter einer einseitig durchsichtigen Scheibe und protokollierten den Vor-
gang. Die Interaktionsanalyse eignet sich sehr gut auch für die Bewertung der Kom-
munikation zwischen Menschen mit Demenz und ihren Angehörigen.
6. Prinzipien der Gestaltung eines Familiengespräches
Das Familiengespräch im Umfang von 90 Minuten besteht aus dem Anfang, dem Ar-
beitsbündnis und dem Beratungsprozess, der vor allem ordnen und reflektieren will.
Auch ein Abschlussritual sollte verbindlich sein.
6.1 Der Anfang
In Beratungssituationen, auch mit Familien, ist der Anfang sehr vom institutionellen
Dach, den Rollen und Funktionen der Beratung geprägt. Gute Beratung zeichnet sich
dadurch aus, dass sie von der Profession her bestimmt wird, nicht von der Institution.
Dies gilt vor allem für den Anfang der Beratung, wenn es um Vertrauen, Beziehungs-
aufbau und die Vorbereitung des Arbeitsbündnisses geht. Ein missglückter Anfang
treibt die Familien ggf. in Regressionen und Übertragungen und kann unter Umstän-
den den gesamten Beratungsprozess verderben. Die/der Berater_in wird also auf ei-
nen guten Anfang achten und dazu gehört eine klare Struktur im Sinne des sekundär-
en Haltens. Ort, Zeit und Raum sind abgesprochen, es sollte kein Essen oder Trinken
angeboten werden, das stört die Beratung. Die Anfangssituation in der Beratung soll-
te immer davon gekennzeichnet sein, dass der/die Ratsuchende in der Beratungssitu-
ation ankommen darf, man sich also vorstellt und als Leiter_in des Settings kenntlich
macht. Damit die Familien sich gehalten fühlen, muss die/der Pflegetrainer_in die
Leitungsrolle übernehmen. Sie wird aufzeigen, mit welchen Methoden sie arbeitet, z.
B. Pflegenetzwerk aufschreiben und wie sie sich den Gesprächsverlauf vorstellt. Dazu
wird sie Kommunikationsregeln aufstellen, die im Rahmen des Projektes aus dem
Konzept des TZI stammen. Klassische Regeln nach Ruth Cohn (1975) sind:
38
Am Anfang sollte der/dem Ratsuchenden Raum gegeben werden. Rituale der Ehr-
erbietung, der Zuvorkommenheit und ein taktvoller Umgang sind in der Anfangssi-
tuation Pflicht. In komplexen Gebäuden darf man eine Familie auch schon mal am
Haupteingang abholen. Der Weg sollte gut beschrieben sein und ein Zuspätkommen
Vertritt dich selbst in deinen Aussagen; sprich per „Ich“ und nicht per
„Wir“ oder per „Man“. Verstecke dich nicht hinter den anderen.
Wenn du eine Frage stellst, sage, warum du fragst und was deine Frage
für dich bedeutet.
Sei authentisch und selektiv in deinen Kommunikationen. Mache dir
bewusst, was du denkst und fühlst und wähle, was du sagst und tust.
Halte dich mit Interpretationen von anderen so lange wie möglich zu-
rück. Sprich stattdessen deine persönlichen Reaktionen aus.
Sei zurückhaltend mit Verallgemeinerungen. Verallgemeinerungen un-
terbrechen den Gruppenprozess.
Sie dienen dem Gesprächsverlauf nur, wenn sie einen Themenbereich
zusammenfassend abschließen und zu einem neuen Thema überleiten.
Wenn du etwas über das Benehmen oder die Charakteristik eines an-
deren Teilnehmers aussagst, sage auch, was es dir bedeutet, dass er so
ist, wie er ist (d. h., wie du ihn siehst.)
Störungen und Seitengespräche haben Vorrang.
Sie sind meist wichtig. Sie würden nicht geschehen, wenn sie nicht wichtig
wären. Auch wenn Seitengespräche vordergründig stören, sind sie meist
wichtig für die tieferen Ebenen der Kommunikation. Sie können neue
Anregungen bringen, Unklarheiten herausstellen, Missverständnisse ver-
deutlichen oder auf eine gestörte Interaktion (Beziehung) hinweisen.
Nur einer spricht zur gleichen Zeit.
Niemand kann mehr als einer Äußerung zur gleichen Zeit zuhören.
Und Zuhören signalisiert das konzentrierte Interesse füreinander, das
Gruppen zusammenhalten lässt.
Wenn mehr als einer gleichzeitig sprechen will, verständigt euch in
Stichworten, worüber ihr zu sprechen beabsichtigt. So werden alle An-
liegen kurz beleuchtet, bevor die Gruppenaktion weitergeht.
Beachte die Körpersignale! Beobachte eigene und fremde Körpersignale.
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
9.
10.
39
des Klienten/der Klientin beim ersten Mal ist ggf. entschuldbar und sollte nicht sofort
als Widerstand gedeutet werden.
Thomä/Kächele (1989) betonen, dass es für die Anfangssituation von ganz beson-
derer Bedeutung ist, welche Einstellung und welches Klient_innenbild der Berater/die
Beraterin entwickelt hat. Die Psychoanalyse spricht hier von einem Übertragungsan-
gebot.
Für die Anfangssituation in der Beratung gilt deshalb, dass alles, was nicht bespro-
chen ist und nicht besprochen werden kann, agiert werden muss und nicht funktionie-
ren kann. Es ist deshalb ein Kunstfehler, wenn schon am Anfang in der Erstsituation
nur Lösungen angestrebt oder vorbereitet werden. Es müssen gute Lösungen sein,
die die Familie dann ggf. auch alleine findet, wenn sie verstanden hat, in welcher
Situation jeder ist. Eine Lösung, die nicht durch das Nadelöhr der beraterischen Be-
ziehung gegangen ist, funktioniert nur, wenn der Klient/die Klientin nicht ratbedürftig
ist, sondern nur eine Auskunft braucht. In wirklichen Beratungssituationen sind die
Verwirrtheit, das Suchen und das Erarbeiten die Realität und nicht die schnelle Lö-
sung. Schließlich haben Bude, Schmitz und Otto (1989) in einer umfassenden Bera-
tungskritik betont, dass in der Beratung System und Lebenswelt aufeinanderprallen,
wenn Beratung als ein strategischer Prozess organisiert ist, der sich in Phasen der
Eröffnung, der Datensammlung, der Interpretation der Daten, der Stellungnahme
und Maßnahme darstellt (vgl. Bude et al. 1989, S. 139).
6.2 Arbeitsbündnis
Der Kontrakt soll symbolisch Berater_innen und Ratsuchende zu gleichen Partnern
machen und dem/der Ratsuchenden damit Ängste, Schamgefühle und infantile Ge-
fühle nehmen. Der Kontrakt soll also in erster Linie einer Ethik folgen. In zweiter Linie
soll er Übertragungen und vor allem am Anfang der Beratung wirkungsmächtige
Mechanismen wie Projektionen auffangen. Der Beratungskontrakt nimmt Rücksicht
auf die Verletzungsoffenheit von Ratsuchenden und regelt zudem das Verhältnis von
Nähe und Distanz. Inhalte des Kontraktes sind innere und äußere Dimensionen der
Beratung. Was ist der Beratungsgegenstand? Welches ist das Beratungssetting? Wie
ist zu kommunizieren, wenn Gegenstand und Setting sich verändern? Eine besondere
Bedeutung hat der Vertrauensschutz in der Beratung. Zum Vertrauensschutz gehört
Offenheit und die muss auf allen Seiten vorhanden sein.
40
In der Sozialpädagogik spricht Burkhard Müller (1986, S. 119) vom Arbeitsbündnis,
welches er als „working consensus“ bezeichnet. Im Sinne der Anwaltlichkeit erteilt
der/die Klient_in dem/der Berater_in ein Mandat. Der/die Klient_in braucht die Hilfe
des Beraters/der Beraterin und beide treten in eine Koproduktionsbeziehung. Vor
allem der innere Rahmen setzt auf die Vernunft des Klienten/der Klientin, auf sei-
nen/ihren Willen zur Mündigkeit. Ein freiwillig und vernünftig zustande gekommener
Kontrakt mündet in einen Konsens über die Beratung. Vernunft beruht auf einem täu-
schungsfrei festgestellten gemeinsamen Interesse (vgl. Habermas 1973, S. 148, zit.
n. Müller 1986, S. 118). Müller zeigt auf, dass „systematisch verstellte Beziehungen“
den Anforderungen an Kontrakt und Arbeitsbündnis nicht gerecht werden können.
Das Arbeitsbündnis ist deshalb, wie schon ausgeführt, eine Kontraktethik, die von der
Anerkennung des/der Ratsuchenden als Rechtsperson geprägt ist (vgl. hierzu auch
Gröning 2012, S. 38ff.).
6.3 Verstehen, Ordnen und Reflektieren – die Interventionen im Beratungsprozess
1951 hat John Dewey in seinem Klassiker „Wie wir denken“ eine Theorie der Refle-
xivität entworfen, die im Kontext von praktischer Beratung von großer Bedeutung ist.
Die Beratungssituation ist geprägt von der Ratbedürftigkeit des Klienten/der Klientin;
seine Deutungsmuster, die ihre Wurzeln in seiner Erfahrung und in seinem Alltag ha-
ben, sind an Grenzen gestoßen. Der/die Klient_in muss lernen und sich verändern.
Für Dewey heißt Lernen, die Deutungsmuster zugunsten von Reflexivität zu erweitern
und zu überwinden. Lernen heißt bei ihm zuerst logisch zu denken und sein Problem
zu Ende zu denken. Dies unterscheide das Denken vom Fürwahrhalten (vgl. Dewey
1951, S. 6). Reflektierendes Denken ist dabei sowohl logisches Denken, theoretisches
Denken als auch verstehendes und erfahrungsbezogenes (empirisches) Denken. Su-
chen und Bemühen zeichnen das reflektierende Denken aus. Über die Reflexion sagt
Dewey (ebd., S. 83), dass es hierbei auch um ein Ordnen von Tatsachen und Bedin-
gungen gehe. Das Ordnen diene dazu, einzelne Teile zu einem sinnhaften Ganzen
zusammenzubringen.
41
Reflexion
Jede Entwicklung in der Beratung setzt voraus, dass die Familie ihren Standpunkt
reflektiert und gegebenenfalls relativiert. Diese Relativierung der eigenen Wahrneh-
mung, das Verlassen und Überschreiten des eigenen Horizontes ist ebenso wichtig
wie schwierig. Die Reflexion führt meist zu biografischen Erzählungen, die der Familie
helfen, ein anderes Verhältnis zu sich und ihrem Problem zu gewinnen. Ein weiteres
wichtiges Element ist das Feedback auf der Basis der gewonnenen Erkenntnisse. Das
Feedback ist ein Nebeneinanderstellen von Interpretationen, ohne die subjektiven
Sinndeutungen des einzelnen zu entwerten. Diese Fähigkeit, die eigene Deutung und
Interpretation neben die Deutung der Klient_innen zu stellen und dort stehen zu las-
sen, ist ein wichtiger Schritt in der Beratung. Für den Fall, dass die Klient_innen sich
nicht mehr verstanden fühlen, wenn man sich ihren subjektiven Deutungen nicht un-
terwirft, besteht die Möglichkeit, zum Spiegeln, Halten und Entgiften zurückzukehren.
Prinzipien des Feedbacks in der Familienberatung sind:
•
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•
•
•
Fördernder Beistand
Ratbedürftige und ratsuchende Menschen befinden sich in einem seelischen Span-
nungszustand, den Berater_innen am besten verändern, wenn sie sich empathisch
verhalten. Vor allem eine Gesprächstechnik, die Rogers die nicht-direktive Methode
genannt hat, ist in der Beratung ein wichtiger Teil der Gesprächskunst des Beraters/
der Beraterin. Der/die Beratende versucht, hier die Gefühle des Klienten/der Klientin
zu erfassen, indem er sich zu den Reaktionen wie ein Spiegel verhält. Der/die Berater_
in solle dem Klienten/der Klientin ein zweites Selbst werden und ihn/sie so verstehen,
wie er/sie sich selbst erscheint. Es geht beim Spiegeln um eine Art des Verstehens, wie
der/die Klient_in sich im Augenblick wahrnimmt. Spiegeln ist ein empathischer Akt,
der viel mit Prozessen der Identifizierung zu tun hat. Empathie bedeutet, so Wolfgang
Krone (1988, S. 99), die Wahrnehmungswelt des anderen zu betreten und darin so gut
wie möglich heimisch zu werden. Der/die Berater_in muss ein Gespür dafür haben, in
Das Feedback muss nicht angenommen, sollte aber angehört werden;
das Feedback sollte als persönliche Rückmeldung verstanden werden und
nicht konfrontativ sein;
das Feedback sollte wahr sein, auf konkreten Beobachtungen und Szenen
beruhen;
das Feedback sollte mit Beispielen unterlegt werden;
das Feedback sollte wertschätzend sein.
42
welchem Affektzustand der/die Klient_in sich bewegt. Wut, Angst, Verwirrung müssen
mitgefühlt und nachvollzogen werden können. Empathie bedeutet, in das Leben der
Person einzutreten und keine Urteile zu fällen, keine Gefühle aufzudecken und nicht
zu konfrontieren – das wäre zu bedrohlich. Das Spiegeln sei eine Art Beiseite-Legen
der eigenen Person und deshalb besonders schwierig, Rogers geht aber davon aus,
dass es vor allem die Erfahrung des Verstehens und Übereinstimmens ist, die zur in-
neren Freiheit des Klienten/der Klientin, zur Katharsis und zum Lernen führt. Empathie
richtet sich auf die innere Welt des Klienten/der Klientin, sein/ihr Selbstbild, Weltbild,
Menschenbild, wie es sich ihm/ihr darstellt und bestimmend ist für sein/ihr Fühlen,
Wahrnehmen und Erleben. Dazu gehört die Bereitschaft der beratenden Person, die
Welt des Klienten/der Klientin nicht nur zu erspüren, sondern auch darauf zu antwor-
ten. Was er/sie verstanden hat, spiegelt er/sie zurück. Dies ist der Kern des helfenden
und befreienden Dialogs.
Regressionen, Verstrickungen, Krisen und weitere Grenzen
Für den Umgang mit Regressionen, Schwierigkeiten und besonderen Beziehungspro-
blemen kommen Berater_innen um ein vertieftes Verstehen nicht herum. Immer wieder
entstehen in der Beratungspraxis Krisensituationen. Kennzeichen ist, dass Beratende
hier auf einmal hoch involviert sind, sich mit der Familie verstricken und häufig nicht
wissen, ob sie die Beratung fortsetzen oder abbrechen sollen. Dabei gilt die Verstri-
ckung als das interessante Phänomen. Was tun, wenn der Beratungsprozess stockt?
•
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•
Im Umgang mit den beraterischen Krisen gelten vor allem die spiegelnden und an-
erkennenden Prinzipien der Gesprächsführung.
Die Familie zum Sprechen auffordern,
Angebote zum Kontaktabbruch nicht annehmen,
Entwertungen nicht akzeptieren,
Konflikte ernst nehmen, aber das Gute betonen,
vor den Über-Ich-Attacken schützen,
Wege aufzeigen,
auf Druck verzichten.
43
6.4 Abschied und Perspektive
Jede Beratung sollte mit einer Abschlussrunde und einem Abschlussritual beendet
werden. Diese Abschlussreflexion beinhaltet die Bewertung der Beratung durch die
Familie, sollte kommunikativ sein und nicht im Sinne einer Evaluation oder Kunden-
befragung laufen. Der Familie ist Gelegenheit zu geben, zu erklären, was in der Be-
ratung gut und was weniger gut für sie war, was sie mitnimmt (!) und welche Bedeu-
tung die Beratungserfahrung für die einzelnen Familienmitglieder oder die Familie
als Ganzes hatte. Das Abschiedsritual sollte aus Wertschätzung und Anerkennung für
die Leistungen der Familie während der Beratung bestehen. Es geht darum, etwas
zu sagen, was die Persönlichkeit und das Problem des/der Ratsuchenden und seiner
Bedeutung angemessen beschreibt. Ein weiterer wichtiger Punkt im Abschluss einer
pädagogischen Beratung ist die Frage danach, wie es weitergeht und ob es eine
Rückkehr geben kann. Weitere Hilfen und Möglichkeiten sind zu erörtern.
6.5 Fallbeispiele1
6.5.1 Zur Geschichte der Familie R.
Zum Zeitpunkt des Interviews steht das Pflegeverhältnis von Frau R. vor dem Ende,
denn sie sucht für ihre pflegebedürftige und demenzkranke Mutter einen Heimp-
latz. Mehr als fünf Jahre hat Frau R. ihre demenzkranke Mutter gepflegt und dabei
gleichzeitig drei Kinder erzogen, die zum Zeitpunkt des Pflegebeginns zehn Jahre,
acht Jahre und drei Jahre alt waren, heute 15 Jahre, 13 Jahre und acht Jahre alt
sind. Die mittlere der beiden Töchter von Frau R., die 13-jährige Christina ist an
Magersucht erkrankt, die 15-jährige Sabrina zeigt eine Überverantwortlichkeit, die
Frau R. zwanghaft empfindet. Für Frau R. ist diese Erkrankung ihrer mittleren Tochter
der wichtigste Grund, ihre alte Mutter in ein Heim abzugeben, um sich mehr um ihre
Kinder kümmern zu können.
1 Beide Fallbeispiele (Familie R. und Familie C.) sind aus eigenen, unveröffentlichten Interviews.
44
„Das ist auch eine Entscheidung zwischen Christina und Oma.“ (Interviewtranskript
Familie R, S. 10).
Frau R. ist die jüngste von drei Geschwistern, ihre beiden Brüder sind 15 und 17 Jah-
re älter als sie. Zum Zeitpunkt ihrer Geburt war Frau R.s Mutter 43 Jahre alt. Frau R.
bezeichnet sich zunächst als Nesthäkchen, gibt dann aber an, dass sie sich während
der Adoleszenz sehr bewusst aus dieser Rolle emanzipiert und „den Absprung aus
dieser Rolle“ durch die Pflege ihrer Mutter bewältigt habe.
„Ich hab eine sehr glückliche Kindheit, mit vielen Kindern habe ich gespielt, obwohl
meine Mutter sehr ängstlich war und mich sehr behütet hat. Emanzipiert aus dieser
Nesthäkchenrolle hab ich mich so sehr bewusst auch im Laufe meines Erwachsen-Wer-
dens, aber, letztlich, den großen Absprung aus dieser Rolle in meiner Stammfamilie
gab´s durch die Pflege meiner Eltern.“ (Interviewtranskript Familie R, S. 1).
Frau R. verneint mit dieser Betonung ihrer eigenen Ablösung, dass sie aus Parentifizie-
rungsmotiven gehandelt habe, also sich unbewusst nicht von ihren mächtigen Eltern
abgelöst habe. Frau R. schildert die Familienbeziehung zu ihren Eltern als reziprok:
„Zu Anfang, als ich selbst Familie hatte, waren meine Eltern immer für mich da, haben
mir die Kinder abgenommen, ja. Waren Teil unserer Familie. Und als sie dann immer
hinfälliger wurden, wurde das Betreuen von meiner Seite aus einfach stärker.“ (Inter-
viewtranskript Familie R, S. 1).
Frau R.s Mutter wird wegen eines schweren Schlaganfalls pflegebedürftig und das
Pflegearrangement gestaltet sich zunächst so, dass die Mutter zeitweise von ihr, zeit-
weise aber auch noch vom eigenen Ehemann versorgt wird. Als dieser ebenfalls pfle-
gebedürftig wird, entscheidet sich Frau R., ihre Mutter zu sich zu nehmen, während
ihr 15 Jahre älterer Bruder sich später um den Vater in dessen Wohnung kümmert.
Da der Vater von Frau R. zum Zeitpunkt des Beginns der Pflegebedürftigkeit seiner
82-jährigen Frau mit 87 selbst hochaltrig ist und sich mit der Versorgung seiner Frau
überfordert fühlt, beginnt eine Phase des Suchens nach dem richtigen Pflegesetting.
Zeitweise ist die Mutter von Frau R. zu Hause, dann immer öfter bei ihrer Tochter.
Schließlich verunglückt der Vater von Frau R. und fällt die Treppe herunter.
45
„Und als mein Vater pflegebedürftig wurde, mein Vater ist letztes Jahr verstorben, und
er wurde ungefähr anderthalb Jahre vorher pflegebedürftig, schwerst pflegebedürftig,
ist mein Bruder Ulrich zu ihm gezogen.“ (Interviewtranskript Familie R, S. 3).
Es entwickelt sich in der Familie also ein zweites Pflegeverhältnis, der zweite Bruder
von Frau R. sorgt für den alten Vater und zieht in dessen Haus. Allerdings unterstützt
Frau R. dieses zweite Pflegeverhältnis durch täglich materielle Hausarbeit.
„Also Oma hier, Kinder hier, Tagespflege hatte ich damals noch nicht aufgestockt
und ich bin dann immer hin und her gefahren. Ich weiß gar nicht mehr, wie ich das
gemacht hab. Es war irgendwie, es war verrückt. Aber es hat irgendwie hingehauen
und parallel dazu habe ich dann durch die Caritas dann dazugelernt mit Demenz um-
zugehen.“ (Interviewtranskript Familie R, S. 3). „Und ich bin teilweise gependelt. Also
ich bin hier gewesen als Mutter dann. Kinder in der Schule, Oma in der Tagespflege,
ich in W. (dem Wohnort des Vaters) und dann mittags wieder zurück. Mit der Dreck-
wäsche und mit Organisation und das war halt eine haarige Zeit. Dann immer wieder
Krankenhausaufenthalte mit meinem Vater.“ (Interviewtranskript Familie R, S. 18).
Außerdem gibt sie an, dass sie es war, die den Bruder „gefordert“ habe, sich mehr
zu engagieren. Ganz anders verlaufen ihre Versuche, auch ihren ältesten Bruder in
die Verantwortung für die alten Eltern einzubinden. Dieser Bruder lehnt jede Hilfe ab.
Auch der Ehemann von Frau R. zieht sich aus der Familie zurück. Herr R. teilt uns mit,
dass seine Frau und er kaum noch Dinge gemeinsam unternehmen. Sie wegen des
Übermaßes an familialer Verantwortung, er, weil er längst einen eigenen Alltag in
der Familie lebt. Wie seine Frau mit ihrem belastenden Alltag fertig wird, ist indessen
nicht Herrn R.s Angelegenheit:
„Und ehh, ich weiß nicht – hm letzten Endes ist es ja auch so, dass sie diejenige ist, die
hier die Pflege übernimmt. Und ehm, sie muss ehh sie muss sehen, dass sie eben halt
auch ihre Kräfte da einteilt.“ (Zusammenfassung Familie R, S. 15).
Am Schluss des Interviews sagt Herr R. dann plötzlich, dass die gegenwärtige Situ-
ation die Familie und insbesondere ihn und seine Frau in eine Rollenentwicklung
gedrängt habe, die beide so gar nicht wollten. Umgeben von drei Kindern und drei
Erwachsenen, ihren Eltern und ihrem Ehemann, die Ansprüche an ihre Sorgearbeit
stellen, reicht selbst Frau R.s Engagement, ihre Ausdauer und Energie nicht aus, alle
Ansprüche zu befriedigen. Gefragt nach der Gerechtigkeit dieses Arrangements sagt
46
Frau R. sehr deutlich Folgendes:
„Rückblickend hätte ich das, ich hätte einen Familienrat erzwungen. Also wenn ich das
mit dem Stand und dem Wissen, was ich jetzt hab, ich hätte einen Familienrat erzwun-
gen. Und ich habe diese Entscheidung, die ich getroffen hab, ganz alleine getroffen.
Und die ich jetzt noch treffen werde (die Heimaufnahme), die möchte ich nicht noch
einmal treffen. Weil die Verantwortung, die ich übernommen hab, die war einfach ein
Riesenhappen. Und der war manchmal ganz schön groß, zu groß.“ (Zusammenfas-
sung Familie R, S. 5).
Wie Krankenhausmitarbeiter über die Pflege von Frau R. denken
Im Rahmen unseres Projektes „Familiale Pflege unter den Bedingungen der G-DRG“
gehört die Auseinandersetzung mit den Entwicklungsaufgaben in der pflegenden Fa-
milie zu den zentralen Bausteinen dieses Projektes. In diesem Kontext ist Gerechtigkeit
eine Voraussetzung für die so wichtige innerfamiliale Netzwerkbildung. Wollen die
Pflegetrainer_innen diese innerfamiliale Gerechtigkeit und Netzwerkbildung fördern,
so sind Auseinandersetzungen mit den eigenen Einstellungen zu pflegenden Familien
und den hier herrschenden Geschlechterverhältnissen von großer Bedeutung. Ent-
sprechend rekonstruieren wir im Rahmen von Rollenspielen und Familienaufstellun-
gen mit den Pflegetrainer_innen Fälle und diskutieren die familiendynamische Ent-
wicklung sowie die Deutungsmuster über die pflegenden Familien. Im vorliegenden
Fall wurden auf diese Weise Bilder über die pflegenden Familien deutlich, die auf
Konstruktionen einer strikten Zweigenerationenfamilie hindeuteten. Danach ist der
ältere Mensch immer nur ein Gast in der Eltern-Kinder-Familie. Muss er dauerhaft
versorgt werden, gerät die Balance der Familie durcheinander, zumal, wenn Sor-
geleistungen vergeschlechtlicht sind, also die Mutter als Care Giver eine exklusive
Rolle in der Familie innehat. Diese Bilder sind umso irritierender, da die Pflegetrai-
ner_innen selbst in Generationenverbänden leben und den Austausch zwischen den
Generationen kennen bzw. von ihm selbst profitieren. Fragt man sie jedoch nach
Erklärungen über die Pflegeprobleme ihrer Klientele, reproduzieren sie Bilder der
Zweigenerationenfamilie, die weitgehend unabhängig von den Älteren lebt.
In einer Familienaufstellung werden die Mitglieder in einem Raum verteilt und in
Beziehung und in Szene gesetzt. Das Aufstellen in diesem Kontext ist ein projektives
Verfahren. Durch das In-Szene-Setzen werden latente Sinnstrukturen der Familien-
aufsteller_innen deutlich und diskutierbar.
47
Für die Familie R. wurden vor allem gegenüber Frau R. große Vorwürfe durch die
Pflegetrainer_innen während der Familienaufstellung laut. Die wichtigsten Aussagen:
•
•
•
•
In der Auswertung wurde die Rolle von Frau R. als Ort der Schuld thematisiert. Auch
im anschließenden Open Space sind nur negative Bilder gegenüber den pflegenden
Angehörigen, vor allem gegenüber den Töchtern, laut geworden. Der Mangel an
innerfamilialer Gerechtigkeit in der Familie R. erschien den Pflegetrainer_innen aus-
schließlich als Problem von Frau R. als mächtiger und schuldiger Mutter. Das Spiel der
Familienaufstellung ist zu einer Thematisierung der Schuld von Frau R. geraten, die
als pflegende Angehörige und Mutter in der Familienkonstellation gut sichtbar ist. Im
Alltag sind es zumeist die aktiven pflegenden Angehörigen, die die Ansprechpartner
der Professionellen sind und die das Bild der Professionellen von der Familie weit-
gehend prägen. Dagegen bleiben die Geschlechterverhältnisse im Hintergrund, weil
Männer, Brüder oder Schwager kaum in Erscheinung treten.
Um zu verstehen, ist es im Sinne von mehr Geschlechtergerechtigkeit in der Familie
wichtig, dass gerade Professionelle lernen, grundsätzlich Figur und Hintergrund bei
ihren Diagnosen und Hypothesen zu berücksichtigen. Der strukturelle Hintergrund
der Familie R., wie auch die Personen im Hintergrund, bleiben sonst weitgehend
unberücksichtigt. So reproduziert sich dann das von Christa Rohde-Dachser (1991)
beschriebene Problem der Mutter als Ort der Schuld. So glauben die Professionellen,
dass die Pflege in der Familie eine Form der Machtausübung durch die pflegende
Frau sei, ein Mittel, mit dem die Pflegeperson ihre eigene Mutter und die Familie
kontrolliert. Die Dimension der Geschlechterbilder und die damit verbundene sym-
bolische Gewalt werden in das beraterische Verstehen und in die Hilfen kaum mit
einbezogen. Die Geschlechterideologien führen dazu, dass die tradierte Ordnung
akzeptiert, die geleistete Arbeit gleichzeitig entwertet und die isolierte Position der
Hauptpflegeperson in häuslichen Pflegesettings nicht angefragt werden.
Du hast mich immer übersehen, hier bin ich!
Dir war nur deine Mutter wichtig, du hast mich benutzt!
Du hast alle vernachlässigt!
Die Familie ist durch dich in einer schwierigen Situation!
48
6.5.2 Familie C. – Normalität und Familie
Die qualitative Forschung zur Demenz und Familie reicht in unserem Projekt 15 Jah-
re zurück und hat das Konzept der familialen Entwicklungsaufgaben in der späten
Familie geprägt. Eine große Entwicklungsaufgabe gerade im Kontext der Pflege von
Menschen mit Demenz ist es, sich von Konzepten des Normalen verabschieden zu
können und den Angehörigen mit Demenz mit seinen Veränderungen zu akzeptie-
ren. Für das Thema „Normalismus“ ist die Pflegesituation von Frau C. exemplarisch,
denn Frau C., die ihre demenzkranke Mutter pflegt, versucht diese zu normalisieren
und gerät dabei immer tiefer in eine Krise. Allerdings ist sie in Bezug auf das Problem
der Vergeschlechtlichung einer ähnlichen Entwicklung ausgesetzt wie Frau R.
Frau C. pflegt zuerst gemeinsam mit ihrer Mutter den Vater. Die Familie lebt in un-
mittelbarer Nachbarschaft der alten Eltern, und zwei Jahre nach dem Tod des Vaters
erkrankt die Mutter an einer Demenz. Im Verlauf der Pflege erlebt auch Frau C. nun,
dass nicht nur ihre Brüder, sondern auch ihr Mann ihr kaum Anerkennung in der Pfle-
ge zuteilwerden lassen. Einzige Ansprechpartnerin wird ihre pubertierende Tochter,
die bei der Pflege helfen muss, während ihr Sohn sich aus der Familie ablöst. Gleich-
zeitig wird das Wertesystem der Normalisierung als latenter Sinn der Pflege von Frau
C. betont. Frau C. betont ausführlich, dass ihre Mutter nicht eingesehen hat, dass sie
nun demenzkrank war.
„Sie wollte ihren Alltag noch so verrichten, wie sie es immer gemacht hat, zur Post, zur
Bank, einkaufen. Bloß, sie wollte nicht verstehen und sah es auch nicht, ja, sie sah es
nicht ein, dass sie also demenzkrank ist, nicht mehr kann. Sie sah nicht ein, dass sie
krank ist. Mmmh.“ (Interviewtranskript Familie C, S. 3).
„Genug, einmal erlebte sie, sie meinte immer, sie kriegt viel Besuch, … ihre Söhne
kommen, sie hat zwei Brüder, die weiter weg wohnen, die wohnen in L. und in B. und
sie bekäme Besuch. Und so hat sie, wie sie es früher gemacht hat immer, groß einge-
kauft. Und das wollte sie jetzt weiter durchführen. Also, sie bestellt beim Bäcker drei
Torten, was sie früher auch nicht gemacht hat, ne. Und ging denn los und wollte dann
Koteletts kaufen und hatte dann die Reisetasche mitgenommen.“ (Interviewtranskript
Familie C, S. 4).
49
„Ne, sie sah ja auch irgendwann den Schmutz nicht mehr. Das finde ich auch so in-
teressant. Sie war früher eine ganz penible Hausfrau, und sie sah es nicht mehr. Und
das waren dann immer mehr meine Aufgaben. Ich sagte eben schon: sie war sehr
eigenwillig, sie wollte niemanden in ihrem Haus haben.“ (Interviewtranskript Familie
C, S. 5).
„Das ging aber dann so, dass sie dann morgens um sieben, sie hatte kein Zeitgefühl,
sie ging dann um sieben zur Friseurin und klopfte an die Jalousien, damit sie raus
kommt und sie frisiert. Also, es waren Dinge, die vorgefallen sind. Fremde Leute ha-
ben sie mir oft nach Hause gebracht, weil ich, ähm, meinen Bereich noch nicht abge-
schlossen hatte, weil ich gemerkt hatte, dass sie schon wieder weggelaufen war, ne.“
(Interviewtranskript Familie C, S. 5f).
Auf das Verhalten ihrer Mutter reagiert Frau C. mit Kontrolle anstelle von Bindung.
Sie versucht Ordnung in das Chaos zu bringen und verstrickt sich in tiefe Konflikte
mit der Mutter. Es kommt zum Kampf um die Durchsetzung der zeitlichen räumlichen
und sinnhaften Ordnung.
„Ich hab ihr dann nachher Schlösser in die Fenster einsetzen lassen und überlegte
dann, ob ich Gitter an die Treppe machen lasse … Sie fiel auch drüben öfter, dann
schloss sie sich ein im Schlafzimmer, dann musste ich über den Balkon klettern. (La-
chen...) Das sind Dinge, die können Sie sich gar nicht vorstellen … Daraus sehen sie,
ich musste rund um die Uhr im Einsatz sein. Also, es ist so bei einem Demenzkranken,
da heißt es nicht nur, dass man sich um die alten Leutchen dann kümmern muss, son-
dern man, man ist selber genauso eingespannt, eingesperrt. Ich bin auch so monate-
lang nicht in B., mal wieder in B. gewesen. Man ist rundum die Uhr eingesperrt, mit ihr
zusammen. Mmmh.“ (Interviewtranskript Familie C, S. 4).
Will man das Wertesystem verstehen, welches Frau C. antreibt und sie in Verstri-
ckung mit der Mutter bringt, ist es nötig, den Standort zu wechseln und das Thema
nicht mehr als Problem der Demenz zu betrachten, sondern als Problem der Nor-
malisierungsversuche von Frau C.. Dies ist eine Entwicklungsaufgabe bei der Pflege
von Menschen mit Demenz, die sich - auch das ist eine Entwicklungsaufgabe - nicht
in die Hände anderer begeben wollen, wenn sie fürchten müssen, dass ihre Nicht-
Normalität aufgedeckt und sie entblößt werden.
50
Was bedeutet es dann, wenn Frau C. ihren Mann bei der Arbeit anruft, um aufgelöst
zu berichten, dass die Mutter eingekotet hat und ihr Mann antwortet, dass er erstens
jetzt keine Zeit hat, zweitens die Pflege ihre Entscheidung war und dass er drittens nun
den Halt mittels rigider Grenzen (die Mutter muss ins Heim) zu ziehen gedenkt. Frau
C. bekommt ihre Affekte nicht entgiftet, sondern vergiftet zurück. Sie zieht daraus die
Konsequenz, dass sie das nächste Mal besser nicht mit ihrem Mann über die Mutter
spricht. Schön wäre es, wenn Herr C. seine Frau in der Pflegesituation halten könnte,
ihre verzweifelten Gefühle annehmen, sie trösten, sich dafür interessieren würde. So-
lange Herr C. das nicht kann, ist dies Aufgabe in Pflegetrainings und Pflegekursen,
dieses zu lernen.
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