garten geht gassi - kulturinsel stuttgart · pdf filekchenstudio in einem alten industriebau...
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kleine Einmaleins des Säens, Düngens undPflanzens beigebracht werden. „Wir verstehenuns dabei als Landeplatz für alle, die auf der Frequenz sind“, sagt Birgit Haas lächelnd. „Diejenigen, die dabei mitmachen wollen, tragen auchgemeinsam die Verantwortung für den Garten.“Im Sommer wollen die Stadtgärtner mit demBiergarten des Clubs Zollamt sonntags „Antistresstage“ starten. Die Zutaten: Liegestühle, einSandkasten, Bier, Erde und Schaufeln. Irgendwann wollen sie dann ernten, was sie gesät haben, nicht nur in Bad Cannstatt.
Eine gewundene Treppe führt hinauf in eineauf zwei Etagen verteilte Altbauwohnung, inder Irmgard LochnerAldinger gemeinsam mitihrem Mann und ihrem vierjährigen Sohnwohnt. Knapp zehn Kilometer trennen die Inselbegrüner auf der anderen Neckarseite vonder Professorin, die imStuttgarter Süden wohnt.Bildungsbürgertum stattBerlinMitteFlair. Dochdas Ziel ist dasselbe.
Die 42Jährige blicktvom Balkon aus noch einmal auf die StuttgarterDachlandschaft. Dannschließt sie die Tür undstreift die weißen Handschuhe mit dem rot gepunkteten Erdbeermuster ab. Vor einiger Zeit hat sie beschlossen, dieWohnzimmerpflanzen aufzugeben, seitdem istes auf ihren beiden Balkonen voller geworden.Im Herbst leuchteten die Blätter eines Ahornsstrahlend rot, er steht neben einem Rosenstockund Johanniskraut. In der Küche wächstneben Thymian, Basilikum und Minze aucheine Bauernrose. Deren Samenkapseln hatIrmgard LochnerAldinger im Urlaub voneiner kleinen Insel vor der französischen Atlantikküste mitgebracht.
Die deutschfranzösische Pflanze besitzt fürdas, was Irmgard LochnerAldinger vorhat,Symbolwert. Sie denkt an „internationale Gärten“ in Stuttgart – daran, dass Urban Gardeningmehr sein kann als nur ein Freizeitvergnügender von Technik umwucherten Stadtbewohner.Die Ingenieurin hofft, dass sich bei Gemeinschaftsprojekten wie „Inselgrün“ Stuttgarteraus allen möglichen Herkunftsländern begegnen, um gemeinsam zu gärtnern. Der Dialog derKulturen könnte sich dann so anhören: „Wasmacht ihr eigentlich gegen Schädlinge? WelchePflanzen vertragen sich in einem Beet?“ Sokönnte einmal zusammenwachsen, was zusammengehört und bislang in der Anonymität derGroßstadt oft nebeneinander herlebt.
So weit die Theorie. In der Praxis ist dasUrban Gardening in Stuttgart bis jetzt einzartes Pflänzchen, das im Betonmantel derStadt mühsam seine Nischen sucht. In der Vergangenheit ist es immer wieder zu Konflikten zwischenpflanzwütigen Anwohnernund dem städtischen Garten und Friedhofsamt gekommen. Den Behördenbehagt es mitunter nicht,wenn Bürger auf eigeneFaust Beete rund um dieStadtbäume anlegen. „Es besteht schon die Gefahr, dass die Leute wieder die Lust verlierenund sich dann nicht um das Angepflanzte kümmern“, sagt Irmgard LochnerAldinger, „deshalb brauchen wir verbindliche Absprachen.“
Noch wichtiger sind jetzt aber Ideen, über diesie nach ihrem Vortrag in der Stiftung Geißstraße diskutieren will: Wo gibt es in Stuttgart geeignete Flächen, auf denen in der Stadt neues Grünentstehen könnte? Wie können sich die Bürgerkonkret engagieren? Urban Gardening ist weltumspannend, aber es nimmt je nach Kulturkreisunterschiedliche Formen an. In New York gab esfrüher die Community Gardens, die auf Brachenentstanden. Inzwischen wird in Big Apple mehrüber grüne Dachlandschaften gesprochen. AufKuba wurden die Staats und Gemeinschaftsgärten auch aus der Not heraus geboren, und imBerliner Prinzessinnengarten lebt die anarchistische Seite der früheren Mauerstadt fort.
Irmgard LochnerAldinger wischt mit demFinger über ihr iPad. Auf einem Foto ist dasDach des ZüblinParkhauses bei der Leonhardskirche zu sehen. Doch dort, wo sonst Autos parken, wachsen nun Pflanzen aus Kisten und Säcken heraus. Grün statt Grau. Noch ist das Fotoeine Bildmontage, aber Irmgard LochnerAldinger hat bereits mit einer Künstlergruppe gesprochen, die sich vorstellen könnte mitzumachen, und auch die Betreiberfirma des Parkhauses sei nicht abgeneigt, erzählt sie. Parkhäuser,die sich in städtische Gartenlandschaften verwandeln? Das wäre fast eine Geschichte wie ausTausendundeiner Nacht.
Das Märchenreich liegt verborgenhinter einem rostigen Eisentor.An einer Seite wird es von einerstruppigen Distelhecke umrankt,deren Blüten wie kleine Watte
bäusche im Gestrüpp hängen. Das trübe Lichtder Wintersonne funkelt plötzlich, als es von derDiscokugel eines benachbarten Clubs reflektiertwird. In der Krone eines Baums hockt eine bucklige Krähe, die sich nicht stören lässt vom fernenLärm der Lastwagen, der leise an diesen verwunschenen Ort anbrandet. Welche Schätze aberkönnten sich hier verbergen, wo Holzlatten,Eisenrohre und Sonnenschirme an der Wandeines rot geklinkerten Backsteinbaus lehnen?
Vier Großstadtkinder im Alter von Mitte 30bis Mitte 40 haben sich an diesem Februarmorgen auf dem Gelände des alten Stuttgarter Güterbahnhofs verabredet. Sie kennen den Zaubercode, der ihnen den Zugang in diese für die meisten Stuttgarter entlegene Welt öffnet. Der Codebesteht aus den vier Zahlen eines Schlosses, dessen Bügel lautlos aufspringt. Schon betritt BirgitHaas eine städtische Brache, bei der erste Zeichen einer Verwandlung unübersehbar sind:Einkaufswagen sind zu einem Kreis angeordnet,in den Wagen lagern Kisten, und in den mit Erdegefüllten Kisten sprießt Ackersalat. TrotzNachtfrost und gelegentlichem Schneefall.
Hier, wo im Club Zollamt sonst das Partyvolk seine Nachtschichten verbringt, wo einKüchenstudio in einem alten Industriebau infriedlicher Koexistenz mit einer Kampfkunstschule lebt, beginnt in diesem Jahr eines der interessantesten Wachstumsprojekte der Stadt:Urban Gardening. „Inselgrün“ nennt sich derStuttgarter Ableger der Bewegung, die seit Jahren rund um den Globus Menschen inspiriert,
zu Hacke und Schaufel zugreifen, mit den Händen inkrumiger Erde zu graben,sich lustvoll die Fingerschmutzig zu machen unddann auf die Belohnung zuwarten: dass etwas wächst,am besten etwas Essbares.Gurken, Tomaten und Zucchini, Bohnen oder Ackersalat. In diesem Jahr könn
te auch in Stuttgart der endgültige Durchbruchder Bewegung folgen: In FacebookGruppenmelden sich immer mehr Neugärtner, und dieStiftung Geißstraße lädt in der nächsten Wochezu einem Informationsabend ein: „Grüne Heimat – Urban Gardening in Stuttgart“.
Birgit Haas wird dabei sein. Sie trägt einenpinkfarbenen Parka mit Kunstfellkragen. Haasist die Gartenexpertin der Gruppe, die sich andiesem Tag versammelt hat, um darüber zu reden, wie aus der Industriebrache in diesemFrühjahr und Sommer ein Mitmachgarten werden kann. Bei den Teilnehmern dominierenSneaker und Baseballkappe, Jeans und einzwangloser Umgangston. Die grünen Novizenstammen aus der Agentur und Kreativszene.Birgit Haas hat Kunst in Nordirland studiert undzehn Jahre in Belfast gelebt. Inzwischen wohntsie in Stuttgart, wo sie eine Handelsagentur gegründet hat, die sich mit den Chancen von „Gärtnern ohne Gift“ beschäftigt. „Ich bin bestens inder grünen Branche vernetzt“, erzählt Haas.
Die Kontakte wird sie brauchen, noch liegtviel Arbeit vor den Stadtgärtnern, bevor aus derBrache wirklich ein Inselgrün wird, das diesenNamen auch verdient. Die bepflanzte Installation aus Einkaufswagen ruht noch auf einemTeppich aus Moos, Steinen und abgestorbenemGras. Im vergangenen Sommer entstanden dieerste Pläne, den alten Güterbahnhof wieder aufblühen zu lassen. „Wir sind erst mal mit der Sägehier durchgegangen“, erzählt Franz Gielen. Eswar der erste Schritt, um das Dornröschenreichaus einem langen Schlaf aufzuwecken. Am Endefüllten der Wildwuchs und der wilde Müll fünfzehn Container. Im März steht der nächste
Frühjahrsputz auf dem Gelände an, und danach beginnt die zweite Stufe derStadtbegrünung.
Im Kopf von Birgit Haassummen schon die Ideenherum: „Wir wollen alteSorten von Nutzpflanzenanbauen, aber auch dekorative Blumen sollen hier ihreHeimat finden.“ In Work
shops will sie Kindern beibringen, wie sie zuHause mit ihren Eltern die Balkone bepflanzenkönnen. Und weil am Rande des Inselgrünsschon jetzt der Schmetterlingsflieder wächst,der in der warmen Jahreszeit die Bienen anlockt, denken die Inselpioniere darüber nach, obsie neben den neuen Hobbygärtnern ein Bienenvolk mit aufnehmen wollen.
Noch ist das Zukunftsmusik, doch das Projekt „Inselgrün“ scheint in der Stadt auf fruchtbaren Boden zu fallen. Kürzlich hat die Stuttgarter Messe bei der Initiative angerufen und denjungen Gärtnern einen 80 Quadratmeter großen Stand angeboten. Schon jetzt ist klar, dassdie Messebesucher im April vor einer grünenBegegnung der ungewöhnlichen Art stehen werden: „Die Leute können Secondhandklamottenmitbringen, die wir dann mit ihnen bepflanzenwerden“, sagt Magali Sureau. Mit den bepflanzten Einkaufswagen wollen die Urban Gardenernicht nur auf der Messe, sondern auch auf Stadtfesten in diesem Jahr ihre Kreise ziehen und fürdas gemeinschaftliche Gärtnern in der Großstadt werben. Die Idee hat auch schon einen Namen: „Garten geht Gassi.“
„Wir sind doch alle Großstadtkinder, dienicht mehr wissen, was man wie anpflanzt“, sagtMagali Sureau. Auf dem Gelände in Bad Cannstatt soll allen, die Lust aufs Gärtnern haben, das BerlinMitteCharme: in Bad Cannstatt bereitet sich das Projekt „Inselgrün“ auf das Frühjahr vor. Fotos: Martin Stollberg
Urban Gardening Schrebergärten, Vorgärten oder Parks: in Stuttgart ist nun ein Trend endgültigangekommen, bei dem das Gemeinschaftserlebnis im Garten im Mittelpunkt steht.
Eindrücke von einem Frühlingserwachen in der Großstadt. Von Erik Raidt
Gartengeht Gassi
Stuttgarter Dachlandschaften: Irmgard LochnerAldinger treibt die Stadtbegrünung voran.
Vortrag In der StiftungGeißstraße spricht IrmgardLochnerAldinger amDienstag, dem26. Februar, um19Uhr über das UrbanGardening in Stuttgart undüber „interkulturelle Gärten“. Die Veranstaltung solldabei helfen, ein Netzwerk von Interessierten aufzubauen, die das Gärtnern auf öffentlichen Flächenin der Stadt voranbringenwollen. Irmgard LochnerAldinger denkt auch darüber nach, einen Internetblog zu diesemThema zu starten.
MitmachenDas Projekt „Inselgrün auf der Kulturinsel Stuttgart“ will auf seiner FacebookSeite neueAktionen und Termine sowieMöglichkeiten zumMitgärtnern bekanntgeben.Weitere Internetseiten,die über Gartenprojekte informieren: www.deinbeet.de undwww.meineernte.de.Mehr zur Kulturinsel unter www.kulturinselstuttgart.de. era
EIN NETZWERK FÜR URBANES GRÜN
Sie greifen zuHacke undSchaufel,graben dannlustvoll inkrumigerGartenerde.
Bei der Messekönnen dieBesucherim AprilTurnschuheund Jeansbepflanzen.
BeimGärtnernkönnten sichMenschenaus allenKulturenbegegnen.
Grün stattgrau: wiesich dasDach einesParkhausesverwandelnkönnte.
30 Nr. 46 | Samstag, 23. Februar 2013REPORTAGE