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Franz Magnis-Suseno SJ Garuda im Aufwind Das moderne Indonesien

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Franz Magnis-Suseno SJ

Garuda im Aufwind

Das moderne Indonesien

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Bibliografi sche Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnetdiese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografi e;

detaillierte bibliografi sche Daten sind im Internetunter http://dnb/ddb.de abrufbar.

ISBN 978-3-8012-0464-8

© 2015 byVerlag J. H. W. Dietz Nachf. GmbHDreizehnmorgenweg 24, 53175 Bonn

Lektorat: Dr. Alexander BehrensUmschlaggestaltung: Antje Haack | Lichten, Hamburg

Satz: Kempken DTP-Service | Satztechnik · Druckvorstufe · Mediengestaltung, Marburg

Druck und Verarbeitung: CPI – Ebner & Spiegel GmbH, Ulm

Alle Rechte vorbehaltenPrinted in Germany 2015

Besuchen Sie uns im Internet: www.dietz-verlag.de

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

Erstes Kapitel

Ein Neuanfang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11

Zweites Kapitel

1998–2014: Eine Demokratie stabilisiert sich –Suharto tritt zurück . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20

1 Zwei Tage höchster Spannung . . . . . . . . . . . . . . . . 23

2 Die Überraschung Habibie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26

3 Osttimor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27

4 Reformasi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31

5 Schwere Konfl ikte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36

6 Religionskriege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39

7 Demokratische Stabilisierung . . . . . . . . . . . . . . . . 45

8 Religiöser Extremismus, Terrorismus . . . . . . . . . . . . 51

9 Zehn Jahre SBY . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56

Drittes Kapitel

Ein Staat entsteht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62

1 Indonesien in Zahlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62

2 Vorgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63

3 Eine Nation entsteht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68

4 Ein Pancasila-Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71

Viertes Kapitel

Tradition und Moderne: Die javanische Kultur . . . . . 76

1 Indonesien und javanische Kultur . . . . . . . . . . . . . . 76

2 Struktur des javanischen Weitbildes . . . . . . . . . . . . . 78

3 Harmonieethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81

4 Harmonieethik in der Krise . . . . . . . . . . . . . . . . . 87

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5 Die javanische Auffassung von Macht . . . . . . . . . . . . 93

Das Wesen der Macht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93

Machterwerb und Machtverlust . . . . . . . . . . . . . . . 95

Die Legitimation der Macht . . . . . . . . . . . . . . . . . 97

Fünftes Kapitel

1945–1998: Sukarno und Suharto – Furchtbare Spannungen, aber Indonesien steht . . . . 100

1 Die ersten zwanzig Jahre der indonesischen Republik unter Sukarno . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101

2 Der Aufstieg Suhartos und der Sturz Sukarnos . . . . . . 106

3 Wie konnte das passieren? . . . . . . . . . . . . . . . . . 109

4 Beginnende Aufarbeitung . . . . . . . . . . . . . . . . . 114

5 30 Jahre Neue Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116

6 Erfolgsgeschichte mit dunkler Unterseite . . . . . . . . . 121

Petrus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124

7 Suhartos Schwenk zum Islam . . . . . . . . . . . . . . . 125

Sechstes Kapitel

Im Schatten des Islams . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130

1 Eine erstaunliche Situation nach 16 Jahren demokratischer Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . 130

2 Die indonesische Zivilgesellschaft . . . . . . . . . . . . . 132

3 Der indonesische Islam: Teil der indonesischen Nation . 136

4 Die abangan-Spaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139

5 Versöhnung des Mainstream-Islams . . . . . . . . . . . . 143

6 Ein Kampf um die islamische Seele? . . . . . . . . . . . . 148

Siebtes Kapitel

Zukunftsaussichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151

AnhangZitierte Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158Verzeichnis indonesischer Namen und Begriffe . . . . . . . . . . . . . . 159Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171

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Vorwort

Als Daniel Reichart und Valeska Hesse, die ehemaligen Leiter des Büros der Friedrich-Ebert-Stiftung in Jakar-

ta, mich Anfang 2014 ermunterten, mein Buch Neue Schwin-gen für Garuda. Indonesien zwischen Tradition und Moder-ne von 1989 zu aktualisieren, wusste ich nicht, worauf ich mich einließ. In den seither vergangenen dreißig Jahren hat sich in Indonesien so viel verändert, dass dabei praktisch nur ein neues Buch herauskommen konnte. Seit ich 1961 als junger deutscher Jesuit in Jakarta ankam, übt dieses viert-größte Land der Erde, das Land mit den weltweit meisten Muslimen, mit seinen so reichen und vielfältigen Kulturen, darunter die beeindruckende javanische, das Land der Insel Bali mit seinen dem Hinduismus treu gebliebenen Bewohnern, dieses Land mit einer selbstbewussten, am nationalen Leben voll partizipierenden christlichen Minderheit, das sich in-zwischen zur drittgrößten Demokratie der Erde gemausert hat, eine niemals abreißende Faszination auf mich aus. Dar-über zu schreiben, reizte mich dann doch sehr.

So entstand Garuda im Aufwind. Es ist kein wissenschaft-liches Buch. Es ist kein Buch aus der Perspektive eines Be-obachters, sondern eines Partizipierenden. Längst haben mich Indonesier in ihren Einsatz, sich den zahlreichen Heraus-forderungen im Lande zu stellen, einbezogen. Längst bin ich einer von ihnen geworden. In diesem Buch erzähle ich, was Wichtiges passiert ist. Sehr vieles davon habe ich direkt mit-erlebt. Über vieles habe ich gemeinsam mit indonesischen Freunden nachgedacht und mich gefragt, wie es zum heuti-gen Indonesien kam. Nichts von dem, was ich hier schreibe, muss von allen genau so gesehen werden, wie ich es sehe, aber ich habe es wieder und wieder mit Indonesiern aller Klassen besprochen und diskutiert.

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Indonesien ist nicht nur äußerst interessant – was wohl die meisten Besucher bestätigen werden. Es ist auch ein ex-trem wichtiges Land. Wenn Indonesien in eine gesellschaft-lich-politische Krise stürzen oder zum Beispiel in eine Dy-namik wie manche Länder des Mittleren Ostens geraten oder wenn Indonesien in radikalislamische Hände fallen würde, wäre davon nicht nur Südostasien in Mitleidenschaft gezogen. Mehr als zweihundert Schiffe passieren auf ihrer Fahrt von China, Japan, Korea, den Philippinen und anderen Ländern nach Indien, Afrika und Europa jeden Tag die Malakkastra-ße, den schmalen Seeweg zwischen Sumatra und der malai-schen Halbinsel. Ein von Anarchie oder Gewalt zerrissenes Indonesien hätte beachtliche globale Folgen. Dass Indonesien trotz vieler Aufregungen bis heute nicht aus dem Gleich-gewicht geriet, ist ein stabilisierender Faktor für Handel und Politik weltweit.

Mit seinen Parlaments- und Präsidentschaftswahlen war 2014 ein wichtiges Jahr. Vor 16 Jahren wurde der Autokrat General Suharto gestürzt, doch inzwischen ist die indonesi-sche Demokratie aus der Versuchsphase heraus. Die letzten Wahlen verliefen ohne die geringsten Probleme, haben aber gleichzeitig zu der vielleicht schwersten Krise des Landes seit 1998 geführt – und trotzdem scheint Indonesien auch hier wieder selbst einen Ausweg gefunden zu haben.

Deshalb beginne ich mit dem Wahljahr 2014. Die extreme Polarisierung, die vor allem im Zuge der Präsidentenwahl entstand, wirft ein bezeichnendes Licht auf die politischen Probleme, die für Indonesien immer noch eine Gefahr dar-stellen könnten. Danach zeichne ich die aufregenden und dramatischen 16 Jahre seit dem Ende der Suharto -Ordnung nach (1998–2014). Das ist die Zeit der islamisch-christlichen Bürgerkriege mit Tausenden Toten in Ostindonesien, aber auch die Zeit, in der Osttimor – Timor Leste – seine Freiheit erhielt, in der ein Tsunami 180.000 Todesopfer forderte und zur Befriedigung der Provinz Aceh beitrug, ferner die Zeit,

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in der sich der indonesische Islam entschieden gegen islamis-tische Engführungen verwahrte und dem nationalen pluralen Staat den Rücken stärkte und in der zugleich ein islamistisch motivierter Terror das Land erschütterte.

Erst danach kommen Indonesiens Geschichte und Kultur an die Reihe. Ein Kapitel stellt die Entwicklung bis zur Un-abhängigkeitserklärung von 1945 dar. Ein wichtiger Punkt dabei ist die Entstehung des indonesischen Nationalbewusst-seins. Darauf folgt ein Kapitel über die javanische Kultur, ohne deren Verständnis die indonesische Geschichte und das, was die Nation in den 50 Jahren nach Ende des Zweiten Weltkriegs erlebt hat, schwer verständlich wäre. Einiges davon übernehme ich aus meinem Schwingen-Buch. An-schließend behandele ich die wechselhaften und turbulenten Jahre unter den Präsidenten Sukarno und Suharto , wo auch das dunkelste Kapitel der Geschichte Indonesiens zur Spra-che kommen wird: die Vernichtung der Kommunistischen Partei und all derjenigen, die 1965 und 1966 kommunistischer Sympathien verdächtig waren. Natürlich bleibt Osttimor nicht unerwähnt.

Mein früheres Schwingen-Buch war vor allem auf die javanische Kultur fokussiert. Nun steht sozusagen ganz von selbst der Islam im Zentrum. Auch wenn die javanische Kul-tur weiter ihren Einfl uss haben wird, so ist für die Zukunft Indonesiens entscheidend, wie sich der indonesische Islam weiter formiert. Und das ist noch weitgehend offen. Indo-nesiens Wappentier ist der mythische Adler Garuda. Im letzten Kapitel frage ich, was wir wohl in den kommenden Jahren erwarten dürfen. Garuda liegt weiterhin im Aufwind.

Der Leser sei darauf hingewiesen, dass es am Buchende, außer dem dürftigen Literaturverzeichnis einen Personen- sowie einen mit Erklärungen versehenen Sachindex gibt. Dem Verlag Dietz danke ich dafür, dass er bereit war, dieses Buch herauszubringen. Ganz besonders danke ich hier Dr. Alex-ander Behrens, der in mühsamer Kleinarbeit Seite für Seite

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aus meinem in rumpeligem Deutsch geschriebenen Manu-skript einen, so hoffe ich, fl üssig lesbaren Text gemacht hat und dabei auch manche Wiederholungen und Doppelungen eliminieren konnte.

Jakarta, November 2014 Franz Magnis-Suseno

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Erstes Kapitel

Ein Neuanfang

Am 20. Oktober 2014 trat Indonesiens 7. Präsident sein Amt an, der Javaner Joko Widodo , der auch bei offi ziel-

len Gelegenheiten schlicht » Jokowi« genannt wird. An der Zeremonie nahmen alle noch lebenden früheren Präsidenten teil, Bacharuddin Jusuf Habibie , Frau Megawati Sukarnopu-teri und Jokowis unmittelbarer Vorgänger Susilo Bambang Yudhoyono . Die größte Aufmerksamkeit kam jedoch der Tatsache zu, dass auch Prabowo Subiyanto , Jokowis erbit-terter Gegenkandidat bei den Präsidentschaftswahlen, dem Sieger gratulierte und seine Unterstützung zusagte. Damit ging eine Zeit der Konfrontation zu Ende, wie sie schlimmer nicht hätte sein können.

Jokowis Wahl bedeutet für viele Indonesier den Beginn einer neuen Ära. Mit ihm übernimmt zum ersten Mal eine Generation die Führung des Landes, die keine Verbindung zu den alten Machtstrukturen der sogenannten »Neuen Ord-nung« General Suhartos hat. Jokowi ist mit 53 Jahren relativ jung, pfl egt keinerlei Nähe zum Suharto -Clan oder den chi-nesischen Wirtschaftskonglomeraten, den sogenannten cro-nies, die selbst nach Suhartos Sturz große wirtschaftliche Macht ausüben. Auch einen militärischen Hintergrund besitzt Jokowi nicht. Sein Stellvertreter im Amt, der 72-jährige Jusuf Kalla , war schon einmal zwischen 2004 und 2009 Vizepräsi-dent von Präsident Susilo Bambang Yudhoyono . Kalla ist ein reicher traditioneller buginesischer Geschäftsmann aus Südsulawesi. Doch auch er gehörte nicht zu den Suharto -nahen Konglomeraten. Kalla gilt als nicht fanatischer Muslim und verschafft Jokowi zusätzliche islamische Legitimität. Er hat den Ruf eines abgebrühten Politikers, der die dringend benötigte Professionalität für das Regierungsgeschäft mit-bringt.

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Der Gegensatz zwischen den Präsidentschaftskandidaten Probowo und Jokowi hätte nicht größer sein können: hier der 1951 geborene Prabowo , ein ehemaliger General aus der Zeit Diktator Suhartos und Kommandant der berüchtigten Kopassus, einer Elitetruppe der Armee. Dort der ehemalige Möbelhändler Joko Widodo . Jokowi ist ein bescheidener Mann, der, als er noch Gouverneur von Großjakarta war, mit dem Fahrrad zur Arbeit fuhr. Prabowo dagegen liebt gran-diose Auftritte. Zum Auftakt seiner Wahlkampagne im Mai 2014 ritt er, an Mussolini erinnernd, hoch zu Ross in ein Stadion in Jakarta ein, wo seine Anhänger ihn mit frenetischem Applaus empfi ngen. Prabowos Vater, Professor Sumitro Djojohadikusumo , musste 1957 aus Indonesien fl iehen, weil er am PRRI-Aufstand in Sumatra teilgenommen hatte. Nach Suhartos Machtübernahme kehrte er zurück und wurde Handels-, später Forschungsminister. Prabowos Vater war ein muslimischer Javaner und mit einer protestantischen Christin aus Nordsulawesi verheiratet. Prabowo selbst ist Muslim. Seine katholische Schwester Maria Biatiningsih heiratete Professor Sudradjat Djiwandono, einen Katholiken, der unter Suharto Gouverneur der indonesischen Staatsbank wurde. Prabowos jüngerer Bruder, Hashim Djojohadikusu-mo , wiederum ist ein new born Christian und einer der reichs-ten Männer des Landes. Im Wahlkampf stellte er seinem Bruder unbegrenzte Finanzmittel zur Verfügung und sorgte dafür, dass viele evangelikale und charismatische Christen sich hinter ihn scharten. Prabowo selbst war 1970 zur Armee gegangen und machte bei den Kopassus-Elitetruppen, die er später anführte, Karriere. 1983 heiratete er eine Tochter von Präsident Suharto1. Als Kommandant der Kopassus-Truppen

1 Suhartos Name, und viele andere Namen wie » Sukarno«, wird in Indone-sien meist noch nach der inzwischen abgeschafften niederländischen Tran-skription als »Soeharto«, »Soekarno« geschrieben. Ich schreibe im Folgen-den dieses niederländische »oe« immer als »u«, wie es ja auch im Indone-sischen ausgesprochen wird.

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führte er jahrelang Kommandoaktionen gegen Guerillas im indonesisch besetzten Osttimor durch und soll Gerüchten zufolge in schwere Menschenrechtsverletzungen verwickelt gewesen sein. Als Präsident Suharto Anfang der neunziger Jahre seinen Schwenk zum Islam vollzog und damit eine Politik der Islamisierung einleitete, galt Prabowo als einer der Anführer der »Grünen«, also der islamistischen Fraktion in der Armee, die diese von Anhängern des früheren katho-lischen Oberkommandierenden Benny Murdani säubern und die sogenannte »rot-weiße Fraktion« der »Nationalisten« an den Rand drängen wollte. 1998 machte Suharto Prabowo schließlich zum Chef der strategischen Reserve (diesen Pos-ten hatte Suharto selbst 1965 eingenommen, als sein Aufstieg zum Präsidenten begann). Prabowos Karriereglück wende-te sich mit den Ausschreitungen im Mai 1998, die zum Stur-ze Suhartos führten. Immer noch wird er als der Anstifter dieser Unruhen gesehen, bei denen etwa 1.300 Menschen starben, obwohl es bis heute dafür keinerlei Beweise gibt. Auffallend ist allerdings, dass Suharto kurz vor seinem Sturz seinen Schwiegersohn plötzlich fallen ließ. Als dem neu ver-eidigten Präsidenten Habibie am 21. Mai 1998 gemeldet wur-de, Kopassus-Truppen seien dabei, den Präsidentenpalast zu umzingeln, setzte er Prabowo , der laut protestierte, ab. We-nig später stellte General Wiranto , Oberkommandierender der Streitkräfte und Prabowos Erzfeind, diesen wegen Ver-schleppung und Folterung von neun Aktivisten vor einen Ehrenausschuss des Militärs. Auf dessen Votum hin wurde Prabowo von Präsident Habibie aus dem Militär entlassen. Prabowo ging für mehr als ein Jahr nach Jordanien ins Exil. Suhartos Tochter hatte sich inzwischen von ihm scheiden lassen. 2002 kehrte Prabowo wieder nach Indonesien zurück und begann, ganz langsam seine eine Präsidentschaftskandi-datur vorzubereiten. Bei den Wahlen 2009 war er bereits Kandidat für die Vizepräsidentschaft von Megawati Sukar-noputeri , die aber gegen Susilo Bambang Yudhoyono keine

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Chance hatte. Dann begann Prabowo , sich selbst als Präsi-dentschaftskandidat für 2014 öffentlich ins Spiel zu bringen. Anfang 2013 sah es so aus, als könne niemand ihn stoppen, bis Jokowi plötzlich aus dem Nichts auftauchte.

Joko Widodo wurde 1961 in einfachsten Verhältnissen in der mitteljavanischen Großstadt Surakarta, auch Solo genannt, einem Zentrum der javanischen Kultur, geboren. Er baute einen fl orierenden Möbelhandel über ganz Indonesien auf und exportierte auch ins Ausland. 2005 gewann er die Wahl zum Bürgermeister von Solo, und 2010 wurde er mit 91 Pro-zent aller Stimmen wiedergewählt, was für Indonesien ein ganz ungewöhnliches Ergebnis war. 2012 kürte ihn die City Majors Foundation zum »drittbesten Bürgermeister der Welt«. Im selben Jahr gewann er die Wahl zum Gouverneur der Hauptstadt Jakarta, bei der er von Megawatis PDIP und Prabowos Gerindra Partei unterstützt wurde. Jokowi wirkt wie »ein Mann vom Dorf«, geht gern unter die Leute, gehört eindeutig nicht zum Klüngel der großen Gesellschaft der Hauptstadt und hat auch keine Auslandserfahrung. In Jakar-ta war er sofort überaus beliebt, nicht zuletzt wegen seiner Gewohnheit des blusukan, sich zum Beispiel auf einem Markt einfach unter Leute zu mischen oder vor Ort persönlich mit Kleinhändlern zu sprechen, die er vom Bürgersteig in Markt-hallen umsiedeln wollte. Jokowi und sein christlich-chine-sischstämmiger Vize Basuki »Ahok« Tjahaya Purnama schaff-ten in den ersten anderthalb Jahren in Jakarta mehr als ihre Vorgänger in der gesamten fünfjährigen Amtszeit. Jokowi begann mit der gründlichen Säuberung der verstopften Ka-näle und mit dem seit zehn Jahren geplanten Bau einer Unter-grundbahn, es gelang ihm, Straßenhändler dazu zu bewegen, dass sie freiwillig in eigens zur Verfügung gestellte Markt-hallen umziehen, für Slumbewohner ließ er Wohnungen bauen, bevor die Slums abgerissen wurden, und er hat es schneller als die staatliche Gesundheitsversicherung, die jetzt erst anläuft, geschafft, dass alle Bürger von Jakarta, die als

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arm registriert sind, kostenlos eine ärztliche Grundversorgung in Anspruch nehmen konnten.

Seine Erfolge hatten eine Konsequenz, die vor allem Pra-bowo schockierte. Binnen Kurzem wurde der neue Gouver-neur als Kandidat für die Präsidentschaftswahlen 2014 ge-handelt. Prabowo lag in Umfragen von 2013 mit etwa 18 Pro-zent aller Stimmen unangefochten an der Spitze aller Präsidentschaftskandidaten, von denen keiner auf mehr als 7 Prozent kam. Und plötzlich wurde er von Jokowi links überholt mit Umfragewerten von über 45 Prozent. Prabowo sah Jokowis Präsidentschaftskandidatur als Verrat an, hatte er doch mitgeholfen, ihn in den Gouverneurssessel von Ja-karta zu heben. Viele allerdings sagten, dass jemand, der im Volk so viel Unterstützung genießt, das Recht, ja, die Pfl icht hat, dem populären Ruf nachzukommen. Am Ende erfüllten nur zwei Bewerber die gesetzlichen Bestimmungen, um als Präsidentschaftskandidat aufgestellt zu werden: Jokowi und Prabowo .

Jokowis Stern brachte Prabowos Wahllager in Panik. Es folgte der schmutzigste Wahlkampf in Indonesiens Geschich-te. Jokowi musste eine beispiellose Kampagne bis direkt vor den Wahlen über sich ergehen lassen. Erst wollte man ihn als Gouverneur von Jakarta in einen Korruptionsfall verwickeln, was nicht gelang. Dann wurden an islamischen Koranschu-len systematisch Flugzettel verteilt, auf denen es hieß, Joko-wi sei in Wirklichkeit kein Javaner, sondern Chinese aus Singapur und heimlicher Christ. Jokowi wolle Indonesien in die Hände von Nichtgläubigen übergeben (sein Stellver-treter und Nachfolger als Bürgermeister in Solo ist ein Ka-tholik, und sein Stellvertreter und Nachfolger als Gouverneur von Groß-Jakarta ist der schon erwähnte Christ Basuki »Ahok« Tjahaja Purnama). In Moscheen wurde gepredigt, Jokowi zu wählen sei Sünde (haram). Prabowo avancierte zum Hoffnungsträger vieler islamischer Hardlinergruppen, und ein bekannter islamischer Politiker erhob ihn gar zum

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Führer im heiligen Krieg. Die beiden islamischen Großor-ganisationen Muhammadiyah und Nahdlatul Ulama allerdings erklärten ihre Neutralität. Vor diesem Hintergrund ist es erstaunlich, dass Prabowos protestantischer Bruder Hashim viele evangelikale und charismatische Christen als beinahe fanatische Befürworter Prabowo gewinnen konnte.

Auch Prabowo wurden Vorwürfe gemacht, die sich nicht beweisen ließen und die im Wahlkampf schließlich keine Rolle mehr spielten. Er habe die jordanische Staatsangehörig-keit angenommen, er habe die Unruhen im Mai 1998 ange-zettelt, seine Leute hätten außer den neun Aktivisten, für die er aus der Armee ausgeschlossen wurde, zwölf weitere ver-schleppt, die seitdem verschwunden sind, und dass er zahl-reiche Menschenrechtsverletzungen auf dem Gewissen habe.

Jokowis Wahlkampfmaschine war alles andere als kom-petent. Ständige Umfragen meldeten übereinstimmend, dass Jokowis Vorsprung vor Prabowo zusehends dahinschmolz. Zwei Wochen vor den Wahlen war er auf zwei Prozent ge-sunken. Erstaunlicherweise gewann Jokowi , der eher stotternd spricht, die vier Fernsehdebatten mit Prabowo , der auch kein guter Redner ist, deutlich. Am 9. Juli wurde gewählt. Sieben seriöse quickcounts sahen alle eine Mehrheit von 4 bis 6 Pro-zent für Jokowi /Kalla , drei, die gekauft waren, ließen Pra-bowo /Rajasa mit einer Mehrheit von 2 Prozent gewinnen. Am 22. Juli gab die Wahlkommission das offi zielle Endergeb-nis bekannt. Es fi el deutlicher aus als erwartet. Von 192 Mil-lionen Wahlberechtigten waren 133,6 Millionen zur Wahl gegangen, die Wahlbeteiligung lag also etwas über 69 Prozent. Jokowi erhielt 53,15 Prozent, Prabowo 46,85 Prozent der Stimmen. Der klare Vorsprung betrug also 8,42 Millionen Stimmen.

Damit war das Drama aber noch nicht zu Ende. Im Gegen-teil, die politische Situation Indonesiens wurde immer be-denklicher. Prabowo weigerte sich, das Wahlergebnis anzu-erkennen und zog vor das Verfassungsgericht, um die Wahlen

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wegen angeblich »systematischer, massiver und strukturierter Wahlfälschung« für ungültig erklären zu lassen. Dafür gab es allerdings nach Auffassung unparteiischer Beobachter keiner-lei Anzeichen. Am 21. August 2014 wies das Verfassungs-gericht die Klage Prabowos als völlig unbegründet ab und erklärte die Präsidentschaftswahlen für gültig. Damit war die Frage, wer für die nächsten fünf Jahre Präsident Indonesiens wird, endgültig entschieden.

Aber es entstand eine Situation, die in Indonesien immer wieder mit der Lähmung des amerikanischen Präsidenten Barak Obama durch einen auf Obstruktion spielenden, re-publikanisch beherrschten Kongress verglichen wurde. Sechs Parteien hatten Prabowo im Wahlkampf unterstützt. Zu-sammen verfügten sie im Parlament über eine satte Mehrheit von 63 Prozent und schlossen sich zur »Rot-Weißen Koali-tion« (nach den indonesischen Nationalfarben rot und weiß) zusammen. Sie versuchten, Jokowi das Regieren schwer zu machen. Als ersten demonstrativen Akt ihrer Macht erließen sie gegen starke Widerstände in der indonesischen Gesell-schaft ein Gesetz, das die 2005 eingeführte direkte Wahl der Provinzgouverneure und Distriktvorsitzenden (Bupatis) durch das Volk wieder abschaffte und sie wie früher durch die Provinz- und Distriktparlamente wählen ließ. Dieses Gesetz wurde von vielen als erster Schritt zum Abbau der Nach-Suharto -Demokratie gesehen, zumal Prabowo ver-lauten ließ, dass auch der Präsident nicht direkt durch das Volk, sondern, wie in der Verfassung von 1945, besser durch den Ratgebenden Volkskongress gewählt werden sollte, wo-bei dieser selbst nur zu einem Teil aus gewählten Vertretern bestand. Da in fast allen Provinz- und Distriktparlamenten die Rot-Weiße Koalition die Mehrheit hatte, würde das neue Gesetz dazu führen, dass in beinahe allen Provinzen und Distrikten die Pro-Prabowo -Partei das Sagen hat. Danach änderte die Rot-Weiße Koalition die Geschäftsordnung des indonesischen Parlaments, nach der bisher die stärkste Par-

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tei den Parlamentsvorsitzenden stellte, und besetzte sämt-liche Vorsitzendenposten, auch die der Parlamentskommis-sionen, mit eigenen Leuten. Damit konnte die Prabowo -Koalition den neuen Präsidenten praktisch vollkommen blockieren, zumal Jokowi von seinem Vorgänger einen Haus-halt »geerbt« hat, der für 2015 bindend ist und ihm keine Möglichkeit lässt, eigene Programme zu fi nanzieren. Da auch der Ratgebende Volkskongress, der den neuen Präsidenten am 20. Oktober ins Amt einzuführen hat, von der Rot-Wei-ßen Koalition beherrscht ist, war nicht auszuschließen, dass er sich sogar weigern würde, Jokowi einzuführen. Daraufhin erklärte die Regierungskoalition sich zum Gegenparlament, natürlich ohne rechtliche Grundlage. Das Parlament war also in zwei sich befehdende Blöcke gespalten.

Dies war sicherlich die ernsteste innerstaatliche Konfron-tation seit dem Sturze Suhartos . Eine völlig gelähmte Regie-rung hätte Indonesien in eine schwere Krise geführt, und manche Beobachter sahen bereits die Möglichkeit einer Macht-übernahme durch das Militär nach thailändischem Muster voraus. Diese düstere Situation hellte sich aber innerhalb von nur einer Woche auf. Im September hatte die islamische Par-tei PPP ihren der Korruption verdächtigen Vorsitzenden und ehemaligen Religionsminister gestürzt und sich Jokowi an-geschlossen. Mit der PPP verfügten seine fünf Parteien jetzt immerhin über 44 Prozent der Sitze. Doch das eigentliche Kunststück zur Lösung der verhärteten Fronten vollbrachte Jokowi selbst: Zehn Tage vor seiner Amtseinführung lud er die Präsidenten des Ratgebenden Volkskongresses und des Parlamentes zu sich ein. Daraufhin erklärte der Präsident des Ratgebenden Volkskongresses, die Amtseinführung Jokowis werde reibungslos vonstattengehen. Dann stattete Jokowi mehreren Parteiführern der Rot-Weißen Koalition und schließ-lich sogar Prabowo einen Besuch ab. Sein Rivale gratulierte ihm jetzt zur Präsidentschaft und meinte, Jokowi können ein guter Präsident werden. Er werde ihn so lange unterstützen,

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wie er nicht »gegen das Volk« regiere. Bei der Amtseinführung am 20. Oktober saß Prabowo mit auf der Tribüne.

Damit war die Gefahr einer totalen, kommunikations-losen Erstarrung der Regierung Jokowi /Kalla durch die op-positionelle Rot-Weiße Koalition zunächst gebannt. Nach allgemeiner Meinung hat Jokowi hier durch seine mentale Stärke den Sieg davon getragen. Sein unbeirrt positiver Stil – nie ein persönlicher Angriff, immer die Ruhe bewahren, immer freundlich gegenüber aller Opposition – trug Früch-te. Es ist wohl nicht übertrieben, aus diesem Meisterstück politischer Kommunikation auf die hohen politischen Fähig-keiten des neuen Präsidenten zu schließen.

Allerdings blieb die Spaltung des Parlaments zunächst bestehen. Aber auch hier siegte schließlich unter massivem Druck aus der Bevölkerung die Bereitschaft beider Blöcke, die permanente Totalkonfrontation zu beenden. Nach drei Wochen einigten sich schließlich die Rot-Weiße und die Jokowi -Koalition auf einen Kompromiss, der seitdem Gül-tigkeit zu haben scheint. Zwar steht Jokowi immer noch einer oppositionellen Mehrheit im Parlament gegenüber – es sei denn, irgendeine eine Partei wie zum Beispiel Golkar würde nach ihrem nächsten Parteikongress zur Jokowi Koalition hinüberwechseln –, aber die Obstruktionsdrohung dürfte vom Tisch sein. Dass die verfeindeten Parteien wieder normal miteinander arbeiten, ist ein ermutigendes Zeichen für die Zukunft der indonesischen Demokratie.

Viele Indonesier sind der Meinung, dass mit der Präsident-schaft Jokowis die Phase demokratischer Konsolidierung, die rund anderthalb Jahrzehnte dauerte, abgeschlossen sei und ein neues Blatt in der indonesischen Geschichte aufge-schlagen wurde. Diese sechzehn Schlüsseljahre für die Demo-kratisierung Indonesiens seit dem Sturz Suhartos sind das Thema des folgenden Kapitels.

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Zweites Kapitel

1998–2014: Eine Demokratie stabilisiert sich – Suharto tritt zurück

Es war 10 Uhr westindonesischer Zeit am 21. Mai 1998. Auf diesen Augenblick hatten Millionen Indonesier ge-

wartet. Suharto , seit 1968 Präsident der Republik Indonesien, erklärte, umgeben von seiner engsten Mitarbeitern und über-tragen vom nationalen Fernsehen, mit ruhiger Miene, dass er in diesem Augenblick das Amt des Präsidenten niederlege. Der Verfassung folgend, wurde nunmehr der amtierende Vizepräsident Bacharuddin Jusuf Habibie auf das Amt des Präsidenten vereidigt. Er war damit der dritte Präsident In-donesiens, des viertgrößten Landes der Welt.

Diesem Moment waren Wochen der Spannungen und Unruhen vorausgegangen. Im Juni 1997 hatte in Thailand die südostasiatische Finanzkrise mit der Abwertung des Bath begonnen. Einen Monat später – Indonesien hatte die Fi-nanzkrise noch nicht zu spüren bekommen –, fanden die turnusgemäßen Parlamentswahlen statt. Die Regierungs-partei Golkar gewann erwartungsgemäß mit 72 Prozent aller Stimmen. Aber die Finanzkrise weitete sich, von Thailand kommend, weiter aus. Bald erreichte sie auch andere Länder. Im August musste Indonesien den festen Wechselkurs von 2.400 Rupiah für einen US-Dollar aufgeben. Innerhalb we-niger Tage fi el der Rupiah auf 6.000:1. Nun rief Indonesien den Internationalen Währungsfonds (IWF) um Hilfe an. Die daraufhin getroffenen Maßnahmen, darunter die Schließung von zwanzig maroden Banken, half nichts. Als Suharto im Januar bekannt gab, er wolle seinen langjährigen Techno-logieminister und Lieblingsschüler Habibie als Vizepräsi-denten einsetzen, stürzte der Kurs der Rupiah sogar kurz-

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fristig auf 18.000:1 ab. Die indonesische Währung hatte also sechs Siebtel ihres alten Wertes verloren. Die indonesische Wirtschaft brach um etwa 10 Prozent ein. In den Städten begannen die Menschen, Lebensmittel zu horten. An Javas Nordküste wurden chinesische Geschäfte geplündert. Im Februar gab es in Jakarta, Medan, Solo und Yogyakarta ers-te Studentendemonstrationen gegen Suharto .

Im März 1998 stellte der Präsident sein neues, 9. Kabinett vor. Gegen den Wunsch des Militärs setzte Suharto durch, dass Habibie vom Ratgebenden Volkskongress (MPR)1 zum Vizepräsidenten gewählt wurde. Habibie , der als »Techno-logiezar« von Suharto seit 20 Jahren freie Hand und unbe-grenzte Mittel zum Aufbau einer indonesischen Flugzeug-industrie erhalten hatte, war 1991 auf Wunsch Suhartos zum Chef des ICMI, des »Verbandes indonesischer muslimischer Intellektueller«, gewählt worden. Er galt als Günstling Su-hartos . Da nach der indonesischen Verfassung der Vizeprä-sident automatisch die Präsidentschaft übernimmt, wenn der Präsident an der weiteren Ausübung seines Amtes gehindert ist, und da viele bezweifelten, dass der inzwischen 77 Jahre alte Suharto noch weitere fünf Jahre als Präsident durch-halten würde, deutete sich mit Habibies Wahl zum Vize-präsidenten Indonesiens seine mögliche Machtübernahme in absehbarer Zeit an. Politisch unterstützt wurde Habibie nur von den Muslimen des ICMI, während die Mehrheit des Militärs und sämtliche Gegner Suhartos ihn ablehnten. Das neue Kabinett erinnerte viele Indonesier an das sogenannte »100-Minister-Kabinett« Präsident Sukarnos im Januar 1966 (es zählte beinahe hundert Mitglieder), das zwar für einen kurzen Augenblick den Eindruck von Stärke vermittelte, aber gewaltige Studentendemonstrationen zur Folge hatte

1 Der Ratgebende Volkskongress, Majelis Permusyawaratan Rakyat, MPR, ist das höchste Staatsorgan in Indonesien, kann die Verfassung ändern und wählte bis 2004 den Präsidenten.

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und mit der Machtübernahme Suhartos am 11. März 1966 ein abruptes Ende fand.

Jetzt gingen die Demonstrationen erst richtig los. Während sich die beiden Hauptgegner Suhartos , Abdurrachman Wa-hid , Vorsitzender der großen islamischen Nahdlatul Ulama Organisation (NU), der im Januar 1998 einen Schlaganfall erlitt, und die Sukarno-Tochter Megawati , zurückhielten, bot sich der Chef der zweitgrößten islamischen Organisation des Landes, der Muhammadiyah, Prof. Dr. Amien Rais , immer mehr als Ansprechpartner für die demonstrierenden Studenten an. Amien Rais hatte früher als islamischer Scharf-macher gegolten, seinen Kurs aber Mitte 1997 geändert. Im Januar 1998 kritisierte er als einziger die Plünderungen chi-nesischer Geschäfte durch randalierende Mobs. Anfang Mai hatte Rais die »Gesellschaft für die Interessen des Volkes« (Masyarakat Amanat Rakyat, MAR) gegründet, zu der er Persönlichkeiten aller oppositionellen Richtungen (mich eingeschlossen) einlud, um für einen eventuellen Umsturz vorbereitet zu sein.

Suharto gab zwar Befehl, Demonstrationen nur innerhalb des Universitätscampus zuzulassen, doch das Militär legte den Befehl großzügig aus. Die Demonstrationen gingen un-vermindert weiter. Am 10. Mai erhöhte die Regierung, einer Forderung des IWF gehorchend, die Benzinpreise. Daraufhin kam es in der nordsumatranischen Stadt Medan zu schweren Ausschreitungen. Drei Tage später, am 13. Mai, machten sich Zehntausende von Studenten der Trisakti-Universität in West-jakarta auf, anderswo zu demonstrieren. Als das Militär die Studenten auf das Universitätsgelände zurückdrängte, er-schossen Scharfschützen offenbar von einer Fußgängerbrücke aus vier Studenten. Bis heute ist der Vorfall nicht aufgeklärt.

An den nächsten beiden Tagen erlebte Jakarta die schlimms-ten Unruhen in seiner Geschichte. Etwa 4.000 Gebäude wur-den abgebrannt. 1.300 Menschen kamen ums Leben, die meisten von ihnen Plünderer. Es ging das Gerücht, dass

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diese von jungen Männern mit militärischem Haarschnitt aufgefordert worden waren, sich in den Malls zu bedienen. Daraufhin wurden die Ausgänge verriegelt und die Gebäude angezündet. In der Yogyakarta-Mall im Stadtteil Klender in Ostjakarta fand man rund 300 bis zur Unkenntlichkeit ver-brannte Leichen. Die Unruhen richteten sich vor allem gegen Indonesier chinesischer Abstammung, denen die meisten gebrandschatzten Gebäude gehörten. Mindesten 50 chinesi-sche Frauen wurden vergewaltigt.2 Ähnliche Unruhen fanden in vielen anderen indonesischen Städten statt, besonders im mitteljavanischen Solo. Am 16. Mai kehrte Suharto vorzeitig aus Kairo zurück, wohin er zu einer Konferenz der block-freien Staaten gereist war. In den Medien wurde verbreitet, er habe in Kairo seinen Rücktritt angeboten. Aber Suharto leugnete das. Er versprach grundlegende Verbesserungen, so auch ein neues Kabinett. Aber er versuchte, an der Macht zu bleiben. Doch sogar enge frühere Mitarbeiter sagten ihm, es sei Zeit zu gehen. So gab Suharto am 21. Mai 1998 die Macht nach 32 Jahren an seinen Vize Habibie ab.

1 Zwei Tage höchster Spannung

Habibies erste beiden Tage im Amt waren turbulent. Seine Machtübernahme wurde zwar von den Muslimen des ICMI begrüßt, aber die Studentendemonstrationen gingen unver-mindert weiter. Die Studenten hatten inzwischen das Parla-ment besetzt und forderten die Einsetzung einer kollektiven Führung als vorläufi ge Regierung. Habibie , der als Kreatur Suhartos galt, sollte gehen und Golkar, die unter Suharto Regierungspartei war, verboten werden.

2 So das offi zielle Ergebnis einer von Präsident Habibie eingesetzten Unter-suchungskommission. Aktivisten kommen auf mehr als 200 Vergewalti-gungen.

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Am Abend des 21. Mai, seines ersten Tages im Amt, erhielt Habibie die Meldung, dass General Prabowo Subiyanto , Suhartos Schwiegersohn und Befehlshaber der strategischen Reserve, früher von ihm befehligte Kopassus-Elitetruppen in die Stadt geführt habe. Daraufhin setzte Habibie Prabowo ab. Sein Nachfolger wurde der christliche General Johny Lumintang , allerdings nur für 17 Stunden. Muslimische Poli-tiker und Freunde protestierten sofort bei Habibie , dass es in einer so angespannten Lage politisch unverantwortlich sei, einen Christen mit dieser strategisch so bedeutsamen Position zu betrauen. General Lumintang verlor seinen Posten. In-zwischen war es Abend geworden. Auf Rat von Militärchef Wiranto hatte Habibie seine Familie in Sicherheit bringen lassen. Da wurde Besuch beim Präsidenten gemeldet. Es war Prabowo Subiyanto . Prabowo musste sich gefallen lassen, dass Habibies Assistent Sintong Panjaitan seine Pistole an sich nahm mit den Worten, zum Präsidenten komme man nicht bewaffnet. General Sintong war Militärkommandant von Ostindonesien gewesen und 1992 aus dem Militär ent-lassen worden. Grund war das Massaker in Dilli, der Haupt-stadt von Osttimor, für das vermutlich gar nicht Sintongs Truppen, sondern Sonderverbände unter Prabowos Kom-mando verantwortlich waren. Dieser beschuldigte jedoch Habibie , ein früheres Versprechen nicht eingehalten zu haben, nämlich ihn, Prabowo , zum Oberkommandierenden der Streitkräfte zu machen. Jetzt forderte er wenigstens seinen Posten als Kommandierender der Strategischen Reserve zu-rück. Aber die Situation war bereits umgeschlagen. Auf Wunsch Wirantos wurde ein Bataillon von Marinekampf-truppen aus Surabaya eingefl ogen, das an strategisch wich-tigen Stellen der Hauptstadt mit schweren Waffen in Stellung ging. Habibie lehnte ab. Daraufhin ging Prabowo zu seinem Schwiegervater3 Suharto . Aber der wollte Prabowo nicht

3 Kurz darauf ließen sich Prabowo und seine Frau Titiek scheiden.

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empfangen.4 Um zwei Uhr nachts entspannte sich die Lage in Jakarta. Die Marinetruppen, die vorher die Studenten aus dem Parlament geleitet, verließen ihre Stellungen. Die Ko-passus-Truppen waren bereits abgezogen. Was später oft als Putschversuch Prabowos bezeichnet, doch von diesem immer bestritten wurde, war gescheitert.

Entscheidend dafür dürfte gewesen sein, dass im Gefolge der Unruhen vom 14. und 15. Mai die Kinder Suhartos , selbst Prabowos Frau Siti Hediati Hariyadi (»Titiek «), vor ihrem Schwager und Mann Angst bekommen hatten und nun zu Prabowos Rivalen, Oberbefehlshaber General Wiranto hiel-ten. Eigentlich lässt sich das nur dadurch erklären, dass die Suharto -Kinder in Prabowo den Anstifter der Unruhen sahen. Gerüchten zufolge wollte Prabowo Suharto zeigen, dass Wiranto nicht in der Lage sei, die öffentliche Ordnung auf-rechtzuerhalten, um dann, als Krönung seiner steilen Militär-karriere, selbst als Oberkommandierender eingesetzt zu werden. Doch Suharto ließ sich von seinen Kindern drängen, an Wiranto festzuhalten. Prabowo selbst bestreitet jede Ver-wicklung in die Unruhen und beschuldigt indirekt Wiranto . Tatsächlich hatte Wiranto trotz der beginnenden Unruhen die gesamte Militärspitze Indonesiens für den 14. Mai in die ostjavanische Stadt Malang zu einer ganz unbedeutenden Veranstaltung beordert und dafür bis heute keine überzeu-gende Erklärung geliefert. Prabowo behauptet, er habe Wi-ranto wiederholt aufgefordert, die Einladung wegen der drohenden Unruhen zurückzunehmen. Bis heute ist dunkel, wer die Mai-Unruhen, die solche Verwüstungen anrichteten,

4 Es wird gemunkelt, dass Prabowo damit rechnete, sein Schwiegervater Suharto werde den Oberbefehlshaber des indonesischen Militärs, General Wiranto , infolge der Unruhen absetzen und ihn selbst an seiner Stelle ein-setzen. Aber die Rechnung ging nicht auf. Es scheint, dass Suhartos Kinder während der Unruhen vom 13. bis zum 15. Mai vor ihrem Schwager Pra-bowo Angst bekommen hatten und Suharto nach seiner Rückkehr aus Kairo überredeten, an Wiranto festzuhalten.

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die zum Sturze Suhartos und zum Ende seiner »Neuen Ord-nung« führten, nun eigentlich angestiftet hat.

2 Die Überraschung Habibie

Die Studentendemonstrationen, die zu Suhartos Sturz führ-ten, gingen alsbald wieder los und richteten sich nun gegen Habibie . Als ehemaliger Vize und engster Vertrauter Suhar-tos galt er den Revolutionären der Reformasi – so wurden der Sturz Suhartos und das Ende des Neuen Ordnung be-zeichnet, um das Wort Revolusi zu vermeiden – als gefähr-liches Überbleibsel des Suharto -Regimes. Doch ihn zu stür-zen, gelang nicht, da General Wiranto Habibie unterstützte.

Habibie selbst hatte offenbar eingesehen, dass nur eine demokratische Öffnung des Landes ein Auseinanderbrechen verhindern würde. Schon eine Woche nach seinem Amts-antritt traf er entscheidende Maßnahmen, um in Indonesien die Demokratie wieder einzuführen. Er schaffte die Presse-zensur ab, ließ politische Häftlinge frei und verkündete, dass politische Parteien gegründet werden dürften. Einerseits war er als Chef des ICMI die große Hoffnung der Muslime, andererseits misstrauten ihm viele Christen, und tatsächlich saßen führende ICMI-Vertreter in Habibies Kabinett. Aus diesem Grund holte er sich Christen, darunter Frans Seda, einen führenden katholischen Politiker, der schon unter Su-karno Minister gewesen war, als Berater in sein Team und verfolgte von Anfang an eine ausgewogen nationale, keines-wegs islamlastige Politik. Entscheidend war, dass er für 1999 Neuwahlen versprach. Im November 1998 trat der Ratge-bende Volkskongress (MPR), der als verfassunggebende Versammlung die höchste Autorität in Indonesien darstellte, unter schweren Studentenprotesten zusammen. Allerdings tat er etwas Beachtliches: Der MPR fügte in einem Erlass den größten Teil der Klauseln aus der Menschenrechtserklärung

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der Vereinten Nationen von 1948 als Anhang in die indone-sische Verfassung ein. Innerhalb weniger Wochen war Indo-nesien ein freiheitlicher Staat geworden.

Ich fragte Habibie sehr viel später, woher er den Mut ge-nommen habe, gegen den Widerstand des Militärs die Demo-kratie einzuführen. Er antwortete mir, das sei eine Frage der Geschwindigkeit gewesen. Er habe seine Maßnahmen so schnell ergriffen, dass das Militär nichts dagegen tun konnte. Habibie hatte exakt kalkuliert, dass das Militär sich keinen Zweifrontenkrieg leisten würde: Einerseits die Studenten in Schach halten und andrerseits gegen den Präsidenten Wider-stand leisten – das wäre zu viel gewesen.

Eine andere weitreichende Initiative Habibies , die vom MPR beschlossen wurde und ihm zum Vorteil gereichte, war die sogenannte Autonomie der Regionen. Seit Mitte 1950 war Indonesien als zentralistischer Einheitsstaat regiert wor-den, alle wichtigen Entscheidungen wurden in Jakarta ge-troffen. Durch das neue Gesetz änderte sich das. Die Pro-vinzen und Distrikte (Kabupaten) – aktuell 34 Provinzen und 510 Distrikte – erhielten weitreichende Autonomie-rechte, was Entwicklungspläne und Finanzen anging, außer-dem sollten Provinzgouverneure, Provinzparlamente und Distriktleiter künftig direkt von der Bevölkerung gewählt werden sollten, was der Entwicklung noch mehr Dynamik verlieh.

3 Osttimor

Den größten Schock versetzte Habibie dem indonesischen Volk, und vor allem dem Militär, im Dezember 1998, als er der Bevölkerung des seit 1975 von Indonesien besetzten und zu einer Provinz erhobenen Osttimor ein bis dahin unerhör-tes Angebot machte: nämlich in einer Abstimmung darüber zu befi nden, ob sie einen besonderen Autonomiestatus für

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die nächsten zehn Jahre akzeptieren würde, um danach eben-so frei darüber abzustimmen, ob Osttimor weiter mit Indo-nesien vereint bleiben oder Indonesien verlassen sollte. Ha-bibie war der Meinung, dieses Angebot sei so verlockend, dass es mit großer Mehrheit angenommen würde. Für den Fall einer Ablehnung sollten die Osttimorer sofort in die Unabhängigkeit entlassen werden, denn dann würde die Abstimmung in zehn Jahren vermutlich auch gegen Indone-sien ausgehen. Warum sollte man mit dieser Perspektive für weitere zehn Jahre Gelder in Osttimor investieren? (Bei allen Gräuelnachrichten über Menschenrechtsverletzungen durch indonesisches Militär in Osttimor wird oft übersehen, dass Indonesiens Regierungen kontinuierlich große Summen in Osttimors Verkehrsnetz, Schulen und Krankenhäuser in-vestiert hatten).

Habibies Angebot an die Osttimorer kam für seine Lands-leute wie aus heiterem Himmel. Der indonesischen Außen-minister Ali Alatas , ein international sehr angesehener Mann, war entsetzt. Er stand mitten in recht positiv verlaufenden Verhandlungen mit Portugal über eine langfristige Lösung der Osttimor-Frage, als Habibie mit seinem Vorschlag kam. Dem Militär, das Einsätze in Osttimor stets als Frage der nationalen Ehren angesehen hatte, verschlug es buchstäblich die Sprache. Ich kann mich an keinen einzigen Kommentar vonseiten des Militärs erinnern. Aber Habibie wich nicht zurück. Er forderte die Vereinten Nationen auf, die Abstim-mung zu überwachen. Sie wurde am 30. August 1999 ohne besondere Vorkommnisse durchgeführt. Eigentlich war ab-gemacht, dass mit der Verkündigung des Ergebnisses eine volle Woche gewartet werden sollte. Aber die Vereinten Nationen machten nach nur drei Tage das Ergebnis bekannt. Es lautete, dass, bei einer Wahlbeteiligung von 98 Prozent, 78,5 Prozent aller abgegebenen Stimmen das Autonomie-angebot der indonesischen Regierung abgelehnt hatten. Das aber war nichts anderes als ein Votum für die sofortige völ-

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lige Unabhängigkeit von Indonesien. Tausende von Ostti-morern, denen Schlimmes schwante, fl ohen nach (indonesisch) Westtimor. Die vom indonesischen Militär ausgebildeten osttimoresischen Milizen reagierten mit äußerster Brutalität auf das Abstimmungsergebnis. Sie verkündeten, alles abzu-reißen, was Indonesien an Schulen und öffentlichen Ein-richtungen in den letzten 25 Jahren gebaut und bezahlt habe, falls Osttimor sich unabhängig mache. Fast die Hälfte der etwa 750.000 Bewohner Osttimors verließen ihre Häuser fl uchtartig. Über 200.000 gingen ins indonesische Timor oder wurden dorthin verschleppt.

Inzwischen sind die meisten Osttimorer längst wieder in ihre Heimat zurückgekehrt, aber immer noch wohnen über 10.000 von ihnen im indonesischen Teil Timors, die meisten von ihnen sind Angehörige der proindonesischen Milizen; sie haben weiterhin Angst vor Racheakten, falls sie in ihre Heimatdörfer zurückkehren würden. Bei einem Besuch in Atambua nahe der Grenze zu Osttimor im Juli 2014 erzähl-ten mir Geistliche, diese ehemaligen Osttimorer hätten bei den Präsidentschaftswahlen alle Prabowo gewählt, weil sie hofften, dass er Osttimor wieder zurückerobern würde.

Etwa ein Drittel aller Gebäude wurde abgebrannt, mehr als tausend Zivilisten wurden ermordet, darunter auch mein ehemaliger Student, der junge javanische Jesuitenpater De-wanto , der beim sogenannten Kirchenmassaker in Suai umkam. Die Menschen hatten sich in die katholische Kirche der Stadt gefl üchtet und wurden dort von proindonesischen Milizen zusammengeschossen. Unter den anderen erschossenen Pries-tern – die Milizen hegten einen besonderen Hass gegen ka-tholische Priester, weil sie als Anhänger der osttimoresischen Unabhängigkeit galten – war auch der deutsche Jesuitenpater Karl Albrecht , der am 8. September im Vorgarten seiner klei-nen Jesuitenkommunität in Dili erschossen wurde. Erst nach einem Monat gelang es australischen Truppen der UNO, die Unruhen zu beenden. Das indonesische Militär, das sich selbst

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passiv verhalten hatte, verließ Osttimor. Osttimor selbst wur-de unter die Verwaltung der Vereinten Nationen gestellt, bis es im Jahre 2002 die endgültige Freiheit erhielt.

Hätte Präsident Habibie der Verwüstung Osttimors und dem Morden Einhalt gebieten können? Eine eindeutige Ant-wort auf diese Frage kann wohl kaum gegeben werden. Heu-te stimmen die meisten Indonesier darin überein, dass es damals höchste Zeit war, die Osttimorer selbst über ihre Zukunft entscheiden zu lassen. Genau das tat Habibie – ein kolossaler Tabubruch, hatte doch die Regierung Suharto 23 Jahre lang argumentiert, Osttimor sei ein integraler Teil Indonesiens und der Einsatz des indonesischen Militärs gegen die osttimoresischen Freiheitskämpfer eine nationale Ehren-pfl icht. Gefallene indonesische Soldaten waren »Helden«. In Wirklichkeit hat Indonesien niemals ein Recht auf die ehe-malige portugiesische Kolonie beansprucht, auch Suharto nicht. Dieser griff ganz tief in die Trickkiste politischer Vor-wände und behauptete, die Osttimorer hätten Indonesien zum Schutz vor den Kommunisten zu Hilfe gerufen und im Mai 1976 selbst um Aufnahme in die indonesische Republik gebeten.

Erst Habibie fand den Mut, an dieser Darstellung zu rütteln. Und er hatte die Kraft, selbst dann an seiner Ab-stimmungslinie festzuhalten, als deutlich wurde, dass sich keine Mehrheit für eine Autonomie Osttimors innerhalb Indonesiens fi nden ließe. Gegen sein Militär setzte er durch, dass die Abstimmung frei stattfi nden konnte. Dennoch stell-te die Preisgabe Osttimors in den Augen der meisten Indo-nesier die größte Verfehlung Habibies dar. Allerdings gab es auch andere Beurteilungen. Mich fragten zum Beispiel mus-limische Freunde, wieso die indonesischen Katholiken die osttimoresische Unabhängigkeit unterstützt hätten, die einen prozentualen Rückgang der Katholiken an der Bevölkerung Indonesiens nach sich zöge. Tatsächlich war Osttimor erst unter indonesischer Besatzung katholisch geworden. Wie in

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Angola und Mozambique waren die portugiesischen Kolo-nialherren auch in Osttimor immer faule Missionare gewesen. Als Indonesien Osttimor besetzte, waren nur 13 Prozent der Bevölkerung getauft, als Osttimor frei wurde, gab es über 90 Prozent Christen beziehungsweise Katholiken. Anders als im Ausland immer wieder berichtet, haben die indonesi-sche Regierung und das Militär in Osttimor niemals eine Islamisierungskampagne gestartet. Ganz im Gegenteil. Sie versuchten von Anfang an, sich mit der katholischen Kirche gut zu stellen, da sie wussten, dass für die Osttimorer die katholische Kirche die einzige Institution war, die ihre alte Identität gleichsam aus der Vergangenheit in das indonesische Zeitalter herüberrettete. Aus diesem Grunde akzeptierte Suharto sogar den strikt antiindonesischen Bischof und No-belpreisträger Carlos Filipe Ximenes Belo . Das war wohl auch der Hintergrund dafür, dass sich die meisten Osttimo-rer katholisch taufen ließen. Indem sie katholisch wurden, wollten sie sozusagen ihre osttimoresische Identität festigen. Meine muslimischen Fragesteller ließen durchblicken, dass sie den Auszug der Osttimorer aus Indonesien für einen Gewinn hielten (good riddence), weil dies die Nichtmuslime rein zahlenmäßig schwächte. Aus diesem Grunde war der großen muslimischen Mehrheit die Aufgabe Osttimors also gar nicht unwillkommen.

4 Reformasi

Unerwarteterweise ging unter Habibie die Reformasi, also die Erneuerung der 32 Jahre alten politischen Suharto -Or-dnung, die in Wirklichkeit eine veritable Revolution gewesen war, weiter. Im April 1999 fanden die ersten freien Wahlen Indonesiens seit 44 Jahren statt. 45 Parteien stellten sich zu Wahl – fürs Nationalparlament in Jakarta und für die Parla-mente der (damals) 30 Provinzen. Gewählt wurde nach dem