gefahr eines burgerkriegs, zeit online
DESCRIPTION
Interview with Enrique Krauze_ZeitTRANSCRIPT
AUSLAND
1
M E X I K O
"Gefahr eines Bürgerkriegs"Ein Gespräch mit dem mexikanischen Historiker undSchriftsteller Enrique Krauze über die politische Krise in seinemLandVON till skrobek | 25. August 2006 - 14:00 Uhr
Seit den Präsidentschaftswahlen vom 2. Juli kommt Mexiko nicht zur Ruhe. Anhänger des
äußerst knapp unterlegenen linken Kandidaten Andrés Manuel López Obrador blockieren
das Zentrum der Hauptstadt und fordern eine Neuauszählung der Stimmen. Obradors
Partei PRD spricht von Wahlbetrug und einer Verschwörung der Regierung gegen López
Obrador. Der Kandidat der Regierungspartei PAN, Felipe Calderón Hinojosa, sieht sich
jedoch als rechtmäßigen neuen Kandidaten.
Mexikanische Intellektuelle warnten in einem offenen Brief vor einer zunehmenden
Polarisierung und riefen zum Dialog der politischen Lager auf. Die nationale Wahlbehörde
wird am 31. August entscheiden, ob die Stimmen neu ausgezählt oder die Wahl für gültig
erklärt wird. Spätestens nach einer Woche muss in diesem Fall der neue Präsident vereidigt
werden. Obrador will sich in diesem Fall ebenfalls zum Präsidenten vereidigen lassen - dem
Land droht die offene Spaltung.
ZEIT online: Wie erfolgreich ist die Strategie von López Obrador?
Enrique Krauze: Der Aufbau demokratischer Institutionen hat lange gedauert in Mexiko,
seit zehn Jahren funktionieren sie in bewundernswerter Weise. López Obrador stellt diese
Institutionen vor eine großen Herausforderung. Ich habe gewarnt, dass Mexiko mit Obrador
als Präsidenten in eine autoritäre Diktatur abdriften würde. Das Verhalten Obradors nach
den Wahlen hat bewiesen, dass eine solche Entwicklung durchaus möglich gewesen wäre.
65 Prozent der Mexikaner haben gegen ihn gestimmt, also kann er nicht behaupten, das
mexikanische Volk zu repräsentieren. Am 16. September will er zwei Millionen Menschen
zusammenrufen. Auf dem Höhepunkt seiner Veranstaltungen vor den Wahlen waren es
300.000. Ich bezweifle, dass er eine so hohe Anzahl zusammenbekommt. Abgesehen davon
hat er jedoch einen Kern von radikalen Anhängern, die uns in eine sehr delikate Situation
gebracht haben. Die Gefahr, wenn auch nicht unmittelbar, so doch sehr real, ist die eines
Bürgerkriegs. Wir stehen hier vor dem Phänomen der Massenbewegung, wie sie von Elias
Canetti beschrieben wurde.
ZEIT online: López Obrador spricht von einer plebiszitären Demokratie. Das Gesetz dürfe
nicht über dem Willen des Volkes stehen. Ähnliches sagt Hugo Chávez, der venezolanische
Präsident. Vor allem der arme Süden Mexikos wählte López Obrador. Gleichzeitig
genießt er, im Unterschied zu Chávez, die Unterstützung einiger Unternehmer und der
Mittelschicht.
AUSLAND
2
Krauze: Die Unterstützung der Mittelschicht, vor allem in Mexiko-Stadt, kommt aus
den gebildeten Schichten. Das Problem ist, dass López Obrador durch die Besetzung der
Straßen und durch seinen radikalen Diskurs bei diesen immer mehr an Ansehen verliert.
Die mexikanische Linke war immer revolutionär, doch seit der Gründung der PRD bekennt
sie sich klar zum Parlamentarismus. Und sie hat dadurch bereits viel gewonnen. López
Obrador kann man nicht mit einem populistischen Militär wie Chávez vergleichen. Doch
mit Obrador als Präsidenten hätte sich Mexiko durchaus Venezuela angenähert.
ZEIT online: Sie haben López Obrador als tropischen Messias bezeichnet. Wie ist das zu
verstehen?
Krauze: Die Vision López Obradors eines plebiszitären, direkten Souveräns hat eine lange
Tradition in der politischen Kultur Iberoamerikas. Sie stammt aus dem 17. Jahrhundert,
von Autoren wie Francisco Suárez, die von einer direkten Verbindung zwischen dem
Anführer oder dem König mit dem Volk sprechen. Von repräsentativer Demokratie, von
einer Republik hielten diese naturgemäß nichts. Diese Einstellung spiegelt sich in dem
Führungsstil von López Obrador wieder. Er ist eine anachronistische Erscheinung, die
sowohl der Radikalität der mexikanischen Sechziger, als auch einer sehr ideologischen
Lesart der Geschichte dieses Landes entstammt. López Obrador fühlt sich von der
Geschichte und vom Volk berufen, die Geschichte Mexikos zu transformieren. Dort wo
alles schlecht ist, soll er, der reine Mensch, alles radikal verändern.
ZEIT online: Sie glauben also, dass sich López Obrador als Präsident nicht an den
konstitutionellen Rahmen halten würde?
Krauze: Ich habe ihn 2003 kennen gelernt, in der Hoffnung, vor dem Führer einer
modernen, progressiven Linken wie der Brasiliens oder Chiles zu stehen. Ich hätte mit
Begeisterung für ihn gestimmt. Mexiko ist in den letzten zehn Jahren weit gekommen, doch
es braucht Reformen, die eine moderne Linke am besten vollziehen könnte. Doch López
Obrador zählt nicht zu dieser, und die kommenden Monate werden leider meine Prognosen
bestätigen. Wir sprechen von einem Revolutionär. Er wird sich zwar nicht bewaffnet in die
Berge zurückziehen. Doch er wird eine sehr schlagkräftige soziale Bewegung organisieren.
Und sobald es erste Opfer gibt, könnte das Land in einen fürchterlichen Teufelskreis
geraten. Von außen kann man dann beruhigt sagen, „Mexiko ist ein rückständiges Land,
eine Revolution kann es gut gebrauchen“. Doch es ist nicht rückständig, es ist dabei, sich zu
modernisieren. Mexiko hat eine sehr lange Geschichte des demokratischen Aufbaus.
ZEIT online: Ist die Demokratie in Gefahr?
Krauze: Das Wahrscheinlichste ist, dass die Demokratie den Test besteht, und dass López
Obrador nach und nach eine Nische besetzen wird. Ich bezweifle sehr stark, dass er in den
kommenden Jahren über den demokratischen Weg an die Macht kommt.
AUSLAND
3
ZEIT online: Eine teilweise Neuauszählung einiger Stimmen hat jedoch gezeigt, dass es
bei den Wahlen zu kleineren Unregelmäßigkeiten gekommen ist. Viele, auch im Ausland,
fordern eine komplette Neuauszählung der Stimmen, nicht zuletzt um die Situation zu
entschärfen.
Krauze: Wenn ein Land den Ruf hat, korrupt zu sein, wenn es jahrzehntelang Wahlbetrug
gegeben hat, ist es das Einfachste der Welt, nun von Wahlbetrug zu sprechen. Aber Mexiko
im Jahr 2006 ist nicht das von 1980. Die Wahlen waren friedlich und diszipliniert. Das
System ist sehr zuverlässig, die Stimmen werden dreimal nachgezählt. In den gleichzeitig
stattfindenden Parlamentswahlen hat die Linke mit der PRD an der Spitze das beste
Ergebnis ihrer Geschichte erzielt. Sie ist die zweitstärkste Macht der Legislative geworden.
Die Vorwürfe der PRD betreffen nur 10 Prozent der Wahlkabinen. Bei einer Überprüfung
wurde festgestellt, dass die Unregelmäßigkeiten nicht mal 0,0017 Prozent dieser betreffen.
In so einem Fall ist eine Neuauszählung aller Stimmen gesetzlich nicht vorgesehen. Die
Wahlergebnisse in Italien und Deutschland waren übrigens noch viel knapper. Dort hat
jedoch niemand eine Neuauszählung der Stimmen verlangt.
ZEIT online: Was sind die dringlichsten Aufgaben des neuen Präsidenten, der
wahrscheinlich Felipe Calderón heißen wird? Wird es eine Versöhnung mit der Opposition
geben?
Krauze: Man muss den Dialog suchen, das Zentrum zurückgewinnen. Doch die radikale
Position von López Obrador verhindert den Dialog. Seine Parteigänger, die dies versuchen
sollten, werden da schnell zu Verrätern deklariert. Die Aufgabe von Calderón wird es
sein, mit großer Vorsicht über die Medien auf den Dialog zu bestehen. Er sollte auch die
sozialen Programme der Linken in seiner Sozialpolitik berücksichtigen. Als Liberaler habe
ich keinerlei Sympathien für PAN, einer Partei, die sich in ihrer Gründung in den 1930ern
am Faschismus und Nationalsozialismus orientierte. PRI, die über 70 Jahre die Regierung
stellte, ist eine Partei der Vergangenheit, korrupt und autoritär. Dieses Land braucht eine
fortschrittliche Linke. Das Problem ist, dass López Obrador die Linke in Mexiko gekapert
hat.
Die Fragen stellte Till Skrobek
Enrique Krauze, Jahrgang 1947, ist Sohn polnisch-jüdischer Einwanderer. Der Historiker
und Essayist ist Herausgeber der größten mexikanischen Kulturzeitschrift "Letras Libres".
COPYRIGHT: ZEIT online, 24.8.2006ADRESSE: http://www.zeit.de/online/2006/35/interview-enrique-krauze