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„Öffentlich" und „privat" im kaiserzeitlichen Rom Von Aloys Winterling I. Problemstellung Neben der Kollektivformel senatus populusque Romanus, die die männli- che erwachsene Bürgerschaft als politischen Verband bezeichnete, bildete die Unterscheidung von publicus und privatus das zentrale begriffliche Muster, mittels dessen sich die römische Gesellschaft der republika- nischen Zeit als Einheit zweier differenter sozialer Sphären beschrieb. Konkretisiert als Unterscheidung von res publica, dem Bereich des alle betreffenden städtischen Gemeinwesens, und domus, dem häuslichen Bereich des einzelnen Bürgers, nahm es - ähnlich wie im griechischen Sprachgebrauch die Unterscheidung κοινός (δημόσιος)/ίδιος bzw. πό- λις/οίκος - Bezug auf realhistorische Sachverhalte, die die Gesellschaft in sozialer, politischer, wirtschaftlicher und kultureller Hinsicht sowie in bezug auf die Geschlechterverhältnisse bestimmten: Haushalte, in denen ein pater familias Herrschaft über Frauen, Kinder und Sklaven ausübte, bildeten die Grundstruktur der Gesellschaft. Jenseits der Haushalte ver- fugte das Gemeinwesen über eine auf der Basis von Ämtern, Institutionen und Verfahren ausdifFerenzierte politische Organisationsstruktur, die auf der Trennung politischer Rollen von den sie jeweils wechselnd und mit zeitlicher Begrenzung bekleidenden Personen basierte. In wirtschaftlicher Hinsicht war das Vermögen des Gemeinwesens, das aerarium, unterschie- den von dem jedes einzelnen, seiner res privata. Die städtischen Straßen, Plätze und Gebäude stellten einen von den Häusern unterschiedenen und im Gegensatz zu jenen für alle Bürger zugänglichen, eigenständigen kul- turellen Raum dar. Bezogen auf die Geschlechterverhältnisse war rele- vantes Handeln im städtisch-politischen Bereich ausschließlich Männern vorbehalten, während Lebensräume von Frauen sich auf den Bereich des Hauses konzentrierten. Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst Library Authenticated Download Date | 10/7/14 9:24 AM

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Page 1: Gegenwärtige Antike - antike Gegenwarten (Kolloquium zum 60. Geburtstag von Rolf Rilinger) || „Öffentlich" und „privat“ im kaiserzeitlichen Rom

„Öffentlich" und „privat" im kaiserzeitlichen Rom

Von

Aloys Winterling

I. Problemstellung

Neben der Kollektivformel senatus populusque Romanus, die die männli-che erwachsene Bürgerschaft als politischen Verband bezeichnete, bildete die Unterscheidung von publicus und privatus das zentrale begriffliche Muster, mittels dessen sich die römische Gesellschaft der republika-nischen Zeit als Einheit zweier differenter sozialer Sphären beschrieb. Konkretisiert als Unterscheidung von res publica, dem Bereich des alle betreffenden städtischen Gemeinwesens, und domus, dem häuslichen Bereich des einzelnen Bürgers, nahm es - ähnlich wie im griechischen Sprachgebrauch die Unterscheidung κοινός (δημόσιος)/ίδιος bzw. πό-λις/οίκος - Bezug auf realhistorische Sachverhalte, die die Gesellschaft in sozialer, politischer, wirtschaftlicher und kultureller Hinsicht sowie in bezug auf die Geschlechterverhältnisse bestimmten: Haushalte, in denen ein pater familias Herrschaft über Frauen, Kinder und Sklaven ausübte, bildeten die Grundstruktur der Gesellschaft. Jenseits der Haushalte ver-fugte das Gemeinwesen über eine auf der Basis von Ämtern, Institutionen und Verfahren ausdifFerenzierte politische Organisationsstruktur, die auf der Trennung politischer Rollen von den sie jeweils wechselnd und mit zeitlicher Begrenzung bekleidenden Personen basierte. In wirtschaftlicher Hinsicht war das Vermögen des Gemeinwesens, das aerarium, unterschie-den von dem jedes einzelnen, seiner res privata. Die städtischen Straßen, Plätze und Gebäude stellten einen von den Häusern unterschiedenen und im Gegensatz zu jenen für alle Bürger zugänglichen, eigenständigen kul-turellen Raum dar. Bezogen auf die Geschlechterverhältnisse war rele-vantes Handeln im städtisch-politischen Bereich ausschließlich Männern vorbehalten, während Lebensräume von Frauen sich auf den Bereich des Hauses konzentrierten.

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Schon seit der späten Republik sind nun jedoch Veränderungen fest-stellbar, die die Beschreibung der politisch-sozialen Verhältnisse mittels der Unterscheidung publiais /privatus schwierig werden ließen. Vitruv schildert in seiner gegen Ende der dreißiger Jahre des 1. Jahrhunderts v. Chr. entstandenen Schrift De architectura, daß man in „privaten" Häu-sern {privata aedificia) Räume habe, die für alle Besucher offen zugäng-lich seien (communia loca), daß es andererseits eigene Räume des Haus-herrn gebe, zu denen nur geladene Gäste Zutritt hätten {propria loca). Die Häuser von nobiles sollten ähnlich ausgestattet sein wie „öffentliche" Gebäude (publica opera), weil in ihnen häufiger „öffentliche" Beratun-gen abgehalten und „private" Entscheidungen gefällt würden {publica Consilia et privata iudicia arbitriaque).1 Die Häuser der vornehmsten und politisch bedeutendsten Aristokraten waren demnach „privat", offen zu-gänglich und - auch im politischen Sinne - „öffentlich" zugleich.

In der Kaiserzeit verschärften sich die Probleme einer Unterscheidung von „öffentlichem" und „privatem" Bereich im antiken Rom. Hier sind zunächst auf realhistorischer Ebene grundlegende strukturelle Verände-rungen gegenüber den Verhältnissen der republikanischen Zeit feststell-bar, die sich aus der Etablierung der kaiserlichen Alleinherrschaft erga-ben. Die Kaiser selbst unterliefen in politischer Hinsicht die Trennung von Rolle und Person und damit die alte Unterscheidung von magistratus, dem ein Amt bekleidenden, und privatus, dem amtlosen Bürger. Entspre-chend erforderte ein Wechsel im Kaisertum den Tod der kaiserlichen Per-son: Man konnte einen Kaiser nicht absetzen, sondern nur umbringen.

Der kaiserliche Haushalt entwickelte sich von einer domus zu einer aula, einem Hof, der nicht nur aus den der kaiserlichen Hausherrschaft unterworfenen Personen, sondern zunehmend auch aus Mitgliedern der Aristokratie gebildet wurde, Personen also, die der politischen Herrschaft des Kaisers unterstanden, die gleichzeitig aber ihrerseits weiterhin Herr-schaft in ihren eigenen Häusern ausübten. Damit wurde zugleich der kai-serliche Palast auf dem Palatin im Gegensatz zu den Häusern der übrigen Bürger ein - zu bestimmten Gelegenheiten wie der salutatio - für nahezu alle Kreise der Bevölkerung frei zugänglicher neuer Raum. Er bekam da-mit eine Eigenschaft, die vorher nur dem städtischen Bereich zu eigen gewesen war, von dem er aber weiterhin grundsätzlich geschieden war.

Auch die kaiserlichen Vermögensmassen {patrimonium und fiscus) veränderten durch Größenwachstum und die politische Rolle des Eigen-

' Vitr. 6,5,1 f. Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst Library

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tümers ihren Charakter. Sie übernahmen weitgehend die Funktionen, die traditionell dem Gemeindevermögen (aerarium) zugekommen waren. Sie wurden aus Steuereinnahmen des gesamten Reiches gespeist, und es wurden daraus Aufwendungen getätigt, die nicht nur dem Kaiser, son-dern tendenziell allen Bürgern zugute kamen. Das kaiserliche Vermögen wurde daher, erstmals erkennbar beim Herrschaftsantritt des Caligula,2

nicht entsprechend den üblichen Erbfolgeregeln im familialen Kontext, sondern stets an den jeweiligen neuen Kaiser als solchen übertragen.

Dasselbe galt für die wachsende Zahl der kaiserlichen Sklaven und Freigelassenen - von den Inhabern der zentralen Sekretariatsstellen am Hof über das weitere Palastpersonal, Sklavenfamilien für administrative Zwecke in Rom sowie unfreie oder freigelassene Funktionäre der Finanz-verwaltung im Reich bis hin zum Arbeitspersonal in kaiserlichen Berg-werken oder auf kaiserlichen Domänen. Einige von ihnen nahmen wich-tige politische und administrative Funktionen wahr, und alle gemeinsam wurden, ebenso wie die kaiserlichen Vermögensmassen insgesamt, nicht mehr im „privaten", hausherrschaftlichen Kontext vererbt, sondern gin-gen beim Tod eines Kaisers an den jeweils neuen Kaiser als solchen über. Dies ist deutlich sichtbar nach dem Ende Neros, als mit Galba, Otho, Vi-tellius und Vespasian Kaiser erhoben und vom Senat anerkannt wurden, die in keinem familialen Kontext zu ihren Vorgängern standen.

Durch die Sonderstellung des Kaisers konnte schließlich Frauen sei-ner Familie oder seiner Umgebung reale politische Macht zukommen, zu der ihnen der Zugang im städtisch-politischen Raum traditionell versperrt war.

Neben all diesen Veränderungen aber hatten die traditionellen Struk-turen, die der Unterscheidung publicus /privatus ihre Plausibilität verlie-hen hatten, weiterhin Bestand: In ihren Häusern übten Familienväter ihre weitreichende patria potestas aus; die politischen Organisationsstruktu-ren des städtischen Gemeinwesens fungierten (bis auf die Volksversamm-lungen) weiter; durch die wechselnde Bekleidung der Magistraturen blieb die Differenz zwischen Amtsträgern und „Privaten" weiterhin bestehen; neben dem Eigentum der einzelnen Bürger existierte nach wie vor das alte Gemeindevermögen; neben den Sklaven im Besitz der einzelnen patres familias gab es nach wie vor Sklaven des Gemeinwesens (servi publici), die öffentliche Aufgaben wahrnahmen; Frauen blieben weiterhin von den

2 Heinz Bellen, Die .Verstaatlichung' des Privatvermögens der römischen Kaiser im 1. Jahrhundert n. Chr., ANRW 2,1, 1974,91-112.

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politischen Institutionen ausgeschlossen und rechtlich dem familialen Bereich zugeordnet.

Im folgenden soll untersucht werden, wie die römische, die Unterschei-dung publicus /privatus verwendende Selbstbeschreibung auf die realhi-storischen Veränderungen im kaiserzeitlichen Rom reagiert hat. Diese Fragestellung und die ihr zugrundeliegende theoretische Konzeption wei-chen von den in der Forschung üblichen deutlich ab. Zunächst sind daher die Forschungsgeschichte zu rekonstruieren (II) und daraus methodische Konsequenzen zu ziehen (III). Danach wird die literarische Überlieferung analysiert (IV). Die Ergebnisse (V), gewonnen am kaiserzeitlichen Quel-lenbefund, lassen - hier nur angedeutete - allgemeine Rückschlüsse auf den Status der Dichotomie publicus /privatus der Zeit vor der Monarchie zu.

II. Forschungslage

Zur Klärung der althistorischen Forschungslage zu dem skizzierten Pro-blem hat man zu den begriffsgeschichtlichen Veränderungen zurückzu-gehen, die im Laufe des 18. Jahrhunderts die Entstehung der modernen Gesellschaft begleiteten. Bis in diese Zeit hatte sich, wie Jürgen Haber-mas hervorgehoben hat, eine „repräsentative Öffentlichkeit" der Feudal-zeit erhalten, in der „Staat" und „Gesellschaft", „öffentlich" und „privat" im späteren Sinne noch nicht geschieden waren, sondern in den Perso-nen der Herrschaftsträger zusammenfielen. Öffentlichkeit war noch kei-ne eigenständige Sphäre politischer Kommunikation, sondern Fürst und Landstände „waren" das Land und repräsentierten mit ihrer Herrschaft zugleich auch ihren sozialen Status durch Insignien, Habitus, Gestus und Rhetorik, in Zeremoniell und Ritual öffentlich „vor" dem Volk.3 Für die Selbstbeschreibung der Gesellschaft im Kontext gelehrter Studien blieben antike Muster aus der Zeit der politisch autonomen städtischen Gemeinwesen im Anschluß an Aristoteles und Cicero verbindlich: Das Gemeinwesen galt als „bürgerlich-politische Gesellschaft", als societas civilis sive politica, der der Bereich des Hauswesens und der Ökonomie entgegengesetzt wurde.4

3 Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Katego-rie der bürgerlichen Gesellschaft, Darmstadt u.a. 1962, 17-25; 19f. 4 Vgl. Manfred Riedel, „Gesellschaft, bürgerliche", Geschichtliche Grundbegriffe 2, 1975, 719-800.

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Für den frühneuzeitlichen Prozeß der Entstehung moderner Politik als einem gegenüber anderen gesellschaftlichen Sphären differenzierten Kommunikationsbereich, an dem seit der Zeit der Französischen Revo-lution immer größere Teile der Bevölkerung beteiligt wurden, ist nun aufschlußreich, daß in den europäischen Sprachen zur Bezeichnung des welthistorisch Neuen weiterhin auf die Semantik der Alten zurückge-griffen wurde: im Englischen, Französischen und Italienischen mit den Unterscheidungen public/private, public/privé und pubblico /privato in vollständiger, im Deutschen mit der Unterscheidung öffentlich/privat in teilweiser Übernahme der antiken römischen Wortkörper. Die dabei entstandenen Unterschiede in den europäischen Sprachen sind nicht un-erheblich: Während public, public und pubblico v. a. auf Volk, Staat und Amtlichkeit bezogen sind, sind das deutsche „öffentlich" und der Kollek-tivsingular „Öffentlichkeit" daneben stärker räumlich-visuell konnotiert im Sinne von Offenkundigkeit, Bekanntheit und allgemeiner Zugänglich-keit.5 Ahnlich der Gegenbegriff „privat",6 der im Deutschen stärker auf Intimität und Innerlichkeit, in den anderen Sprachen stärker auf Parti-kulares, Nichtstaatliches, Alltägliches bezogen ist. Dies fuhrt selbst ge-genwärtig noch zu Verständnisproblemen: z.B. bei der außerdeutschen Diskussion von Habermas' „Strukturwandel der Öffentlichkeit", in dem es um die Entstehung einer sozialen Sphäre des herrschaftsfreien Diskur-ses im 18. Jahrhundert geht und dessen Übersetzung mit „The Structural Transformation of the Public Sphere"7 mißverständlich ist, oder bei der von Philippe Ariès und Georges Duby herausgegebenen „Histoire de la vie privée"8, deren Titel in der deutschen Übersetzung - „Geschichte des privaten Lebens"9 - den alltagsgeschichtlichen Inhalt nur unzutreffend wiedergibt.

Die - wie immer unterschiedlich auch erfolgte - Anreicherung der an-tiken Semantik mit neuen Bedeutungsinhalten war nun folgenreich für die

5 Lucían Hölscher, „Öffentlichkeit", Geschichtliche Grundbegriffe 4, 1978, 413-467; Peter von Moos, Die Begriffe „öffentlich" und „privat" in der Geschichte und bei den Historikern, Saeculum49,1998, 161-192, 167-169. 6 Zum älteren Gegenbegriff „geheim" vgl. Lucían Hölscher, Öffentlichkeit und Geheim-nis. Eine begriffsgeschichtliche Untersuchung zur Entstehung der Öffentlichkeit in der frü-hen Neuzeit, Stuttgart 1979. 7 So der Titel der englischsprachigen Ausgabe Cambridge (Mass.) 1989. Die französische Übersetzung des gleichen Buches versucht demgegenüber, den räumlichen Konnotationen des deutschen „Öffentlichkeit" stärker Rechnung zu tragen: L'espace public. Archéologie de la publicité comme dimension constitutive de la société bourgeoise, Paris 1992. 8 5 Bde., Paris 1985-1987. 9 5 Bde., Frankfurt a. M. 1989-1993.

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im 19. Jahrhundert beginnende wissenschaftliche Erforschung der Antike selbst. Plausibilisiert durch die scheinbar quellennahe moderne Begriff-lichkeit wurde der von den Römern als res publica bezeichnete Bereich als eine (letztlich modern gedeutete) Sphäre des Politischen konzeptuali-siert, der der Bereich der domus als Sphäre des Unpolitischen entgegen-gesetzt wurde. Während in den nichtdeutschen Sprachen dazu unmittel-bar auf die antike Dichotomie zurückgegriffen werden konnte, wurde im deutschen Sprachbereich der Gegenbegriff „öffentlich" aufgrund seiner weiteren Konnotationen teilweise durch „staatlich" ersetzt, sichtbar an der klassischen Gliederung der Handbücher des 19. Jahrhunderts in antike „Staats-" und „Privataltertümer".10 Gemeint war dasselbe: So lautete der Titel von Mommsens Staatsrecht in der französischen Übersetzung „Le droit public romain".11

Aufschlußreich ist auch die inhaltliche Füllung des Gegenbegriffs „pri-vat" in der Altertumswissenschaft des 19. Jahrhunderts.12 Während in den frühen Handbüchern den antiken „Privataltertümern", so bei Joachim Marquardt (1864) und noch bei Hugo Blümner (1911),13 neben der Fa-milie im modernen Sinne auch Sklaven sowie der gesamte Bereich der Haus- und Landwirtschaft und - oft unter dem Titel „bürgerliche Gesell-schaft" - schließlich der der Wirtschaft überhaupt zugerechnet wurde, wurde im Laufe des 20. Jahrhunderts die Wirtschaft zunehmend aus dem antiken „Privatbereich" ausgegliedert und als eigenständige Sphäre auf-gefaßt. Das Ergebnis ist sichtbar bei Horst Blancks „Einführung in das Privatleben der Griechen und Römer" (Darmstadt 1976), wo als „privat" nur noch der Bereich der Familie mit Einschluß der Haussklaven gefaßt wird.

Es ist somit deutlich zu erkennen, daß die moderne begriffliche Fassung antiker Verhältnisse trotz der dabei benutzten, gleichbleibenden antiken Wortkörper die Veränderung der modernen Verhältnisse und ihrer mo-dernen Beschreibung (mit leichter Verspätung) widerspiegelt: Der dem

10 Vgl. Wilfried Nippel, Von den „Altertümern" zur „Kulturgeschichte", in: François de Polignac, Pauline Schmitt Pantel (Hg.), Public et privé en Grèce ancienne. Lieux, condui-tes, pratiques (Ktèma 23), Straßburg 1998,17-24. 11 Zuerst Paris 1887; zuletzt Paris 1984. 12 Vgl. zum folgenden Beate Wagner, „Le privé n'existe pas". Quelques remarques sur la construction du privé par ('Altertumswissenschaft au XIXe siècle, in: Polignac, Schmitt Pantel, Public (wie Anm. 10) 25-35; Leonhard Burckhardt, „Zu Hause geht Alles, wie wir wünschen...". Privates und Politisches in den Briefen Ciceros, Klio 85,2003,94-113,96-99. 13 Joachim Marquardt, Das Privatleben der Römer, 2 Bde., Leipzig 21886 (zuerst 1864); Hugo Blümner, Die römischen Privataltertümer (HdAW IV 2, 2), München '1911.

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„Staat" gegenübergestellte Bereich von Familie und „bürgerlicher" Wirt-schaftsgesellschaft als einem „System der Bedürfnisse" entspricht der Systematik von Hegels Rechtsphilosophie, die zunehmende Ausgliede-rung der Wirtschaft aus der Privatsphäre dagegen dem Funktionswandel bürgerlicher Haushalte im 19. Jahrhundert von tendenziell noch autarken „ganzen Häusern" zu reinen Stätten des Konsums und Orten kleinfami-lialer Intimität.

Die terminologisch überdeckte Differenz der antiken von den moder-nen Sachverhalten läßt sich nun aus heutiger Sicht leicht zeigen: Man denke nur an die bis zum Tötungsrecht seiner Familienmitglieder reichen-de Strafgewalt des römischen pater familias, die im römischen Sinne dem „privaten" Bereich zugeordnet war, im modernen jedoch nicht denkbar bzw. der „öffentlichen" oder „staatlichen" Gewalt vorbehalten ist. Aber auch weitere Bereiche des römischen „Hauses" haben nichts mit „Pri-vatheit" im modernen Sinne zu tun. Die bei der morgendlichen salutatio in den domus aristokratischer Hausherren zusammenkommenden Perso-nenkreise etwa manifestierten die über das Haus hinausgehenden politi-schen Machtchancen, die er besaß und die er im Rahmen der politischen Institutionen etwa bei Wahlen in unmittelbarer Weise umsetzen konnte. Ähnlich die im römischen Sinne „privaten" Gastmähler, die die amicitia-Beziehungen innerhalb der Aristokratie dokumentierten und die aufgrund ihrer politischen Relevanz daher Gegenstand aufmerksamer Beobachtung waren. Es zeigt sich somit hinsichtlich des politischen Bereichs, der in der Moderne Staat und Öffentlichkeit zugeordnet wird, in Rom eine Funk-tionsteilung von domus und res publica.

Ähnliches gilt in umgekehrter Hinsicht. Die Funktion, die der einzelne, als Bürger, Magistrat oder Senator, innerhalb der politischen Organisation des römischen Gemeinwesens ausübte, war keine - im modernen Sinne -ausschließlich öffentliche Angelegenheit, sondern bestimmte gleichzeitig seine persönliche gesellschaftliche Rangstellung, das also, was man heute dem privaten Bereich zuordnen müßte. Die lateinischen Begriffe honor bzw. bonos bedeuten bekanntlich Amt und Ehre zugleich, und die Stel-lung des einzelnen in der politischen Hierarchie bestimmte zugleich die Größe und Bedeutung seines Hauses. Pointiert könnte man formulieren: Die römische Unterscheidung publicus /privatus hat mit der modernen Unterscheidung eines öffentlich-politischen Bereichs von einer unpoliti-schen Privatsphäre wenig gemein.

Dem entspricht, daß auch dem römischen Recht, das in differenzier-ter Weise auf die gesellschaftlichen Verhältnisse Bezug nahm, eine den

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modernen Rechtsverhältnissen vergleichbare Unterscheidung von ius publicum und ius privatum fremd ist. Dies hat Max Käser in einer aus-führlichen Untersuchung beider - von ihm in Anfuhrungszeichen gesetz-ter - Sachverhalte gezeigt, was ihn aber nicht daran gehindert hat, selbst ein umfangreiches „Römisches Privatrecht" zu schreiben, in dem die dem modernen Privatrecht entsprechenden römischen Rechtsmaterien abge-handelt werden.14

Die Probleme, die durch die Wiederanwendung der modernisierten an-tiken Kategorien auf die Antike in der modernen Forschung entstanden sind, zeigen sich nun in besonderer Weise bei der Behandlung der rö-mischen Kaiserzeit,15 v.a. bei der Bestimmung der Rolle des römischen Kaisers und seiner Handlungsfelder. So mußte Mommsen im „Römi-schen Staatsrecht" zur Aufrechterhaltung seiner Grundunterscheidung öffentlich-politisch/privat-unpolitisch z.B. die „domus" des Kaisers im Abschnitt über dessen „Hof und Haushalt" in einen staatlichen und einen privaten Bereich unterteilen, was in den Quellen jedoch - sachlich wie terminologisch - keinen Anhaltspunkt findet.16 Die Frage der Einschät-zung der kaiserlichen Vermögensmassen ist seit der Kontroverse zwi-schen Mommsen und Hirschfeld über den „privaten" oder „öffentlichen" Charakter des fiscus bis heute umstritten geblieben.17 So wird in neueren Forschungen einerseits, z.B. bei Heinz Bellen, der „nicht mehr private"

14 Max Käser, ,Ius publicum' und ,ius privatum', ZRG RA 103, 1986, 1-101. 15 Für die nicht auf die Kaiserzeit bezogene althistorische Forschung lassen sich cum gra-no salis drei Positionen ausmachen: 1. die anachronistische Kontamination des jeweils gegenwärtigen mit dem antiken Sprachgebrauch und die entsprechende Identifizierung der damit gemeinten Sachverhalte; 2. die Wahrnehmung der Differenz zwischen antiken und modernen Phänomenen mit der Folgerung eines fehlenden Realitätsgehaltes der antiken Semantik; 3. das Bestreben, die wissenschaftlichen Begriffe „öffentlich" und „privat" so offen zu definieren, daß sie auf antike und moderne Sachverhalte anwendbar sind. Vgl. zuletzt z. B. Annapaola Zaccaria Ruggiu, Spazio privato e spazio pubblico nella città Ro-mana, Rom 1995; John H. D'Arms, Between Public and Private. The Epulum Publicum and Caesar's Horti trans Tiberini, in: Maddalena Cima, Eugenio La Rocca (Hg.), Horti Romani. Atti del Convegno Internazionale. Roma, 4-6 maggio 1995, Rom 1998, 33-44; Susan Treggiari, Home and Forum. Cicero between „Public" and „Private", TAPhA 128, 1998, 1-23; Christoph Höcker, Privatheit und Öffentlichkeit, DNP 10, 2001, 352-354; Burckhardt, Privates und Politisches (wie Anm. 12). Die dritte Position wird in der alter-tumswissenschaftlichen Forschung meist implizit vertreten, explizit bei von Moos, Die Begriffe „öffentlich" und „privat" (wie Anm. 5); vgl. das folgende. 16 Siehe ausführlicher Aloys Winterling, Aula Caesaris. Studien zur Institutionalisie-rung des römischen Kaiserhofes in der Zeit von Augustus bis Commodus (31 ν. Chr.-192 n.Chr.), München 1999, 84-86. " Theodor Mommsen, Römisches Staatsrecht, 3 Bde., Leipzig31887-1888, Bd. 2 ,2 ,998-1001; Otto Hirschfeld, Die kaiserlichen Verwaltungsbeamten bis auf Diocletian, Berlin 21905, 7-13.

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Charakter des kaiserlichen Patrimonium als dessen „Verstaatlichung" ge-deutet. Andererseits wird, z.B. bei Michael Alpers, der vom aerarium geschiedene fiscus als kaiserliches „Privateigentum" charakterisiert.18

Dabei bleibt jeweils unklar, was als konstitutiv fìir „Staatlichkeit" bzw. „Privatheit" (im römischen wie im modernen Sinne) angesehen wird, d. h. es wird eine metahistorische Eindeutigkeit der Begriffe unterstellt.

Ernst Baltrusch behandelt in seiner Arbeit „Regimen morum" die - so der Untertitel - „Reglementierung des Privatlebens der Senatoren und Ritter in der römischen Republik und frühen Kaiserzeit".19 Diese Re-glementierung erfolgte jedoch in Form von Gesetzen, also staatlichem Ordnungshandeln, was Zweifel an der Privatheit des aristokratischen Privatlebens aufkommen läßt. In einer kürzlich erschienenen Publikation von Alexander Demandi wird das tägliche Leben der Kaiser im Stil der Sittengeschichten des 19. Jahrhunderts als unpolitisches „Privatleben" beschrieben,20 was der in den Quellen häufig dokumentierten politischen Relevanz gerade der engsten kaiserlichen Umgebung deutlich wider-spricht.

Ähnliches zeigt sich bei der Behandlung der kaiserlichen Sklaven und Freigelassenen. Die ältere Forschung, z.B. Mommsen und Hirschfeld, konnte sich noch darauf zurückziehen, daß es sich bei der politischen Bedeutung des „privat" gedeuteten kaiserlichen Personals, etwa von cu-bicularii, um Mißbrauchsphänomene handelte. Den Kaisern wurde ge-wissermaßen vorgeworfen, daß sie sich nicht an den Dienstweg gehalten hatten.21 In neueren Arbeiten, etwa bei Gérard Boulvert oder Henriette Pavis D'Escurac, heißt es, die kaiserlichen Freigelassenen seien (seit Clau-dius) mit „affaires publiques et privées" befaßt worden, was die Unter-scheidung von domus und res publica diesmal nicht in den Hof, sondern in die einzelnen kaiserlichen Amtsträger hineinverlegt.22 In neueren Über-blicken der politischen Organisation des Kaiserreiches, z.B. bei Werner Eck, wird ein Teil der kaiserlichen Sklaven und Freigelassenen - so die

18 Bellen, .Verstaatlichung' des Privatvermögens (wie Anm. 2); Michael Alpers, Das nach-republikanische Finanzsystem. Fiscus und Fisci in der frühen Kaiserzeit, Berlin u.a. 1995. 19 München 1989. 20 Alexander Demandt, Das Privatleben der römischen Kaiser, München21997. 21 Mommsen, Staatsrecht (wie Anm. 17) Bd. 2, 2, 838; Hirschfeld, Verwaltungsbeamte (wie Anm. 17) 308 f. 22 Gérard Boulvert, Esclaves et affranchis impériaux sous le Haut-Empire romain. Rôle politique et administratif, Neapel 1970, bes. 370-374; Henriette Pavis D'Escurac, La fami-lia Caesaris et les affaires publiques. Discretam domum et rem publicam, in: Edmont Lévy (Hg.), Le système palatial en Orient, en Grèce et à Rome, Leiden 1987, 393-410, Zit. 399 (Hervorhebung A. W.).

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wichtigen Sekretäre a rationibus, ab epistulis und a libellis - der „staatli-chen Administration", das übrige Palastpersonal dagegen der - dann offen-sichtlich als privat angesehenen - kaiserlichen Hofhaltung zugeordnet.23

Dies bedeutet eine gemeinsame Einordnung kaiserzeitlicher Konsuln und kaiserlicher Freigelassener unter eine Kategorie „öffentlicher Amtsträ-ger", eine Sichtweise, der jeder antike Zeitgenosse widersprochen hätte. In Käsers „Römischem Privatrecht" schließlich wird die Unterscheidung „staatlich/privat" zugleich aufgehoben und fortgeschrieben, indem von Sklaven „eines Privaten oder des Staates oder des Kaisers" gesprochen wird.24 Dabei handelt es sich jedoch um eine Paradoxie: Die Dichotomie „öffentlich/privat" schließt ein Drittes aus.

Nur in Ansätzen - und v. a. bezogen auf republikanische bzw. munizi-pale Verhältnisse - hat sich die althistorische Forschung bislang mit der oben herausgestellten Differenz zwischen der römischen Unterscheidung publicus / privatus und der modernen Unterscheidung öffentlich/privat (public/private etc.) beschäftigt.25 Ausgehend von der zitierten Vitruv-Stelle kommt Andrew Wallace-Hadrill bei seiner Untersuchung römischer Häuser zu dem Schluß, daß eine römische domus privata gar nicht „pri-vat" gewesen sei, sondern in vielen Hinsichten „öffentlichen" Charakter gehabt und „öffentliche" (politische) Funktionen ausgeübt habe.26 Leon-hard Burckhardt zeigt anhand von Ciceros Briefwechsel eine „private" und „politische" Bedeutung z.B. des aristokratischen Hauses, der wirt-schaftlichen Beziehungen von Senatoren oder der aristokratischen Gesel-ligkeit und schließt daraus auf „Überkreuzungen" und „Überlappungen" der Bereiche „öffentlich" und „privat" im republikanischen Rom.27 Im Gegensatz zu früheren Forschungen fragen beide somit nach dem Rea-litätsgehalt der antiken Unterscheidung beider Bereiche und bezweifeln denselben. Im Einklang mit der übrigen Forschung steht jedoch die impli-zite Prämisse, daß die moderne Dichotomie „öffentlich/privat" als inva-riante, gewissermaßen überzeitlich geltende kategoriale Unterscheidung

23 Werner Eck, Die staatliche Administration des römischen Reiches in der hohen Kai-serzeit. Ihre strukturellen Komponenten (1989), in: ders., Die Verwaltung des römischen Reiches in der hohen Kaiserzeit. Ausgewählte und erweiterte Beiträge, 2 Bde., Basel u. a. 1995-1997, Bd. 1, 1-28, 17f.; 20. 24 Max Käser, Das römische Privatrecht, 2 Bde., München 21971-1975, Bd. 1, 285. 25 Für Griechenland vgl. Polignac, Schmitt Pantel, Public (wie Anm. 10). Zur Kaiserzeit vgl. Mario Pani, Principe e magistrato a Roma fra pubblico e privato. Tracce di un itinera-rio, in: ders., Potere e valori a Roma fra Augusto e Traiano, Bari 21993, 65-82. 26 Andrew Wallace-Hadrill, The Social Structure of the Roman House (1988), in: ders., Houses and Society in Pompeii and Herculaneum, Princeton 1994, 1-61. 27 Burckhardt, Privates und Politisches (wie Anm. 12) bes. 103-110.

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anzusehen sei, die eine adäquate Beschreibung unterschiedlicher histori-scher Verhältnisse zulasse. Genau an dieser Prämisse lassen sich jedoch, denkt man an die oben analysierte Geschichte der modernen Begriffe, begründete Zweifel anmelden. Solche Zweifel sind bisher v. a. außerhalb der Altertumswissenschaften geäußert worden.

Schon Jürgen Habermas' berühmte Studie aus dem Jahre 1962 war durch einen kontrafaktisch-normativen Begriff von „Öffentlichkeit" im Sinne des Liberalismus des 19. Jahrhunderts geprägt, demgegenüber die historische Entwicklung des 20. Jahrhunderts als Pathogenese dargestellt wurde. Die Öffentlichkeit, die er propagierte, gab es schon in jener Zeit nicht mehr, und die seither beobachtbaren Veränderungen der modernen Gesellschaften lassen die Verbindlichkeit und Tragweite der modernen Unterscheidung „privat/öffentlich" für die Gegenwart - und damit erst recht ihre Übertragung auf vergangene Gesellschaften - problematisch erscheinen.28

Im deutschen Sprachbereich hat in den letzten Jahren v. a. Peter von Moos die Anwendbarkeit der Kategorien „öffentlich/privat" für die hi-storische Erforschung v. a. des Mittelalters problematisiert. Seine These, daß ihr außergewöhnlicher semantischer Erfolg seit der Antike gerade in ihrer „Offenheit" und „Verschwommenheit" begründet sei, fuhrt ihn je-doch nicht zu ihrer Verabschiedung als wissenschaftliche Begriffe, son-dern zur Forderung einer formalen Neubestimmung, die überzeitliche An-wendbarkeit garantieren soll. Bei seiner Skizze einer Umsetzung dieser Neubestimmung zeigt sich jedoch die fehlende historische und sachliche Trennschärfe eines solchen Versuchs: Familien- und Freundschaftsbezie-hungen z.B. ordnet von Moos generell dem Privatbereich zu, was für vormoderne Adelsgesellschaften - man denke an die Freundschaftsbezie-hungen römischer Senatoren oder die dynastischen Erbfolgen im mittelal-terlichen Europa - jedoch höchst problematisch erscheint. Die Institution der Ehe wird von ihm als öffentlich und privat zugleich charakterisiert, was wenig Aufschluß verspricht.

Demgegenüber hat der amerikanische Soziologe Jeff Weintraub in dem 1997 von ihm herausgegebenen Sammelband über „Public and Private in Thought and Practice" die divergierenden und widersprüchlichen Konno-tationen der gegenwärtigen Verwendung des Begriffspaares „public/pri-

28 Vgl. Dena Goodman, Public Sphere and Private Life. Toward a Synthesis of Current Historiographical Approaches to the Old Regime, History and Theory 31,1992,1-20; von Moos, Die Begriffe „öffentlich" und „privat" (wie Anm.5); vgl. Gert Melville, Peter von Moos (Hg.), Das öffentliche und Private in der Vormoderne, Köln u. a. 1998.

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vate" im englischsprachigen Raum analysiert: Im politischen Sprachge-brauch wird die Unterscheidung vornehmlich zur Differenzierung der Bereiche „state administration" und „market economy" verwandt; im zivilgesellschaftlichen Diskurs wird der Begriff „public sphere" dem Bereich der politisch-bürgerlichen Gemeinschaft vorbehalten und staat-licher Verwaltung und Marktwirtschaft entgegengesetzt; sozialhistori-sche und anthropologische Autoren bezeichnen als „public" die Sphäre menschlicher Geselligkeit, die wiederum formalen Organisationsstruk-turen sowie dem als „private" bezeichneten Bereich von Intimität und Häuslichkeit gegenübersteht; in geschlechtergeschichtlichen Studien wird dem familialen Raum die Kennzeichnung „private", dem politischen und wirtschaftlichen die Bezeichnung „public" zugeschrieben, wobei gerade die Marktwirtschaft als Paradigma des „Öffentlichen" gilt. Weintraub kommt zu dem Schluß einer Inadäquanz der unterschiedlichen Fassungen der „public/private"-Dichotomie, um die institutionelle und kulturelle Komplexität moderner Gesellschaften zu erfassen.29 Für den deutschen Sprachraum wird man dasselbe konstatieren können - man denke nur an die „privaten" Fernsehsender, die die „Öffentlichkeit" in Talkshows mit „intimen" Informationen versorgen.

III. Methodische Folgerungen

Eine Analyse des „Öffentlichen" und des „Privaten" in der römischen Kaiserzeit hat der skizzierten Forschungssituation Rechnung zu tragen. Beide Sachverhalte können nicht länger als beobachterunabhängige universale Kategorien angesehen werden, sondern sind als historische Begriffe zu deuten, die auf bestimmte gesellschaftliche Situationen Be-zug nahmen. Damit ist eine neue Unterscheidung in die Untersuchung eingeführt, die in wissenssoziologischen Arbeiten, prominent bei Niklas Luhmann, seit einiger Zeit angewandt wird: die Unterscheidung von „Gesellschaftsstruktur" und „Semantik".30 Sie geht aus von der grundle-

29 Jeff Weintraub, The Theory and Politics of the Public/Private Distinction, in: Krishan Kumar, Jeff Weintraub (Hg.), Public and Private in Thought and Practice. Perspectives on a Grand Dichotomy, Chicago u.a. 1997, 1-42. 30 Niklas Luhmann, Gesellschaftliche Komplexität und öffentliche Meinung, in: ders., Soziologische Aufklärung, Bd. 5: Konstruktivistische Perspektiven, Opladen 1990, 170-182; vgl. ders., Die Beobachtung der Beobachter im politischen System. Zur Theorie der öffentlichen Meinung, in: Jürgen Wilke (Hg.), Öffentliche Meinung. Theorie, Methoden, Befunde. Beiträge zu Ehren von Elisabeth Noelle-Neumann, Freiburg 1992, 77-86.

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genden Differenz zwischen aus heutiger Sicht feststellbaren (bzw. unter bestimmten Fragestellungen gegenwärtig konstruierbaren) „realhistori-schen" Sachverhalten einerseits und den zeitgenössischen Beschreibun-gen dieser Sachverhalte andererseits. Hinsichtlich der Relation zwischen gesellschaftlichen Strukturen und der Kommunikation der Gesellschaft über sich selbst ist davon auszugehen, daß ein semantisches Muster wie die „öffentlich /privat"-Dichotomie - in seiner antiken wie in seiner mo-dernen Ausprägung - weder „falsch" noch „richtig" ist: Es nimmt - wie in den einleitenden Bemerkungen zur Republik zu sehen - Bezug auf „rea-le" Sachverhalte und bezieht daraus seine Plausibilität, beschreibt diese jedoch in simplifizierender, gegenwärtigen wissenschaftlichen Ansprü-chen nicht entsprechender Art und Weise. In umgekehrter Hinsicht ist da-von auszugehen, daß einmal etablierte semantische Muster ihrerseits eine „Realität" eigener Art haben und auf die gesellschaftlichen Strukturen, die sie beschreiben, zurückwirken, indem sie die Wirklichkeitssicht und die Handlungsorientierung der Mitglieder der jeweiligen Gesellschaft be-stimmen.31

Analysiert man nun die Quellen der römischen Kaiserzeit mittels der eingeführten Unterscheidung, kann die Frage nicht lauten, was in der rö-mischen Kaiserzeit „öffentlich" und was „privat" war. Zu fragen ist statt dessen: Wie wurden die Kategorien „öffentlich" und „privat" von den Zeitgenossen auf bestimmte Phänomene angewandt? Wie reagierte die zeitgenössische Selbstbeschreibung insbesondere auf die historischen Veränderungen, die sich im Zuge der Etablierung der kaiserlichen Herr-schaft ergeben hatten? Und schließlich: Welche Rückwirkungen hatte die - wie zu sehen sein wird - teilweise kontrafaktische, teilweise para-doxe Anwendung des semantischen Musters „öffentlich/privat" auf die politisch-sozialen Strukturen der Kaiserzeit, insbesondere in bezug auf die Legitimität kaiserlicher Herrschaft?

31 Vgl. zu dieser theoretischen Konzeption ausführlich Niklas Luhmann, Gesellschaftliche Struktur und semantische Tradition, in: ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, 4 Bde., Frankfurt a.M. 1980-1995, Bd. 1,9-71.

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IV. Quellenanalyse

Eine vorläufige Systematisierung der Überlieferung, die noch weiter aus-zuarbeiten und zu differenzieren wäre, liefert den folgenden Befund:

1. Eine Vielzahl von Belegen vom ersten bis ins dritte Jahrhundert n.Chr., in lateinischen wie in griechischen Quellen, zeigt eine unver-änderte Fortfuhrung des traditionellen semantischen Musters, die die strukturellen Veränderungen, also v. a. die Existenz der kaiserlichen Herr-schaft, ignoriert. Das politische Gemeinwesen wird dem hausherrschaft-lichen Bereich entgegengesetzt (res publica - domus),32 die Interessen der einzelnen der Sorge um das Wohl der Allgemeinheit {privatae spes - pu-blica cura),11 der magistrates dem kein Amt bekleidenden privatus.34 Das Vermögen einzelner wird von dem des Gemeinwesens unterschieden.35

Der abgetrennte häusliche wird dem allgemein zugänglichen städtischen Bereich gegenübergestellt (domi - in publicó)}6 Als publica wird eine allgemein zugängliche Frau, d. h. eine Prostituierte, bezeichnet.37

Der Kaiser, dem, wie in der lex de imperio Vespasiani überliefert, aus-drücklich die Entscheidungsgewalt über alle „öffentlichen" und „priva-ten" Angelegenheiten zugesprochen wird,38 wird im Rahmen der Fort-führung der traditionellen Unterscheidung dieser untergeordnet, d. h. als jemand charakterisiert, der neben seinen Herrschaftsaufgaben auch als privatus handeln kann. Charakteristisch ist eine Schilderung Suetons, wo Augustus' Tätigkeiten in imperis ac magistratibus regendaque ...re publica seiner interior ac familiaris vita ... domi et inter suos entgegen-gestellt werden.39 Noch bei Cassius Dio wird - bezogen auf die Zeit des Commodus - die Unterscheidung οϊκοι/δημοσίφ bzw. έν τφ κοινφ auf die Differenz von kaiserlichem Palast und städtischem Raum angewandt und ersterer somit wie ein „privates" Haus beschrieben.40 Die Unterord-nung des Kaisers unter die Dichotomie zeigt sich nicht nur bei nichtkai-

32 Zum Beispiel Sen. de ira 3,35,1; Plin. epist. 3,20,10 u. 12 (res publica-privatae res). 33 Tac. hist. 1,19,1. 34 Plin. epist. 1,23,3; paneg. 92,2; Tac.ann. 6,2,4. 35 Plut. Galba 16: Der neue Kaiser beschenkte einen Flötenspieler aus dem Vermögen, das er als privatus vor der Thronbesteigung besaß. 36 Sen. de ira 3,35,5; Tac. ann. 15,59,3 f. 37 Sen. epist. 88,37. 38 CIL VI 930 = ILS 244: Utique quaecunque ex usu reipublicae maiestate divinarum hu-manarum publicarum privatarumque rerum esse censebit, ei agere facere ius potestasque sit... 39 Suet. Aug. 61,1. 40 Cass. Dio 73 (72) 10,3 u. 17,1 f. (Commodus).

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serlichen Beobachtern. Von Tiberius berichtet Tacitus, daß er versuchte, zwischen seinen privatae inimicitiae und der vis principis zu unterschei-den.41 Plinius schreibt, daß Nerva alle beneficia, die Leute privatim vel publice unter früheren Kaisern erlangt hatten, pauschal bestätigt habe.42

Die Unterordnung des Kaisers und seines Handelns unter die Differenz publicus /privatus läßt sich als kontrafaktische Semantik charakterisie-ren, die daher zum Teil wirkungslos war, zum Teil gravierende Folgen zeitigte. Diejenigen, denen ein Kaiser - wie Tiberius - seine „private" Feindschaft aussprach, nahmen sich bekanntlich meist umgehend das Le-ben, was den realiter nicht mehr „privaten" Charakter ihrer Beziehung zum Kaiser deutlich zum Ausdruck brachte.43 Andererseits zeigten sich z. B. beim Tode Neros erhebliche Rechtsunsicherheiten, die aus der Un-terordnung des Kaisers unter die alte Unterscheidung resultierten. Der neue Kaiser Galba ließ die umfangreichen Schenkungen (liberalitates) Neros durch eine Kommission von 50 römischen Rittern untersuchen und bis auf zehn Prozent zurückfordern,44 was den kaiserlichen Benefizien einen unklaren Status verlieh: Einerseits galten sie damit offensichtlich nicht als im alten Sinne „private" Gaben Neros, andererseits wurden sie aber auch nicht als „öffentliche" Schenkungen, d. h. als Amtshandlungen des Kaisers, angesehen. In beiden Fällen hätte man sie nicht zurückfor-dern können. Vielmehr wurde eine Art „privater" Mißbrauch „öffent-licher" Mittel seitens des Kaisers unterstellt, der den Nachfolger nicht band. Diese besonders fur die Aristokratie unhaltbare Situation wurde von den Kaisern ab Vitellius durch pauschale Bestätigung der Benefizien ihrer Vorgänger aufgehoben.45 Im Gegenzug gingen, wie ein Edikt des Antoninus Pius belegt, auch testamentarische Schenkungen an den Kaiser nach dessen Ableben automatisch an den Nachfolger über.46

Die kontrafaktische Anwendung der alten Dichotomie hatte nicht nur Folgen fur die Aristokratie, sondern auch für die Kaiser selbst. Der junge Nero soll in seiner ersten, wohl von Seneca verfaßten Senatsrede ange-kündigt haben, in Zukunft sollten das Haus des Kaisers und das Gemein-

41 Tac.ann. 3,12,2. 42 Plin. epist. 10,58,9. 43 Robert S. Rogers, The Emperor's Displeasure - amicitiam renuntiare, TAPhA 90,1959, 224-237; Wilhelm Kierdorf, Freundschaft und Freundschaftsaufkündigung von der Repu-blik zum Prinzipat, in: Gerhard Binder (Hg.), Saeculum Augustum, Bd. 1 : Herrschaft und Gesellschaft, Darmstadt 1987, 223-245. 44 Suet. Galba 15,1. 45 Cass. Dio 64,6,1; vgl. Suet. Tit. 8,1; Plin. epist. 10,58,9. 46 Dig. 31,56.

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wesen wieder voneinander geschiedene Bereiche sein (discretam domum et rem publicam),47 d. h. die fehlende Unterscheidbarkeit beider Bereiche unter seinem Vorgänger Claudius hatte zu einer normativen Aufladung der alten Dichotomie und damit zur Kaiser- und Hofkritik geführt, die sich Nero bzw. Seneca geschickt zu eigen machten. Jedoch: Kein Kai-ser hätte diesem Programm folgen können, und Nero selbst schlug be-kanntlich genau den entgegengesetzten Weg ein. Als er später in Rom an „öffentlichen" Plätzen (publicis locis) aufwendige Gastmähler abhielt, kommentiert Tacitus sarkastisch mit der alten Begrifflichkeit, Nero habe gewissermaßen die ganze Stadt als sein Haus benutzt {tota urbe quasi domo uti).*s

2. Parallel zur Fortfuhrung der alten Semantik und im Widerspruch zu ihr etablierte sich, greifbar spätestens in den Schriften Senecas,49 die neue Unterscheidung princeps (Imperator)!privatus, die die grundsätz-liche Differenz zwischen dem Kaiser und allen anderen zum Ausdruck brachte.50 „Öffentlich" als der mit politischen Konnotationen versehene Gegenbegriff zu „privat" wurde somit durch „kaiserlich" ersetzt. So läßt z.B. Tacitus den verängstigten Claudius anläßlich der Affäre zwischen der Kaiserin Messalina und dem designierten Konsul C. Silius seine Um-gebung immer wieder fragen, „ob er selbst noch Herrscher, ob Silius noch Privatmann sei" (an ipse imperii potens, an Silius privatus esset).Si Die privata vita des Kaisers, seine griechische Bezeichnung als ιδιώτης, be-zieht sich in diesem Sprachgebrauch auf seine Stellung vor der Thronbe-steigung.52 Der Kaiser selbst ist dem privatus begrifflich entgegengesetzt. Die neue Differenz wird auch auf Frauen der kaiserlichen Umgebung an-gewandt. So unterscheidet der jüngere Plinius Trajans Schwestern von „privaten" Frauen (privatae). Lukian schreibt, Panthea, die Mätresse des Kaisers Verus, habe ein Leben jenseits der Stellung „Privater" gefuhrt (κατά ίδιωτικήν τύχην).53 Ebenso werden, z.B. bei Plinius und Tacitus, der kaiserliche Palast und die kaiserliche aula insgesamt den privatae domus gegenübergestellt.54 Als privata spectacula werden Zirkusspiele

47 Tac. ann. 13,4,2. 48 Tac. ann. 15,37,1. 49 Sen. clem. 1,8,2. 50 Zum Beispiel Tac. hist. 1,37,1; 1,52,4; ann. 11,31,1; 14,52,2; Plin. paneg. 59,6; Suet. Tib. 26,1; Cal. 39,2; Claud. 40,3; 41,3; Dom. 9,1. 51 Tac.ann. 11,31,1. 52 Hist. Aug. Hadr. 17,1; los. ant. lud. 19,213 (Claudius). 53 Plin. paneg. 84,5; Lukian. imag. 2. 54 Plin. paneg. 23,6; Tac. hist. 1,22,1.

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„ Öffentlich " und „privat " im kaiserzeitlichen Rom 239

bezeichnet, die nicht vom Kaiser, sondern von Mitgliedern der Aristokra-tie veranstaltet werden.55

Die neue Unterscheidung princeps /privatus hatte nun auch Folgen für die Semantik des Begriffs publicus. In der erwähnten Rede Neros läßt Tacitus den Kaiser ankündigen, Italien und die „öffentlichen" Provinzen (publicae provinciae) - gemeint sind offensichtlich die nicht vom Kaiser verwalteten sogenannten Senatsprovinzen - sollten sich fortan wieder an die Konsuln wenden, der Kaiser werde für die ihm anvertrauten Hee-re sorgen.56 Der Kaiser und sein Handlungsbereich wurden somit nicht nur als nicht „privat", sondern auch als nicht „öffentlich" angesehen. Als Konsequenz dieses Sprachgebrauchs taucht schließlich die Reihung „pri-vat - öffentlich - kaiserlich" auf, so bei Frontins Schilderung der verschie-denen Sklavenfamilien für die Wasserversorgung Roms.57

Die neue Dichotomie princeps /privatus konnte nun auch die alte Di-chotomie magistrates/privatus überlagern. Plinius lobt Trajans Verzicht auf das Ordentliche Konsulat in seinem Panegyricus mit den Worten: „Nun hatten also privati die Ehre, das Jahr zu beginnen und die Fasten zu eröffnen."58 Die Cónsules ordinarii werden somit dem Kaiser als „Priva-te" gegenübergestellt.

Noch in einer weiteren Hinsicht zeigen sich in der Kaiserzeit seman-tische Veränderungen der Unterscheidung publicus Iprivatus: Die auf Zugänglichkeit für die Allgemeinheit bezogenen Konnotationen gingen ein in die Unterscheidung „öffentlich/geheim" (palamisecreto", propa-lami clam; φανερός/λάθρα59). Diese scheint in der Kaiserzeit gegenüber dem republikanischen Sprachgebrauch stärkere Verbreitung zu gewinnen und wird jetzt quer zur alten Unterscheidung „öffentlich/privat" ver-wandt: Von dem Praefectus Urbi Cossus Cornelius Lentulus, der in einem sehr engen Vertrauensverhältnis zu Tiberius stand, berichtet Seneca, je-nem sei „weder ein privates, noch ein öffentliches Geheimnis (des Kai-sers)" je entschlüpft (autprivatum secretum autpublicum).60

„Private" Magistrate, „öffentliche" Geheimnisse, „private" Spiele in der städtischen Öffentlichkeit, die Reihung „öffentlich-privat-kaiser-

55 Suet. Nero 21,1. 56 Tac. ann. 13,4,2. 57 In de aqu. 2,116; 118, beschreibt Frontin, daß bei der Wasserversorgung Roms eine fa-milia publica und eine familia Caesaris zum Einsatz kamen, erstere war ursprünglich eine „private" Sklavenschar des Agrippa gewesen. 58 Plin. paneg. 58,3. 59 Suet. Nero 22,1; Dom. 2,3; Cass. Dio 72,4,1 (Commodus). 60 Sen. epist. 83,15.

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lieh", die die Gegenbegriffe zugleich beibehält und aufhebt: Während die Fortführung der alten Dichotomie deutlich kontrafaktischen Charak-ter hatte, zeitigten die semantischen Neuerungen in ihrer Gleichzeitig-keit mit der alten Terminologie somit Paradoxien. Und paradox waren auch die normativen Forderungen an das kaiserliche Verhalten, die mit den neuen Unterscheidungen princeps /privatus und princeps /publicus einhergingen. Er sollte sich verhalten wie ein privatus, obwohl er ja von diesem grundsätzlich unterschieden wurde. So überschlägt sich Plinius in seinem Panegyricus auf Trajan mit dem Lob, daß bei diesem Kaiser kein Unterschied zwischen princeps und privatus feststellbar sei.61 Marc Aurel betont in seinen „Selbstbetrachtungen", daß man auch als Kaiser am Hof „fast wie ein Privatmann" (έγγυτάτω ίδιώτου) leben könne.62 Cassius Dio lobt Vespasian, weil er nicht wie ein Kaiser, sondern wie ein ιδιώτης seine Gäste empfing.63

3. Etwa ab dem Ende des 1. Jahrhunderts ist der Versuch einer Wie-dereinführung der Unterscheidung publicus Iprivatus auf den von beiden Bereichen unterschiedenen Kaiser und seine Handlungsfelder feststell-bar, die eine Art Dopplung der alten Kategorien bedeutete. Nerva ließ laut Plinius am Palast die Inschrift „publicae aedes" anbringen, um sich von seinem Vorgänger Domitian zu distanzieren, und schlug somit den Hof insgesamt semantisch dem Bereich der res publica zu.64 Von Trajan berichtet Plinius in diesem Sinne, die salutatio im kaiserlichen Palast lau-fe ab wie in einem Haus der Allgemeinheit {ut in communi domo).65 Eine wohl unter Antoninus Pius neu entstandene kaiserliche Vermögensmasse, die nicht nur vom alten aerarium, sondern auch vom kaiserlichen fiscus und seinem Patrimonium unterschieden war und in die vermutlich sein Vermögen aus der Zeit vor der Thronbesteigung einging, wurde res priva-ta genannt.66 Der Kaiser Pertinax soll sich, so Herodian, geweigert haben, seinen Namen auf den kaiserlichen Besitztümern anbringen zu lassen, mit der Begründung, diese seien nicht des Kaisers „private", sondern „öf-fentliche und der römischen Herrschaft zugehörige" Güter (αύτά ούκ ϊδια τοϋ βασιλεύοντος είναι, άλλα κοινά και δημόσια της 'Ρωμαίων αρχής).67

61 Zum Beispiel Plin. paneg. 43,3. 62 M. Aur. 1,17,5. 63 Cass. Dio 65 (66) 10,1. 64 Plin. paneg. 47,3. 65 Plin. paneg. 48,3. 66 Herbert Nesselhauf, Patrimonium und res privata des römischen Kaisers, Bonner Histo-ria-Augusta-Colloquium 1963, Bonn 1964, 73-93.

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öffentlich " und „privat " im kaiserzeitlichen Rom 2 4 1

Die Historia Augusta berichtet vom Hof des Antoninus Pius, daß dort privata und publica convivía veranstaltet worden seien, und davon, daß er neben den aulici ministri, also der kaiserlichen Hofdienerschaft, „eigene" Sklaven (proprii servi) zu seiner Bedienung heranzog.68

Auf den ersten Blick erscheint diese semantische Neuerung wie eine Durchsetzung der alten Unterscheidung: Der Kaiser ist eine Art magistra-tischer Amtsträger, der lediglich über besondere Verwaltungsstrukturen, Vermögensmassen, einen Hof und einen Palast verfügt, ansonsten aber als Privatmann in alter Weise agieren kann - ganz im Sinne von Momm-sens Staatsrecht. Die kontrafaktische Kaiser- und Hofkritik scheint Erfolg gehabt und die Realität verändert zu haben.

Bei genauerem Hinsehen zeigt sich jedoch eine politisch-instrumen-telle, d. h. bewußt eingesetzte Funktion dieser neuerlich veränderten Be-griffsverwendung, die sowohl der alten Unterscheidung von res publica und res privata, als auch der neuen von princeps und privatus wider-sprach. Derselbe Plinius, der Nervas Charakterisierung des Palastes als publicus lobte, tobte bekanntlich in seinen Briefen, als er auf das Grab-mahl des Freigelassenen des Claudius, Pallas, stieß, dem vom Senat die Insignien eines Prätors verliehen worden waren, obwohl dies doch tat-sächlich die neuentstandene kaiserliche Verwaltung in die alte res publi-ca einbezog.69 Die neue „Öffentlichkeit" des kaiserlichen Palastes hatte somit realiter nichts mit den ja nach wie vor fortbestehenden politischen Organisationsstrukturen der alten res publica zu tun. Daß auch der neue „Privatbereich" des Kaisers nicht im alten Sinne „privat" war, zeigte sich spätestens bei Commodus, wo Kammerdiener niedrigster Herkunft die entscheidenden politischen Machtpositionen besetzten. Daß das Kaiser-tum nichts mit einem „öffentlichen" Amt im alten Sinne zu tun hatte, dokumentiert schließlich das Fehlen jeglicher Versuche seitens der Ari-stokratie, dieses in die alten politischen Institutionen und Verfahren ein-zugliedern oder gar zu kontrollieren, aber ebenso auf Seiten der Kaiser die Unmöglichkeit, von diesem Amt zurückzutreten: Pertinax' Distanzierung von der kaiserlichen Rolle änderte nichts daran, daß er nach dem Verlust seiner Macht nicht abgesetzt, sondern getötet wurde.

Bei der dritten kaiserzeitlichen publicus /privatus-Semantik, die die er-ste, traditionelle, auf den von ihr ausgeschlossenen Kaiser anwandte, han-delt es sich somit um eine doppelbödige Redeweise, eine Art realisierter

67 Herodian. 2,4,7. 68 Hist. Aug. Pius 11,4; 7,5. 69 Plin. epist. 7,29; 8,6.

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Paradoxic, deren erneute Kontrafaktizität Kaiser und Aristokratie der Zeit von Nerva bis Marc Aurel bewußt gewesen sein dürfte. Die Kaiser mach-ten sich, angesichts mittlerweile fest institutionalisierter und irreversibel gewordener kaiserlicher Herrschaftsstrukturen, die andauernde „republi-kanische" Kaiser- und Hofkritik sprachlich zu eigen, um auf diese Weise ihr fortbestehendes Akzeptanzdefizit innerhalb der Aristokratie zu kom-pensieren, und die Senatsaristokratie nahm dies dankbar auf, obwohl es ihren Funktionsverlust als tragende Schicht der alten res publica zugleich endgültig festschrieb.70

V. Ergebnis

Zur Analyse des „Öffentlichen" und des „Privaten" im kaiserzeitlichen Rom war ein begriffsgeschichtlicher Umweg und ein theoretischer Neu-ansatz nötig, um einerseits die Differenz der antiken von den - unter-schiedlich gefaßten- modernen Dichotomien „öffentlich/privat" her-auszustellen, um andererseits die antike wie die modernen Dichotomien zu dekonstruieren: Es handelt sich nicht um metahistorische Kategorien, sondern um simplifizierende Muster gesellschaftlicher Selbstbeschrei-bung, die als solche weder „falsch" noch „richtig", weder „subjektiv" noch „objektiv" sind. Die antike Unterscheidung kategorisiert einerseits die historische Realität in einer Weise, die gegenwärtigen wissenschaftli-chen Analysen nicht standhält, andererseits ist sie zugleich ihrerseits Teil dieser historischen Realität: Sie spiegelt die Selbstsicht der Gesellschaft, die sinnhafte Konstruktion der Realität seitens der Zeitgenossen wider und als solcher kommt ihr historische Bedeutung eigener Art zu. „Öffent-lich" und „privat" sind als wissenschaftliche Begriffe einer gegenwärtigen Analyse damit zu verabschieden. Gleichzeitig werden sie jedoch in den Status eines zentralen Gegenstandes gegenwärtiger historischer Analyse erhoben. Der Wechsel von Was- zu Wie-Fragen und die Unterscheidung von Gesellschaftsstruktur und Semantik doppelt somit die historische Realität: Die Forschung hat eine Beschreibung der Vergangenheit anzu-fertigen, die die vergangenen Selbstbeschreibungen miteinbezieht und in ihrer Plausibilität erklärt.

Erst mittels dieses komplexeren Theorieansatzes läßt sich das Problem der Unterscheidung von „öffentlich" und „privat" im kaiserzeitlichen

70 Vgl. Alfred Heuß, Verfassungsrecht und Ideologie (1964), in: ders., Gesammelte Schrif-ten in drei Bänden, Bd. 2: Römische Geschichte, Stuttgart 1995, 1366-1374.

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„ Öffentlich " und „privat " im kaiserzeitlichen Rom 243

Rom klären: Die römische Selbstbeschreibung mittels der publicus-pri-vato-Dichotomie war nicht - wie zur Zeit der Republik - durch Einheit-lichkeit und Konsistenz, sondern durch Differenzen, Kontrafaktizitäten und Paradoxien gekennzeichnet: Die alte Unterscheidung, die eng mit den politischen Errungenschaften der Republik verknüpft und deren fort-bestehende Plausibilität offensichtlich irreversibel war, wurde kontrafak-tisch durchgehalten. Daher konnte die gleichzeitige neue semantische Differenz princeps /privatus bzw. princeps /publicus, die den Verände-rungen gerecht zu werden suchte, nur die Form der Paradoxie „öffent-lich-privat-kaiserlich" annehmen. Während die alte Unterscheidung den Kaiser und seine Handlungsfelder der Differenz kontrafaktisch unterord-nete, die neue beide der Differenz paradox überordnete, versuchte die dritte - wiederum kontrafaktisch - einen öffentlichen von einem privaten Kaiser zu unterscheiden.

Vor diesem Hintergrund klären sich nun auch die unterschiedlichen Positionen der modernen Forschung, die danach fragt, was im kaiser-zeitlichen Rom „öffentlich" bzw. „staatlich" und was „privat" ,war*. Sie beruhen darauf, daß jeweils eins der drei unterschiedlichen antiken Selbstbeschreibungsmuster übernommen wird. Demandi etwa reprodu-ziert bei seiner Beschreibung des kaiserlichen Privatlebens die Semantik Suetons, Käser folgt bei seiner Reihung privat-staatlich-kaiserlich dem Sprachgebrauch Frontins, Eck übernimmt bei seiner Unterscheidung von Privatpersonal und staatlichen Amtsträgern am Hof die Diktion eines „humanitären" Kaisers wie Antoninus Pius. Und alle gemeinsam über-nehmen damit die Kontrafaktizitäten bzw. Paradoxien der unterschiedli-chen kaiserzeitlichen Selbstbeschreibungen in ihre modernen Analysen der historischen Realität.

Die Plausibilität semantischer Muster ist kein Zufallsprodukt. Die Aus-gestaltung der publicus-privatus-Dichotomie im kaiserzeitlichen Rom fand ihre Entsprechung in realhistorischen Widersprüchen und Parado-xien, die sich - wie ich an anderer Stelle zu zeigen versucht habe71 - bei einer Analyse der Strukturen sozialer Ungleichheit und der politischen Organisation aufdecken lassen. Und dieser Gesamtbefund ist weniger verwunderlich, als er auf den ersten Blick erscheint. Handelte es sich doch um ein ursprünglich städtisches Gemeinwesen, dessen aristokrati-sche Gesellschaftsordnung auch dann noch durch die alte republikanische politische Ordnung reproduziert wurde, als die Stadt längst zum Zentrum

71 Aloys Winterling, ,Staat', .Gesellschaft' und politische Integration in der römischen Kaiserzeit, Klio 83,2001,93-112.

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eines stadtübergreifenden Reiches geworden war, das sich nur noch durch eine monarchische Herrschaftsorganisation integrieren ließ. Die seman-tischen und realhistorischen Paradoxien waren die Kosten dieser Monar-chie in einer Republik, die die aristokratische Oberschicht und die Kaiser gemeinsam zu tragen hatten.

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