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Die Geschworenengerichte der späten römischen Republik Kontrafaktische Überlegungen Von Wilfried Nippel Jede historische Behandlung der römischen Geschworenengerichte steht vor dem Problem einer völlig unzureichenden Überlieferung zur Entwick- lung der römischen Strafrechtspflege - Theodor Mommsen hat einmal der Vorstellung von der Vollkommenheit des römischen Rechts mit dem Hinweis auf das „ganz schlechte und zum Theil wirklich niederträchtige römische Criminalrecht" widersprochen. 1 Weil die in Strafsachen tätigen Geschworenengerichte der späten Republik eine grundlegende Neuerung darstellen, verbietet sich auch die Möglichkeit des Rückschlusses von bes- ser dokumentierten auf frühere Epochen. 2 Indem er endgültig der Momm- senschen Theorie vom zweistufigen magistratisch-comitialen Prozeß 3 den Boden entzogen zu haben schien, 4 hat Wolfgang Kunkel (1962) für die Zeit bis zur Mitte des 2. Jahrhunderts v. Chr. tabula rasa geschaffen. 5 1 Theodor Mommsen, Die Bedeutung des römischen Rechts (1852), in: ders., Gesammel- te Schriften, 8 Bde., Berlin 1905-1913 (ND 1965), Bd.3, 591-600, 595. 2 Jochen Bleicken, Ursprung und Bedeutung der Provocation, ZRG Rom. Abt. 76, 1959, 324-377, 324. 3 Theodor Mommsen, Römisches Strafrecht, Leipzig 1899. Diese Konzeption hatte Mommsen schon in einer These für seine Doktordisputation 1843 (Omnia populi iudicia capitalia fitìsse ex provocartene) und dann ausführlich 1844 in seiner Besprechung von Gustav Geib, Geschichte des römischen Criminalprocesses (1844), entwickelt; Mommsen, Gesammelte Schriften (wie Anm.l) Bd. 3, 466; 469-494. 4 Vorausgegangen war die Kritik an Mommsens Theorie v. a. bei Christoph H. Brecht, Zum römischen Komitialverfahren, ZRG Rom. Abt. 59, 1939,261-314; Alfred Heuß, Zur Entwicklung des Imperiums der römischen Oberbeamten, ZRG Rom. Abt. 64, 1944, 57- 133, und Bleicken, Provocation (wie Anm.2). - Eine Rückkehr zu Mommsens Position findet sich aber bei Arnold H. M. Jones, The Criminal Courts of the Roman Republic and Principate, Oxford 1972, und neuerdings u.a. auch bei T. Corey Brennan, The Praetorship in the Roman Republic, 2 Bde., Oxford u. a. 2000, Bd. 1, 125 ff. 5 Wolfgang Kunkel, Untersuchungen zur Entwicklung des römischen Kriminalverfahrens in vorsullanischer Zeit, München 1962. - In seiner Rezension sprach Peter A. Brunt von Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst Library Authenticated Download Date | 10/7/14 9:19 AM

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Page 1: Gegenwärtige Antike - antike Gegenwarten (Kolloquium zum 60. Geburtstag von Rolf Rilinger) || Die Geschworenengerichte der späten römischen Republik Kontrafaktische Überlegungen

Die Geschworenengerichte der späten römischen Republik

Kontrafaktische Überlegungen

Von

Wilfried Nippel

Jede historische Behandlung der römischen Geschworenengerichte steht vor dem Problem einer völlig unzureichenden Überlieferung zur Entwick-lung der römischen Strafrechtspflege - Theodor Mommsen hat einmal der Vorstellung von der Vollkommenheit des römischen Rechts mit dem Hinweis auf das „ganz schlechte und zum Theil wirklich niederträchtige römische Criminalrecht" widersprochen.1 Weil die in Strafsachen tätigen Geschworenengerichte der späten Republik eine grundlegende Neuerung darstellen, verbietet sich auch die Möglichkeit des Rückschlusses von bes-ser dokumentierten auf frühere Epochen.2 Indem er endgültig der Momm-senschen Theorie vom zweistufigen magistratisch-comitialen Prozeß3

den Boden entzogen zu haben schien,4 hat Wolfgang Kunkel (1962) für die Zeit bis zur Mitte des 2. Jahrhunderts v. Chr. tabula rasa geschaffen.5

1 Theodor Mommsen, Die Bedeutung des römischen Rechts (1852), in: ders., Gesammel-te Schriften, 8 Bde., Berlin 1905-1913 (ND 1965), Bd.3, 591-600, 595. 2 Jochen Bleicken, Ursprung und Bedeutung der Provocation, ZRG Rom. Abt. 76, 1959, 324-377, 324. 3 Theodor Mommsen, Römisches Strafrecht, Leipzig 1899. Diese Konzeption hatte Mommsen schon in einer These für seine Doktordisputation 1843 (Omnia populi iudicia capitalia fitìsse ex provocartene) und dann ausführlich 1844 in seiner Besprechung von Gustav Geib, Geschichte des römischen Criminalprocesses (1844), entwickelt; Mommsen, Gesammelte Schriften (wie Anm.l) Bd. 3, 466; 469-494. 4 Vorausgegangen war die Kritik an Mommsens Theorie v. a. bei Christoph H. Brecht, Zum römischen Komitialverfahren, ZRG Rom. Abt. 59, 1939,261-314; Alfred Heuß, Zur Entwicklung des Imperiums der römischen Oberbeamten, ZRG Rom. Abt. 64, 1944, 57-133, und Bleicken, Provocation (wie Anm.2). - Eine Rückkehr zu Mommsens Position findet sich aber bei Arnold H. M. Jones, The Criminal Courts of the Roman Republic and Principate, Oxford 1972, und neuerdings u.a. auch bei T. Corey Brennan, The Praetorship in the Roman Republic, 2 Bde., Oxford u. a. 2000, Bd. 1, 125 ff. 5 Wolfgang Kunkel, Untersuchungen zur Entwicklung des römischen Kriminalverfahrens in vorsullanischer Zeit, München 1962. - In seiner Rezension sprach Peter A. Brunt von

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Aber auch Kunkel ist es - entgegen seiner Behauptung - nicht wirklich gelungen, das System der Geschworenengerichte in einen „organischen" Zusammenhang mit den vorausgegangenen Prozeßformen zu bringen, die „Geschworenenhöfe der späten Republik" aus der „Linie altrömi-scher Tradition" zu verstehen.6 Sowohl dem von ihm postulierten alten privaten Anklageprozeß wie den in der modernen Forschung sogenannten quaestiones extraordinariae7 des 2. Jahrhunderts v.Chr. kann man höch-stens jeweils einzelne Entsprechungen zum späteren Quaestionenprozeß zuschreiben; daß das Verfahren in seiner wesentlichen Kombination von Popularanklage, magistratischem Vorsitz und Parteienprozeß vor einer Urteilsjury vorgeprägt gewesen sei, läßt sich schwerlich sagen; das gilt auch für andere mögliche Vorbilder aus dem Zivilverfahren, sei es das Verfahren vor Rekuperatoren, sei es dasjenige vor einem Einzelrichter mit consilium.

Auch hinsichtlich der spätrepublikanischen Geschworenengerichte gibt es eine Reihe von offenen, immer wieder kontrovers diskutierten Fragen. So hinsichtlich des Repetundenprozesses, der eine Vorreiterrolle für die spätere Praxis aller Geschworenengerichte gespielt hat.8 Die Frage nach Identität und Datierung des wichtigsten Zeugnisses für das strafrechtliche Verfahren in Repetundensachen, nämlich des inschriftlich auf der Tabula Bembina überlieferten Gesetzes,9 wird immer wieder einmal neu aufge-

der Einleitung einer „kopernikanischen Wende"; Peter A. Brunt, RHD 32,1964,440-449, 440; in derjenigen von M. Joseph Costelloe, AJPh 86, 1965, 193-197, 193, heißt es: „it seems that Roman criminal law is at last arising from the tortorous bed on which it has been laid [durch Mommsen;~W.N.] and is assuming a more comfortable position". 6 Diese Formulierungen bei Kunkel, Untersuchungen (wie Anm.5) 17; 131, sind aller-dings jeweils mit gewissen Einschränkungen verbunden; vgl. aber die Behauptung der strukturellen Gleichheit der Verfahren bei Wolfgang Kunkel, Prinzipien des römischen Strafverfahrens, in: ders., Kleine Schriften. Zum römischen Strafverfahren und zur römi-schen Verfassungsgeschichte, hrsg. v. Hubert Niederländer, Weimar 1974, 11-31, die auf der Annahme beruht, daß in jedem Verfahren der Spruch des magistratischen Consiliums ausschlaggebend gewesen sei. Dazu Manfred Fuhrmann, GGA 219, 1967, 81-98,91: „Die Lehre vom bindenden Votum der Geschworenen ist somit im Bereich der Justiz eine Art Surrogat der Provokation: Kunkel findet dort ein Analogon der Garantien, welche die bis-herige Meinung aus den Provokationsgesetzen abgeleitet hatte." Der Quellenbefund stützt Kunkels These nicht; Fuhrmann, ebd. 94 f. 7 Den Hinweis, daß es sich nicht um einen terminus technicus der Quellensprache han-delt, gibt schon Mommsen, Rez. Geib (wie Anm. 3) 483; vgl. Wolfgang Kunkel, Quaestio, in: ders., Kleine Schriften (wie Anm.6) 33-110 (zuerst in: RE 24,1, 1963, 720-786), 35f. 8 Vgl. Walter Eder, Das vorsullanische Repetundenverfahren, Diss. München 1969. 9 Text und Kommentar in: Andrew W. Lintott, Judicial Reform and Land Reform in the Roman Republic. A New Edition with Translation and Commentary of the Laws from Urbino, Cambridge u.a. 1992, sowie in: Michael H. Crawford (Hg.), Roman Statutes, 2 Bde., London 1996, Bd. 1, 65 ff.

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worfen, wenngleich die Mehrheit der Forschung an der Gleichsetzung mit der bei Cicero (Verr. 1,51) erwähnten lex Acilia bzw. mit einem politisch dem Gaius Gracchus zuzurechnenden Gesetz festhält. Viel umstrittener ist, ob schon durch Gaius Gracchus nicht allein die Zusammensetzung der Richterbänke des Repetundengerichts, sondern aller Geschworenen-gerichte geändert wurde; entsprechend ist auch notwendig umstritten, ob spätere leges iudiciariae der vorsullanischen Zeit jeweils nur die Repe-tunden- oder alle Geschworenengerichte betrafen;10 dies alles ist wieder-um nicht von der Frage zu trennen, seit wann man überhaupt (schon vor, durch oder erst nach Gaius Gracchus) die Einrichtung solcher ständigen Quaestionen für diverse Delikte ansetzen kann." Weiter ist wohl nicht definitiv zu klären, wer die Ritter sind, die auf der Geschworenenliste stehen; werden sie nur aus dem Kreis der 1800 Staatspferdinhaber ge-nommen12 oder sind grundsätzlich auch diejenigen qualifiziert, die nur den Rittercencus erfüllen? Wer sind schließlich die (prosopographisch nicht zu erfassenden) Aerartribunen, die seit der lex Aurelia des Jahres 70 neben Senatoren und Rittern die Geschworenen stellen?13

Angesichts dieser vielen offenen Fragen, angesichts der Einbettung der Auseinandersetzungen um die Zusammensetzung der Geschworenenge-richte in unterschiedliche politische Konfliktlagen, schließlich eingedenk der Bedeutung der Strafprozesse insgesamt14 bzw. einzelner spektakulärer Fälle für die politische Geschichte der späten Republik gibt es eine kaum noch zu überschauende Literatur. Bei der Fülle von Arbeiten ist jede Be-hauptung, eine bestimmte Frage sei in der Literatur nicht angemessen behandelt worden, mit dem Risiko der Unseriösität belastet. Die Maxi-

10 Vgl. für die Annahme der Existenz ständiger Gerichtshöfe vor 123 und einer umfas-senden Regelung durch C. Gracchus z.B. Peter A. Brunt, Judiciary Rights in the Roman Republic, in: ders., The Fall of the Roman Republic and Related Essays, Oxford 1988, 194-239; Dario Mantovani, Gaio Graccho e i dikastai di Plut. C.Gr.3.7, Athenaeum 82, 1994, 13-29; dagegen u.a. Claude Nicolet, Les lois judiciaires et les tribunaux de con-cussion. Travaux récents et directions de recherche, ANRW 1, 2, 1972, 197-214; Miriam Griffin, The „Leges Iudiciariae" of the Pre-Sullan Era, CQ 23, 1973, 108-126. 11 Vgl. Duncan Cloud, The Constitution and the Public Criminal Law, CAH 9,21994,491 -530, 515 ff. 12 So die These von Claude Nicolet, L'ordre équestre à l'époque républicaine (312-43 av. J.-C.), 2 Bde., Paris 1966-1974, Bd. 1; vgl. die Einwände in der Rezension von Jochen Martin, Gnomon 39,1967, 795-803. 13 Vgl. Jochen Bleicken, Cicero und die Ritter, Göttingen 1995, 12 f. 14 Siehe die Zusammenstellung der Daten bei Michael C. Alexander, Trials in the Roman Republic, 149 B.C. to 50 B.C., Toronto u.a. 1990; zum Prozeßrisiko für Senatoren vgl. ders., How Many Roman Senators Were Ever Prosecuted? The Evidence from the Late Republic, Phoenix 47, 1993,238-255.

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me: „Lesen schützt vor Neuentdeckungen", kann man nur in Grenzen beherzigen, wenn man einen solchen Beitrag nicht auf eine jahrelange Spezialisierung auf das Thema und eine entsprechende Beherrschung der Forschungsliteratur gründen kann. Auch wenn ich demnach das Risiko eingehen muß, daß mir Äußerungen in der Literatur entgegengehalten werden könnten, die ich übersehen habe, möchte ich doch die Behaup-tung aufstellen, daß bestimmte Aspekte bezüglich der grundlegenden Umgestaltung des römischen Strafprozeßrechtes in einschlägigen Arbei-ten jedenfalls nicht umfassend diskutiert worden sind.

Der erste Anstoß zur Nachfrage kommt von vergleichenden Überle-gungen. Für die Antike liegt zunächst der Vergleich mit den Gerichten der attischen Demokratie nahe. Hier ist der Einsatz großer, nach dem Zufalls-prinzip aus der gesamten Bürgerschaft ausgewählter Jurys, die nach dem Parteienvortrag ohne Beratung zugleich über Tatbestand wie rechtliche Würdigung entscheiden, Ausdruck der Souveränität des Demos bzw. der Vorstellung, daß sich das Bürgerrecht des einzelnen auch in der Teilhabe am Richten manifestiert.

In der Literatur wird auch gern der Vergleich des römischen mit dem angelsächsischen Jurysystem gezogen.15 Die Parallele besteht in der Durchführung des Verfahrens als reinem Parteienprozeß; der Unterschied darin, daß der angelsächsische Prozeß von einem Richter geleitet wird, der während der Verhandlung auf die Einhaltung der Beweisregeln achtet und auch die Jury juristisch instruiert, die nach eingehender Beratung über die Tatfrage zu entscheiden hat. Schließlich kann man auf das Geschwore-nengericht der französischen Revolution hinweisen, das für die deutsche Diskussion des Vormärz richtungsweisend war, wobei in der zeitgenössi-schen Diskussion auch auf das römische Vorbild (neben dem englischen) rekurriert wurde.16 Die Forderung nach Geschworenengerichten gehört hier in den Kontext der Abkehr vom Inquisitionsprinzip, also in ein Paket

15 So ζ. B. bei James L. Strachan-Davidson, Problems of the Roman Criminal Law, 2 Bde., Oxford 1912, Bd. 1, 112ff.; Kunkel, Quaestio (wie Anm.7) 80f. (zum Parteienverfahren) und Kunkel, Prinzipien (wie Anm. 6) 20 (zur Selbstverurteilung durch Geständnis bei der förmlichen Befragung durch den Gerichtsmagistraten). 16 Vgl. Manfred Fuhrmann, „Grundrechte" im Strafprozeß der römischen Republik und ihr Widerhall im 18. und 19. Jahrhundert, in: Okko Behrends (Hg.), Libertas. Grundrecht-liche und rechtsstaatliche Gewährungen in Antike und Gegenwart. Symposion aus Anlaß des 80. Geburtstages von Franz Wieacker, Ebelsbach 1991, 97-112 . - Den athenischen Geschworenengerichten wurde dagegen kaum einmal Gegenwartsrelevanz zugesprochen; vgl. Gerhard Thür, Juristische Gräzistik im frühen 19. Jahrhundert, in: Michael Stolleis (Hg.), Die Bedeutung der Wörter. Studien zur europäischen Rechtsgeschichte. Festschrift zum 70. Geburtstag von Sten Gagnér, München 1991, 521-534.

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von Forderungen, zu dem Öffentlichkeit und Mündlichkeit der Verhand-lung, Trennung von Anklage- und Urteilsfunktion (durch Einführung der Staatsanwaltschaft) gehören.17

Bei allen Unterschieden geht es sowohl beim angelsächsischen wie beim deutschen Geschworenensystem um die Beteiligung von Laien neben rechtsgelehrten Staatsrichtern. Das Laienelement soll einerseits Staatsferne garantieren und andererseits eine Vertrautheit mit den Le-bensumständen des Angeklagten herstellen, die dem subjektiven Schuld-moment gerecht werden soll. Das kann mit der Akzentuierung versehen werden, daß hier eine „Rechtsprechung durch Gleiche" erfolge, was wie-derum die Akzeptanz des Urteilsspruchs erhöhe. Die Rolle des oder der Berufsrichter liegt vor allem in der Überwachung der Beweisregeln wäh-rend des Verfahrens und der rechtlichen Würdigung der Beweisaufnahme gegenüber der Jury.18

Im Vergleich zu diesen Beispielen liegt nun die Besonderheit des rö-mischen Geschworenensystems darin, daß der Vorsitzende nur für den korrekten Ablauf zu sorgen hat, ein Laiengremium ohne vorherige juristi-sche Instruktion und ohne Beratung untereinander zugleich über Tat- und Rechtsfrage entscheidet, diese Laien aber aus der gesellschaftlichen Elite kamen bzw. im Falle der Senatoren sogar dem zentralen Regierungsorgan der Republik angehörten. Unter dem Gesichtspunkt der römischen Ver-fassungsentwicklung kommt hinzu, daß erst zu einem späten Zeitpunkt ein völlig neues System eingeführt worden ist, das Funktionen der Volks-versammlungen auf eine eng begrenzte soziale Schicht übertrug.

Angesichts dessen scheinen mir die üblichen Erklärungsmuster für die Etablierung des neuen Systems nicht ohne weiteres einleuchtend. Jeden-falls ist es angebracht, sie noch einmal, und sei es mit Hilfe kontrafakti-scher Spekulationen, auf ihre Plausibilität durchzuspielen.

Die gängige Auffassung besagt, für die Einfuhrung des Geschworenen-systems habe auf Grund der evidenten Mängel des Comitialverfahrens eine sachliche Notwendigkeit bestanden. So heißt es bei Kunkel: „Ab-

17 Der klassische Text ist: Carl J. A. Mittermaier, Die Mündlichkeit, das Anklageprinzip, die Öffentlichkeit und das Geschworenengericht in ihrer Durchführung in den verschiede-nen Gesetzgebungen. Dargestellt und nach den Forderungen des Rechts und der Zweckmä-ßigkeit mit Rücksicht auf die Erfahrung der verschiedenen Länder geprüft, Stuttgart 1845 (ND 1970). 18 Vgl. u. a. Dirk Blasius, Der Kampf um die Geschworenengerichte im Vormärz, in: Hans-Ulrich Wehler (Hg.), Sozialgeschichte heute. Festschrift für Hans Rosenberg zum 70. Ge-burtstag, Göttingen 1974, 148-161; Peter Landau, Schwurgerichte und Schöffengerichte in Deutschland im 19. Jahrhundert bis 1870, in: Antonio Padoa Schioppa (Hg.), The Trial Jury in England, France, Germany 1700-1900, Berlin 1987, 242-304.

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gesehen von der Umständlichkeit und den formellen Erschwernissen, die damit verbunden waren, war die Verhandlung vor dem Volk an und für sich schon kein sehr taugliches Mittel, verwickelte und problematische Sachverhalte aufzuklären und zu einer einigermaßen gerechten Beurtei-lung zu bringen. Diese konstitutionelle Schwäche des Komitialverfahrens mußte aber gerade unter den sozialen und politischen Verhältnissen des zweiten Jahrhunderts in ihrer ganzen Tragweite sichtbar werden. Je mehr nämlich die Bürgergemeinde von einer unruhigen, urteilslosen und darum jeder Beeinflussung zugänglichen Masse beherrscht wurde, und je kom-plizierter und weitläufiger die Staatsgeschäfte wurden, desto sinnloser und schädlicher mußte die komitiale Behandlung politischer Anklagen erscheinen. Die Mehrzahl der Komitialprozesse von der Wende des zwei-ten Jahrhunderts an, insbesondere diejenigen, die kurz vor Sullas Diktatur von den Popularen durchgeführt worden sind, waren denn auch Akte rei-ner Demagogie, ja des politischen Terrors. Darum war die Verdrängung der Volksjustiz, die zunächst von Fall zu Fall durch Einsetzung außeror-dentlicher Quästionen erfolgte, eine klare Notwendigkeit. Das Ziel aber, dem die Entwicklung zusteuerte, konnte nur die Schaffung permanenter Gerichtshöfe für politische Vergehen sein."19

Ähnlich liest man bei Bernardo Santalucia: Die „exorbitant hohe An-zahl der dem Volksgericht unterbreiteten Prozesse, die exzessive Länge des Verfahrens, die Schwierigkeit, in angemessener Weise Streitfragen von gewisser Komplexität abzuhandeln, und im besonderen das Mißtrau-en der regierenden Schicht, die im indicium populi eine immer leichter durch demagogischen Druck beherrschbare Prozeßform sah, bewirkten den langsamen, aber unaufhaltsamen Untergang der rechtsprechenden Funktion der Komitien".20 Duncan Cloud verweist auf die Umständlich-keit und Langsamkeit der Verfahren, ferner darauf, daß die Volksver-sammlung mit zahlreichen Entscheidungen überlastet gewesen sei, Bür-ger, die keine Diäten erhielten, für zusätzliche Termine keine Zeit gehabt hätten, und zudem nach der Ausdehnung des Bürgerrechts auf ganz Italien die Teilnahme für das Gros der Bürger faktisch unmöglich gewesen sei.21

(Letzteres Argument kann man gleich auf sich beruhen lassen, denn die

" Kunkel, Untersuchungen (wie Anm. 5) 61. - Auf einer ähnlichen Prämisse einer sachli-chen Notwendigkeit beruht auch Runkels Postulat einer „Polizeijustiz" der tresviri capita-les-, vgl. Wilfried Nippel, Aufruhr und „Polizei" in der römischen Republik, Stuttgart 1988, 36 ff. 20 Bernardo Santalucia, Verbrechen und ihre Verfolgung im antiken Rom, Lecce 1997, 48 f. 21 Cloud, Constitution (wie Anm. 11 ) 503.

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Tatsache, daß jeweils nur ein höchst geringer Anteil der Bürgerschaft an den Volksversammlungen teilnahm, hat nie dazu gefuhrt, die Kompetenz der Comitien für Wahlen und Gesetzgebung in Frage zu stellen).

Ähnliche Äußerungen lassen sich in alter wie neuerer Literatur un-schwer finden.22 Jochen Bleicken schreibt, die „große Vermehrung der politischen Prozeßtätigkeit" habe „eine klarere und einfachere Prozeß-form" erzwungen. „Alis ihr folgt die Ablösung des Volksgerichts durch das Geschworenengericht [...]. Das Volk hört damit auf, Richter zu sein."23 An anderer Stelle findet sich bei Bleicken diese Feststellung um einen zusätzlichen Punkt erweitert: „Als wegen der gewaltigen Zunahme des römischen Staatsgebietes das Volk nicht mehr sämtliche politische Delikte aburteilen konnte, wurde das Volksgericht von .Untersuchungs-höfen' (quaestiones) abgelöst, aber dabei das Prinzip des Laienrichters aufrechterhalten."24 Dies steht in einer eher populären Darstellung, aber Bleicken hatte schon früher in seiner Rezension von Kunkels Werk ge-meint, daß mit dem „Geschworenensystem ... als ein[em] Gericht mit ei-ner größeren Anzahl von Laienrichtern der Idee der Provocation Genüge" getan worden sei.25 Man fragt sich, was ein Verweis auf Laienrichter soll, da es etwas anderes im Sinne von rechtsgelehrten und/oder beamteten Richtern in republikanischer Zeit nie gegeben hat. Die Bemerkungen sind dann wohl so zu verstehen, daß erstens keine Magistrate Untersuchun-gen führen und Urteile fallen und daß zweitens mit der Urteilsfindung durch amtlose Bürger (ungeachtet welchen sozialen Ranges) das Prinzip der Rechtsprechung durch das Volk gewährleistet worden sei. Bleickens Äußerungen spiegeln damit immerhin wider, daß man bezüglich der Eta-

22 Chr. F. M. Eisenlohr, Die Provocatio ad Populum zur Zeit der Republik. Ein Beitrag zur Geschichte des römischen Strafrechts und Strafverfahrens, Schwerin 1858 (ND 1970), 188: Nach den Gracchen war „die mit Gunst, Geld und Gewalt bearbeitete Masse, wie ihre Füh-rer, alles Rechtsgefühls, aller Achtung vor dem Gesetz ledig, in den Comitien Meister [...]. Es war eine Wendung zum Besseren, als neben den Comitialgerichten die stellvertretenden Ausschüsse, die Quästionen, aufkamen, die, anders zusammengesetzt und mit anderem Ge-richtsgang, doch einige Garantie fur die Gerechtigkeit ihrer Urtheile darboten". - „Mit der Vergrößerung des römischen Gemeinwesens vergrößerte sich auch die Zahl der Delikte, so daß das schwerfällige Organ der Volksversammlung der Zahl der anfallenden Verfahren je später desto weniger gewachsen war"; Manfred Fuhrmann, Gerichtswesen und Prozeßfor-men in Rom. Der Prozeß gegen Verres, Ianus 18,1997, 7-17, 11. 23 Jochen Bleicken, Lex Publica. Gesetz und Recht in der römischen Republik, Berlin 1975,149. 24 Jochen Bleicken, Das römische Recht, in: Jochen Martin (Hg.), Das Alte Rom. Ge-schichte und Kultur des Imperium Romanum, München 1994,145-165, 157. 25 Jochen Bleicken, Rez. Wolfgang Kunkel, Untersuchungen zur Entwicklung des römi-schen Kriminalverfahrens in vorsullanischer Zeit, Gnomon 36, 1964, 696-710, 709.

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blierung der Geschworenengerichte ein Problem der politischen Legiti-mierung sehen kann. Ich möchte diese Frage zunächst erörtern, bevor ich auf den Punkt der vermeintlichen praktischen Vorzüge des Quaestionen-prozesses zu sprechen komme.

Mir scheint sich dieses Problem zumal im Hinblick darauf zu stellen, daß die entscheidenden Schritte zur Etablierung der ständigen Geschwo-renengerichte im Kontext der sogenannten popularen Politik gemacht worden sind. Gaius Gracchus ist zweifellos der politisch Verantwortli-che für die Übertragung der Geschworenenfunktion an die Ritter, zumin-dest in den Repetundengerichten, gewesen. Er hat mit seinem Provoka-tionsgesetz ausgeschlossen, daß es künftig noch vom Senat eingesetzte Ad-hoc-Gerichte geben konnte, bei der ein Magistrat Untersuchungs-, Anklage- und Urteilsfunktion zugleich wahrnehmen konnte; er hat mit seiner lex ne quis iudicio circumveniatur weitere, wenngleich im einzel-nen nicht eindeutig rekonstruierbare Vorkehrungen gegen den Mißbrauch von Strafverfahren durch Senatoren getroffen.26 Dies alles steht im Kon-text einer Kritik an der Handhabung von Strafverfahren durch Senat und Magistrate einerseits, einer emphatischen Betonung der Rechte des Vol-kes andererseits, so daß die Assoziation mit libertas topisch wurde.27 Den Prozeß, mit dem Gaius Gracchus rückwirkend die alleinige Zuständigkeit des Volkes demonstrieren wollte, nämlich die Anklage gegen Popillius Laenas (den Consul von 132, der im magistratischen Verfahren Anhänger von Tiberius Gracchus verurteilt hatte), hätte er wahrscheinlich vor der Volksversammlung (und nicht einer durch Volksbeschluß konstituierten quaestio) geführt.28

Die Bedeutung der Verfahren in der Volksversammlung, speziell ge-genüber Ex-Magistraten, hat nach Polybios (6,14,4) auch Cicero betont. Im dritten Buch von De Legibus fuhrt Cicero nur diese Verfahren an (die aber in die Centuriat-, nicht die Tributcomitien gehörten) und ignoriert die Quaestionen, auch wenn dies wohl kein Plädoyer für die Abschaffung der Geschworenengerichte bedeuten muß.29

26 Vgl. Ursula Ewins, Ne quis iudicio circumveniatur, JRS 50,1960,94-107; David Stock-ton, The Gracchi, Oxford u.a. 1979, 122ff. 27 Cie. Verr. 2,5,163. 28 Vgl. Erich S. Gruen, Roman Politics and the Criminal Courts, 149-78 Β. C., Cambridge (Mass.) 1968, 83. 29 Vgl. die Argumente von Richard A. Bauman, Did Cicero Want to Abolish the Jury-Courts?, Latomus 59, 2000, 842-849, gegen die weitreichenden Schlußfolgerungen von Jones, Criminal Courts (wie Anm. 4) 3 f., und Elizabeth Rawson, The Interpretation of Cice-ro's „De Legibus", ANRW 1,4, 1973, 334-356, 355 f.

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Es heißt meines Erachtens nicht, in die (eigentlich überholt geglaubte, nunmehr aber wieder verfochtene) Gleichsetzung von „populär" mit „de-mokratisch" zu verfallen,30 wenn man die Frage stellt, wie es sich denn mit dem Grundzug populärer Politik vereinbaren läßt, erstens für solche Verfahren nicht die Zuständigkeiten der Volksversammlung festzuschrei-ben bzw. zweitens, wenn man ein anderes, durch Volksbeschluß zu legiti-mierendes Verfahren wählt, als Urteilsfinder nur Mitglieder aus dem Rit-terstand und nicht aus einer größeren sozialen Basis auszuwählen. Eine Übertragung an das Volk hätte der Tendenz der popularen Gesetzgebung einer Zeit entsprochen, in der mit der lex Cassia von 137 die geheime Abstimmung bei indicia populi eingeführt und mit der lex Caelia von 107 dies auch noch für Perduellionsprozesse vor der Volksversammlung geregelt worden war und diese Tabellargesetze als Sicherungen der Frei-heitsrechte des Volkes galten.31

Ausdrückliche Verwunderung darüber, daß die Einführung der Ge-schworenengerichte nicht mit den „demokratischen" Tendenzen der Epoche vereinbar scheint, ist selten artikuliert worden; am deutlichsten noch, wenn ich recht sehe, von Zumpt im 19. Jahrhundert. Zumpt wendet sich gegen die Annahme, die „Unbehülflichkeit und Unzuverlässigkeit des früheren Verfahrens" habe „Veranlassung zur Gründung der Schwur-gerichte gegeben", welche die „Stelle des Volkes als obersten Richters" eingenommen hätten. „Eine so starke Vergrößerung seines [des Senats] Einflusses, wie sie in der Übertragung auch nur eines Theiles der dem Volke zustehenden Richtergewalt" liege würde, passe nicht zu einer Zeit „der tribunicischefn] Aufreizungen, welche nicht lange nachher den Staat in eine Demokratie verwandelten und die Macht des Senats brachen." Das Volk „würde eine wunderbare Entäusserung seiner eigenen Macht geübt haben, wenn es bei der Gründung derselben [der Schwurgerichte] an einen Ersatz für diejenigen Gerichte, welche den Comitien zustanden, gedacht hätte."32

30 So Fergus Millar in diversen Aufsätzen (jetzt gesammelt in: Fergus Miliar, Rome, the Greek World and the East, Bd. 1 : The Roman Republic and the Augustan Revolution, Chapel Hill 2002), ferner ders., The Crowd in Rome in the Late Republic, Ann Arbor 1998; ders., The Roman Republic in Political Thought, Hanover u. a. 2002. 31 Cie. leg. 3,35 f.; 39; Sest. 103; vgl. Bruce A. Marshall, Libertas populi. The Introduction of Secret Ballot at Rome and Its Depiction on Coinage, Antichthon 31,1997, 54-73. 32 August W. Zumpt, Das Criminalrecht der Römischen Republik, Berlin 1865-1869, Bd. 2,1: Die Schwurgerichte der Römischen Republik. Bis zur sullanischen Gesetzgebung, 4 - 6 (Reihenfolge der Zitate umgestellt). Zumpts These, die Repetundenverfahren seien durch den Senat kraft der ihm „gesetzlich zustehenden Gewalt" eingeführt worden, bedarf keiner Erörterung. - Vgl. aus der neueren Literatur Lukas Thommen, Das Volkstribunat

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136 Wilfried Nippel

Nun könnte man sagen, daß die Schwächen des Verfahrens vor dem Volksgericht auch von populärer Seite erkannt worden sind. Dazu gehör-ten die Notwendigkeit, einen Volkstribun oder Aedil als Ankläger zu fin-den, die Bereitschaft des praetor urbanus zur Kooperation,33 die Gefahr des Abbruchs aufgrund tribunizischer Intercession34 oder der Meldung ungünstiger Vorzeichen.35 Unabhängig davon mußte der Ausgang eines Kapitalprozesses vor den Centuriatcomitien als ungewiß gelten.36 So ist Opimius, der Consul von 121, wegen der Verfolgung der Gracchaner von einem Volkstribun vor den Comitien angeklagt und freigesprochen wor-den.37 Die Einsetzung eines ständigen Gerichtshofs de maiestate durch Saturninus dürfte damit zusammenhängen, daß der Ausgang von Verfah-ren in der Volksversammlung, mit denen Versagen im Kimbernkrieg hat-te verfolgt werden sollen, sich als unvorhersehbar erwiesen hatte38 und

der späten römischen Republik, Stuttgart 1989, 112: Es sei „bemerkenswert, [...] dass Sa-turninus als populärer Volkstribun einen festen Gerichtshof einrichten liess, der das tribu-nizische Volksgericht im Prinzip überflüssig machte". Ferner Walter Eder, Strafsachen in Geschworenengerichten. Die Prozesse wegen Erpressung römischer Untertanen und Ver-bündeter (Repetundenprozesse), in: Ulrich Manthe, Jürgen von Ungern-Sternberg (Hg.), Große Prozesse der römischen Antike, München 1997, 13-27, 24, zu Gaius Gracchus' Reform des Repetundengerichts: „Erstaunlich ist nur, daß der so angelegentlich um die Rechte und Kompetenzen des Volkes bemühte Tribun die Form des Geschworenenver-fahrens beibehielt und damit die Ausschaltung des Volkes aus der Reichsverwaltung be-stätigte. Offensichtlich war er nicht mehr frei in der Entscheidung über die Form, sondern mußte auf ein Verfahren zurückgreifen, das schon zum Symbol des Untertanenschutzes geworden war." - Verwunderung in anderer Hinsicht bei Fuhrmann, Gerichtswesen (wie Anm. 22) 11 : „Man muß sich geradezu wundern, dass das Senatsregiment auf dem Gebiet der Justiz eine derart tiefgreifende Neuerung hervorgebracht hat; in anderen Bereichen hat man auf die enorme Zunahme der Aufgaben wenn überhaupt, dann mit viel dürftigeren Maßnahmen reagiert." 33 Nach herkömmlicher Lehre in Form der „Auspicienleihe" (Mommsen, Strafrecht [wie Anm. 3] 168; Jochen Bleicken, Das Volkstribunat der klassischen Republik. Studien zu seiner Entwicklung zwischen 287 und 133 v. Chr., München21968, 112 f.; Jones, Criminal Courts [wie Anm. 4] 12), Zweifel daran bei Lily R. Taylor, Roman Voting Assemblies from the Hannibalic War to the Dictatorship of Caesar, Ann Arbor 1966, lOOf. Nach der Re-konstruktion von Adalberto Giovannini, Volkstribunat und Volksgericht, Chiron 13, 1983, 545-566, übernahm der Praetor in der entscheidenden Verhandlung selbst den Vorsitz. Da-gegen wiederum Thommen, Volkstribunat (wie Anm. 32) 148 f. 34 Belege bei Jones, Criminal Courts (wie Anm.4) 13, der annimmt, daß davon nur Ge-brauch gemacht wurde, wenn eine Verletzung von Verfassungskonventionen gegeben schien. 35 Cic.dom.45. 36 Zu den ungeklärten Fragen gehört auch, ob Volkstribune in der späten Republik diese Regel durchbrochen und auch Kapitalprozesse vor das concilium plebis gebracht haben; Thommen, Volkstribunat (wie Anm. 32) 149 f. 37 Liv.per.61. 38 Gruen, Roman Politics (wie Anm. 28) 167 f.; Brennan, Praetorship (wie Anm. 4) Bd. 2, 366 f.

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Die Geschworenengerichte der späten römischen Republik 137

die Verurteilung des Servilius Caepio erst möglich geworden war, nach-dem die Intercession zweier Volkstribunen gewaltsam gebrochen worden war.39

Repetundenfalle könnte man ferner insofern als anders gelagert anse-hen, als sie auch vorher nicht in der Volksversammlung verhandelt wor-den waren, so daß sich die Frage einer jedenfalls partiellen Beschneidung und Umgehung traditioneller Volksrechte nicht stellte. Schließlich könnte man fragen, ob die Bürgerschaft als Ganze diese Verfahren überhaupt als sie unmittelbar angehend betrachtet hat. Denn eine Argumentation, daß mit dem skandalösen Verhalten von Amtsträgern in den Provinzen das Ansehen der römischen Herrschaft und damit auch unmittelbare Interes-sen des populus berührt gewesen seien, könnte zu abstrakt sein.

Kurz, es ließe sich annehmen, daß bei den Repetundenprozessen für die Einsetzung der Ritter das Argument ausgereicht habe, daß man für solche Fälle Geschworene brauchte, die jedenfalls nicht wie Magistrate und Se-natoren zu der potentiellen Tätergruppe gehörten, die für solche Verfahren ökonomisch abkömmlich waren und über eine Erfahrung verfügten, die sie befähigte, komplizierte Fragen mit Sachverstand behandeln zu können. Daß sie dabei eigene materielle Interessen verfolgen könnten, wird man zu diesem Augenblick nicht unbedingt vorausgesehen haben und schwer-lich als zynisches Kalkül von Gaius Gracchus unterstellen können - im übrigen ist das Bild, die Ritter hätten generell ihre Geschworenentätig-keit skrupellos ausgenutzt, um ihre eigenen finanziellen Interessen in den Provinzen durchzusetzen, auch fur die spätere Zeit eine so nicht haltbare Verallgemeinerung einzelner skandalöser Entscheidungen.40

Wenn sich möglicherweise die Frage im Hinblick auf die Repetunden-gerichte gar nicht gestellt hat, dann müßte man sie immer noch in bezug auf die weiteren Gerichtshöfe stellen. Es kann für diesen Zweck offenblei-ben, ob man deren Existenz schon für die gracchische Zeit ansetzt oder eine sukzessive Entstehung bis zu Sulla unterstellt. Die Einrichtung einer ständigen quaestio de maiestate durch Saturninus ist ziemlich sicher;41 in die gleiche Zeit fällt mit hoher Wahrscheinlichkeit die Etablierung eines ständigen Gerichtshofs de peculatu, für die dann als terminus ante quem das Jahr 86 (mit dem entsprechenden Prozeß gegen Pompeius) angesetzt

39 Cic.de orat. 2,197. 40 Vgl. Christian Meier, Res Publica Amissa. Eine Studie zu Verfassung und Geschichte der späten römischen Republik, Wiesbaden 1966, 71 f.; 77-79. 41 Das Verfahren gegen Norbanus im Jahre 95 fand unter dem maiestas-Gesetz des Sa-turninus statt (Cie. de orat. 2,107), in einer publica quaestio (Val. Max. 8,5,2) mit einer Jury aus Rittern (Cic.de orat. 2, 199); vgl. Cloud, Constitution (wie Anm. 11) 518.

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138 Wilfried Nippel

werden kann.42 Für ambitus- Verfahren läßt sich der Prozeß gegen Marius im Jahre 116, wenn auch nicht mit letzter Sicherheit, als terminus ante quem ansehen.43 Bei ambitus mag man sagen, eine Bekämpfung habe ge-rade nicht im Interesse der kleinen Leute gelegen, die schließlich von den Aufwendungen der Kandidaten profitiert hätten.44 Aber beim Verfahren de maiestate war doch der emphatische Bezug auf die Rechte des Volkes evident, wie auslegungsfahig dies auch immer war. Unterschlagung öf-fentlicher Gelder berührte das öffentliche Interesse sicher unmittelbarer, als dies bei unrechtmäßiger Bereicherung in den Provinzen erschienen sein mag. Von diesen Verfahren waren nicht nur hochmögende Herren betroffen; zu den typischen Angeklagten muß man hier die Schreiber zäh-len,45 so daß man sich fragen kann, warum denn hier nicht die Ausweitung der Jury jedenfalls auf einige Mitglieder der gleichen sozialen Gruppe angemessen erschienen ist. Dies gilt dann noch mehr im Hinblick auf die quaestiones de sicariis et veneficis spätestens seit Sulla. Wir wissen zwar nicht, wie hoch der Anteil von Bürgern war, die nicht zum Senato-ren- oder Ritterstand zählten und wegen gemeiner Verbrechen vor diesen Gerichtshöfen angeklagt wurden, daß es aber vorgekommen sein muß, ist ziemlich sicher, sonst hätte man dafür schwerlich drei ständige Quaestio-nen eingerichtet.46

Bei den ständigen Gerichtshöfen - ebenso wie bei den häufig durch Volksbeschluß konstituierten Sondergerichten - kreiste die Frage der Zu-sammensetzung der Jury immer nur um das Problem Senatoren- und/ oder Ritterstand. Sowohl bei der Art der Delikte wie bei dem Kreis der po-tentiellen Angeklagten hätte doch von Seiten populärer Politiker erwartet werden können, daß für ein Gericht, das de facto die Stelle der Volksver-sammlung einnahm, nicht ein solch eklatanter Unterschied hinsichtlich der Zusammensetzung und damit der Ausschluß der Beteiligungsmög-lichkeit für einfache Bürger hingenommen worden wäre. Das heißt nicht zu verkennen, daß alle Rede von libertas und bürgerlicher Gleichheit in

42 Plut. Pompeius 4; vgl. Cloud, Constitution (wie Anm. 11) 515; zur Alternative, daß es sich um eine außerordentliche quaestio gehandelt haben könnte, vgl. aber Thomas P. Hill-man, Notes on the Trial of Pompeius at Plutarch, Pomp. 4. 1-6, RhM 141, 1998, 176-193, 183 ff. - Ein alternatives Datum wäre der Prozeß gegen C. Curtius um 83; Cie. Rab. perd. 8. 43 Plut. Marius 5,5; da Marius mit Stimmengleichheit freigesprochen wurde, muß das Ver-fahren vor einer quaestio stattgefunden haben; die Frage ist nur, ob es sich schon um einen ständigen Gerichtshof handelte; vgl. Cloud, Constitution (wie Anm. 11) 515. 44 Cie. Mur. 47. 45 Cie. Mur. 42; vgl. Liv. 30,39,7. 46 Cie. Cluent. 147; Cloud, Constitution (wie Anm. 11) 523.

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Die Geschworenengerichte der späten römischen Republik 139

Rom mit dem Vorbehalt einer Gewichtung der individuellen Stimme nach dignitas versehen worden ist. Aber die politische Logik sowohl der Cen-turiat- wie der Tributcomitien beruhte ja gerade darauf, daß jedem Bür-ger das Recht der Teilnahme offenstand, auch wenn im Ergebnis seine Stimme wegen des korporativen Stimmsystems vergleichsweise wenig wog.47 Man mag unter den Bedingungen der römischen politischen Kul-tur ausschließen oder jedenfalls für höchst unwahrscheinlich halten, daß jemand die Einrichtung eines Geschworenensystems nach athenischem oder auch rhodischem Muster, das jedem Bürger die Teilnahme an der Auslosung zugestand, gefordert hätte, obwohl dies nicht notwendig (wie auch in Rhodos)48 mit der Einführung von Diätenzahlungen hätte verbun-den sein müssen.

Aber dafür, daß durchaus Alternativen zu einer Besetzung der Gerich-te ausschließlich mit Rittern und/oder Senatoren denkbar waren, gibt es Anhaltspunkte. Eine eigentlich naheliegende Möglichkeit wäre die Wahl der Geschworenen durch die Volksversammlung gewesen.49 So hat ein Bestellungsmodus nach Tribus ursprünglich für das Centumviratsgericht gegolten, wir können aber nicht sicher sein, ob dies ein echtes Wahlver-fahren implizierte.50 Ein tatsächliches Wahlverfahren nach Tribus ist für Geschworenengerichte nur einmal (und nie wieder), nämlich mit der lex Plautia des Jahres 89 eingeführt worden, mit der bestimmt wurde, daß jede Tribus fünfzehn Geschworene für die Richterliste wählte. Ob es sich um ein Gesetz handelte, das die Zusammensetzung der Geschworenenli-ste für sämtliche Quaestionen regelte, oder ob es speziell nur jene maie-ito-Prozesse betraf, die wegen der angeblichen Schuld von Senatoren am Ausbruch des Bundesgenossenkriegs zuvor nach einer lex Varia vor einem mit Rittern besetzten Gerichtshof stattfanden," ist für die grund-sätzliche Bedeutung dieser Variante nicht entscheidend. Nach unserer einzigen Quelle, Asconius (p. 79C), geschah die Gesetzgebung im Sinne der Nobilität. Das Ergebnis sei gewesen, daß neben Senatoren auch Män-ner ex plebe gewählt worden seien. Nun weiß man natürlich nicht, was

47 Cic.rep. 2,39 f.; Liv. 1,43,10. 48 Cic.rep. 3,48; Ps.-Sall. rep. 2,7,12; Dion Chrys. 31,4; vgl. Peter M. Fraser, Notes on Two Rhodian Institutions, ABSA 67, 1972,113-124. 49 Vgl. Zumpt, Schwurgerichte (wie Anm. 32) 259 (im Zusammenhang mit der lex Plau-tia): „Man muss sich wundern, dass die Römischen Tribunen nicht früher darauf gekom-men sind, die Richter durch das Volk erwählen zu lassen." 50 Fest. p. 47L; Brunt, Judiciary Rights (wie Anm. 10) 234 f. 51 Strachan-Davidson, Problems (wie Anm. 15) Bd. 2,96; Griffin, „Leges Iudiciariae" (wie Anm. 10) 120.

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die Zugehörigkeit zur Plebs hier sozial bedeutet.52 Wenn man unterstellt, daß dieses Verfahren der Nobilität auf dem Wege der Beeinflussung der Wahlen durch ihre Patronagemacht zugute kam,53 dann mag einerseits die Antizipation dieser Möglichkeit dem Rekurs auf dieses Verfahren durch populare Volkstribune im Wege gestanden haben. Andererseits hätten doch vielleicht Verfechter der Senatsautorität darauf kommen können, den Streit über die Zusammensetzung der Gerichtshöfe mit der generellen Einführung der Volkswahl auf eine elegante, öffentlich schwer angreifba-re Art zu beenden. Für den Einsatz populärer Argumente und Methoden sozusagen „von rechts"54 gibt es ja in der späten Republik, beginnend mit dem älteren Livius Drusus, verschiedene Beispiele. Für die legiti-matorische Funktion, die man der Volkswahl zuschreibt, kann auch an die lex Domitia des Jahres 104 erinnert werden, die die Bestellung der Priester einer Tribusversammlung übertrug und die Cicero als Beispiel dafür anführt, wie man das Prinzip der Bestellung von Funktionsträgern durch Volkswahl selbst in einem Punkt demonstrativ bekräftigt hatte, in dem die volle Verwirklichung aufgrund religiöser Bedenken nicht mög-lich schien.55

Auf das Prinzip der Volkswahl ist man - abgesehen von der Wahl des Gerichtsvorsitzenden nach dem Gesetz des Pompeius aus dem Jah-re 5256 - nicht mehr zurückgegangen. Jedoch begegnen Überlegungen, daß man die Zulassungshürde für die Juroren senken sollte, aus der Spätzeit der Republik. So schlägt Sallust (?) im Sendschreiben an Cae-sar (2,7,11) vor, den Census der ersten Klasse zu nehmen und verweist in diesem Zusammenhang auch auf die in seinen Augen gute Bilanz der Volksgerichte in Rhodos. Durch ein Gesetz des Antonius von 44 sollte die dritte Richterdekurie aus ehemaligen Offizieren und Soldaten einschließ-

52 Ernst Badian, Quaestiones Variae, Historia 18, 1969, 447-491, 470, Anm.66, denkt an Personen mit einem Vermögen knapp unterhalb des Rittercensus. 53 „Offenbar suchte der Senat im Volke einen Bundesgenossen gegen die Ritter und scheint seinen Zweck erreicht zu haben"; Theodor Mommsen, Über die leges iudiciariae des VII. Jahrhunderts bis zur lex Aurelia (1843), in: ders., Gesammelte Schriften (wie Anm. 1) Bd. 3, 339-355,354. 54 Vgl. Zumpt, Schwurgerichte (wie Anm. 32) 260: „Plautius mag keinen anderen Ausweg gefunden haben, als mit dem Vorwande, auch die Schwurgerichte vom Volke ausgehen zu lassen, sein Streben nach Veränderung in der Richtergewalt zu verdecken. Sein Gesetz passte in die damals herrschende demokratische Strömung." Ferner Erich S. Gruen, The Lex Varia, JRS 55, 1969, 59-73, 69: „democratic appearance" der lex Plautia\ Badian, Quaestiones (wie Anm. 52) 475 f.: „a calculated piece of democratic machinery". 55 Cie. leg. agr. 2,18. 56 Ascon. p.38C.

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Die Geschworenengerichte der späten römischen Republik 141

lieh solcher mit einem niedrigen Census gebildet werden." Augustus hat schließlich 17 v.Chr. eine vierte Richterdekurie eingerichtet, für die ein Census von 200 000 Sesterzen, also die Hälfte des Rittercensus bzw. das Doppelte des Census der 1. Klasse, galt, wenngleich diese 4.Dekurie nur für Bagatellfälle, nicht für die Quaestionen zuständig war.58 Es ist schließ-lich auch noch darauf zu verweisen, daß fur Rekuperatoren ausweislich der auf der Tabula Bembina überlieferten lex agraria der Census der ersten Klasse gefordert war. Wenn dies auch ein sehr spezieller, anders gelagerter Fall ist, so könnte man doch in den Kyrene-Edikten des Au-gustus, wonach jedem Griechen das Recht auf eine (ganz oder zur Hälfte) mit Griechen besetzte Geschworenenbank eingeräumt wurde,59 so etwas wie eine grundsätzliche Anerkennung des Prinzips einer Rechtsprechung durch „peers" sehen.

Indizien dafür, daß man sich eine andere Zusammensetzung der Ge-schworenenbänke hätte vorstellen können, gibt es also. Aber offensicht-lich ist dies nie zu einem wirklich politisch relevanten Thema, von wel-cher Seite und mit welchen politischen Absichten auch immer, gemacht worden. Selbst als sich im Jahre 70 die alte Frage Ritter und/oder Sena-toren neu stellte und man schließlich mit der Heranziehung der Aerartri-bunen einen Kompromiß fand, von dem beachtliche Stabilitätswirkung ausging,60 hat sich ja an der sozialen Rekrutierung der Geschworenen kaum etwas geändert, zumal wenn man unterstellen kann, daß auch die Aerartribunen den Rittercensus erfüllten.61 Insofern muß man wohl fest-stellen, daß sich die Legitimitätsfrage hinsichtlich der Geschworenenge-richte jedenfalls nicht in der Virulenz stellte, daß es sich gelohnt hätte, sie mittels eines Gesetzgebungsvorschlags aufzugreifen, obwohl die Zahl der Gesetze, die sich mit Strafrecht bzw. Strafprozeßrecht in der späten Repu-

57 Cie. Phil. 1,20; 5,12 f. 58 Suet. Aug. 32,3; vgl. Klaus Bringmann, Zur Gerichtsreform des Kaisers Augustus, Chi-ron 3, 1973, 235-244. 59 Vgl. Jochen Bleicken, Senatsgericht und Kaisergericht. Eine Studie zur Entwicklung des Prozeßrechtes im frühen Prinzipat, Göttingen 1962,168 ff. 60 Vgl. Hinnerk Bruhns, Ein politischer Kompromiß im Jahr 70 v. Chr. Die lex Aurelia iudiciaria, Chiron 10, 1980, 263-272. - Die Aerartribunen sind von Caesar im Jahre 46 von den Geschworenenbänken wieder ausgeschlossen worden; Suet. Caes. 41,2. 61 Bleicken, Cicero (wie Anm. 13) 13. - Aber selbst wenn man mit einem Census von 300000 Sesterzen rechnet (Hartmut Galsterer, Rez. Okko Behrends, Die römische Ge-schworenenverfassung. Ein Rekonstruktionsversuch, GGA 225,1973,29-46,39, Anm. 12), ist die soziale Exklusivität weiterhin gegeben.

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142 Wilfried Nippel

blik befassen, mit dreiundvierzig die größte sachliche Gruppe innerhalb der Volksgesetze dieser Zeit ausmacht.62

Einen Grund könnte man darin sehen, daß auch nach der Einrichtung ständiger Quaestionen die Möglichkeit des Verfahrens vor der Volks-versammlung nicht aufgehoben war und in der Zeit bis auf Sulla ver-schiedentlich davon Gebrauch gemacht wurde.63 Daß Volksgericht und Geschworenengerichte konkurrierende Instanzen waren,64 geht besonders daraus hervor, daß Cicero (als Aedil) Verres vor der Volksversammlung anklagen wollte, sollte er vom Repetundengerichtshof freigesprochen werden.65 Die Möglichkeit, daß ein Aedil oder Volkstribun als Ankläger vor die Volksversammlung geht, bleibt grundsätzlich erhalten, auch wenn es bei der Drohung bleibt (so Clodius als Aedil gegen Cicero im Jah-re 56)66 oder das Verfahren nicht zu Ende geführt wird (wie bei Clodius' Anklage gegen Milo im gleichen Jahr)67 und es nach dem Jahre 70 nicht mehr zu einer Verurteilung in einem solchen Verfahren gekommen sein dürfte, dies jedenfalls nicht überliefert ist.68 Dafür, daß man das Volksge-richt als die eigentlich zuständige Instanz darstellen konnte, zeugt auch, daß Antonius im Jahre 44 in Fällen einer Verurteilung de vi oder de mole-state eine Berufung an das Volk einführen wollte und seinen Vorschlag als res popularis dargestellt hat.69 Dieser Vorgang wäre im übrigen noch von

62 Bleicken, Lex Publica (wie Anm. 23) 150. - Zur Eigenart dieser Gesetzgebung, durch die neue Verfahren geschaffen wurden, ohne daß die alten aufgehoben worden wären, vgl. John S. Richardson, Old Statutes Never Die. A Brief History of Abrogation, in: Michel Austin u. a. (Hg.), Modus Operandi. Essays in Honour of Geoffrey Rickman, London 1998,47-61. 63 Jones, Criminal Courts (wie Anm. 4) 4 ff.; Thommen, Volkstribunat (wie Anm. 32) 155 f f ; Brennan, Praetorship (wie Anm.4) Bd.2, 370. 64 Cie. Cluent. 93 zu einem Volkstribun, der beide Verfahrensmöglichkeiten parallel nutzt. 65 Cic.Verr. 2,1,11-14; 2,5,173; Giovannini, Volkstribunat (wie Anm.33) 562. 66 Cie. har. resp. 7. Ferner die Androhungen von Volkstribunen im Jahre 52, Cicero vor der Volksversammlung anzuklagen; Ascon. p. 38C. 67 Nach Ascon. p. 48C fand das Verfahren apud populum statt; nach den üblichen An-hörungsterminen war schließlich der Tag der Abstimmung festgelegt worden (Cie. Q. fr. 2,3,1 f.; 2,6,4), die dann aber nicht mehr stattgefunden hat. - Für Wolfgang Kunkel, Staats-ordnung und Staatspraxis der römischen Republik, Bd. 2: Die Magistratur, hrsg. v. Robert Wittmann, München 1995, 503 f., liegt - angesichts der Zuständigkeit einer quaestio de vi - ein Mißbrauch vor: „Erst als in der Spätzeit der Republik die bindende Kraft der Ver-fassungstradition versagte, konnte es vorkommen, daß ein Mann vom Schlage des Clodius das längst verrostete Instrument des ädilizischen Komitialprozesses wieder hervorholte, um damit, jedem Herkommen zuwider, auf seine Weise Politik zu machen." Man sollte eher von der Fortdauer eines alten Verfassungsprinzips (vgl. Richard A. Bauman, Criminal Prosecutions by the Aediles, Latomus 33, 1974, 245-264) sprechen, das auch durch die Einfuhrung der neuen Verfahren nicht grundsätzlich aufgehoben worden war. 68 Brennan, Praetorship (wie Anm. 4) Bd. 2, 371. 69 Cie. Phil. 1,21 f.

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Die Geschworenengerichte der späten römischen Republik 143

weit größerer Bedeutung, wenn Antonius auf die Wiederherstellung der unmittelbaren Zuständigkeit der Volksversammlung gezielt hätte.70

Als weitere Überlegung ist durchzuspielen, wieweit in der Verfahrens-weise der Quaestionen selbst ein Element der Legitimierung liegt. Ich glaube, daß dies im Grundsatz richtig ist, die Akzentuierung aber anders gesetzt werden sollte, als dies in der Forschung gängig ist. Das Argu-ment, die vermehrte Zahl der Prozesse habe ein einfacheres Verfahren er-zwungen, kann nicht gelten. Eine Feststellung über die Zunahme objektiv verfolgungsbedürftiger politischer Delikte kann man nicht treffen. Sicher wächst mit der Einführung einer allgemeinen Anklagebefugnis die Chan-ce zur Verfolgung, aber wenn daraus eine Zunahme der Prozeßfrequenz folgt, dann ist dies ja Folge und nicht Ursache der neuen Verfahren. Daß die Verfahren zügiger und einfacher im Vergleich zu dem „schwerfälligen Instrument des Volksprozesses"71 gewesen seien, trifft schlichtweg nicht zu. Das Verfahren vor der Volksversammlung erforderte vier Termine von jeweils einem Tag; zwischen den ersten dreien mußte jeweils ein Intervall von mindestens einem Tag liegen, der abschließende Termin, bei dem die Entscheidung fiel, war nach einer Zwischenzeit von drei Wochen an-zusetzen.72 Bei Zustimmung des Angeklagten war es aber möglich, das Verfahren deutlich zu verkürzen, auf einen Termin zu beschränken.73

In den Quaestionenprozessen74 wurden nach der Anklageerhebung bzw. nach einem möglichen Vorverfahren zur Bestimmung des Anklä-gers ausgedehnte Fristen für die Beweiserhebung durch den Ankläger eingeräumt; beim eigentlichen Verfahren folgten auf die Besetzung der konkreten Richterbank (durch Auslosung und nach Ablehnung eines Teils der Juroren durch die Prozeßparteien) ausgedehnte Zeugenvernehmun-gen von oft mehreren Tagen sowie die ebenfalls viel Zeit in Anspruch nehmenden Plädoyers. Hinzu kamen weitere Verschleppungsmöglichkei-ten durch die Verteidigung bzw. Verzögerungen, wenn sich ein Teil der Geschworenen noch nicht zu einer Entscheidung in der Lage sah. Daß dies nicht nur auf Repetundenprozesse zutraf - im Verres-Prozeß dauer-

70 So Bleicken, Provocation (wie Anm.2) 367 f., der meint, es sei nicht um die Etablie-rung einer zweiten Instanz gegangen, sondern das Gesetz „sollte eine Entwicklung, die das Volksgericht durch die Quaestion ersetzt hatte, wieder rückgängig machen, weil er [Anto-nius] sich von dem Pöbel in der Volksversammlung mehr versprach als von den Senatoren und Rittern der Geschworenenhöfe." 71 Klaus Bringmann, Geschichte der römischen Republik. Von den Anfangen bis Augustus, München 2002, 275. 72 Cic.dom.45. 73 Cie. har. resp. 7; Jones, Criminal Courts (wie Anm. 4) 25 f. 74 Zu den Einzelheiten siehe Kunkel, Quaestio (wie Anm. 7).

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ten die Zeugenvernehmungen acht Tage75 - , zeigt das von Pompeius 52 durchgesetzte Spezialgesetz fur Verfahren de vi und de ambitu, mit dem das Zeugenverhör auf drei Tage und die Plädoyers auf einen Tag begrenzt wurden sowie eine Vertagung der Entscheidung ausgeschlossen wurde.76

Kürzer und einfacher sind also die Verfahren vor den Quaestionen kei-neswegs gewesen.

Diesen Verfahren kann man aber größere Sachgemäßheit zuschreiben wegen der amtlichen Unterstützung des Anklägers bei der Beweissiche-rung und wegen der festgeschriebenen Rechte beider Prozeßparteien, d. h. hier v. a. der Verteidigung. Man könnte den Vorzug eines reinen Parteien-prozesses, in dem es keine Beweisregeln gibt, so daß auch der Vorsitzen-de nicht eingreifen kann, um sachfremde bzw. rechtsunerhebliche Aus-sagen zu unterbinden, darin sehen, daß damit die größtmögliche Chance gegeben wird, wirklich alle be- wie entlastenden Gesichtspunkte vor der Jury zur Sprache zu bringen.77

Die daraus in der römischen Republik in Verbindung mit dem System der Richterbestellung folgenden Konsequenzen lagen aber zunächst ein-mal darin, daß die Geschworenen während der Dauer des Verfahrens Ein-flüssen von außen ausgesetzt waren. Die Geschworenenbänke waren mit 50 bis 75 Mitgliedern - zur Zeit der rein senatorischen Gerichte mit noch weniger - zu klein, um dies auszuschließen; die Aufteilung auf einen be-stimmten Gerichtshof zu Beginn des Amtsjahres bedingte, daß man zu-mindest den größeren Kreis, aus dem durch Auslosung und Ablehnung die aktuelle Richterbank zusammengesetzt wurde, einigermaßen abschät-zen konnte.78 Die Dauer der Verfahren, während der die Geschworenen ja nicht irgendwie in Klausur waren, machte sie Ratschlägen, Angeboten, Drohungen zugänglich. Dies gilt auch für den praetor urbanus, der die Geschworenenliste aufzustellen hatte, und die jeweiligen Gerichtsvorsit-zenden, die ihrerseits ein Verfahren verschleppen oder durch informelle Einflußnahme auf die Geschworenen für den Ausgang des Verfahrens wichtig sein konnten.79 Man vergleiche damit die ungeheure institutio-nelle Phantasie, die die Athener im 4. Jahrhundert darauf verwandten, um

75 Cie. Verr. 2,1,156; Kunkel, Quaestio (wie Anm. 7) 84. 76 Ascon. pp. 36; 39C; Tac. dial. 38,1 f. 77 Vgl. John A. Crook, Legal Advocacy in the Roman World, London 1995. 7? Cie. Verr. 1,16. 79 Belege bei Kunkel, Quaestio (wie Anm. 7) 72; 81 f.; Brennan, Praetorship (wie Anm. 4) Bd. 2, 418; 772, Anm. 80-81. - Das bedeutet allerdings nicht, daß er doch eine juristische Instruktion der Juroren vornähme; siehe gegen diese These von Richard A. Bauman, Crime and Punishment in Ancient Rome, London u. a. 1996,25 f., die Argumente von Andrew M. Riggsby, Crime and Community in Ciceronian Rome, Austin 1999, 15 f.

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Die Geschworenengerichte der späten römischen Republik 145

die Jury jedes einzelnen Prozesses erst am Verhandlungstag nach dem Zufallsprinzip zusammenzusetzen - und dies bei ungleich größeren Ge-schworenenbänken (im Regelfall 500 Richter bei Strafprozessen) und ei-ner Prozeßdauer von nur einem Tag. Vergleicht man die römische Jury mit der angelsächsischen Zwölferbank und der athenischen Massenjury, dann war sie zu groß, um wie im ersten Fall eingehende Beratung zuzu-lassen, und zu klein, um wie im zweiten Fall Einflußnahmen von außen auszuschließen.

Weder die Verfahrensregeln noch der hohe soziale Status der Geschwo-renen80 haben bekanntlich in Rom vor Bestechungsversuchen und Be-stechlichkeit gefeit. Es bleibt die Frage, wieweit man ihnen trotz allem aufgrund ihrer sozialen Stellung höhere Sachlichkeit und Urteilsfähigkeit hätte unterstellen können. Das Argument leuchtet, wie schon gesagt, am ehesten noch bei den Repetundenverfahren ein. Aber sollte ζ. B. bei ei-nem Verfahren de peculato gegen einen scriba ein Angehöriger der Ap-paritoren nicht mindestens genauso, ja nicht noch eher sachkundig sein als ein Senator oder Ritter?81 Welche Sachkunde ist erforderlich, um ein so sehr der politischen Bewertung unterliegendes Delikt wie einen Fall de maiestate*2 zu beurteilen oder bei einem Verfahren de vi, bei dem es zumindest einige klare Straftatbestände gibt,83 festzustellen, ob diese -wie die Besetzung eines öffentlichen Platzes mit bewaffneten Männern -erfüllt sind oder nicht? Wenn man ungeachtet dessen annimmt, daß Ge-schworene dieses Typs zu einer sachlichen und gerechten Urteilsfindung grundsätzlich eher in der Lage seien als die „urteilslose und jeder Beein-flussung zugängliche Masse" (Kunkel - s. o.), warum stimmt dann eine Jury, die über Rechts- wie Tatsachenfragen zugleich entscheidet, nicht nur geheim,84 sondern auch ohne jede vorherige Beratung untereinander ab, d. h. nach einem Verfahren, das gerade ausschließt, daß sachliche Ar-gumente ausgetauscht werden können? Spricht es für eine an der Sache orientierte Rechtsprechung, wenn (so seit dem Jahre 59 gesetzlich gere-

80 Fortuna und dignitas als notwendige Voraussetzungen: Cie. Phil. 1,20. " Vgl. Cie. leg. 3,46; 48; Plut. Cato minor 16,2 zum Sachwissen des Hilfspersonals, das dem der Magistrate überlegen war. 82 Vgl. zuletzt Robin Seager, „Maiestas" in the Late Republic. Some Observations, in: John W. Cairns, Olivia F. Robinson (Hg.), Critical Studies in Ancient Law, Comparative Law and Legal History, Oxford 2001,143-153. 83 Vgl. Nippel, Aufruhr (wie Anm. 19) 62; 66. 84 Nach den Regeln Sullas konnte der Angeklagte entscheiden, ob geheim oder öffentlich abgestimmt wurde (Cie. Cluent. 55; 75); dies ist nach 70 wieder aufgehoben worden; Kun-kel, Quaestio (wie Anm. 7) 86 f.

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146 Wilfried Nippel

gelt)85 die Stimmen nach den Ständen - Senatoren, Ritter, Aerartribunen -getrennt ausgezählt werden und dieses Ergebnis bekannt gegeben wird?86

Warum wurde in der Zeit nach 70 die Regel aufgehoben, daß Magistrate während ihrer Amtszeit nicht zugleich als Geschworene tätig sein durf-ten?87 Es war auch nicht durchsetzbar, die durch den Gang der Gesetzge-bung entstandene Gesetzeslücke zu schließen, die bedingte, daß ritterliche Geschworene (im Gegensatz zu senatorischen) nicht wegen Bestechlich-keit belangt werden konnten;88 Cicero (Rab. Post. 18 f.) begründet dies damit, daß sie sonst ihre persönliche Unabhängigkeit verlören. (Und die aktive Bestechung der Geschworenen war anscheinend überhaupt nicht strafbar). Eine weitere Frage betrifft den Geschworeneneid. Zwar wird wiederholt darauf verwiesen, daß die Geschworenen vereidigt seien.89 Der einzige Text, der inhaltlich etwas dazu sagt, ist die inschriftliche lex repe-tundarum. Danach ist aber nur gesichert, daß die Geschworenen zu beei-den hatten, bei der Zeugenvernehmung anwesend zu sein und ihr Abstim-mungsergebnis geheim zu halten. Das heißt, wir wissen nicht, inwieweit ihr Eid eine inhaltliche Verpflichtung auf die Bindung an Recht und Gesetz wie im Falle des athenischen Geschworeneneids enthielt.90

In den Plädoyers wurde oft noch nicht einmal der Schein gewahrt, daß es um die rechtliche Bewertung von Tatsachen gehe. Cicero kann nicht nur sagen, daß eine Entscheidung die (durch Zeugenaussagen belegte) Reputation und die gesamte Lebensführung eines Angeklagten zu be-rücksichtigen und gegenüber dem Leumund der Gegenseite abzuwägen habe,91 sondern auch ganz offen die Staatsräson als das Kriterium aus-

85 Cass. Dio 38,8,1. Brennan, Praetorship (wie Anm.4) Bd. 2, 474, nimmt an, der Praetor Q. Fufius Calenus habe dieses Gesetz als Maßnahme gegen Richterbestechung initiiert. 86 Ascon. pp. 28C; 53C; 55C. 87 Cie. Verr. 1,29 f. zum Ausschluß der Magistrate. Im Jahre 56 fungieren zwei amtierende Praetoren als Geschworene im Prozeß gegen Sestius, Cic.Vat. 16; Schol. Bob. p. 146St; dazu Brennan, Praetorship (wie Anm .4 )Bd .2 ,416f . ;418f . 88 Vgl. Jean-Michel David, Le patronat judiciaire au dernier siècle de la république ro-maine, Paris 1992, 248ff.; Bleicken, Cicero (wie Anm. 13)33 ff; 84f. 89 Mommsen, Strafrecht (wie Anm. 3) 219; 395; Kunkel, Quaestio (wie Anm. 7) 80. 90 Cie. inv. 1,70; 2,131, wo diese Verpflichtung auf die Gesetze formuliert ist, dürfte eine Adaptation aus einem griechischen Rhetorik-Lehrbuch sein. - Zum Eid der Geschworenen in Athen vgl. Max Fränkel, Der attische Heliasteneid, Hermes 13, 1878,452-466. " Cie. Cluent. 195 ff.; Plane. 3; Mur. 11; Sull. 69; 79; vgl. Paul R. Swarney, Social Status and Social Behaviour as Criteria in Judicial Proceedings in the Late Republic, in: Baruch Halpem, Deborah W. Hobson (Hg.), Law, Politics and Society in the Ancient Mediterra-nean World, Sheffield 1993, 137-155. - Pompeius hat mit seinem Gesetz fur die Prozesse de vi und de ambitu im Jahre 52 das Aufbieten von Leumundszeugen untersagt, sich dann aber später nicht an seine eigene Regel gehalten (Val. Max. 6,2,5; Plut. Cato minor 48,4; Cass. Dio 40,52,2; 40,55,1 f.).

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Die Geschworenengerichte der späten römischen Republik 147

geben, nach dem sich verständige Geschworene zu richten hätten.92 Die „Demagogie", die Kunkel (s. o.) an den Verfahren in der Volksversamm-lung kritisiert hat, läßt sich unschwer (auch wenn es sich um ein feineres Publikum handelt) auch für die Reden in den Quaestionen konstatieren. In puncto Rabulistik halten die römischen Gerichtsreden im übrigen auch jeden Vergleich mit den vielgescholtenen athenischen aus.

Den Gewinn an Sachgemäßheit, der durch die Quaestionen eingetre-ten sein soll, wird man somit doch ganz erheblich relativieren müssen. Angesichts der vielfaltigen Änderungen, die man immer wieder durch Gesetzgebung vollzogen hat, stellt sich damit erneut die Frage, warum an der Zusammensetzung der Gerichte allein mit Geschworenen aus den oberen Ständen grundsätzlich nicht gerüttelt wurde. Meine Vermutung wäre, daß ein entscheidendes Element, das den Verfahren Legitimation verlieh, die spezifische Art von Öffentlichkeit war, in der die Prozesse stattfanden. Die Prozesse fanden mitten auf dem Forum statt, sie konnten von jedermann beobachtet werden.93 Das inschriftliche Repetundengesetz zeichnet sich dadurch aus, daß großer Nachdruck auf Transparenz gelegt wird. Die Verfahren von der Aufstellung der allgemeinen Richterliste -die der Praetor in einer Volksversammlung laut verlesen und anschlie-ßend öffentlich aushängen muß - bis zur Art und Weise der Stimmabgabe der Juroren, die ihr Stimmtäfelchen mit der Hand verdecken müssen, sind genau geregelt, und zwar so, daß die Einhaltung der Regeln von jeder-mann überwacht werden konnte.94 Die Kontrollfunktion der Öffentlich-keit hinsichtlich der formalen Verfahrensschritte wie der Festlegung der Geschworenenbank betont z.B. auch Cicero im Verres-Prozeß, wobei er einen zurückliegenden Fall von Bestechung gerade deshalb als besonders verwerflich darstellt, weil man hier präparierte Stimmtäfelchen verwen-det hatte, mit denen sich beweisen ließ, daß die bestochenen Juroren ihr Geld wert gewesen waren.95

Bei den Prozessen ging es immer auch um die Mobilisierung der öf-fentlichen Meinung. Darauf zielten die Trauerdemonstrationen von Ange-klagten, deren Verwandten und Freunden.96 Unter Umständen schlossen

92 Cic.Flacc.98. 93 Vgl. Christine Döbler, Politische Agitation und Öffentlichkeit in der späten Republik, Frankfurt a. M. u. a. 1999, 118 ff. 94 Vgl. Adrian N. Sherwin-White, The Lex Repetundarum and the Political Ideas of Gaius Gracchus, JRS 72, 1982, 18-31, 21. 95 Cic.div. Caec. 24; Verr. 1,17; 40; Verr. 2,2,79; vgl. Cluent. 130. Es ging um die von Hortensius organisierte Bestechung der Geschworenen im Repetundenprozeß gegen Varrò im Jahre 74; Ps.-Ascon. p. 193St. % Val. Max. 6,4,4; Cie.de orat. 1, 229f.; Plane. 29.

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sich sogar Geschworene den Trauerbekundungen an.97 Die Gerichtsredner beziehen sich darüber hinaus immer auch auf die angebliche Meinung des römischen Volkes. Cicero betont in seinen Gerichtsreden, daß die Juroren ihrerseits unter den Augen und Ohren der Bürgerschaft zu entscheiden haben.98 Massiv ist dies in den Verres-Reden, wenn das römische Volk als quasi über den Geschworenen zu Gericht sitzend apostrophiert wird. Das ist sicherlich durch die besondere Konstellation des Jahres 70 bedingt, als die Frage der Zusammensetzung der Geschworenenbänke erneut auf der Tagesordnung stand.99 Aber das Argument setzt doch voraus, daß man den Einfluß der öffentlichen Meinung, und das heißt hier immer konkret der tatsächlichen Zuhörerschaft auf dem Forum, grundsätzlich als bedeut-sam akzeptierte. In diesem Sinne - und nicht als Ausdruck einer Man-datstheorie100 - ist es wohl auch zu verstehen, wenn die Geschworenen als Vertreter des Volkes angesprochen werden.101 Diesen legitimatorischen Bezug der Öffentlichkeit betont Cicero auch in seiner Rede für den König Deiotarus, als er Anlaß sah, die Verletzung dieses Prinzips durch Caesar anzugreifen.102 Im Rückblick auf die republikanischen Verhältnisse stellt Tacitus (dial. 39,4) später fest, angesichts der Mobilisierung großer Zu-hörerzahlen habe das römische Volk geglaubt, den Ausgang eines Prozes-ses zu entscheiden.

Man könnte noch einen Schritt weiter gehen und sagen, daß der Druck der Öffentlichkeit, der sich in massiven Unmutsbekundungen auf dem Forum,103 Demonstrationen gegen Gerichtsredner im Theater104 und ge-gebenenfalls auch in einer Gewaltandrohung gegen die Geschworenen Luft machen konnte, als Korrektiv akzeptiert wurde. So wurde der Frei-spruch für Gabinius in einem Verfahren de maiestate im Herbst 54 von solch heftigen Protesten, einschließlich einer Lynchdrohung gegen die Geschworenen, begleitet, daß die Verurteilung in einem anschließenden Repetundenverfahren auf diesen massiven Druck zurückgeführt wurde.105

97 So bei der Anklage gegen Scipio Nasica, den Schwiegervater des Pompeius im Jahre 52; App. civ. 2,24,94. 98 Cie. S. Rose. 11. 99 Cie. Verr. 1,47; Verr. 2,1,23; Verr. 2,5,177. 100 So Stimmen in der Literatur des 19. Jahrhunderts, zitiert bei Hermann F. Hitzig, Die Herkunft des Schwurgerichts im römischen Strafprozess, Zürich 1909, 38. 101 Cie. Flacc. 4. 102 Vgl. Fuhrmann, „Grundrechte" (wie Anm. 16) 103 f. 103 Cie. Cluent. 79. 104 Cie. fam. 8,2,1 (massive Proteste gegen Hortensius im Jahre 51, nachdem er einen Frei-spruch erreicht hatte). 105 Cic.Q. fr. 3,1,24; 3,4,1; Cass. Dio 39,62,1-63,1.

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Die Geschworenengerichte der späten römischen Republik 149

Beim Prozeß gegen Milo im Jahre 52 forderte der Volkstribun Munatius Plancus in einer contio die Menge auf, am Schlußtag des Prozesses in großer Zahl zu erscheinen und den Geschworenen deutlich zu machen, daß Milo unter keinen Umständen davonkommen dürfe. Die Menge soll-te, so der Aufruf des Tribunen laut Asconius (p.40C), den Geschworenen gegenüber ihr eigenes iudicium bekunden. Weitere Drohungen dieser Art kennen wir nicht nur aus der Republik, sondern auch anläßlich von Pro-zessen im Senat während des Principáis.106 Das heißt sicherlich nicht, daß man eine Bedrohung des Gerichts in jedem Fall hingenommen107 oder gar Lynchjustiz als legitim angesehen hätte, wohl aber, daß man einen Ver-such der Einflußnahme durch Massenproteste nicht generell als unzuläs-sigen „Druck der Straße" abtun konnte und wollte.108 Möglicherweise war es diese Kontrollfunktion der Öffentlichkeit, die die Frage der Zusam-mensetzung der Geschworenengerichte als weniger anstößig erscheinen ließ, als man hätte erwarten können.

Aber auch wenn die Frage nach dem Legitimitätsgrund der Geschwo-renengerichte eine anachronistische Spekulation sein sollte, das Problem sich also in dieser Form für die Römer gar nicht gestellt hätte - Gründe, die communis opinio der Forschung zur sachlichen Notwendigkeit dieser Institution in Zweifel zu ziehen, gibt es genug.

106 Vgl. Wilfried Nippel, Public Order in Ancient Rome, Cambridge 1995, 42ff.; Susan Treggiari, Roman Social History, London u. a. 2002, 95 ff. 107 In bestimmten Fällen sind (bewaffnete) Mannschaffen zum Schutz von Prozessen auf-geboten worden; vgl. Nippel, Aufruhr (wie Anm. 19) 63; 139. 108 Siehe die ambivalente Stellungnahme des Senats zum Verhalten der Plebs beim Prozeß gegen Piso, den angeblichen Mörder des Germanicus, im Jahre 20 n.Chr.; die massiven Bedrohungen (Tac.ann. 3,14f.; Suet.Cal. 2) werden heruntergespielt, die Plebs dafür ge-lobt, daß sie auf eigenmächtige Vollziehung der Strafe verzichtet habe. Zeilen 155 ff. des Senatsbeschlusses (Werner Eck u. a. [Hg.], Das senatus consultum de Cn. Pisone patre, München 1996).

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