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Generalkonsulat der Bundesrepublik Deutschland in Istanbul Diskussionsabend im Deutschen Generalkonsulat am 29.11.2005 zum Thema „Exil und Bildungsreform: Deutsche Rechtsprofessoren in der Türkei ab 1933“ 1

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Page 1: Generalkonsulat der Bundesrepublik Deutschland in Istanbul€¦ · Atatürk und seines Erziehungsministers Dr. Reşit Galip mit der Aufgabe befasst war, das türkische Hochschulwesen

Generalkonsulat der Bundesrepublik Deutschland in Istanbul

Diskussionsabend im Deutschen Generalkonsulat

am 29.11.2005 zum Thema

„Exil und Bildungsreform: Deutsche Rechtsprofessoren in

der Türkei ab 1933“

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Generalkonsulat der BundesrepublikDeutschland

IstanbulInönü Caddesi 16-18, Beyoğlu-Istanbul

Web: www.istanbul.diplo.deE-Mail: [email protected]

Herausgeber: GK Reiner MöckelmannDruck: Yeni Beyoğlu Matbaacılık

Kulturreferent Bernd Reindl:

Herzlich willkommen zum heutigen Diskussionsabend imRahmen unserer halbjährlich stattfindenden Alumni-Gespräche,diesmal zum Thema „Exil und Bildungsreform – DeutscheRechtsprofessoren in der Türkei ab 1933“. Ich begrüße dabeirecht herzlich die drei Vorsitzenden der Alumni-Organisationenhier in Istanbul: Herrn Professor Mengi vom Alexander-von-Humboldt-Club Istanbul, Herrn Dr. Başbudak vom DAADAlumni Verein Istanbul und Herrn Yelkencioğlu, Vorsitzenderder TADEV. Ein ganz besonderer Dank geht heute auch anDAAD, BASF und Siemens, die uns hilfreich zur Seite stehen.Herzlichen Dank an Frau Scheiter, Leiterin des DAAD-Informationszentrums in Istanbul, Herrn Dr. Gerhard Schwarz,Generalmanager von BASF und Herrn Martin Krauss,Finanzchef von Siemens Istanbul.

Sehr verehrte Damen und Herren,

„Immer fand ich den Namen falsch, den man uns gab:Emigranten.Das heißt doch Auswanderer. Aber wirwanderten doch nicht aus, nach freiem Entschlusswählend ein anderes Land, dort zu bleiben, womöglich fürimmer.Sondern wir flohen. Vertriebene sind wir, Verbannte.Und kein Heim, ein Exil soll das Land sein, das uns aufnahm.Unruhig sitzen wir so, möglichst nahe den Grenzenwarten des Tages der Rückkehr, jede kleinste Veränderung

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jenseits der Grenze beobachtend, jeden Ankömmlingeifrig befragend, nichts vergessend und nicht aufgebend. Keiner von uns wird hier bleiben, das letzte Wortist noch nicht gesprochen.“

Diese von Bertold Brecht im dänischen Exil geschriebenenZeilen sind Ausdruck der Verzweiflung, Hoffnungen undErwartungen vieler Exilanten der damaligen Zeit. Währenddes dunkelsten Kapitels deutscher Geschichte, der NS-Zeit,waren zahlreiche Künstler, Schriftsteller, Mediziner, Juristen,Handwerker aus politischen und rassischen Gründengezwungen, Deutschland –ihre Heimat- zu verlassen undZuflucht und Schutz in anderen Ländern zu suchen.Erschütternd zu lesen sind die Briefe eines Stefan Zweig überden Verlust der Heimat, über den Verlust des deutschenSprach- und Kulturraumes. Beeindruckend ebenfalls dieBriefe Thomas Manns und Heinrich Manns, derSchriftstellerin Stefanie Zweig, die in Ostafrika ein Exilgefunden hatte, Stefan Zweig in Brasilien, die Mann-Brüderin den USA ebenso wie Leon Feuchtwanger. Ein weiteresLand, welches verfolgten Juden und politischen Gegnern desNS-Regimes in dieser Zeit Zuflucht, vielleicht sogarbisweilen Heimat gab, war die Türkei. Dieses besondereKapitel deutsch-türkischer Beziehungen wollen wir heuteAbend etwas näher beleuchten. Ein Kapitel – ich muss esgestehen – das manchem, mich eingeschlossen, in dieserganzen Dimension bisher noch nicht bewusst war. Die Türkeials Zufluchtsort für verfolgte Deutsche. Namen wie ErnstReuter, Andreas Schwarz, Philipp Schwartz, Fritz Arndt und

Ernst Hirsch, der wie andere nach 1945, nämlich 1952, wiederzurückgekehrt ist in den Hochschulbetrieb desNachkriegsdeutschland, dürfen so manchem, in diesem Raumnoch etwas sagen. Ich freue mich, zu dieser PodiumsdiskussionHerrn Generalkonsul Möckelmann, den ehemaligen Alexander-von-Humboldt- und DAAD-Stipendiaten aber auch ehemaligenDekan der Juristischen Fakultät der Istanbul Universität undlangjährigen Vorsitzenden des deutsch-türkischenKulturbeirates, Herrn Prof. Ülkü Azrak, sowie denausgewiesenen Experten, Orientalisten und Juristen, HerrnGottfried Plagemann begrüßen zu dürfen. Ich wünsche Ihneneine anregende Diskussion. Ergreifen Sie bitte die Gelegenheit,in die Diskussion mit Kommentaren und Fragen einzugreifen,und ich darf Sie schon jetzt am Ende zu einem kleinen Cocktailin die Nebenräume des Kaisersaals einladen, wo wir gemeinsamdie Fragen, Anregungen, Kommentare diskutieren oder uns auchnur den kulinarischen Genüssen hingeben können. Ich dankeIhnen recht herzlich und bitte nun die drei Herren, auf dasPodium zu kommen.

Reiner Möckelmann:

Meine Damen und Herren, auch ich möchte Sie herzlich amheutigen Abend begrüßen. Ich freue mich, dass Sie zu einerVeranstaltung gekommen sind, die einen ganz besonderenAbschnitt der deutsch-türkischen Beziehungen beleuchtenmöchte. In seinem biografischen Buch „Zuflucht am Bosporus“hat der bedeutende Ökonom und Finanzwissenschaftler FritzNeumark, der von 1933 bis 1952 Ordentlicher Professor an der

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Juristischen Fakultät der Universität Istanbul war, die Zeit ab1933 als das „deutsch-türkische Wunder“ bezeichnet. Wennwir uns die Daten der damaligen Zeit vergegenwärtigen, sokönnen wir wirklich von einer einzigartigen, von türkischerSeite geplanter und von deutscher Seite erzwungenerSynthese sprechen, die beiden Seiten, der Türkei und denFlüchtlingen, zugute kam. Erlauben Sie mir, dieses „Wunder“kurz zu erläutern, bevor wir auf die Rolle der deutschenRechtsprofessoren eingehen.

Am 28. Februar 1933 werden in Berlin wichtige Grundrechteaußer Kraft gesetzt. Damit beginnt der Abbau der Demokratiein Deutschland. Am 7. April 1933 tritt das so genannte„Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ inKraft. Die Zielsetzung dieses Gesetzes weisen die Artikel 3und 4 deutlich aus: „Beamte, die nicht arischer Abstammungsind, sind in den Ruhestand zu versetzen“(§3) und „Beamte,die nicht die Gewähr dafür bieten, dass sie jederzeitrückhaltlos für den nationalen Staat eintreten, können ausdem Dienst entlassen werden“(§4). Dieses Gesetz traf denGrossteil der deutschen wissenschaftlichen Elite, seien esLiberale, gläubige Christen, Sozialdemokraten, Kommunistenoder so genannte Nicht-Reinrassige. Diese hatten von heuteauf morgen keine Zukunft mehr in Deutschland und suchtenverzweifelt nach Wirkungsmöglichkeiten im Ausland.

Der Frankfurter Pathologe Philipp Schwartz, selbst vomGesetz betroffen, erkannte die ausweglose Lage hunderterWissenschaftler und gründete noch im April 1933 in Zürich,

dem Wohnort seiner Schwiegereltern, eine „Beratungsstelle fürdeutsche Wissenschaftler“, auch „Notgemeinschaft“ genannt.Schwartz nahm sehr bald den Kontakt in die Türkei auf, denn erhatte davon erfahren, dass hier seit 1932 der GenferPädagogikprofessor Albert Malche im Auftrag von KemalAtatürk und seines Erziehungsministers Dr. Reşit Galip mit derAufgabe befasst war, das türkische Hochschulwesen zuüberprüfen und Reformvorschläge zu unterbreiten. DieReformvorschläge Malches waren radikal und sahen neben derAbschaffung des „Hauses der Wissenschaften“ (Darülfünun)eine Universitäts-Neugründung nach westlichem Vorbild vor.Dafür eignete sich aber nur ein Teil der bisherigen Professoren.Nach türkischen Quellen wurden von den 240Hochschuldozenten des „Darülfünun“ 157 entlassen, darunterallein 71 Professoren und Ordinarien, so dass ausländischeHochschullehrer gefragt waren. Bei zwei Besuchen in Ankarakonnte Schwartz Minister Reşit Galip davon überzeugen, dass ergenug qualifizierte Kandidaten hat, so dass über die„Notgemeinschaft“ 30 ordentliche Professuren besetzt werdenkonnten. Philipp Schwartz hat über die Gespräche eindrucksvollin seinem kleinen Buch „Notgemeinschaft“ berichtet, das mitdem Titel „Kader Birliği“ auch hier gut bekannt ist.

Die unbürokratischen und zielstrebigen Gespräche in Ankarahaben es ermöglicht, dass bereits am 31. Juli 1933 dasDarülfünun geschlossen und die Universität Istanbul am 1.August 1933 mit 4 Fakultäten, nämlich Medizin,Naturwissenschaften, Literatur und Jura sowie 8 Instituten, u.a.Nationale Ökonomie, Turkologie, Islamwissenschaft,

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Geographie und Chemie eröffnet werden konnte. Imakademischen Jahr 1933/34 nahmen hier bereits 42 deutscheProfessoren ihre Arbeit auf - von Arndt (Leiter deschemischen Instituts) bis Winterstein (Leiter desphysiologischen Instituts), und diese leiteten Institute,angefangen von Astronomie (Freundlich) bis Zoologie(Kosswig). Die meisten von ihnen waren in der medizinisch-naturwissenschaftlichen Fakultät tätig, und deutscheMediziner leiteten zeitweilig 8 von 12 medizinischenInstituten. Eine türkische Quelle beziffert die Gesamtzahlausländischer Professoren von 1933 bis 1953 auf 220,darunter 166 Deutsche, bei denen die Emigranten eindeutigüberwogen.

Nach der Gründungsphase in Istanbul 1933 folgte eineweitere Gruppe deutscher Wissenschaftler, die bei derGründung der Universität in Ankara 1935 mitwirkte. In denJahren 1938 und 1939 kamen weitere Gruppen. Insgesamtbetrug die Zahl emigrierter Akademiker einschließlichAssistenten rund 300. Werden Familienangehörige, Technikerund Krankenschwestern hinzugezählt, so haben mehr als1.500 Deutsche in der Türkei ab 1933 eine neue Heimatgefunden.

Erziehungsminister Reşit Galip schloss mit denWissenschaftlern zeitlich auf 3 oder 5 Jahre begrenzteVerträge ab, die beinhalteten, dass sie innerhalb von 3 bis 5Jahren die türkische Sprache lernen und die Vorlesungen inTürkisch halten sollten. Dies war gerade für die älteren der

Professoren eine große Herausforderung, der nicht alle – oder ichwürde sagen die wenigsten – gerecht werden konnten. Auchmussten sie mit Hilfe eines Übersetzers Lehrbücher undLeitfäden in türkischer Sprache verfassen. Eine weitereBedingung war die Zusammenarbeit mit ausländischenForschungsinstituten, um das Niveau in Istanbul aufeuropäischen und US-amerikanischen Standard zu heben. Fürdiese Auflagen wurden diese Dozenten und Professoren dannauch außerordentlich honoriert. Dies erfährt man aus manchenBiografien. Ausländische Ordinarien bekamen etwa 500-700Türk Lira, wobei der Rektor an der Istanbul Universität damals300 TL erhielt und ein Dekan – das hätte für Sie, Herr Prof.Azrak gegolten- mit 200 TL hätte auskommen müssen. Dafürmusste aber eine weitere Bedingung erfüllt werden –diese hätteich jetzt beinahe vergessen –, nämlich Veranstaltungen zurFortbildung und Volksaufklärung in Abendkursen oder denSemesterferien in den ‚Volkshäusern’ durchzuführen.Schließlich wurden auch Fachgutachten ohne besondereBezahlung vorgeschrieben sowie der Verzicht aufNebentätigkeiten. Diese Vertragsbestimmungen zielten letztlichdarauf ab, während der Vertragszeit der ausländischenProfessoren einen türkischer Hochschulnachwuchsherauszubilden, der die Ausländer überflüssig machen konnte.

Bei diesen allgemeinen Bemerkungen möchte ich es aberbelassen und zu den Juristen kommen. Ich freue mich sehr, dasswir mit Herrn Prof. Ülkü Azrak einen Zeitzeugen unter unshaben. Er kannte zwei der Juraprofessoren aus persönlicherBegegnung, wobei wir Sie jetzt nicht älter machen wollen als Sie

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sind, Herr Prof. Azrak! Ernst Hirsch haben Sie in Berlinkennen gelernt als er die Türkei bereits verlassen hatte. ErnstHirsch war nämlich 1933 nach Istanbul gekommen, dann1943 nach Ankara gegangen und ist im Jahre 1952 dem Rufals Rektor an die Freie Universität Berlin gefolgt. AndreasSchwarz haben Sie in Istanbul noch als Lehrer erlebt. Er bliebbis 1953. Er war aus Freiburg gekommen und ist dann dortwährend einer Gastprofessur gestorben. Ein Allerletztesvielleicht noch als grundsätzliche Feststellung: Viele derProfessoren blieben nicht nur bis 1952/53, also ein ErnstHirsch bald 20 Jahre – 10 Jahre in Istanbul, 10 Jahre inAnkara – sondern ihr Leben lang. Hier möchte ich TraugottFuchs, den Romanisten, aber auch künstlerisch begabtenDozenten und Germanisten erst am Robert College, nachheran der Istanbul Universität und schließlich an der BoğaziçiUniversität, nennen, der 1997 verstorben und hier in Istanbulbegraben liegt. Dies gilt auch für Bruno Taut, denArchitekten, und für den Zoologen Curt Kosswig. Nun abergenug. Wir wollen uns nunmehr ganz den Juristen widmen,und ich möchte Herrn Plagemann bitten, ein Wort zur Reformdes Rechtssystems in diesen Jahren zu sagen.

Gottfried Plagemann:

Vielen Dank für die Einladung und auch für die Frage. Wennich hier ins Publikum schaue, frage ich mich natürlich, ob ichvielen von Ihnen noch etwas Neues erzählen kann, da Sieselber diese Rechtsrezeption – wie wir das nennen – miterlebthaben. Aber um die Bedeutung dieser Professoren,

insbesondere der Juristen zu verstehen, macht es doch Sinn,hierauf nochmals einzugehen. Das türkische Recht wurde, wieallgemein bekannt, zu Beginn der Republik in einem Zeitraumvon etwa 10 Jahren fast vollständig neu gestaltet. Das bedeutet,dass die grundlegenden Gesetze – Strafgesetzbuch,Zivilgesetzbuch, Handelsrecht, Vollstreckungsrecht usf. – neuerlassen wurden. Diese Gesetze wurden fast vollständig alsÜbersetzung von europäischen Gesetzen erlassen. Sie wurdenalso aus verschiedenen Ländern übernommen, aus der Schweiz,Deutschland, Italien.

Rechtsrezeption, die Übernahme fremden Rechts, ist als solchesnichts Besonderes. Es gibt sie auf den verschiedensten Gebietenund sie ist bis heute etwas sehr Gängiges. Gerade bei deraktuellen Reform des türkischen Rechts wie auch in vielenanderen Ländern spielt sie heute wieder eine Rolle. Wasallerdings eine Besonderheit war, ist der Umfang und die Dauerder Rechtsrezeption in der Türkei. In einem äußerst kurzenZeitraum wurden sämtliche grundlegenden Gesetze neu gefasst.Das war natürlich mit einem Vorlauf verbunden. Es gab von denwesentlichen Gesetzen auch vorher schon Übersetzungen.Einzelne Gesetze waren bereits im Osmanischen Reich an Handeuropäischer Gesetze neu erlassen worden. Es gab auchVersuche, das vorher geltende islamische Recht zu reformieren.So wurde eine Kommission zur Reform des damals geltendenislamischen Zivilgesetzbuches, die Mecelle, gebildet, die dasGesetzbuch auf der Basis des islamischen Rechts und unterEinbeziehung europäischer Gesetzbücher völlig überarbeitensollte.

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Das bekannteste Beispiel einer Rechtsrezeption, dieRezeption des Römischen Rechts in Europa, welche dieGrundlage für das heutige kontinentaleuropäische Zivilrechtwar, verlief praktisch gegensätzlich zur Rezeption in derTürkei. Und dort kommen wir zur Rolle dieser Professoren.Die Rezeption des Römischen Rechts war ein Vorgang, dersich über einen sehr langen Zeitraum abspielte und an denUniversitäten begann. Professoren haben das Römische Rechtim 11. Jahrhundert wieder entdeckt. Es wurde dort gelehrt, eswurde nach und nach auch angewandt in Gutachten undÄhnlichem und dann übernommen. Es gab also einen langenZeitraum, in dem dieses Recht Gegenstand der Lehre war undauch bereits in die Praxis eindrang, bis es dann in einerveränderten Form zur Grundlage der Gesetzgebung wurde. Inder Türkei kann man zwar sagen, dass es einen Prozess derRechtsrezeption von inzwischen sehr grob gesprochen etwa200 Jahren gibt. Die direkte Übernahme von Recht als eineÜbernahme von Gesetzen in diesem Umfang erfolgte jedochinnerhalb von nur 10 Jahren. Auch die bereits zuvor imOsmanischen Reich in verschiedenen Gebieten(Handelsrecht, Strafrecht) rezipierten Gesetze wurden neuund auf der Basis anderer europäischer Gesetze erlassen.Soweit es zuvor eine Lehre des europäischen Rechts an derUniversität gab, erfolgte diese nur sehr beschränkt. In derRechtsanwendung spielte dies kaum eine Rolle. Es fehlte alsosowohl an einer Grundlage in Wissenschaft und Lehre alsauch in der Rechtsanwendung. Das Recht wurde hierübernommen und dann – von wenigen Ausnahmen abgesehen– danach gelehrt. Das praktische Problem drängt sich auf: Es

fehlen Juristen, die es anwenden können. Es fehlen die Richter,die es anwenden, es fehlt der Verwaltungsbeamte, der daringeschult ist, es fehlt der Rechtsanwalt, der Kenntnis von diesenGesetzen und diesem Rechtssystem hat. In diesem Augenblickwaren die deutschen Professoren, die in diesem Rechtausgebildet waren und es bereits in Europa gelehrt hatten, für dieTürkei sozusagen „Gold wert“. Diese besondere Situation imRecht erklärt auch die besondere Bedeutung dieser Professoren.

Die Professoren selber haben nur begrenzt das positive Rechtgelehrt. Das war auch nicht der entscheidende Punkt. RichardHonig, einer der vier deutschen Professoren, der hier war, hattein Deutschland vorher Strafrecht und Rechtsphilosophie gelehrtund hier dann Rechtsphilosophie und die Einführung ins Recht.Mit Andreas Bertalan Schwarz, der römische Rechtsgeschichtelehrte, waren dies die beiden deutschen Professoren, dieGrundlagen des Rechts an der Universität Istanbul lehrten.Schwarz lehrte außerdem das gerade rezipierte SchweizerZivilrecht und Professor Ernst Eduard Hirsch das Handelsrecht.

Der Wechsel, den ich hier beschrieben habe, ist ein Wechselzwischen islamischem und abendländischem Recht. Das mussnicht unbedingt für jede einzelne Regelung eine grundlegendevöllige Neuerung sein. Im islamischen Recht gibt es Regelungen,die uns auch im Römischen Recht begegnen. Es bedeutete abereinen völligen Systemwechsel. Es bedeutet auch eine andereGeschichte. Die Geschichte des Rechts ist zum Einen dieGeschichte, die in einem Land, einem Staat, einer Nation gelebtwird - der Vorlauf bis zu einem bestimmten Punkt der

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Rechtsentwicklung. Zum Anderen ist es die Geschichte einerkonkreten Norm, eines konkreten Systems, eines Gesetzes.Die Geschichte des Türkischen Rechts ist deshalb eineDoppelte: Die Geschichte des osmanischen Reiches und derTürkstaaten davor, und es ist die mit dem europäischen Rechtübernommene Geschichte des Römischen Rechts, dieGeschichte des abendländischen, des europäischen Rechts.Das macht es so bedeutend, wenn Professoren wie Honigoder Schwarz, die ausgewiesene Kenner dieser Fächer waren,hier Rechtsgeschichte und Rechtsgrundlagen gelehrt haben.

Reiner Möckelmann:

Lassen Sie mich bei dem Stichwort Honig erwähnen, dassProfessor Richard Honig aus Göttingen kommend, von 1933bis 1939 Rechtsphilosophie und Rechtsgeschichte an derUniversität Istanbul gelehrt hat. In seiner Antrittsrede hat ersich auf die Geschichte seiner neuen Wirkungsstättekonzentriert und festgestellt, dass hier in Istanbul überJahrhunderte Römisches Recht angewendet worden ist. Istdas richtig so?

Gottfried Plagemann:

Honig hat seine Antrittsrede sozusagen als Geburtstagsfeiergestaltet, als 1400-Jahrfeier der Geburt des Corpus JurisCivilis. Das Thema seiner Antrittsvorlesung war der OrtIstanbul und die Entwicklung des Rechts in Istanbul. Denn indiesem Ort – Byzanz – wurde das Römische Recht

kodifiziert, und in diesem Ort an der Universität Istanbul wurdezu Beginn der Republik Türkei das neue Recht gelehrt undentwickelt, wenn auch die politische Entscheidung, der Erlassder neuen Gesetze in der neuen Hauptstadt Ankara erfolgte.Richard Honig war auch an der Zeitschrift Capitolium beteiligt,einer Zeitschrift für Recht und Rechtsgeschichte, die der DozentŞemseddin Talip Bey herausgab. In der ersten Nummer, findenSie auf Seite 2 und 3 ein Mosaik, welches den Kaiser Justinianabbildet, den Kaiser, der angeordnet hat, dass das RömischeRecht kodifiziert und so festgeschrieben wird, und daneben einBild von Mustafa Kemal Atatürk. Danach gibt es einen kurzenText auf Türkisch und darunter übersetzt auf Lateinisch mit denInitialen R.H., weshalb ich davon ausgehe, dass Richard Honigden lateinischen Text geschrieben hat. Auf Deutsch lautet er:

„Justinian und der Gazi,die Rechtsgeschichte dieses Landes wurde zweimal vonwillensstarker und kluger Hand auf einen neuen Weg gebracht.Das erste Mal mit der Schaffung des Corpus Juris Civilis durchKaiser Justinian in den Jahren 530 bis 534, und das zweite Malmit der Schaffung des neuen Rechts durch den großen türkischenFührer und Gazi Mustafa Kemal Atatürk in den Jahren 1924 bis1927. So, wie Justinian mit dem Befehl des Gesetzgebers dieKultur des römischen Reiches feststellen ließ, und damit seinezukünftige Wirkung begründete, so schuf auch der Gazi mitseinem Befehl, die neuen Gesetze zu erlassen, die heutigeRechtskultur der Türkei. Wie das Werk Justinians überJahrhunderte fortlebte, so wird das Werk des Gazi für immerdas Rechtsbewusstsein der Nation bestimmen.“

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Wir haben da vielleicht auch einen kleinen Hinweis auf dieBegeisterung der Emigranten für diesen Reformprozess. Ichglaube, dass ein großer Teil dieser Professoren, sicherlichnicht alle voll und ganz, sich diesem Reformprozess hier sehrverpflichtet fühlten und dies auch zum Ausdruck gebrachthaben.

Reiner Möckelmann:

Hierzu möchte ich noch eine Feststellung von Kemal Atatürkanführen, der nach Gründung der Istanbul Universität am01.08.1933 verkündet hat: „Die Istanbul Universität ist einevöllig neu gegründete Universität. Sie ist keineNachfolgeeinrichtung des Darülfünuns. Sie übernimmt keineTraditionen. Sie wird im Laufe der Zeit ihre eigene Traditionbilden.“ Hierin zeigt sich eine gewisse Kompromisslosigkeitgegenüber den Professoren, die langjährig in der Darülfünungewirkt haben, möglicherweise ein Misstrauen, dass sie nichtbereit sind, die Reform in ihrer westlichen Ausrichtungmitzutragen. Nur so ist es auch erklärbar, dass so vieleAusländer berufen wurden. Herr Professor Azrak, wie sehenSie in diesem Zusammenhang die Aussage von Ernst Hirsch,der diese Zeit so bezeichnet hat: „Wir alle sind auf einenrollenden Zug aufgesprungen, das gilt sowohl für die, die ausdem Ausland kamen, wie für die, die hier von heute aufmorgen praktisch einen Wechsel ihrer Einstellung zurAusbildung, zur Lehre und zur Forschung vornehmenmussten.“

Prof. Ülkü Azrak:

Als Ernst Hirsch 1933 in die Türkei kam war die kemalistischeRevolution bereits in vollem Gange. Kemal Atatürk wollte seinLand mit Hilfe der westlichen Wissenschaftler nach vornentwickeln, wissenschaftlich, technisch und sogar auch politisch.Es waren auch Politologen darunter, die in die Türkei gekommenwaren, wie z.B. Ernst Reuter in Ankara und Gerhard Kessler inIstanbul. Letzterer war Soziologe und Politologe. Ernst Hirschhat nach seiner Ankunft schnell erkannt, dass die Zeit, in der erin die Türkei kam, eine Umbruchszeit war. Deshalb hat er ja inseiner von Ihnen zitierten Aussage symbolisch bemerkt, dass siealle auf einen fahrenden Zug aufgesprungen sind.

Reiner Möckelmann:

Umbruch in mehrerer Hinsicht. Einerseits war ja dieSprachreform bereits eingeleitet worden in den 20-er Jahren,einmal die Latinisierung, dann aber auch die Umstellung dertürkischen Sprache von persisch-arabisch in ein modernesTürkisch. Ernst Hirsch hat festgestellt, dass sich parallel zurEntwicklung des Rechts – er war ja Handelsrechtler – dieFachsprache ebenfalls entwickelt hat. Das Recht und die Sprachehaben sich weiterentwickelt. Welche Probleme waren damitverbunden?

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Prof. Ülkü Azrak:

Nach der Revolution wurde zuerst die alte Schrift abgeschafftund lateinische Buchstaben als die neue Schrift eingeführt.Erst später wurde auch die Sprachreform eingeleitet, die darinbestand, arabische und persische Wörter aus der türkischenSprache zu eliminieren. Die Rechtssprache war teilweisenoch die alte Schriftsprache. Das atatürksche Reformwerk hatjedoch bezüglich der Rechtsprache keine radikale Änderunggebracht. Wenn man nämlich heute versucht, ursprünglicheVersionen des von der Schweiz übernommenenZivilgesetzbuches oder des von Italien übernommenenStrafgesetzbuches oder die noch in Originalsprache geltendenanderen Gesetze, wie z.B. das Polizeigesetz und dasBezirksverwaltungsgesetz zu verstehen, hat man enormeSchwierigkeiten. Deswegen musste ich auch als Lehrer an derJuristischen Fakultät manche Vorschriften in denVerwaltungsgesetzen für meine Schüler in Neutürkischerläutern. Jetzt sind allerdings viele Gesetze geändert undsprachlich modernisiert worden. So ist das Sprachproblem aufdem Gebiet des Rechts nun aus der Welt geschafft.

Ich möchte Sie aber in diesem Zusammenhang auf einenanderen Punkt aufmerksam machen: Die deutschenWissenschaftler hatten sich verpflichtet, die türkischeSprache so schnell wie möglich zu erlernen und ihreVorlesungen auf Türkisch zu halten und ihre Lehrbücher intürkischer Sprache zu schreiben. Das haben nur zweiProfessoren der Rechtsfakultät geschafft. Es ist ihnen

gelungen, die türkische Sprache sehr schnell zu lernen und ihreVorlesungen in türkischer Sprache zu halten. Dies war einmalProfessor Ernst Hirsch. Er hat in sehr kurzer Zeit türkischgelernt. Der andere war Professor Fritz Neumark. Er war vonHause aus kein Jurist sondern Ökonom, hat aber auch an derJuristischen Fakultät Vorlesungen gehalten, und zwar intürkischer Sprache. Professor Hirsch habe ich in Istanbul nichterlebt. Aber in Berlin, als ich in den Jahren 1965-67 alsGastwissenschaftler an der Freien UniversitätForschungsarbeiten betrieb, habe ich seine Bekanntschaftgemacht. Zu dieser Zeit war er Dekan derRechtswissenschaftlichen Fakultät und ich habe öfterGelegenheit gehabt, mich mit ihm über aktuelle Probleme destürkischen Rechts zu unterhalten. Ich habe festgestellt, dass erdie türkische Sprache nicht verlernt hat, obwohl er schon langeJahre in Berlin war. Das war nur dadurch möglich, dass er dietürkischen Tageszeitungen regelmäßig bekam. Dass erandererseits über die Entwicklung des türkischen Rechts so gutBescheid wusste, ist darauf zurückzuführen, dass er dasTürkische Amtsblatt und die juristischen Fachzeitschriften sowiedie Entscheidungssammlungen der hohen Gerichte mit großemInteresse verfolgte. Nur klagte er oft, dass die türkische Sprachesich so schnell entwickelt und dass er sie ständig neu lernenmüsse.

Professor Neumark habe ich an der Istanbuler Universität erlebt.Er hat nicht nur an der Volkswirtschaftlichen Fakultät, sondernbis 1949 auch an der Juristischen Fakultät Vorlesungen inFinanztheorie gehalten. Leider konnte ich diesen Vorlesungen

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nicht folgen, weil ich mich erst 1950 an der JuristischenFakultät der Universität Istanbul immatrikulieren ließ.Dennoch bin ich gelegentlich in seine Vorlesungen an derVolkswirtschaftlichen Fakultät gegangen. Er hat diese inTürkisch gehalten. Sein Türkisch war hervorragend, wennauch in seiner Sprache osmanische Wörter dominierendwaren. Auch er hat wie sein Kollege Ernst Hirsch selbst nachlangen Jahren noch ohne Schwierigkeiten Türkisch redenkönnen. Ich hatte die Gelegenheit, dies selber festzustellen,als er 1985 als Ehrengast im Gefolge des ehemaligenBundespräsidenten Dr. Weizsäcker in die IstanbulerUniversität kam und im Festsaal einen Vortrag in Türkischhielt, der über eine Stunde dauerte.

Es sei noch bemerkt, dass Professor Neumark wie auchProfessor Hirsch zur Entwicklung des türkischen positivenRechts sehr viel beigetragen haben. Beide haben an denVorbereitungsprozessen mancher Gesetzesentwürfemaßgeblich teilgenommen. Professor Neumark hat nicht nurden Entwurf des Einkommensteuergesetzes ausgearbeitet,sondern auch in den vierziger Jahren als Berater an derVerwaltungs- und Steuerreform mitgewirkt. Professor Hirschhat sogar zwei Gesetzesentwürfe konzipiert, nämlich dasHandelsgesetz und das Urhebergesetz. Man soll auch nichtvergessen, dass Ernst Hirsch sich für die Fragen desHochschulstudiums besonders interessierte. So hat er bei derAusarbeitung eines neuen Hochschulgesetzes, das diewissenschaftliche, administrative und finanzielle Autonomieder Universität festschrieb, maßgeblich mitgewirkt. Der

Vorsitzende des damit beauftragten Ausschusses war derrenommierte Verwaltungsrechtler Professor Siddik Sami Onar,der zu dieser Zeit Rektor der Istanbuler Universität –und spätermein Chef- war. Dieses 1946 verabschiedete Gesetz hat sichJahre hindurch bewährt und war bis 1973 in Geltung.

Reiner Möckelmann:

Vielen Dank, Herr Prof. Azrak. Vielleicht noch einen Blickzurück, Herr Plagemann. Die Rechtsschulen. Es muss in dieserZeit ein Konglomerat unterschiedlicher Einflüsse in derJuristischen Fakultät gegeben haben. Einmal die islamischeRechtsschule und dann die Einflüsse, die von der deutschen,italienischen, schweizerischen und möglicherweise noch vonanderen Rechtsschulen eingewirkt haben. Wie hat sich dies inder Umbruchsphase der 1930er Jahre gezeigt?

Gottfried Plagemann:

Die verschiedenen Rechtsschulen personifizierten sichsozusagen in der Fakultät durch die Vertreter dieserverschiedenen Rechtsschulen, Professoren und Dozenten, die inden verschiedenen Ländern studiert, promoviert bzw. dortgelehrt hatten. Zu einem richtigen Problem wurde der Zugriff aufverschiedene Rechtsschulen insbesondere im Handelsrecht. Inden 20er Jahren wurde auch ein neues Handelsgesetzbucherlassen, und dabei griff man auf verschiedeneGesetzesordnungen zurück. Die Widersprüche im Gesetz und dieProbleme mit den Rechtstermini und der Systematik des

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Handelsgesetzbuchs regten Prof. Hirsch an, auf diesemGebiet eine neue Systematik zu entwickeln und einen eigenenVorschlag für ein neues Handelsgesetzbuch zu machen. Inseiner Autobiographie berichtet er, wie er die Initiative ergriffund ein neues Handelsrecht konzipierte. Das Konglomerat hatsich ansonsten nicht ganz so drastisch dargestellt wie eserscheint, weil die Gesetze zwar aus verschiedenen Ländernübernommen wurden, aber dies auch verschiedene Bereichedes Rechts betraf. Das bedeutet, es gab ein Strafgesetzbuchaus Italien, ein Zivilgesetzbuch aus der Schweiz usw.,wodurch nicht unbedingt Probleme in der Rechtsanwendungentstehen müssen. Im Zivilrecht führte es zu einem Problemaufgrund der fehlenden Abstimmung zwischen Schuldrechtund Handelsrecht. Das Handelsgesetzbuch ging zudem nachden Berichten auf Übersetzungen verschiedener Personenzurück, die nicht völlig angeglichen wurden.

Sie müssen sich das Sprachproblem dieser Zeit vorstellen.Denken Sie daran, was uns hier gerade von Professor Azrakgeschildert wurde, der seinen Studenten Gesetzestexteübersetzen musste. Das war im übrigen noch viel drastischerbeim Erlass der Gesetze. 1928 gab es die Schriftreform mitder von der arabischen Schrift auf die lateinische Schriftumgestellt wurde. Auch danach wurden grundlegendeGesetze neu erlassen und ab 1929 waren alle offiziellenDokumente in lateinischer Schrift zu schreiben. Sie könnensich also vorstellen, dass ein Abgeordneter, der im Jahr 1929im Parlament war, natürlich eine andere Schrift gelernt hatteund nun Schwierigkeiten mit den Gesetzentwürfen und

Unterlagen in lateinischer Schrift hatte. Die im Parlamentvorgelegten Dokumente waren amtliche Dokumente, die jetzt inlateinischer Schrift vorgelegt wurden. Auch da gab es vielÜbersetzungsprobleme. Also eine Veränderung vondramatischem Ausmaß.

Das Durcheinander der verschiedenen Rechtsschulen hat sichnegativ ausgewirkt, wenn sie direkt nebeneinander gleicheRechtsgebiete und die Rechtsanwendung betrafen. Wie imZivilrecht, wo es keine richtige Anpassung zwischen demZivilgesetzbuch und dem Handelsrecht gab. Ansonsten war dieseVielfalt durchaus förderlich. Schwarz, der selber fürRechtsvergleichung zuständig war, hatte regelrecht großeHoffnung darauf, dass sich diese verschiedenen Rechtsschulendes Zivilrechts gegenseitig ergänzen. Er hatte vor seiner Zeit inIstanbul in Freiburg gelehrt, war aber davor lange Zeit in derSchweiz Vertreter des Lehrstuhls für Zivilrecht und ist auch nachIstanbul berufen worden über eine Anfrage an die Schweiz. Erwar eine Ausnahme unter den Emigranten, denn er ist speziellberufen worden als jemand, der das neu geltende‚schweizerische’ Zivilrecht zuvor gelehrt hat. Neben ihm lehrtenProfessoren und Dozenten, die in Deutschland waren, alsogewissermaßen Vertreter der deutschen Schule sowieProfessoren, die im islamischen Recht ausgebildet waren unddies vorher gelehrt hatten. An der Istanbuler Fakultät warProfessor Ebul’ula Mardin, der einer der großen Professoren fürdas Gebiet des islamischen Rechts war. Er lehrte auch nach derUniversitätsreform an der Istanbuler Universität noch Zivilrechtund war früher an den Reformarbeiten an dem islamischen

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Zivilgesetzbuch des osmanischen Reiches beteiligt. EinMann, der also zweifelsohne beide Rechtsgebiete, dasabendländische Recht und das islamische Recht kannte. DieHoffnung von Schwarz, dass sich daraus eine befruchtendeZusammenarbeit ergibt, hat sich so nicht erfüllt. Dazu war diepolitische Situation nicht geeignet. Der Bruch mit demislamischen Recht war so eindeutig, wie wir es vorher auchüber den Bruch bei der Sprachreform gehört haben. Ein Land,das seine Schrift umstellt, das die Sprache umstellt, und damitzwangsläufig für eine neue Generation Texte von vor 5Jahren nur noch unter Mühen zugänglich macht, hat andereProbleme als sich mit dem Übergang zwischen den Rechtenzu beschäftigen, insbesondere im Sinne rechtsvergleichender,rechtshistorischer Studien. Sonst wäre es für jemand wieSchwarz traumhaft gewesen, sich mit einem Professor desislamischen Rechts auseinander zu setzen, der selberrechtsvergleichend tätig war und mit beiden Gebieten vertrautwar. Schwarz hat einmal in einem Vortrag in den 50er Jahrenüber die Bedeutung von Professoren bei der Entwicklung desRechts darauf hingewiesen, dass das islamische Recht eintypisches Recht ist, das von Professoren, von Juristenentwickelt war, er dazu aber nichts sagen könne. Er habe inIstanbul gelehrt, aber da es in der Türkei kein islamischesRecht mehr gebe, habe er auch keinen Zugang dazu. Und dasbedeutete auch, dass in der Fakultät so etwas nur am RandeThema war. Das mag von Schwarz überbetont worden sein.Er war sicherlich ein Wissenschaftler, der bevor er über eineAngelegenheit geredet hat, sich erst sehr detaillierte Kenntnisverschaffen wollte. Aber er hatte auch zum Ausdruck

gebracht, wie schwierig ein solcher Austausch überhaupt war. Esging darum, etwas Neues zu machen.

Ich möchte noch etwas zur Situation der Emigranten sagen. Hierwurde ja am Anfang auf das Wort „Emigranten“ hingewiesen. Esgab auch die Bezeichnung „Auslandsdeutsche“ für die zu dieserZeit in der Türkei anwesenden Deutschen, weil ja nicht nur ausDeutschland Vertriebene hier in Istanbul tätig waren. Es gabgleichzeitig die Professoren, die aus Deutschland hierhergeschickt wurden. Die deutschen Behörden versuchten massiv,hier Einfluss zu nehmen und die Emigranten, „nicht-arischeElemente“, wie sie genannt wurden, aus den türkischenUniversitäten zu verdrängen. Es gab den Begriff der Emigrantenund der Auslandsdeutschen. Auslandsdeutscher war man, wennman hier im Auftrag des deutschen Staates tätig war. Emigrantwar man, wenn man hierher geflohen war bzw. in diesem Fallüber den Vertrag hierher gekommen war.

Reiner Möckelmann:

Lassen Sie mich zum Thema Auslandsdeutsche oderReichsdeutsche und Emigranten eine Ergänzung vornehmen,zumal wir uns heute Abend im Generalkonsulat, also aufhistorischem Boden, befinden. Zur Zeit der Wissenschaftler-Emigration, also nach der Verlegung der türkischen Hauptstadtnach Ankara, war das frühere deutsche Botschaftsgebäudebekanntlich bereits zum Generalkonsulat umgewidmet worden.In diesem Gebäude waren besonders seit Kriegsbeginn 1939

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überwiegend regimetreue Beamten und zusätzlich NSDAP-und Gestapo-Mitarbeiter aktiv. Sie überwachten dieTätigkeiten der Emigranten, bespitzelten und berichteten übersie nach Berlin. Pikanterweise war das uns direkt benachbarte„Park-Hotel“ Treffpunkt vieler Emigranten: „An den Abendenversammelten sie sich auf der Terrasse des Park-Hotels,ihres Hauptquartiers, in unendliche Gespräche überfröhliche Ereignisse des Tages vertieft oder in stillerandächtiger Bewunderung des Bosporus…“ schreibt PhilippSchwartz in „Notgemeinschaft“. Am Rande darf ichbemerken, dass es mich nach wie vor schmerzt, dass wir seitnunmehr 15 Jahren statt des früheren architektonischgroßartigen Parkhotels eine gigantische Ruine als Nachbarnhaben.

Das Nazi-Regime hat mit allen Mitteln versucht, den Einflussder deutschen Emigranten speziell in Istanbulzurückzudrängen, ihre Stellung an der Universität zuschwächen, Vertragsverlängerungen zu verhindern undregimetreue Professoren, sog. „Reichsprofessoren“,einzusetzen. Markantes Zeugnis hierfür ist der „ScurlaBericht“. Zweimal reiste ein Dr. Herbert Scurla im Auftragdes Reichserziehungsministeriums in Berlin in die Türkei,nämlich 1937 und 1939. In Vorbereitung des 2. Scurla-Besuches und mit Blick auf die anstehendenVertragsverlängerungen der Wissenschafts-Emigranten hatdas Generalkonsulat im Mai 1938 an diese einen Fragebogenverschickt, in dem die Wissenschaftler nach ihrer rassischenHerkunft und Verwandtschaft befragt wurden. Ich zitiere

einzelne Fragen wörtlich: „Sind Sie Arier oder nicht? Sind Sienicht-arisch versippt? Ist Ihre Ehefrau arisch oder nicht-arisch?Ist Ihre Ehefrau nicht-arisch versippt?“ Dieser Fragebogenzeigte, wie man den Rassenwahn der Nazis auf einen alltäglichenVerwaltungsakt reduzieren konnte.

Über die 2. Inspektionsreise schrieb Scurla einen Bericht mitdem Titel „Die Tätigkeit deutscher Hochschullehrer antürkischen Wissenschaftlichen Hochschulen“. Herr Plagemannhat mir diesen Bericht, der in den Akten der Botschaft Ankaragefunden wurde, dankenswerterweise zur Verfügung gestellt. Esist ein Dokument, geschrieben von einem obrigkeitstreuenPolitbeamten, das in aller Deutlichkeit zeigt, wie total dasHerrschaftssystem des Dritten Reiches war. Erlauben Sie mir,hierzu Fritz Neumark in seinen Anmerkungen zum „Scurla-Bericht“ zu zitieren: “Scurlas Bericht macht deutlich, dass esHitler und seinen Gefolgsleuten keineswegs nur darauf ankam,bestimmten Gruppen, wie in erster Linie Juden, in zweitergläubigen Christen, in dritter Liberalen im alten gutenWortsinne, Sozialdemokraten und Kommunisten ihre bisherigeTätigkeit, ja allmählich geradezu die Aufrechterhaltung ihrerphysischen Existenz unmöglich zu machen, sondern sie, auchnachdem sie das Reich verlassen hatten –zumeist beiTodesgefahr verlassen mußten- weiteren Verfolgungenauszusetzen.“

Der „Scurla-Bericht“ zeigt andererseits erfreulicherweise auchdeutlich die Grenzen des nationalsozialistischenHerrschaftssystems in der Türkei. Trotz aller Bemühungen des

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Regimes und seiner Helfer gelang es nämlich nicht, dieexildeutschen Professoren zu entlassen und durch regimetreuezu ersetzen. Der wesentliche Grund lag laut Fritz Neumarkdarin, dass das türkische Erziehungsministerium sich beimAufbau seines Hochschulwesens nicht von Dritten reinredenlassen wollte: „Sie befürchteten –völlig zu Recht- , manwollte ihnen statt fachlich gut ausgewiesener Gelehrter vondeutscher Seite mehr als getreue Nazis, vor allemParteigenossen, denn als wissenschaftliche Expertenbekannte Persönlichkeiten aufschwätzen.“ Scurla stellt dannin seinem Bericht auch resignierend fest: „Im großen Ganzenwird man sich aber damit abfinden müssen, dass dieUniversität Istanbul auf längere Sicht hin keine geeigneteGrundlage für einen deutschen kulturpolitischen Einsatz inder Türkei abgeben kann.“Den Emigranten und nicht den Reichsdeutschen ist es also zuverdanken, dass die Istanbul Universität in den 1930er und1940er Jahren als die beste deutsche Universität galt. DieTatsache, dass international bekannte Wissenschaftler teilsvor Ausbruch des 2. Weltkriegs, teils bald nach dessen Endeaus Istanbul und Ankara einen Ruf in die USA oder in diejunge deutsche Bundesrepublik erhielten, bestätigt die hoheQualität der Emigrationsprofessoren ebenso wie der Umstand,dass Ernst Hirsch und Fritz Neumark zu Rektoren in Berlinbzw. Frankfurt –teilweise mehrmals- gewählt wurden.

Nach diesem Exkurs möchte ich wieder auf die Reform imtürkischen Rechtswesen zurückkommen. Herr ProfessorAzrak, bitte.

Prof. Ülkü Azrak:

Die Modernisierung des türkischen Rechtswesens stellte einengeradezu revolutionären Bruch mit dem traditionellen altenRecht dar. Die Modernisierungsbestrebungen auf diesem Gebietführten notwendigerweise zur Übertragung und Einpflanzungdes westeuropäischen rechtlichen Gedankenguts. Die Trägerdieser Rezeptionsbewegung waren hauptsächlich die Politikerals Wegbereiter der Übernahme des fremden Rechts undJuristen, die bei Ausarbeitung der Gesetzentwürfe sowie bei derEntfaltung der Rechtsprechung und bei der Ausbildung von ammodernen Recht orientierten Nachwuchs beteiligt waren. ImGegensatz zu den Rechtsreformen der osmanischenReformperiode zwischen 1839 und 1900, in der auch einigeeuropäische (d.h. französische) Gesetze wie z.B. dasLandhandelsgesetzbuch, das Seehandelsgesetzbuch,Strafgesetzbuch u.s.w., übernommen wurden, sind dierepublikanischen Rechtsreformen effektiv und erfolgreich, weilvor allem das in der republikanischen Periode rezipierteGedankengut des Westens zum Bestandteil des nationalenRechtswesens geworden ist und somit den Charakter des„Fremden“ gänzlich verloren hat. Es ist zu bemerken, dass dieRezeption des fremden Rechts nicht die automatischeÜbernahme aller Vorschriften eines ausländischen Gesetzesdurch eine bloße Übersetzung derselben darstellte, sondern eswurde eine den einheimischen Bedürfnissen entsprechendeBearbeitung der rezipierten Gesetzestexte vorgenommen, dieetliche Abänderungen derselben zur Folge hatte. Als Beispiel

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kann man in diesem Zusammenhang auf die Übernahme desSchweizerischen Zivilgesetzbuchs hinweisen.

Die Einstellung der deutschen Professoren an der JuristischenFakultät der Universität Istanbul zu der Rezeption will ich aneinigen Beispielen veranschaulichen. Also zuerst zur Positionvon Professor Schwarz in dieser Frage: Schwarz war an derJuristischen Fakultät der einzige Wissenschaftler, der auf demGebiet der Rechtsvergleichung den Lehrmethoden des großenPioniers dieses Fachs Edouard Lambert folgend, wertvolleArbeiten geschaffen hat. Seine Vorlesungen inRechtsvergleichung widmete er größtenteils der Rezeptionund Assimilation des fremden Rechts. Auf die Übernahmeder ausländischen Gesetze in der Türkei bezugnehmendbrachte er die Bedeutung dieses großen Ereignisses desvorigen Jahrhunderts ans Tageslicht. Obwohl er kein Partisander Rezeption des fremden Rechts war, hat er alsaufmerksamer und nüchterner Beobachter der sozialenTatsachen und als Humanist die Vereinheitlichung undUniversalisierung aller sozialen Bereiche und insbesondereder Rechtsprinzipien für wünschenswert gehalten. Er wäresicherlich sehr glücklich gewesen, wenn er die aktuelleEntwicklung der Rechtsangleichung in der EU hättebeobachten können.

Aber nun zurück zur Rechtsrezeption in der Türkei. ProfessorSchwarz hat aus den vorhin erwähnten Gründen auch dieÜbernahme des ausländischen Rechts in der Türkei positivbewertet und befürwortet. Seine lakonischen Worte, im

Zusammenhang mit der Übernahme des schweizerischenZivilgesetzbuchs ausgesprochen, möchte ich hier zitieren:

„Welche Entwicklung dieses Rechts, das sich in den kaltenHochtälern der Alpen geformt hat, hat dazu Anlass gegeben ineinem Land, dessen meridionale Sonne eine warme Atmosphäreverbreitet, aufgenommen zu werden!? Ob die Anpassung ihresRechts an die fremden Verhältnisse eine Ähnlichkeit mit derhistorischen Tatsache hat, dass die römischen Juristen ihr Rechtan die völlig verschiedenen Kulturen angepasst hatten?!“

Was die Einstellung von Professor Hirsch zu der Rezeptionanbetrifft, so muss man bemerken, dass er sich auch in dendreißiger und vierziger Jahren für die Modernisierung destürkischen Rechts eingesetzt hat und dazu wohl nicht einedirekte Übernahme des fremden Rechts, aber die Orientierungder neuen Gesetzgebung an den Regelungen der europäischen,besonders deutschen Gesetze befürwortet hat. Das von ihmverfasste und erst nach seiner Rückkehr nach Deutschland vomtürkischen Parlament verabschiedete Handelsgesetzbuch vom29.06.1956, das noch in Geltung ist, trägt offensichtlich dieSpuren von Grundlinien des deutschen Handelsgesetzes.

Gottfried Plagemann:

Vielleicht dazu gleich ergänzend: Wenn wir Emigrantenbetrachten, allgemein in dieser Zeit, die vor dem NS-Regimefliehen mussten, dann begegnet uns die Unruhe und Fremdheitder Vertriebenen, wie sie heute in der Einführung kurz erwähnt

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wurde. Sie müssen sich in eine Umgebung einpassen, die sienicht gewählt haben, sie müssen sich auf die neuenVerhältnisse einstellen und ihre Tätigkeit an dem neuen Landausrichten. Die Emigranten in der Türkei, die an dietürkischen Universitäten berufen worden waren, hatten imGegenteil den Auftrag, ihre Tätigkeit fortzusetzen. Sie solltenan ihrer bisherigen Lehre und Forschung anknüpfen. DieUniversität und die Studenten sollten sich an derRechtskultur, der Tradition und der Rechtsgeschichteorientieren, welche die Emigranten ‚mitbrachten’. Wenn ichin ein fremdes Land gehe und dort in irgendeiner Form an derWissenschaft, an der Lehre oder an anderen Dingenteilnehme, ist mit Sicherheit ein wesentlicher Punkt, michdort mit den bestehenden Verhältnissen vertraut zu machenund mich an diese Situation anzupassen. Und dieses Problemhatten die Emigranten natürlich auch, sprachlich und inanderer Hinsicht. Aber, dass sie hierher gerufen wurden, umanknüpfend an ihren eigenen Traditionen und an der Formihrer Lehre, was ein sehr wichtiger Punkt war, ihre Arbeitfortzusetzen, war für diese Emigranten natürlich eine Chanceund sicherlich auch ein Grund dafür, dass es so effektiv war.Dazu kam natürlich die Zwangssituation und die fachlicheGröße dieser Leute. Es gab in der Türkei auch vorher schonVersuche, über ausländische Professoren die Universitätweiterzuentwickeln. Vor und bis zum Ersten Weltkrieg warenauch deutsche Professoren hier, an deren Tätigkeit viel Kritikgeübt worden war. Sowohl in Bezug auf ihre eigene

Arbeitsmotivation als auch in Bezug auf die vorgefundenenBedingungen waren sie jedoch in einer völlig anderen Situation.

Ich möchte hier noch einmal bei der Sprache anknüpfen. Vieleder Professoren konnten der Auflage nicht nachkommen, in dreiJahren Türkisch zu lernen, geschweige denn, dann in Türkischzu lehren oder Lehrbücher zu verfassen. Schwarz hat bis zumEnde seiner Tätigkeit 1953 in Französisch oder Deutsch gelehrt,wie andere auch, etwa der französische Professor CharlesCrozat, der bereits seit dem ersten Weltkrieg hier war und auchimmer in Französisch gelehrt hat. Aber ihre Tätigkeit wurde übereinen ganz anderen Weg sehr viel effektiver. Über dieAssistenten und Übersetzer, die im allgemeinen bereits in diesemBereich ausgebildet waren, die selber ihren Doktor inDeutschland, in der Schweiz oder in anderen Ländern Europasgemacht hatten, die nicht nur in den Vorlesungen direkt übersetzthaben, sondern auch die Lehrbücher übersetzt haben undnatürlich auch für die deutschen Professoren wiederum insDeutsche oder ins Französische, was die gängigere Sprachedamals war, übersetzen mussten. Diese Leute waren eigentlichdiejenigen, welche der Arbeit dieser Emigranten eine dauerhafteWirkung gegeben haben. Leute wie Veldet Velidedeoğlu oderBülent Davran, Dozenten oder Assistenten, die später auch alsProfessoren mit ihnen zusammengearbeitet haben, die meistensauch an Gesetzgebungsaktivitäten beteiligt waren, die also aucheine prägende Rolle im türkischen Recht gespielt haben. Das warder eigentliche Rahmen, in dem die Tätigkeit der Emigrantensich wirklich in der Praxis entfaltete, weil die meistenProfessoren eben nicht über diese außerordentlichen

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Sprachfähigkeiten wie Hirsch und Neumark verfügten, diedirekt diesen Schritt gehen konnten, indem sie sich an derGesetzgebung beteiligt haben.

Reiner Möckelmann:

Herr Professor Azrak, wenn man ihr perfektes Deutsch hört,kann man kaum glauben, dass Sie bei Andreas SchwarzPrüfungen in Französisch abgelegt haben. Wie können wiruns solche Prüfungen vorstellen? Sie wurden damalsnatürlich noch nicht von DAAD und Humboldt gefördert,insofern war im Zweifel Ihr Französisch besser als IhrDeutsch.

Prof. Ülkü Azrak:

Das kann man nicht sagen. Meine Französischkenntnissewaren und sind noch recht lückenhaft. Aber wie bei seinenVorlesungen war auch bei der mündlichen Prüfung einAkademiker dabei, der übersetzt hat. Es ist erstaunlich,welche Unermüdlichkeit und Geduld Professor Schwarz beiden mündlichen Prüfungen hatte. Wir waren im 1. und 2.Semester fast 800 Studenten und Studentinnen im Hörsaal.Davon haben sich etwa 500 der Prüfung unterzogen. Er hatfast 10 Tage am Tisch gesessen und seine Schüler mündlichgeprüft. Ich war auch bei der mündlichen Prüfung dabei. Erhat mir fast 20 Fragen gestellt, kurze, aber viele Fragen. Ichhatte nur einen einzigen Fehler gemacht. Er hatte michnämlich gefragt, mit wie viel Jahren man im alten Rom seine

Pubertät erreichte. Lateinisch: Pubertas. Statt 14 habe ich – ohnerichtig zu überlegen – 17 gesagt. Er hat mich zweifelndbetrachtet und gesagt: „Meinen Sie?“ auf französisch, insTürkische übersetzt versteht sich. Ich habe gezögert. Daraufhinhat er gesagt: „Also diese Antwort hat Sie ruiniert“. Ich habe imMoment gedacht, ich bin durchgefallen. Am nächsten Tag habeich auf die Prüfungsliste geschaut – statt die Note „sehr gut“hatte ich nur „gut“ bekommen. Aber er hatte gemeint, ich seiruiniert. Anscheinend wollte er mir die Note „sehr gut“ geben,aber er war enttäuscht.

Professor Schwarz war einer der größten Romanisten der Welt.Die Originalität seiner Arbeit auf dem Gebiet des RömischenRechts bestand vor allem darin, dass sie das moderne Recht andas Recht des Altertums anknüpfte, so dass die Wurzeln derPrinzipien des zeitgenössischen Rechts deutlich zum Vorscheinkamen. Er versuchte auch in seinen Arbeitsgemeinschaften dieRegeln des Römischen Rechts auf die praktischen Fälleanzuwenden. Diese Lernmethode erschien uns so interessant,dass der Hörsaal immer vollbesetzt war.

Es ist auch sehr bemerkenswert, wie er im Rahmen seinesRechtsvergleichungsunterrichts die Anknüpfung des türkischenan die Quellen des europäischen Privatrechts darlegte. Seinbesonderes Augenmerk richtete sich auf die Rezeption desSchweizerischen Zivilgesetzbuches, das ja unter dem römisch-germanischen Einfluss entstanden ist. Schwarz hat allerdings inverschiedenen Artikeln auf den grundlegenden Unterschiedzwischen dem BGB und ZGB hingewiesen der darin bestand,

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dass das ZGB im Gegensatz zum BGB keinen kasuistischenCharakter hat. Ich kann mich noch daran erinnern, dass er inseinem 1952 in der Juristischen Fakultät gehaltenen Vortragfolgende interessante Bemerkung gemacht hat: „DieLanglebigkeit eines Gesetzes hängt davon ab, dass es keinesteifen und bis in alle Einzelheiten gehenden, sondern flexibleVorschriften enthält. Die Gesetzeslücken sind keine negativeErscheinung, wie man es üblicherweise annimmt. Einüberzeugender Beweis dafür ist das SchweizerischeZivilgesetzbuch. Es hat große Ähnlichkeit mit demSchweizerischen Gruyère-Käse, der große und kleine Löcherhat. Deshalb war es zutreffend, dass die Türkei dasSchweizerische Zivilgesetzbuch übernommen hat“.

Reiner Möckelmann:

Zum Nutzen der Türkei, würde ich sagen.

Prof. Ülkü Azrak:

Ja, genau. Und die Rezeption des SchweizerischenZivilgesetzbuches in der Türkei hat sich bewährt und wurdeentsprechend fortgeführt und weiterentwickelt. Aber ichwollte an dieser Stelle eine kurze Bemerkung zumosmanischen Recht machen. Es ist erstaunlich, wie bewandertdie osmanischen Rechtsgelehrten damals im westlichen Rechtwaren. Es gibt gewisse Beweise dafür, dass sie das RömischeRechtdoch gewissermaßen gut kannten. Zum Beispiel das aus1851 Artikeln bestehende sehr umfangreiche osmanische

Gesetz „Medjelle“, das hauptsächlich von Cevdet Paşa verfasstwurde und 1876 in Kraft trat, enthielt eine sehr interessanteVorschrift, wonach derjenige, der aus einem Geschäft Nutzenzieht, auch die daraus entstehenden Schäden tragen muss. Daswar auch ein wichtiges Prinzip des Römischen Rechts gewesen.Es gibt in diesem Zusammenhang auch andere beispielhafteParallelen, auf die ich hier nicht eingehen will.

Gottfried Plagemann:

Ich möchte anknüpfen an Ihre Äußerungen über Schwarz, überdas Schweizerische Zivilgesetzbuch und den Käse. Schwarz hatdies nicht nur in Bezug auf die Türkei sondern auch allgemein sovertreten. Er war jemand, der in diesem Punkt auch das deutscheZivilbuch, das Bürgerliche Gesetzbuch kritisiert hat. DiesesThema ist ein Thema, was für ihn – glaube ich – besonders hartwar. Für die Emigranten gab es generell die Schwierigkeit, dassfür sie natürlich der Blick in die Heimat wichtig war, mit sehrunterschiedlichen Gefühlen. Es gibt unter Emigranten immer dieGruppe, die große Hoffnung auf Veränderungen in der Heimatsetzte -auch in der Gruppe der Professoren und Emigranten, diein die Türkei gekommen sind. Der bekannteste darunter istsicherlich Ernst Reuter, der sehr schnell zurück wollte und auchsehr schnell zurückgekehrt ist. In Istanbul ist mir nur einer nochbekannt: Ernst Engelberg. Ein Historiker, der in die DDRgegangen ist und dort ein berühmter Historiker wurde. Dieanderen mussten sehr lange warten, bis sie überhaupt wiederdorthin konnten. Es war nicht so einfach, nach dem Krieg nachDeutschland zu reisen und dafür bei den Alliierten die benötigten

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Genehmigungen zu bekommen. Während ihrer Emigrationhaben die Emigranten natürlich versucht, die Entwicklung inDeutschland zu verfolgen. In Deutschland gab es eine heftigeAuseinandersetzung über das deutsche Zivilrecht, über dasBürgerliche Gesetzbuch und den Versuch, dort während desDeutschen Reiches das Bürgerliche Gesetzbuch durch ein sogenanntes Volksgesetzbuch zu ersetzen. Die Personen, diedaran beteiligt waren, waren Personen, die Schwarz natürlichkannte. Diese Beteiligungen, die im Einzelnen durchaus aufwissenschaftlichen Überlegungen beruhten, fanden natürlichin einer Form im Nazireich statt, die sich zumindest an demRegime orientierte. Als Schwarz diese Entwicklungmitbekam, war er darüber offensichtlich verärgert. Das ist mirvon einem Manuskript bekannt, das ich eingesehen habe, daser mit den Worten ‚Nach dem Sturz des Nazi-Reiches zuveröffentlichen’ überschrieben hatte. Er ging offensichtlichfest davon aus, dass der Tag kommen und er dann auchwieder Gelegenheit haben würde, dort zu veröffentlichen. Erhatte in seinen Notizen aufgeführt, dass es Bestrebungen gibt,den allgemeinen Teil des Bürgerlichen Gesetzbuchesabzuschaffen. Dazu kurz zur Erläuterung: Das BGB zeichnetsich dadurch aus, dass es einen sehr ausführlichenAllgemeinen Teil hat. Es ist sozusagen unter denZivilgesetzbüchern Europas dasjenige, das in seinemsystematischen Teil am Extremsten ausformuliert wurde unddeshalb auch ein geschlossenes System geschaffen hat, dasam schwierigsten zu übertragen war – im Gegensatz zumSchweizer Recht, was sehr viel offener war fürVeränderungen. Er notierte dort in diesem Manuskript, das

nie veröffentlicht wurde, dass in diesem Artikel daraufhinzuweisen ist, wer von diesen Professoren dort jetzt dazuStellung nimmt und vorher eine andere Stellung genommen hat,und die auch als Nazis zu charakterisieren sind. Später, wenn erüber die Bedeutung des Allgemeinen Teils des Zivilrechtsschrieb – und darüber hat er auch in der Türkei geschrieben undveröffentlicht – taucht dies nicht mehr auf. Seine Schriftenwurden 1960 von Professor Wieacker veröffentlicht, einemProfessor, der auch an der Arbeit zur Veränderung des BGB inder Nazizeit beteiligt war. Schwarz selber hat nach dem KriegPaul Koschacker nach Ankara gebracht, der dort RömischesRecht gelehrt hat, und den er vorher schon kannte, und derebenfalls ein prominenter Jurist während des Nazi-Reichs war.Schwarz hat später sehr viel vorsichtiger über das Ganzegeschrieben. Man könnte sagen „der Zorn ist verraucht“.Vielleicht hatte er auch manche Entwicklung im Einzelnenanders betrachtet. Man kann sich aber vorstellen, in welcherSituation jemand ist, dessen zentrales Arbeitsgebiet dort berührtist, dessen Lehrstuhl inzwischen von jemand anderem besetzt ist,der selber dieses Gebiet gelehrt hat, der gerne dazu etwas sagenwürde und der feststellt, wie in eine bestimmte politischeAtmosphäre und Öffentlichkeit eingebunden diese Diskussiongeführt wird und er dort nicht eingreifen kann. Das ging soweit,dass ein Aufsatz von ihm zu diesem Thema in einer Festschriftfür den griechischen Zivilrechtler Georgios Streit nichtveröffentlicht wurde, weil der geplante zweite Band derFestschrift nie erschien. Sämtliche Umstände der Herausgabedieser Festschrift sind mir nicht bekannt, aber Schwarz sollte1940 seinen Beitrag abliefern, 1941 wurde Griechenland besetzt.

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Auch das dürfte ein Grund dafür gewesen sein, warum dieserAufsatz nicht veröffentlicht wurde. Das ist auch ein Hinweisauf die schwierige Lage der Emigranten, die auch in Istanbulihre Arbeit unter der ständigen Bedrohung des Nazireichesverrichteten.

Reiner Möckelmann:

Ich würde gern wieder in die Türkei zurückkommen, konkretin diesen Saal. Ich sehe im Publikum viele Persönlichkeiten,die mittelbare oder unmittelbare Erfahrungen mit den von unsbehandelten Juristen haben. Vielleicht können Sie uns einenweiteren Einblick in das Verhältnis der deutschen Professorenzu den türkischen Kollegen, Assistenten, Übersetzern undStudenten geben. Um ein Stichwort zu geben: Ernst Hirschspricht in seiner sehr lesenswerten Biografie „Aus desKaisers Zeiten durch die Weimarer Republik in das LandAtatürks“ davon, dass er sich bei seinenVertragsverhandlungen ausbedungen hatte, seineLehrmethoden aus Frankfurt, wo er ja zuletzt lehrte, auch inIstanbul praktizieren zu können. Er wünschte die freieAnsprache an die Studenten und nicht das Verlesenvorgefertigter Texte. Er suchte die Diskussion mit denStudenten und hat so auch seine Prüfungen durchgeführt, wasanfangs auf große Skepsis des Dekans stieß.

RA Alparslan Öktener

Ich bin ja ein alter Schüler von Herrn Professor Schwarz und beiHerrn Prof. Neumark habe ich Finanzwesen gehört. Bei HerrnProf. Neumark z.B. war es sehr interessant. Er konnte sehr freisprechen, sich sehr leicht verständlich machen und war imTürkischen grammatikalisch fehlerfrei. Es bestand ein sehrfreundschaftliches Verhältnis zwischen ihm und den Studenten.Bei Herrn Prof. Schwarz hatte ich 2 Jahre Zivilrecht studiert. Erhielt seine Vorlesungen für das Römische Recht in französisch,für das Zivilrecht auf deutsch, was durch den verstorbenenProfessor Bülent Davran übersetzt wurde. Wir als Studentenhaben das immer als eine Gnade Gottes erfasst, dass wir bei ihmZivilrecht studieren durften. Wir haben die besten Erinnerungenhieran.

Reiner Möckelmann:

Und wie ist das mit den Lehrbüchern? Werden die heute nochbenutzt?

RA Alparslan Öktener:

Ja, auf jeden Fall. Herr Professor Azrak sagte eben, dass für dieAusarbeitung des Einkommensteuerrechts Fritz Neumarkmaßgeblich war. Für mich sind die Bücher des Herrn Prof.Neumark immer noch geltende Lehrbücher, obwohl allesgrundsätzlich geändert wurde. Er ist für mein Verständnis derGründer des Steuerrechts bei uns. Ähnliches gilt auch für die

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Bücher des Herrn Professor Schwarz, obwohl sie weniger anZahl sind im Vergleich zu denen anderer Professoren.

Prof. Ülkü Azrak:

Ich möchte dazu bemerken, dass Professor Neumark seineBeziehungen zur Istanbuler Universität niemals abgebrochenhat und als Gastprofessor sowie als Vortragsredner öfter nachIstanbul gekommen ist. Wie ich schon gesagt habe war erzum letzten Mal beim Besuch von Herrn BundespräsidentenDr. von Weizsäcker in Istanbul – gemeinsam mit ihm. Da hater hier einen Vortrag gehalten und dabei unterstrichen, dassdas neue Einkommensteuergesetz durch unzähligeÄnderungen mit dem von ihm ausgearbeiteten überhauptnichts mehr zu tun habe.

RA Alparslan Öktener:

Leider!

Prof. Ülkü Azrak:

Nebenbei hat er bemerkt, dass die galoppierende Inflationdem türkischen Staat nicht zu unterschätzende ökonomischeSchwierigkeiten bereitet. Er hat auch die öfter durchgeführteAbwertung der Lira in der Türkei scharf kritisiert und gesagt,„er frage sich, wie die Türken mit dieser Währungzurechtkommen.“ Das sei ihm ein Rätsel.

RA Alparslan Öktener:

Wunder geschehen! Ähnlich ist es mit der Abgabenordnung. Sieist völlig geändert. Heute können selbst die großenFinanzfachleute nicht die Zusammensetzung der verschiedenenParagraphen verstehen. Das ist für mein Verständnis leider einFehler und ein Mangel dieser Ordnung.

Reiner Möckelmann:

Das ist aber kein türkisches Privileg. Das kennt man ausDeutschland auch, und die Steuerberater leben sehr gut davonbei uns.

RA Alparslan Öktener:

Ja, aber in Deutschland hat man wenigstens den Zusammenhangmit dem alten und dem neuen Text wenn man was finden will.Bei uns ist dieses Verhältnis völlig verloren. Leider.

Prof. Ülkü Azrak:

Unter den Zuhörern befindet sich Herr Prof. Ansay. Er warbestimmt ein Schüler von Herrn Hirsch oder sogar von HerrnKoschaker in Ankara.

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Prof. Tuğrul Ansay:

Ich war Schüler von Professor Hirsch und später einige Zeitsein Assistent in Ankara. Nach seiner Emeritierung habe ichihn mehrmals in Berlin gesehen und ihn in seiner Wohnungim Schwarzwald besucht.

Als Professor Hirsch nach Ankara kam war ich noch einKind. Mein Vater war damals Professor an der JuristischenFakultät der Ankara Universität. Durch ihn habe ich Prof.Hirsch näher kennen lernen können. Er hat mich damals jedenSamstag zum Konzert in die Hochschule für Musikmitgenommen. Der Leiter des Philharmonischen Orchesterswar Dr. Praetorius. Dort habe ich mit Hilfe von Prof. Hirschmeine erste Begegnung mit der Musik gehabt. Außer Prof.Hirsch kannte ich einige andere Emigranten durch meinenVater und den Stadtteil, in dem wir gewohnt haben. Einerdieser Emigranten war Carl Ebert. Warum ich Carl Ebertnicht vergessen habe? Er hatte zwei sehr hübsche Töchter!Ein weiterer Emigrant war Prof. Walter Ruben. Er war unserNachbar und hatte zwei Söhne, mit denen ich damals inunserem Garten gemeinsam gespielt habe. Hieran habe ichschöne Erinnerungen.

Als ehemaliger Schüler von Prof. Hirsch habe ich angenehmeErinnerungen an ihn. Ich habe viel von ihm gelernt. Späterkonnte ich noch besser beurteilen, wie viel er für dieEntwicklung des türkischen Rechts getan hat. Er hat erstensein Rechtswörterbuch geschaffen, das auch heute noch

gebraucht wird. Dann hat er an der Juristischen Fakultät dieBibliothek gegründet. Und schließlich hat er erstmalsRechtsmethodologie als Pflichtfach eingeführt. Dies waren diedrei Grundsäulen für die Entwicklung des türkischen Rechts,weshalb man Prof. Hirsch nicht vergessen kann, nicht alsHandelsrechtslehrer und nicht als Autor zur Rechtsphilosophieund Rechtssoziologie. Seine Bücher waren gut, aber seineLeistung als Lehrer in diesen drei Bereichen waren besonders.

Gegen Ende des 2. Weltkrieges wurden einige von dendeutschen Wissenschaftlern interniert. Sie wurden gezwungen, ineiner kleinen Ortschaft in Zentralanatolien zu leben. Von diesenInternierten habe ich einen später in Hamburg kennen gelernt. Erhieß Cornelius Bischoff. Als ich ihm erstmals begegnet bin, habeich ihn gefragt, wo er sein Deutsch gelernt habe. Er antwortete,dass er Deutscher sei und Türkisch in der Türkei gelernt habe. Ergehörte nämlich zu den Internierten, die in Çorum wohnenmussten.

Reiner Möckelmann:

Vielen Dank, Herr Prof. Ansay. Cornelius Bischoff war letztesJahr bei uns im Generalkonsulat gewesen und hat zusammen mitYaşar Kemal einen sehr lebendigen Abend gestaltet, den wirauch schriftlich aufgezeichnet haben. Seit nunmehr mehr als 20Jahren ist Cornelius Bischoff ein begnadeter Übersetzer vonYaşar Kemals Werken. Er übersetzt ihn auch jetzt noch. Er hat10 Jahre in der Türkei gelebt und auch ein paar Semester an derJuristischen Fakultät der Istanbul Universität studiert. Zuvor ist

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er bezeichnenderweise auf die St. Georg-Schule gegangen, da– wie er sagte - die Deutsche Schule seinen Eltern zuregimetreu war und dort zu viele Kinder von Nazisunterrichtet wurden. Sein Vater war nämlich alsSystemgegner mit der Familie 1939 von Hamburg nachIstanbul emigriert. Cornelius Bischoff ist ab August 1944, alsdie Türkei zu Deutschland die Beziehungen abgebrochen hat,pikanterweise zusammen mit den Reichsdeutschen, die nichtausreisen wollten oder konnten, in Çorum interniert worden.Wie Herr Bischoff uns im Januar 2004 beim Leseabend imKonsulat mitteilte, war der Besuch in diesem Gebäude dererste nach 50 Jahren, den er ohne -wie er sagte- „ein flauesGefühl im Magen“ vorgenommen hat.

Prof. Ülkü Azrak:

Die Exilprofessoren, die deutschen Professoren, waren inIstanbul auch zeitweise sehr beunruhigt, denn das Exil inIstanbul war ja kein Wartesaal erster Klasse. Der lange Armder Nazis reichte dafür aus, hier die Exildeutschen unterKontrolle zu halten. Sogar die hiesige Hitlerjugend warzeitweise sehr subversiv und hat die Exilprofessorenirgendwie kontrolliert. Deswegen musste die türkischeRegierung auch die Einreise der Deutschen zu dieser Zeitstreng kontrollieren, damit keine Nazi-Anhänger oderFunktionäre in die Türkei kamen.

Gottfried Plagemann:

Vielleicht darf man ergänzen, dass es ja 1941 sogar zurAusbürgerung der im Ausland lebenden deutschen Juden kam.Diese Ausbürgerung hatte zur Folge, dass diese Leute allestaatenlos wurden und das hatte aufenthaltsrechtliche Problemezur Folge. Sie hatten keinen Pass mehr und ohne Pass verliertman sein Aufenthaltsrecht. Das galt damals auch für die Türkei,jedoch nicht für diese Professoren, die damit in einer besonderenSituation unter den Emigranten waren. Sie verloren zwar auchihre deutsche Staatsangehörigkeit, die Türkei knüpfte daranjedoch nicht den Verlust der Aufenthaltserlaubnis, wie beianderen Emigranten. Es gab nämlich einige, die in diesemZusammenhang in der Türkei waren, ihre Staatsangehörigkeitund damit ihren Pass verloren haben und dann ausreisenmussten. Die hierher berufenen Professoren wurden ganzeindeutig von der Türkei geschützt. Aber sie kannten natürlichauch andere aus der deutschen Gemeinde, die hierher gekommenwaren, die hier geblieben waren oder hier her geflohen warenund kannten auch Leute, die dann gehen mussten.

Es gab nur eine ganz kleine Gruppe unter den deutschenEmigranten, welche die türkische Staatsangehörigkeitangenommen hat. Hierzu gehörte Professor Hirsch, dem dieVerleihung der türkischen Staatsangehörigkeit etwa 5 Jahre nachseinem Einbürgerungsantrag mitgeteilt wurde – überraschend. Erwurde in ein Büro gerufen und grübelte, was ihm dort wohlwiderfahren würde und dann von einem ehemaligen Schüler vonihm freudig begrüßt wurde, der ihm mitteilte, dass er jetzt

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türkischer Staatsbürger geworden sei. Dies war im Jahr 1942.Er könne sich jetzt seinen Pass abholen. Da muss er ihn sehrverblüfft angeschaut haben, so dass die Gegenfrage kam:„Freuen Sie sich denn nicht?“ Aber er hatte wohl nach 5Jahren nicht mehr damit gerechnet.

Die türkische Staatsbürgerschaft hatte auch negativeAuswirkungen, denn die besondere Situation derausländischen Professoren war auch eine besonderefinanzielle. Die Schwierigkeiten der Universität in der Türkeilagen ja nicht einfach an einer allgemeinenArbeitsunwilligkeit oder Haltung der Lehrenden, sondernhatte zum Teil ganz banale materielle Gründe. Die türkischenProfessoren, insbesondere in der alten Universität, warenmeistens auch als Anwälte, wenn sie Juristen waren, oder inanderer Form tätig. Und das hatte materielle Hintergründe.Hirsch hat nach Annahme der türkischen Staatsangehörigkeitals erstes bestimmte Prüfungen abgelegt, um als Anwaltzugelassen zu werden. Er wurde dann nach Ankara berufenund trat in Verhandlung mit dem Minister, dem er sagte:“Das ist schon gut, was Sie alles vorhaben mit mir, was ichlehren soll an dieser Universität, aber ich muss doch auchnoch als Anwalt arbeiten!“ Das hat nun wiederum denMinister irritiert, der ihn fragte, wie er denn das zu verstehenhabe. Aufgrund dieser finanziellen Probleme wurde einGesetz erlassen, mit dem Professoren türkischerStaatsangehörigkeit, die als Ausländer in die Türkeigekommen waren, ein höherer Lohn zugesprochen werdenkonnte. Weswegen also diese Frage der Staatsangehörigkeit

für ihn auf der einen Seite ein Privileg und auch eine Ehre war,die er als solche angenommen hat, aber auch durchaus Nachteilehatte.

Reiner Möckelmann:

Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang ein Wort zu demheute Abend verschiedentlich erwähnten Ernst Reuter sagen. Alsein vom Nazi-Regime Verfolgter war er 1935 zunächst alsVerkehrsexperte nach Ankara gekommen und hat später an derHochschule für Politische Wissenschaften am neu eingerichtetenLehrstuhl für Städtebau und –planung gelehrt. Schon in Ankarahat er sich als früherer Oberbürgermeister von MagdeburgGedanken um Deutschland nach der Nazizeit gemacht und wolltefrüh nach Deutschland zurück, um dort wieder politisch tätig zuwerden. Deshalb hat er auch den deutschen Pass behalten,obwohl ihm 1942 und 1944 die türkische Staatsangehörigkeitangeboten worden war. Als er Ende 1946 nach Berlinzurückging und dort für das Amt des Oberbürgermeisterskandidierte, hat die kommunistische SED ihm unterstellt, dass erdie türkische Staatsangehörigkeit erworben habe und damit nichtwählbar sei –so im Titel des kommunistischen ‚BerlinerVolksblatts’ mit der Frage:“Wird ein Türke BerlinsOberbürgermeister?“ Als Reuter auf seinen deutschen Passverwies, wurde er dann perfiderweise als ‚Papens Schützling’,also als Protegé des zwielichtigen deutschen Botschafters inAnkara, Franz von Papen, diffamiert. Ernst Reuter sprachübrigens wie Ernst Hirsch ein sehr gutes Türkisch. In Ankarahaben beide sich ab 1942 häufig gesehen, in Berlin, wohin

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Reuter ihn an die FU holte, dann nur noch kurz, da Reuterbereits 1953 gestorben ist.

Aber nochmals zur Einbürgerung von Ernst Hirsch, der dentürkischen Paß übrigens auch in Berlin behielt: Er soll beiEntgegennahme der türkischen Einbürgerungsurkunde mitBlick auf die Gehaltssituation gesagt haben: „Ne mutluTürküm diyene…und jetzt nur noch die Hälfte meinesbisherigen Gehalts zu verdienen“.

Prof. Ülkü Azrak:

Ja, wahrhaftig! Das Gehalt von Professor Hirsch wurde starkreduziert nachdem er die türkische Staatsangehörigkeitangenommen hat. Er war sehr unglücklich darüber. Abernicht nur das. Wie er in seiner 1982 unter dem Titel „Aus derKaisers Zeiten durch Weimarer Republik in das LandAtatürks“ erschienenen Autobiographie erzählt, war er nachdem Erwerb der türkischen Staatsangehörigkeit derWehrpflicht unterstellt worden und musste deswegen jedesJahr zur Musterung beim Wehrbezirksamt erscheinen.Wehrdienst musste er jedoch nicht leisten. Übrigens hat erneben seiner deutschen Staatsbürgerschaft auch die türkischebis zu seinem Tode beibehalten, d.h. er war Doppelstaatler.

Gottfried Plagemann:

Mir wurde von einer Professorin berichtet, die später zu HirschKontakt hatte, dass das auch ein Faktor für seine Rückkehr nachDeutschland war. Die finanziellen Verhältnisse selbst in derprivilegierten Form waren doch nicht ganz so, wie er es sich daserträumt hat, und auch existierten die Ausstattungsprobleme.Seine Verbindung mit der Türkei blieb jedoch auch nach seinerRückkehr nach Deutschland bestehen. Er veröffentlichteweiterhin auch über Türkisches Recht, so über die türkischeVerfassung von 1961 mit Kommentar wie auch über dieVerfassung von 1982. Herr Professor Azrak kann uns vermutlichauch seine Stellungnahmen dazu übermitteln.

Reiner Möckelmann:

Herr Professor Azrak, lesen Sie uns doch bitte mal aus dem Briefvon Ernst Hirsch an Sie vor. Dieser ist aus dem Jahre 1982 undzeigt Hirschs klare Haltung zur damaligen Regierung.

Prof. Ülkü Azrak:

Ja, Herr Professor Hirsch hat mir am 15. Februar 1982 ausseinem Altersitz in Königsfeld im Schwarzwald einen Briefgeschrieben. Ich lese diesen vor:

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„Lieber Herr Dr. Azrak,ich fürchte, dass ich Ihren ausführlichen Brief vom 31.12.noch nicht bedankt und beantwortet habe. Gestern fiel er mirbei Durchsicht eines Aktenstücks in die Hände. „Kusurabakmayiniz“! Jedenfalls danke ich Ihnen sehr herzlich fürIhre Ausführungen, die mir ein Beweis dafür waren, dass ichdas Gesetz über das Hochschulwesen richtig verstandenhabe. Ich habe nämlich einen Aufsatz über das Gesetzgeschrieben, der voraussichtlich im Juni in der Zeitschrift“Wissenschaftsrecht, Wissenschaftsverwaltung ,Wissenschaftsförderung“ erscheinen wird. Eine Übersetzungund Veröffentlichung in der Türkei kommt unter demgegenwärtigen Regime nicht in Frage, da ich die Lösung derProbleme auf dem eingeschlagenen Weg sehr scharf – auchpolitisch – kritisiert habe. Der Aufsatz trägt als Motto denSatz von Karl Jaspers: „In einem totalitären, autoritären,diktatorischen Staat sind echte Universitäten nicht möglich“.Was werden Sie tun?

Ich hoffe, dass es Ihnen und Ihrer Frau nebst Kinderngesundheitlich gut geht. Leider kann ich das von meiner Frauund mir nicht sagen. Wir sind alt geworden. Ich habe meinen80. Geburtstag feiern können. Da hat man ebenAltersbeschwerden. Aber solange ich noch arbeiten kann,will ich nicht klagen.

Mit nochmaligem Dank und herzlichen Grüßen

Ihr Ernst Hirsch

PS: “Yüksek Öğretim Kurumları“ würde ich nicht mitGesamthochschule (Einzahl) übersetzen sondern mit Hochschul-Anstalten (Mehrzahl)

Ja, ein schönes Dokument. Er hat sich zum Regime geäußert unddann eben herausgestellt, dass Hochschulfreiheit in einerDiktatur unmöglich ist.

Reiner Möckelmann:

Beim Blick ins Publikum frage ich mich, ob sich unter Ihnennoch jemand angesprochen fühlt, speziell zu den Juristen oderauch zu den Exilanten generell etwas anzumerken. Wir solltennämlich auch nicht die Künstler vergessen -Professor Ansay hatCarl Ebert erwähnt – die sich in dieser Zeit in der Türkeiaufgehalten haben. So lebte der Regisseur und Intendant CarlEbert zum Beispiel von 1939 bis 1947 in Ankara und hat dort diemoderne türkische Oper begründet. Der Musiker EduardZuckmayer, Bruder des bekannten Schriftstellers CarlZuckmayer, kam 1936 an die Musiklehrerschule, das späterestaatliche Konservatorium, nach Ankara, gründete und leiteteChöre und Orchester und lebte dort bis zu seinem Tod 1972. Ausder bildenden Kunst möchte ich Rudolf Belling erwähnen, der1937 als so genannter „entarteter Künstler“ Berlin verlassenmusste, nach Istanbul als Professor und Leiter der Abteilung fürBildhauerei an der ‚Güzel Sanatlar Akademisi’ kam und dessenIsmet-Inönü-Denkmal im Maçka-Park den Istanbulern gutbekannt ist.

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Über die deutschen Exilwissenschaftler und –künstler in derTürkei hat am umfassendsten wohl Horst Widmann in seinemBuch „Exil und Bildungshilfe“ berichtet. Neben den bereitserwähnten Biographien und Berichten von Fritz Neumark,Ernst Hirsch und Philipp Schwartz hat auch der ChirurgRudolf Nissen seine Erinnerungen in dem Buch „HelleBlätter, dunkle Blätter“ veröffentlicht. Besonders gefreut hatmich, heute von Herrn Mesut Ilgım erfahren zu haben, dassErnst Hirschs Biografie in der türkischen Ausgabe bereits inder 9. Auflage erschienen ist. Ich bedauere es außerordentlich– ich bin heute noch mal ins Internet gegangen und habedeutsche Antiquariatsangebote durchstöbert –, dass dieseBiografie in Deutschland nirgendwo zu finden ist. Sie ist solebendig geschrieben und zeugt von Hirschs großemBildungsbürgertum, sie ist in Deutsch hier aber nur noch imGoethe-Institut aufzufinden. Eine Neuauflage scheint mirdringend geboten! Wünschenswert wäre es auch,Diskussionen wie die heutige in Deutschland zu führen, damitdort besser bekannt wird, dass die deutsch-türkischenKulturbeziehungen sehr tief verwurzelt sind, und dieErinnerung hier in der Türkei sehr intensiv und verbreitet ist.Überall, wo ich Gespräche führe, besonders an denUniversitäten, und den Band von Philipp Schwartz ‚KaderBirliği’ mitbringe, wird mir regelmäßig der Name einesdeutschen Emigrationsprofessoren genannt, den man nochselbst erlebt hat, bei dem die Eltern studiert haben oder dieseals Assistenten oder Übersetzer tätig waren. Dies giltübrigens für türkische Akademiker aller Couleur, so dass mirkürzlich anlässlich eines Interviews eine ‚Kopftuchdame’

beim Stichwort ‚Exildeutsche’ wie aus der Pistole geschossenden Namen Ernst Hirsch nannte, nach dessen Lehrbücher sieauch gelernt habe.

Nun möchte ich noch denjenigen unter Ihnen einen Hinweisgeben, die Fritz Neumarks ‚Zuflucht am Bosporus’ in Türkischlesen möchten. - Welche zeitliche Vorgabe darf ich nennen, HerrIlgım? Bis wann haben Sie die ‚Zuflucht’ übersetzt? - In etwa 6Monaten wird es also hier verfügbar sein!

Ich würde nun sagen, dass wir das Angebot von Herrn Reindlannehmen und in lockerer und ungezwungener Atmosphäre beimkleinen Umtrunk den direkten Gedankenaustausch nutzen. Ichdanke vielmals, dass Sie gekommen sind. Auch den Schülerndanke ich, die wohl einen Einblick bekommen haben, dass diedeutsch-türkischen Kulturbeziehungen eine Tradition haben, diegeprägt war von der kulturhistorisch einmaligen Situation, dassdie junge türkische Republik eine umfassende und tief greifendeBildungsreform durchführte, die an westlichen Modellenausgerichtet war und wofür sie ausländische Experten benötigte.Diese boten sich im entscheidenden Jahr 1933 in Gestalt einerWissenschaftselite an, die von einem Terrorregime ihrerTätigkeit in Deutschland beraubt worden war und in der TürkeiForschung und Lehre unter neuen Vorzeichen überwiegenderfolgreich fortsetzen konnte.

Nun noch ein letzter Satz: Ich plane im nächsten Jahr die größteGruppe der deutschen Exilwissenschaftler, die Mediziner, hiermit Unterstützung von Zeitzeugen und Medizinhistorikern

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vorzustellen. Die Gruppe war ja mit über 50 Personen in derTürkei vertreten und viele Mediziner sind hier noch in besterErinnerung. – Ja, Herr Dr. Başbudak, die Chemiker, FritzArndt, werden auch nicht vergessen!

Ich danke Ihnen für Ihre Geduld und möchte Sie im Namenvon Herrn Reindl einladen, das Gespräch nunmehr wenigerformell fortzusetzen.

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