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GERHARD ROTH
G. Roth, 2019
NEUROBIOLOGISCHE GRUNDLAGEN DER PSYCHE
UND PSYCHISCHER ERKRANKUNGEN
GENERELLE AUSSAGE DER
PSYCHO-NEUROWISSENSCHAFTEN
Seelisch-psychische Zustände beruhen auf der Aktivität corticaler
(bewusstseinsfähiger) und subcorticaler (nicht bewusstseinsfähiger)
Zentren und ihrer Wechselwirkung.
Psychische Erkrankungen beruhen auf strukturellen und funktiona-
len Störungen dieser Zentren bzw. ihrer Interaktion.
Psychische Erkrankungen werden verursacht durch eine Kombina-
tion genetisch-epigenetischer Vorbelastung und vorgeburtlicher
negativer Einflüsse (vornehmlich der Stressachse und des
serotonergen System), frühkindlicher Traumatisierung und negativer
Erfahrungen in späterer Kindheit und Jugend.
Klaus Grawe („Neuropsychotherapie“, 2004):
„Psychotherapie wirkt, wenn sie wirkt, darüber, dass sie das Gehirn
verändert“
DAS MODELL DER VIER EBENEN DER
PERSÖNLICHKEIT UND DER SECHS
PSYCHONEURONALEN SYSTEME
(nach Spektrum der
Wissenschaft,
verändert)
Längsschnitt
durch das
menschliche
Gehirn
Blau:
Limbisches
System als
Sitz der
Persönlichkeit
und Psyche
Hypothalamus
Querschnitt durch das menschliche Gehirn auf Höhe des
Hypothalamus
Großhirnrinde
Basalganglien
Untere limbische Ebene
Gehirn: Hypothalamus – zentrale Amygdala –vegetative Zentren des
Hirnstamms
Ebene unbewusst wirkender angeborener Reaktionen und Antriebe:
Schlafen-Wachen, Nahrungsaufnahme, Sexualität, Aggression –
Verteidigung – Flucht, Dominanz, Wut usw.
Diese Ebene ist überwiegend genetisch oder durch vorgeburtliche
Einflüsse bedingt und macht unser Temperament aus. Sie ist durch
Erfahrung und Erziehung kaum zu beeinflussen.
Hierzu gehören grundlegende Persönlichkeitsmerkmale wie
Offenheit-Verschlossenheit, Selbstvertrauen, Kreativität, Vertrauen-
Misstrauen, Umgang mit Risiken, Pünktlichkeit, Ordnungsliebe,
Zuverlässigkeit, Verantwortungsbewusstsein.
Mittlere limbische Ebene
Gehirn: basolaterale Amygdala, mesolimbisches System
Ebene der unbewussten emotionalen Konditionierung: Anbin-
dung elementarer Emotionen (Furcht, Freude, Glück, Verachtung,
Ekel, Neugierde, Hoffnung, Enttäuschung und Erwartung) an indi-
viduelle Lebensumstände.
Die Amygdala ist auch der Ort unbewusster Wahrnehmung
emotionaler kommunikativer Signale (Blick, Mimik, Gestik,
Körperhaltung, Pheromone).
Diese Ebene macht zusammen mit der
ersten Ebene (Temperament) den Kern
unserer Persönlichkeit aus. Dieser Kern
entwickelt sich in den ersten Lebensjahren
und ist im Jugend- und Erwachsenenalter
nur über starke emotionale oder lang
anhaltende Einwirkungen veränderbar.
Amygdala (Mandelkern)
Amygdala:
Zentrum für
emotionale
Konditionierung
und das
Erkennen
emotionaler
Signale
ANGENEHME/
UNANGENEHME
EMPFINDUNG
(limb. System)
EREIGNIS
(Thalamus)
KONTEXT
(Hippocampus)
Ventrales
Tegmentales
Areal
Mesolimbisches
System:
Reaktion auf neuartige,
überraschende Reize
Antrieb durch
Versprechen von
Belohung (Dopamin)
Belohnungssystem
(hirneigene Opioide)
Nucleus accumbens
Obere limbische Ebene
Gehirn: Prä- und orbitofrontaler, cingulärer und insulärer Cortex.
Ebene des bewussten emotional-sozialen Lernens: Gewinn- und
Erfolgsstreben, Anerkennung–Ruhm, Freundschaft, Liebe, soziale
Nähe, Hilfsbereitschaft, Moral, Ethik.
Sie entwickelt sich in später Kindheit und Jugend. Sie wird wesentlich
durch sozial-emotionale Erfahrungen beeinflusst. Sie ist entsprechend
nur sozial-emotional veränderbar.
Hier werden zusammen mit den unteren
Ebenen grundlegende sozial relevante
Persönlichkeitsmerkmale festgelegt wie
Machtstreben, Dominanz, Empathie,
Verfolgung von Zielen und Kommuni-
kationsbereitschaft.
INSULÄRER
CORTEX
• Verarbeitung gustatorischer und viszeraler Reize
• Erkennen des emotionalen Ausdrucks und des Sinn-
gehalts im Verhalten anderer (Empathie/Theory of Mind)
• Verarbeitung der affektiven und emotionalen Kompo-
nente der Schmerzwahrnehmung
• Schmerz-Lernen und Schmerzantizipation
INSULÄRER CORTEX
Selbst empfundener Schmerz und empathischer Schmerz
ORBITOFRONTALER CORTEX
• Handlungsantriebe und –motive
• Impulskontrolle (Hemmung subcorticaler limbischer Zentren,
insbes. der Amygdala und des Hypothalamus)
• Erkennen des emotionalen Ausdrucks und des Sinn-gehalts
im Verhalten anderer (Empathie/Theorie of Mind)
• Lernen und Steuerung sozial adäquaten Verhaltens
• Abschätzen der Konsequenzen eigenen Verhaltens und
individueller und sozialer Risiken
ORBITOFRONTALER CORTEX
Kognitiv-sprachliche Ebene
Gehirn: Linke Großhirnrinde, bes. Sprachzentren und präfrontaler
Cortex.
Ebene der bewussten sprachlich-rationalen Kommunikation:
Bewusste Handlungsplanung, Erklärung der Welt, Rechtfertigung
des eigenen Verhaltens vor sich selbst und anderen.
Sie entsteht relativ spät und verändert sich ein
Leben lang. Sie verändert sich im Wesentlichen
aufgrund sprachlicher Interaktion.
Hier lernen wir, wie wir uns darstellen sollen,
um voran zu kommen. Abweichungen zwischen
dieser Ebene und den anderen Ebenen führen
zur Diplomatie, zum Opportunismus oder zur
Lüge.
BEWEGUNGS-
VORSTELLUNGEN
OBJEKTE
GESICHTER
SZENEN
ANALYSE
PLANUNG
ENTSCHEIDUNG
BEWERTUNG
KÖRPER
RAUM
SYMBOLE
DORSOLATERALER PRÄFRONTALER CORTEX
MOTORIK SOMATOSENSORIK
SEHEN
HÖREN/SPRACHE AUTOBIOGRAPHIE
SPRACHE
VIER-EBENEN-MODELL DER PERSÖNLICHKEIT
-
• Entwicklung des Stress-Verarbeitungssystems (vorgeburtlich,
früh nachgeburtlich)
• Entwicklung des internen Beruhigungssystems (vorgeburtlich,
früh nachgeburtlich)
• Entwicklung des internen Motivationssystems (erste Lebens-
jahre)
• Entwicklung des Impulshemmungssystems (1.–20. Lebensjahr)
• Entwicklung des Bindungssystems und von Empathie und
Theory of Mind (1.-20. Lebensjahr)
• Entwicklung des Realitätssinns und der Risikowahrnehmung (3.
– 20. Lebensjahr oder noch später)
WICHTIGE SCHRITTE IN DER PSYCHO-
NEURALEN ENTWICKLUNG DES KINDES
Hypothalamus
CRF
Hippocampus
Hypophyse
ACTH Glu.-C.Min.-
C. Rez.
Nebennierenrinde
Cortisol
„STRESS ACHSE“
CRF-ACTH-Cortisol-Rückkopplungsschleife zwischen
Nebennierenrinde, Hypothalamus und Hippocampus
_
_
Cortisol
+
+
+
Fötus im
Mutterleib
Die Plazenta als
„Treffpunkt“ des
mütterlichen und fötalen
Blutkreislaufs
Glucocorticoide und andere Hormone oder Stoffe können prinzipiell
die Plazenta-Schranke überwinden, wobei unter normalen Umstän-
den nur ein geringer Teil des mütterlichen Cortisol „durchgelassen“.
Das fötale Plasma-Cortisol beträgt entsprechend nur etwa ein
Dreizehntel des mütterlichen. Dadurch werden auch akute
Erhöhungen des Cortisolspiegels im mütterlichen Blut abgepuffert.
Dies ist notwendig für eine normale Entwicklung des fötalen
Stressverarbeitungssystems, da dieses viel empfindlicher auf
Cortisol reagiert als das der Mutter.
Bei einer Traumatisierung der werdenden Mutter kann sich die
Durchlässigkeit der Placenta für Cortisol stark erhöhen, und dies
kann die Ausbildung der Stressachse des Fötus beeinträchtigen.
Marshall, Science 345, 2014
Prozentuale Anteile kindlicher Misshandlungen
in den USA (2010)
Psych. Vernachlässigung
Körperliche Misshandlung
Sexueller Missbrauch
Psychischer Missbrauch
Gesundheitl. Vernachlässi-
gung
Gegenläufiger Effekt von schwerem und minder schwerem
Missbrauch in der Kind (zusätzlich zu Vernachlässigung) auf
die morgendliche Cortisolfreisetzung (CAR):
Minder schwerer Missbrauch führt zu Hyper-Cortisolismus
(Übererregbarkeit), schwerer Missbrauch führt zu Hypo-
Cortisolismus (Unerregbarkeit, Hilflosigkeit, Psychopathie)
Hyper-Cortisolismus
(minder schwerer Missbrauch)
Hypo-Cortisolismus
Normaler Tagesgang
kein Missbrauch
schwerer Missbrauch
CAR
Untersuchung an 33 Frauen, davon 10 mit sexuellem Miss-
brauch in der Kindheit und mit PTBS (A), 12 Frauen mit
sexuellem Missbrauch in der Kindheit ohne PTSD (B) und 11
Frauen ohne beides.
Messung des Hippocampus-Volumens mit strukturellem MRI,
Messung der HC-Aktivität während einer deklarativen Aufgabe
mit PET
Der HC von Gruppe A war um 16% verkleinert gegenüber dem
von Gruppe B und um 19% verkleinert gegenüber Gruppe C.
Besonders stark betroffen war der rechte HC (22% A vs. C).
Bremner et al. American Journal of Psychiatry 2003
Bremner et al., 2003; Am. J. Psychiatry
Fuchs und Flügge, Neuroforum 2/2004
Stress und Depression führen zur Schrumpfung der Dendriten von
CA3-Neuronen im Hippocampus, offenbar als Folge eines
Hypercortisolismus. Der Stoffwechsel dieser Neurone ist stark
beeinträchtigt.
Mangel an Noradrenalin: Verringerung der präsynaptischen und
Vermehrung der postsynaptischen alpha2-Adrenorezeptoren.
Keine Reduktion in der Zahl hippocampaler Pyramidenzellen, jedoch
Reduktion von Interneuronen und Blockade der Neubildung von
Neuronen im HC.
Folge: Schrumpfung des HC um ca. 7%, verringte Effizienz der
hippocampalen Rückkopplung im Cortisolhaushalt.
Die Folgen von frühem
Stress auf die Struktur
von Pyramidenzellen im
Hippocampus der Ratte:
Reduktion dendritischer
Fortsätze.
McLellan et al., 2011
Canli und Lesch, Nature Neuroscience 2007
POLYMORPHISMUS DES 5-HT-TRANSPORTER-GENS
5-HTT-DNA
5-HT-SYNAPSE Kurze und lange
5-HTT-Promoter-
Region
Die kurze Variante des Transporter-Gens ist korreliert mit erhöhten
Angststörungen, Depression und reaktiver Gewalt als Folge eines
erhöhten Bedrohtheitsgefühls und verminderter Impulskontrolle.
INTERAKTION VON VIER HAUPTFAKTOREN
BEI DER ENTWICKLUNG DER PERSÖNLICHKEIT
ZUSAMMENFASSUNG
• Die Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit ist von vielen
Faktoren abhängig, die positiv oder negativ miteinander wechsel-
wirken.
• Gene spielen dabei eine sehr unspezifische Rolle, wichtiger sind
sogenannte epigenetische, d.h. gen-regulatorische Mechanis-
men, die teilweise umweltabhängig sind und schon vor der
Geburt wirksam sein können.
• Darüber hinaus spielen die frühkindlichen Entwicklungsbedin-
gungen eine entscheidende Rolle, insbesondere die frühe
Bindungserfahrung.
• Je früher die Einwirkungen, desto stärker wirken sie und desto
schwerer sind sie veränderbar. Es ist jedoch nie zu spät für
Hilfemaßnahmen, nur müssen sie immer spezifischer und länger
anhaltend sein!
VIELEN DANK FÜR IHRE
AUFMERKSAMKEIT!