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Glücksspielsucht:Klassifikation, Phänomenologie und
klinisches Erscheinungsbild:
Aktueller Stand der Forschung
Dipl.‐Psych. Chantal P. Mörsen
Prof. Dr. Sabine M. Grüsser‐Sinopoli
Begriffsbestimmung
Anglo‐amerikanischer Sprachraum:
„pathological gambling“, „compulsive gambling“, „addictive gambling“, „excessive gambling“
Deutscher Sprachraum:
„pathologisches Spielen“, „pathologisches Glücksspiel“, „Glücksspielsucht“
Glücksspielsucht: Aktueller Stand der Forschung
Definition
Pathologisches Glücksspiel
„... besteht in häufig wiederholtem episoden‐haftem Glücksspiel, das die Lebensführung derbetroffenen Person beherrscht und zum Verfallder sozialen, beruflichen, materiellen undfamiliären Werte und Verpflichtungen führt.“
(WHO, 1992)
Glücksspielsucht: Aktueller Stand der Forschung
KlassifikationInternationale Klassifikation Psychischer Störungen (ICD):
Pathologisches Glücksspiel (F63.0)
„Abnorme Gewohnheiten und Störungen der Impulskontrolle“
Diagnostisches Manual Psychischer Störungen (DSM):
Pathologisches Spielen (312.34) „Störungen der Impulskontrolle, nicht andernorts klassifiziert“
Glücksspielsucht: Aktueller Stand der Forschung
Pathologisches Spielen (312.31; DSM‐IV)
Andauerndes und wiederkehrendes fehlangepasstes Spielverhalten, was sich in min. 5 der folgenden Merkmale ausdrückt:
1. ist stark eingenommen vom Glücksspiel
2. muss mit immer höheren Einsätzen spielen, um die gewünschte Erregung zu erreichen (Toleranzentwicklung)
3. hat wiederholt erfolglose Versuche unternommen, das Spielen zu kontrollieren, einzuschränken oder aufzugeben (Kontrollverlust)
4. ist unruhig und gereizt beim Versuch, das Spielen einzuschränken oder aufzugeben (Entzugssymptome)
5. spielt, um Problemen zu entkommen oder um eine dysphorische Stimmung zu erleichtern
Glücksspielsucht: Aktueller Stand der Forschung
Pathologisches Spielen (312.31; DSM‐IV)6. kehrt, nachdem er/sie beim Glücksspiel Geld verloren hat, oft am
nächsten Tag zurück, um den Verlust auszugleichen (dem Verlust „hinterherjagen“)
7. belügt Familienmitglieder, den Therapeuten oder andere, um das Ausmaß seiner Verstrickung in das Spielen zu vertuschen
8. hat illegale Handlungen wie Fälschung, Betrug, Diebstahl oder Unterschlagung begangen, um das Spielen zu finanzieren
9. hat eine wichtige Beziehung, seinen Arbeitsplatz, Ausbildungs‐ oder Aufstiegschancen wegen des Spielens gefährdet oder verloren
10. Verlässt sich darauf, dass andere ihm Geld bereitstellen, um die durch das Spielen verursachte hoffnungslose finanzielle Situation zu überwinden.
Glücksspielsucht: Aktueller Stand der Forschung
Herr G., 43 Jahre„Am Anfang habe ich nur am Wochenende gespielt, doch dann spielte ich auch unter der Woche und meine Einsätze wurden höher. Schon wenn ich daran dachte zu spielen, wurde ich unruhig und bekam schweißnasse Hände. Meine Gedanken kreisten immer mehr um das Spielen ‐ das System müsste doch zu knacken sein ...
Erst verspielte ich unsere Haushaltskasse, stahl meinen Kindern das Taschengeld, verspielte mein gesamtes Gehalt, die Rechnungen konnten nicht mehr bezahlt werden. Ich pumpte sämtliche Freunde, Verwandte und Nachbarn um Geld an, verkaufte unseren Wagen, nahm eine Hypothek auf unsere Eigentumswohnung auf ...
Meine Frau ließ sich von mir scheiden und nahm die beiden Kinder mit. Von nun an war ich täglich am zocken, ich fing an zu betrügen und zu belügen, um weiterhin an Geld zu kommen, wurde straffällig und verlor meine Arbeit ...
Heute bin ich Hartz‐IV‐Empfänger. Das Geld reicht natürlich längst nicht für meine Spieleinsätze aus und wenn der Spieldruck und die Frustration zu groß werden, ertränk ich sie im Alkohol ...
Manchmal möchte ich meinem Leben am liebstenein Ende setzen ...“
Glücksspielsucht: Aktueller Stand der Forschung
Spielphasen
Glücksspielsucht: Aktueller Stand der Forschung
POSITIVES ANFANGSSTADIUM (GEWINNPHASE)
• gelegentliches Spielen• häufiger Gewinn• positive Erfahrungen
• gesteigertes Selbstwertgefühl• unrealistischer Optimismus• Phantasien über große Gewinne
KRITISCHES GEWÖHNUNGSSTADIUM (VERLUSTPHASE)
• gesteigerte Spielintensität• häufigere Verluste• Glücksspiel beherrscht das Denken
• Berufliche und soziale Konflikte• Verheimlichen, Lügen• Chasing
SUCHTSTADIUM (VERZWEIFLUNGSPHASE)
• Kontrollverlust• Massive Folgeschäden• Persönlichkeitsveränderungen
• Sozialer Abstieg• Illegale Handlungen• Hoffnungslosigkeit, Suizidgedanken
Folgen einer Glücksspielsucht
• Finanzielle Situation und Verschuldung
• Emotionale Belastungen und Suizidrisiko
• Auswirkungen auf die Familie
• Beschaffungskriminalität
• Geschäftsfähigkeit
• Volkswirtschaftliche Kosten
Glücksspielsucht: Aktueller Stand der Forschung
EpidemiologieInanspruchnahme: 70% der Bevölkerung (häufig Lotto, Automatenspiel)
Pathologisches Glücksspiel: 1‐3%;in Deutschland 0,2%‐0,5%
100.000 – 170.000 beratungs‐ und behandlungsbedürftige Spieler in Deutschland, ca. 5.100 Spieler in ambulanter Behandlung (Jahrbuch Sucht, 2007)
Geschlechtsunterschiede: Männer ca. 3‐5mal häufiger betroffen
Jugendliche und junge Erwachsene:erhöhte Prävalenzraten
Glücksspielsucht: Aktueller Stand der Forschung
Nosologische EinordnungImpulskontrollstörung
• weitere Störungsbilder: path. Brandstiftung, path. Stehlen , path. Haareausreissen
• Zuordnung ist nicht theoretisch oder empirisch begründet
• Impulsivität und mangelnde Impulskontrolle sind Merkmal vieler psychischer Störungen einschließlich substanzbedingter Störungen
• Keine Ableitung von Therapieansätzen
Einordnung ist unzureichend
Glücksspielsucht: Aktueller Stand der Forschung
Nosologische EinordnungZwangsspektrumsstörung„... [das pathologische Glücksspielen] ist weder im engeren Sinne zwanghaft noch steht es mit der Zwangsneurose in Beziehung“ (WHO, 1993)
• Unterschiede in Phänomenologie und Verlauf
• geringe/ keine epidemiologischen Zusammenhänge zwischen pathologischem Glücksspiel und Zwangsstörungen
• Unterschiede in der Neurobiologie
• Unterschiede in Persönlichkeitsfaktoren
Glücksspielsucht: Aktueller Stand der Forschung
Nosologische EinordnungPathologisches Glücksspiel als stoffungebundene
Abhängigkeit/ Verhaltenssucht
• Diagnostische Kriterien
• Klinisches Erscheinungsbild
• Komorbide Störungen
• Persönlichkeit und Verhalten
• Neurobiologie
Glücksspielsucht: Aktueller Stand der Forschung
Pathologisches Glücksspiel• Eingenommensein• Toleranzentwicklung• Kontrollverlust• Entzugssymptome• Spielen als Flucht• Chasing• Lügen• Illegale Handlungen• Gefährdung wichtiger
Beziehungen• Verlassen auf Finanzierung
durch andere
Substanzabhängigkeit• Verlangen• Toleranzentwicklung• Kontrollverlust• Entzugssymptome• Vernachlässigung anderer
Lebensbereiche• Psychische oder körperliche
Folgeschäden
Glücksspielsucht: Aktueller Stand der Forschung
Diagnostische Kriterien im Vergleich
Klinisches Erscheinungsbild• Stärkere Ausprägung des Problemverhaltens in der Jugend und im jungen Erwachsenenalter
• Persönlichkeit: Impulsivität, Sensation Seeking
• Funktionalität des Verhaltens
• Ähnliche Typologien
• Geschlechtsunterschiede, „Teleskopphänomen“ bei betroffenen Frauen
• Beeinträchtigung des sozialen Netzwerks
• Kulturelle Einflüsse
Glücksspielsucht: Aktueller Stand der Forschung
Komorbide Störungen
• Substanzmissbrauch/ ‐abhängigkeit 50‐80%
• Persönlichkeitsstörungen 30‐80%
• Angststörungen 10‐30%
• Affektive Störungen 10‐50%
Glücksspielsucht: Aktueller Stand der Forschung
Emotionales Lernen und Verhalten
Glücksspielsucht: Aktueller Stand der Forschung
Stress, Verlangen und Suchtmittelkonsum
„The changes in reward and stress systems [of the brain] are hypothesized to
remain outside a homeostatic state, and as such convey the vulnerability
for development of dependence and relapse in addiction“ Koob, 2006
Grüsser & Thalemann, 2006
Entstehung und Aufrechterhaltung süchtigen Verhaltens
Glücksspielsucht: Aktueller Stand der Forschung
„Suchtgedächtnis“Erinnerung an die positive Wirkung des Suchtmittels
Klassische Konditionierungdrogenassoziierte Reize (assoziatives Lernen)Operante Konditionierungverhaltensverstärkendes dopaminerges BelohnungssystemNeuroadaptationSensitivität für belohnungsanzeigende ReizeZiel des (süchtigen) Verhaltens: Herstellung der körpereigenen Homöostase – zielgerichtetes motivationalesHandeln
Klassische Konditionierung der gelernten Drogenreaktion
Glücksspielsucht: Aktueller Stand der Forschung
UCS(Drogen, Glücksspielen)
CS
(suchtmittelassoziierte Reize)
UCR(physiologische Reaktion, Euphorie, Stressreduktion)
CR
Physiologische Ebene Psychische Ebene
Konditionierter motivationaler Zustandmotiviert zum Suchtverhalten
ANREIZHERVORHEBUNG
Sensitivierung des Belohnungssystems
Neurobiologie des „abhängigen“ Gehirns
Glücksspielsucht: Aktueller Stand der Forschung
Fowler et al. (2007)
Glücksspielsucht: Aktueller Stand der Forschung
Neuronale Netzwerke
Control
Drive
Memory
Reward
Volkow et al. (2003)
Control
Drive
Memory
Reward
Nonaddicted brain Addicted brain
fMRI‐Studien
• Potenza et al. (2003a): Reduzierte Aktivierung im frontalen und orbitofrontalen Kortex bei pathologischen Glücksspielern nach Darbietung glücksspielassoziierter visueller Reize
• Potenza et al. (2003b): Reduzierte Aktivierung im ventromedialen präfrontalen Kortex bei pathologischen Glücksspielern während eines Stroop‐Tests
• Reuter et al. (2005): Reduzierte Aktivierung im ventrostriatalen und ventromedialen präfrontalen Kortex bei pathologischen Glücksspielern während eines Kartenspiels
Reduzierte Aktivität präfrontaler Regionen (Impulskontrolle) analog zur Substanzabhängigkeit
Glücksspielsucht: Aktueller Stand der Forschung
Suchtgedächtnis im fMRI
Glücksspielsucht: Aktueller Stand der Forschung
Crockford et al. (2005)
Reizinduzierte Aktivierung des rechts‐hemisphärischendorsolateralen präfrontalen Kortex undparahippocampalerRegionen
Aktivierung des Suchtgedächtnisses
PG Kontrollen Vergleich
Psychophysiologische Erhebung im Reiz‐Reaktions‐Paradigma
Glücksspielsucht: Aktueller Stand der Forschung
EEG‐Ableitung nach 10‐20‐System
Schreckreflex (EMG, M. orbicularis occuli)
Subjektive emotionale Verarbeitung (SAM)
Bradley et al. (1994)
Emotionale Verarbeitung von visuellen Reizen‐ Subjektive Ebene ‐
Glücksspielsucht: Aktueller Stand der Forschung
Subjektive emotionale Verarbeitung des visuellen Reizmaterials bei pathologischen Glücksspielern und Kontrollprobanden im Vergleich .Valenz und Erregung im SAM‐Rating.
Wölfling et al. (2008), Grüsser et al. (2008)
Emotionale Verarbeitung von visuellen Reizen‐ Subkortikale Ebene ‐
Glücksspielsucht: Aktueller Stand der Forschung
Schreckreflex bei Pathologischen Glücksspielern, Cannabisabhängigen und gesunden Kontrollprobanden im Vergleich
Wölfling et al. (2008), Grüsser et al. (2008)
Ereignis-korreliertes Potential (EKP)
Glücksspielsucht: Aktueller Stand der Forschung
EKP: akustischer Reiz (Ton)schwarz: Ton aufgabenrelevantrot: Ton ohne Bedeutung
exogen endogen
Integratives Modell zur Entstehung und Aufrechterhaltung pathologischen Glücksspiels
Glücksspielsucht: Aktueller Stand der Forschung
UmweltfaktorenVerfügbarkeit von Glücksspielen, soziale Normen, allgemeine sozioökonomische Lage
Prädisposition/ VulnerabilitätGenetik, Neurobiologie, Modellernen, Persönlichkeit, kognitive Faktoren
Auslösende BedingungenBelastung/Stress, psychische Erkrankung, sozialer Druck, kritische Lebensereignisse
Aufrechterhaltende BedingungenKognitive Verzerrungen, Psychopathologie, Persönlichkeit
Forschungsschwerpunkte
Glücksspielsucht: Aktueller Stand der Forschung
• Charakterisierung des Störungsbildes
• Epidemiologie
• Neurobiologische Grundlagen
• (Weiter‐)Entwicklung von therapeutischen Standards und Behandlungsansätzen
• Präventionsmaßnahmen, Sozialkonzepte
• Gefährdungspotential einzelner Glücksspiele
• Identifikation von Risikofaktoren
Präventions‐/ Interventionsprogramm „Glücksspielsucht und Spielerschutz“
Glücksspielsucht: Aktueller Stand der Forschung
Supervison
Schulung
KompetenzzentrumVerhaltenssucht
HotlineAmbulanz
InformationPrävention
BeratungIntervention
Kooperation mit Fachinstitutionen
Forschung
Presse/ Öffent‐lichkeitsarbeit
Grüsser, Albrecht & Backmund, 2006
Kompetenzzentrum Verhaltenssucht Medizinische Psychologie und Medizinische SoziologieKlinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie Johannes Gutenberg‐Universität Mainz Saarstr. 21, 55099 Mainz Tel.: 06131‐392 48 [email protected]