hans brög das eigentliche selbstbildnis w.a. koch hat … · herumwühlten und sich um einige...
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Hans Brög
DAS EIGENTLICHE SELBSTBILDNIS
W.A. Koch hat 1971 zu; Struktur des Happenings seine Forschungser
gebniss~ vorgelegt1 und 1972 untersuchte W. Nöth Strukturen des
Happenings, zeigte Verwandtschaften zu archaischen theatralischen
Formen und auch zu zeitgleichen Formen des Theaters auf.2
Nöth be
gründet die Einbeziehung des Publikums beim Living Theatre, indem
er sich auf J. Beck, den Begründer, bezieht. Dieser" ... beruft
sich auf Ritus und Magie und fordert das völlige Aufgehen des Publi-
kums in den dramatischen Text". Die Aufhebung des Bewußtseins der
Dichotomie von Darsteller und Zuschauer, von Textproduktion und
Textkonsum läßt den Text zum Ritus werden. Entsprechend formuliert
Beck seine Zielvorstellungen für das Living Theatre:
... dem Publikum zu helfen, noch einmal das zu werden, wozu es bestimmt war, als die ersten gesungenen Dramen entstanden: eine von Priestern geleitete Versammlung, eine Chorekstase von Lesung und Antwort, Tanz, Suche nach Transzendenz, Mittel zur Flucht und Erhebung, der Drang nach oben, auf der Suche nach einem Zustand, der das einfache Bewußtsein übersteigt und näher zu Gott ist.3
Darsteller und ·Zuschauer werden eins, wie immer man sich das reali
ter auch vorstellen soll. Dies ist, für uns jedenfalls, die bemer
kenswerte Behauptung. Der Darsteller, so darf wohl interpretiert
werden, impliziert Repräsentation durch den Darsteller. Darsteller
und Dargestelltes bleiben unterschiedene und unterscheidbare Korre
late.
Koch zitiert W. Vostell, um ein wesentliches Kriterium, zumindest
einer spezifischen Spezies von Happenings, deutlich zu machen:
"Am letzten Sonntagnachmittag führte ich in einem Automatenrestau
rant ein kleines Happening auf. In diesem Ereignis waren alle An
wesenden (das Publikum) Mitspieler. Ich kaufte eine Ausgabe der
'Sunday Times', setzte mich hin und las langsam mit Hingabe die
Zeitung. Dann entfernte ich mich sehr schnell von dem Tisch und
blickte zurück: ich sah 5 - 7 alte Herren, die aus allen Ecken des
Restaurants auf die Zeitung auf meinem Tisch zurannten, darin
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herumwühlten und sich um einige Seiten der Zeitung stritten."4
Der Initiator, der Animator veranlaßte Zuschauer, Spieler zu wer
den, denen der Animator dann zuschaut: Vostell als Animator spielt,
er antizipiert nicht schreibend, kodiert ein Stück, sondern spielt
selbst den ersten Akt. Die Spieler (5 - 7 Männer) leben ein Stück
ihres Daseins. Sie erleben ihr eigenes Spiel nicht. Für sie ist es
kein Spiel.
Im folgenden möchte ich die Performance (als Kunstform der bilden
den Kunst) mit Formen des Happenings in Zusammenhang bringen. Will
man sich kundig machen, was die Performance vom Theater unterschei
det, dann erfährt man, daß der wesentliche Unterschied darin be
steht, daß der Performance-Künstler im Gegensatz zum Akteur des
Theaters (Schauspieler) keine Rolle spiele, das will heißen, daß
er nicht Medium (Stellvertreter) ist, sondern auch während der Auf
führung ausschließlich er selbst ist. Der Performance-Künstler
bringt sich zwar ins Spiel, repräsentiert aber nicht, präsentiert.
Mit dieser Vereinbarung würde das Happening, wie wir es hier mit
Vostell eingeführt haben, für die "5 - 7 alte(n) Her~en" in die
Nähe der Performance rücken. Auch sie spielen keine Rolle, sondern
sind, was sie sind. Man kann sogar sagen, daß die Verwirklichung
und das Vorzeigen einer, wenn auch noch so kurzphasigen, Lebenssi
tuation durch gestische Teilnahme in der Performance kaum in dieser
Reinheit gezeigt werden kann. Die Begründung: im allgemeinen liegt
bei der Performance das Motiv (der Impuls, der das Unternehmen in
Gang setzt) im Performance-Künstler selbst. Die damit verbundene
Minimalplanung, Zielgerichtetheit etc. kann zwar die Selbstdarstel
lung nicht verhindern, dennoch aber handelt es sich wohl um die
Konkretisierung eines bereits gewesenen, "davongelaufenen" Ichs.
Natürlich ist es denkbar, eine Performance als Künstler "unvorbe
lastet" zu beginnen und auf Stimuli - z.B. aus dem Environment -
(es muß sich nicht unbedingt um Publikum handeln) zu reagieren,
diese mit der momentanen eigenen Befindlichkeit, "Geworfenheit" in
Einklang zu bringen und für adäquate körperliche, gestische, mimi
sche Ausdrucksformen auszunutzen. Sicherlich bedürfte insbesondere
die Initiationsphase von Performances genauester semiotischer Un
tersuchungen. Es ist anzunehmen, daß nur auf diese Weise eine Ab
grenzung gegen andere szenisch/theatralische Hervorbringungen sowie
eine sinnvolle Klassifikation der Gattung Performance zu leisten
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ist.5
In unserem Zusammenhang ist es nicht nötig, diesen Gedanken weiter
zu verfolgen. Es genügt festzuhalten, daß Performance durch ein we
sentliches Bestimmungsstück vom Theater zu trennen ist, auch von
Formen des Happenings; wobei aber die Nähe, ~ie das Beispiel Vostell
zeigt, bestehen kann.
Die Performance ist somit eine Kunstform, bei der sich Nachrichten
quelle, Sender und Medium im Prinzip nicht trennen lassen. Sie ist
damit wohl die beste Möglichkeit, die die bildende Kunst bietet, den
Macher selbst zum Objekt ästhetischer Zeichenprozesse zu machen.
(Vermeiqen läßt es sich auf der anderen Seite gar nicht, daß der
Künstler stets einen Teilaspekt des Objektbezugs ausmacht. 6 )
Unterstellen wir (weiterhin) den Fall, daß die Performance in ihrer
reinsten, idealsten Ausprägung nichts anderes ist als Selbstdar
stellung, nichts anderes ist, als einen Menschen mittels seines
eigenen Körpers als Medium in Szene zu setzen, zu animieren, dann
ist zu fragen, wie es mit dem Zeichencharakter steht. Schon in frü
heren Arbeiten zum Nouveau Realisme habe ich dargelegt, daß für
Etwase, die als Sachen behauptet werden - "Eine Sache ist die, die
sie ist" 7 - Ding-, nicht aber Zeichencharakter zu folge~n ist. 8
(Das Ding stehi aber als disponibles Mittel zur Verfügung.)
Drei Gesichtspunkte müssen erwogen werden, wollte man von dieser
Konsequenz absehen:
Der Performance-Künstler beabsichtigt (bei weiter Auslegung seiner
möglichen Intentionen)
durch seine Selbstdarstellung Selbsterfahrung (wobei unter
Erfahrung ein Zuwachs durch Dekodierung zu verstehen wäre)
Macht der Perfomance-Künstler durch die Selbstdarstellung Selbst
erfahrung, dann kann dieser Lernprozeß als Zeichenprozeß aufgefaßt
werden. Das Zeichen hat seinen Objektbezug in sich selbst, es be
zieht sich auf sich selbst, ja man kann sagen: es reflektiert sich
selbst.
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· mit seiner Selbstdarstellung eine Botschaft für andere
Mit seiner Selbstdarstellung strebt der Performance-Künstler einen
weiteren Verwertungszusammenhang an. Das Publikum wird aufgefordert,
Konsequenzen für die eigene Person zu ziehen.
wird (durch andere) mit seiner Aktion zum Zeichen erklärt
(die Aktion als disponibles Mittel)
Jede Performance, davon ist auszugehen, die der Selbstdarstellung
und/oder -erfahrung dient, ist in ihren personengebundenen Bewe
gungsabläufen so weit konventionalisiert, daß geradezu die "Gefahr"
besteht, auch wenn ontologisch der Tatbestand einer Sache vorliegen
sollte, darin einen Interpretanten (zeicheninterne Drittheit) zu
"erkennen".
Es erscheint uns interessant zu sein, daß sich zwischen Objekten
des Nouveau Realisme und der Performance Parallelen sichtbar machen
lassen. Neben den bereits aufgezeigten Verwandtscha~ten besteht
zwischen dem Multiple des Nouveau Realisme (Objektkunst) und der
Performance folgender Zusammenhang:
Das Multiple ist ein "Objekt", das prinzipiell mit allen Objekten
desselben Wurfs übereinstimmt. Ein wichtiges Beispiel sind die zu
beschießenden Objekte von N. de Saint Phalle, die durch diese Ein
griffe - sie gehören der Rezeption an - vom prototypischen abwei
chende Charakteristik bekommen. Damit vergleichbar bringt jede
neuerliche Realisation einer Performance nach ein und demselben
Konzept akzidentelle Veränderungen, Individualisierungen in das Er
scheinungsbild, die aber existentiell und damit essentiell durch
den Performance-Künstler, nicht durch den Rezipienten motiviert
sind. Diese Individualisierungen gehören der Produktion an.
Die besondere kunsthistorische Bedeutung der Performance liegt
nicht in ihrem medialen Ubergang von darstellender zu bildender
Kunst, sondern in ihrem ganz spezifischen semiotischen Status.
Der Macher, der Zeichensetzer, ist bei jeder Zeichenkreation, somit
auch bei jeder ästhetischen, im Spiel, gleichgültig, ob er den Ver
such macht, sich selbst als Zeichenobjekt zu thematisieren oder
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dies vermeiden möchte.
Zeichen stehen für etwas, sie repräsentieren. Für ästhetische Zei
chen wird dies mit dem Nouveau Realisme in Frage gestellt. Dies ge
schieht nicht bereits im Anschluß an den Impressionismus. Picasso,
Braque u.a. bestreitep nicht die Repräsentanz im allgemeinen, son
dern wenden sich lediglich gegen die Repräsentanz erfahrbarer Wirk
lichkeit in analogen Abbildungsverfahren.
Wenngleich Objekte des Nouveau Realisme und Performances in Nach
barschaft zu sehen sind, gilt es festzustellen:
Die "Sache" der Performance ist die Performance. Der materiale
Träger ist der Zeichensetzer. Der Zeichensetzer ist das Zeichen
objekt. Das Objekt ist ein Mensch. Der Mensch ist ein semiotisches
Wesen. Ein semiotisches Wesen ist keine Sache. Eine Performance
kann keine Sache sein. Eine Performance ist eine Teilpräsentation
als Repräsentation eines Selbstbildnisses.
Objekte des Nouveau Realisme hingegen können Sachen sein. Der
Verlust bestünde im Nicht-Zeichen-Sein.
ANMERKUNGEN
1 W.A. Koch, Varia Semiotica. Hildesheim/New York 1971.
2 W. Nöth, Strukturen des Happenings. Hildesheim/New York 1972.
3 Ibid., S.214. Die Absicht Becks trifft wohl auch auf die Animations-/Wechselgesänge zu, die als Gogo-Beat insbesondere in der Subkultur Washingtons entstanden sind.
4 W.A. Koch, a.a.O., S.339.
5 Das Instrumentarium zur semiotischen Bearbeitung des Themas hat B. Wiehelhaus 1987 in ihrer Habilitationsschrift "Kunstwissenschaftliche Grundlagen der Thema-Generierung auf semiotischer Basis" geliefert.
6 Die künstlerische Kreation durch apparative Medien gestatten es am ehesten, sich als Macher zurückzunehmen. Emotionale Anteile sind weitestgehend vermeidbar (geistig-intellektuelle Anteile sind es, die als "Handschrift" den Fotografen, auch unter Meistern desselben Metiers, erkennen lassen).
Im Rahmen der artifiziellen Künste ist es die Konkrete Kunst, die die Emotionalität des Machers eliminiert.
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Abgesehen von der Konkreten Kunst sind es die klassischen im Rahmen der artifiziellen Künste, durch die die emotionalen Anteile des Machers am geringsten hervortreten. (Renaissance, Klassizismus =Künste der Äußerlichkeit.)
Die Künste der Innerlichkeit (Romantik, private Mythologien) thematisieren den Macher und kulminieren in Ausdruckskünsten (Expressionismus). (Kokoschka appliziert die eigene Nervosität dem zu Portraitierenden - eine Variante des Expressionismus, die wohl auf Einfühlung, Empathie angewiesen ist und auf Transfermöglichkeiten hofft.)
Im Dripping/in der Action-Malerei wird die Spur zum Dokument psychischer Befindlichkeit.
Bei Sonderborg wird der (beliebige) Gestus zum Beleg der ~sehen Existenz.
7 J. Cladders, nach P. Restany. In: Ausst.Kat.: Dufrene, Hains, Rotella, Villegle, Vostell. Staatsgalerie Stuttgart. Stuttgart 1971.
8 Vgl. z.B. "Zum Zeichencharakter der Objekte des Nouveau Realisme". In: Zeichen und Realität (Tagungsbericht des 3. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Semiotik, Hamburg). Tübingen 1984.
SUMMARY
A connection is established between theatre, happening and performance, and semiotically relevant differences are demonstrated. Performance is indeed moved into the neighbourhood of object art of the nouveau realisme, it can, however, be proved as artistic form with a very special semiotic status. In this special status is the importance of performance for art history.
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Internationale Zeitschrift für Semiotik und Ästhetik 12. Jahrgang, Heft 2/3, 1987
INHALT
Gertrude Stein:
Klaus Oehler:
Max Bense:
Jorge Bogariri:
Udo Bayer:
Angelika H. Karger:
Georg Nees:
Karl Gfesser:
Ertekin Arin:
Regina Claussen:
Shutaro Mukai:
Hans Brög:
Barbara Wichelhaus:
Gerard Deledalle:
JotHle Rethore:
Pietro Emanuele:
Mattbias Götz:
"Alphabete und Geburtstage" 5
Das Parallelismusschema von Sein, Denken und Sprache in der Spekulativen Grammatik 10
Bericht V über die "Eigenrealität" von Zeichen und das Möbiussche Band 19
Semiotische Heterarchien 28
Drei Stufen des Zusammenhangs von Realität und Repräsentation 35
Repräsentationswerte bei der Matrixbelegung durch Zeichenklassen und Realitätsthematiken 43
Anima Reanimata 54
Sprache und Realität in der Physik. Eine semiotische Annäherung 67
Uber das Zeichen-Verhalten des Menschen 82
Literatur und Pragmatik -am Beispiel Baudelaires . 91
Hernage an Elisabeth Walther 100
Das eigentliche Selbstbildnis 101
Die Kinderzeichnung als Medium "ästhetischer" Kommunikation 107
Le Neo-Pragmatisme 118
Pragmatisme et Langage chez Peirce 131
Implicazioni semiotiche del concetto husserliano di motivazione 155
Zeichenskepsis 166