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BILDER!00

schauspiel hannover

Heft #7

02

Deine moralische Anstalt

Karten 0511 9999 1111ab 23.06.2011

Mehr technik!

Pièce Pour la technique

du SchauSPiel de hanovre

PhiliPPe Quesne

.0302

es ist ein prekärer Moment. Wenn die Wasserschildkröten aus ihren Eiern im warmen Sand schlüpfen, bleiben ihnen nur wenige Minuten, jenen Zwischenraum zu überwinden, der sie vom rettenden Wasser trennt. Nur 0,02 Prozent von ihnen überleben diesen Weg, lauern doch rund um ihre Brutstätten die Möwen und Fregattvögel auf die leichte Beute mit dem noch butterweichen Panzer.Ein prekärer Moment ist auch jener, wenn ein Kunstwerk, ein Musikstück oder ein literarischer Text aus dem Schutzraum seines Schöpfers heraustritt und zum ersten Mal fremden Ohren und Augen preisgegeben wird. Es ist jener Moment, wo das Selbstverständnis und die Existenzberechtigung des Künstlers zur Disposition stehen. Mit einem Mal soll sich erweisen, was es ist, was ihm die Zeit, die Wochen, Monate und Jahre ausgefüllt hat, also das, was sein Leben war. Es ist entweder alles oder nichts – es kommt darauf an, ob die Luft und das Licht, dem es ausgesetzt wird, diesem zum Eigenleben verhilft oder es absterben lassen. Deshalb auch wird dieser Moment, der ein Moment der Verwandlung ist, die notwendigerweise durch die Veröffentlichung erfolgt, als Schreckens- und Glücksmoment zugleich empfunden. Er wird so lange wie möglich hinausgezögert. Es ist ein langer Weg dahin, reich an Höhenflügen und Abstürzen, an Scham und Selbstüberlistungsversuchen, doch ein Weg, der sich misst an der konkreten Arbeit, wie eine Idee sich in ein zu bearbeitendes Material umformt, wie sie Gestalt gewinnt, sich mit der Welt verhaftet, um sichtbar zu werden, wie sich einzelne Töne oder Wörter zu einem Sinn zusammensetzen, wie die Form gefunden wird, sich zu zeigen, um erkannt zu werden. Letztlich geht es in der Kunst auch immer um Handwerk, um die Sichtbarmachung eines Gedankens, das Wissen um die Gestaltwerdung, Materialisierung von Ideen in einem Text, einem Bild, einem Musik- oder Theaterstück.

Der französische Regisseur und Bühnenbildner Philippe Quesne, Shootingsstar der europäischen Theaterszene und regelmäßiger Gast auf den großen Festivals, ist ein Künstler, der versucht, genau diesem prekären Moment eine ästhetische Form zu geben, er erforscht den Moment des Theatralischen selbst, eben diesen flüchtigen Moment, durch den auf der Bühne eine Welt entsteht, sich eine Geschichte entzündet, diesen Moment, der durch das Form-instrument des Theaters bestimmt wird, den bewusst gestalteten Ablauf von Zeit, den Zuschauer und Akteure ge-meinsam miteinander am gleichen Ort verbringen. Als Philippe Quesne 2009 mit seiner Compagnie Vivarium Studio das erste Mal in Hannover war und im Rahmen des Festivals Theaterformen seine beiden gefeierten Inszenie-rungen »L’Effet des Serge« und »La Mélancolie des Dragons« am Schauspielhaus zeigte, beeindruckte ihn die Begeg-nung mit den Menschen hinter den Kulissen, die ihm mit ihrem unaufgeregten, professionellen Können zur Seite standen und ihm mit ihren Handgriffen dabei halfen, seine Welten entstehen zu lassen. Diese Begegnung hat nun schöne Folgen. Seine neueste Arbeit »Pièce pour la technique du Schauspiel de Hanovre«, die in Kooperation mit den Theaterformen entsteht, ist eine Verneigung vor diesen Helfern, die gemeinhin im Dunkeln agieren, im Hinter-grund, für den Zuschauer unsichtbar, vor den Menschen, die tagtäglich den leeren Bühnenraum in eine neue Welt verwandeln, die sie nach nur wenigen Stunden wieder abbauen, um am nächsten Morgen eine völlig andere er-stehen lassen: die Bühnentechniker, die Requisiteure, Beleuchter, Tonleute und die Inspizientinnen. Quesnes Auf-merksamkeit richtet sich auf die alltäglichen Situationen, er sucht die Selbstverständlichkeit, mit der etwas getan wird – auch auf der Bühne. Und den Moment, wo aus dem Alltäglichen Theater wird.

Heft #7 ist ein Heft voller Bilder. Bilder unserer letzten Spielzeit, Bilder von Momenten der Theaterinszenierungen, die jeden Abend anders hätten ausfallen können, denn Theater ist flüchtig – das ist sein rauschhaftes Privileg. Nur der hat es erlebt, der dabei gewesen ist. Es ist ein Heft voller Bilder von der Fotografin Katrin Ribbe, die fast alle unsere Schauspielproduktionen mit ihrer Kamera und ihrem klugen Blick begleitet und einfängt und uns manchmal damit die Augen öffnet. Bilder von den Technikern, die sonst nur im dunklen Hinterraum der Bühne agieren und die in Philippe Quesnes Inszenierung im Vordergrund stehen werden.

Judith Gerstenberg

Liebe ZuscHauerinnen, Liebe ZuscHauer,

Mehr technik!

04

DER SILBERSEE mit Martin Vischer und Andreas Schlager

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06

DIE WELt ohnE unS (III): WachSEn oDER WEIchEn mit Dominik Maringer

nEvERLanD mit Nilson Mufume

.0706

EInE FamILIE mit Wolf List, Catherine Stoyan, Hanna Scheibe, Susana Fernandes Genebra, Beatrice Frey, Oliver Nägele, Dominik Maringer, Iris Erdmann und Carolin Eichhorst

KampF DES nEgERS unD DER hunDE mit Henning Hartmann WaS DER monD Rot auFgEht. WIE EIn BLutIg EISEn mit Lisa Spickschen und Katharina Uhland

08

göttER, KEKSE, phILoSophEn mit Jürgen Kuttner, Jörn Hintzer, Jakob Hüfner, Suse Wächter und Mathias Max Herrmann

WoLoKoLamSKER chauSSEE / DaS LEBEn DER autoS mit Sandro Tajouri, Henning Hartmann, Rainer Frank, Camill Jammal und Daniel Nerlich

DaS BLauE BLauE mEER mit Sandro Tajouri

mIcKyBo unD Ich mit Camill Jammal und Philippe Goos

.0908

StERnStunDEn DER mEnSchhEIt mit Martin Vischer, Susana Fernandes Genebra, Julia Schmalbrock und Christoph Müller

cRux oDER DER hEILanD untERm BEtt mit Christoph Müller cLavIgo mit Elisabeth Hoppe und Florian Hertweck

010011

chRonIK EInES angEKünDIgtEn toDES mit Johanna Bantzer paRzIvaL mit Sebastian Kaufmane und Andreas Schlager

010011.011

KunSt WIRD WoanDERS gEBRaucht, aLS Wo SIE RumStEht mit Timm Ulrichs und Jürgen Kuttner BoDEnpRoBE KaSachStan mit Nurlan Dussali

untERnEhmEn hungER mit Julia Schmalbrock und Wiebke Frost nIppLEjESuS mit Philippe Goos

vERBREnnungEn mit Julia Schmalbrock, Martin Vischer, Beatrice Frey, Oscar Olivo, Henning Hartmann und Susana Fernandes Genebra

DaS DoppELtE LottchEn mit Thomas Mehlhorn, Veronika Avraham und Katharina Uhland

InSpIzIEnz Nicola Pause, Stephanie Schmidt

BühnEntEchnIK Philipp Sokolowski, Siegfried Ewert, Jörg Schymczyk, Cengiz Turna

BühnEntEchnIK Harald Trocha, Dirk Husheer, Steffen Imhof

BühnEntEchnIK Mike Büscher, Martin Waldmann, Roland Kowol, Ralf Heller, Ewald Felix, Roland Scholz, Stefan Dittmann, Ando Salzmann, Alexander Poppe, Jens Koch

BELEuchtung Frank Bonhagen, Andreas Nickiewicz, Georg Pollmann, Michael Klopfleisch

BühnEntEchnIK Matthias Lein, Stefan Weber, Bernard Graf, André Picht, Oliver Batty

maSchInEntEchnIK Dirk Breymann, Dirk Scheibe

REquISItE Michael Post, Franziska Hohenstein , Holger Wömpener

BELEuchtung Uwe Richter, Gordon Fulsche

BühnEnmEIStER Detlef Höhny, Frank Materlik

2425

REquISItE Uwe Heymann, Peter Marek, Gaby Rosenbrock, Marieke Eidam

2425.25

DIE BaKchEn oDER DER EInDRIngLIng mit Beatrice Frey und Dieter Hufschmidt

BauERn, BonzEn, BomBEn mit Mathias Max HerrmannEIn voLKSFEInD mit Rainer Frank, Aljoscha Stadelmann und Mathias Max Herrmann

2627

KRIStuS mit Henning Hartmann Don juan mit Joanna Kitzl und Aljoscha Stadelmann

2627.27

ESztER SoLymoSI von tISzaESzLáR mit Johanna Bantzer DER goLDEnE DRachE mit Julia Schmalbrock

2829

KunSt WIRD WoanDERS gEBRaucht, aLS Wo SIE RumStEht mit Mathias Max Herrmann, Hanna Scheibe, Dieter Roth (Bild), Sachiko Hara und Oscar Olivo

2829.29

3031

aB jEtzt mit Susana Fernandes Genebra und Sebastian Schindegger

uRSpRung DER WELt mit Janko Kahle

RomEo unD juLIa mit Wiebke Frost, Raffaele Bonazza, Elisabeth Hoppe, Oscar Olivo, Thomas Mehlhorn, Daniel Nerlich, Dominik Maringer und Elisabeth Hoppe

3031.31

BauERn, BonzEn, BomBEn mit Dieter Hufschmidt, Sebastian Kaufmane, Sebastian Schindegger und Christian Tschirner

3233

Don juan mit Aljoscha Stadelmann InvaSIon! mit Daniel Nerlich, Esther-Maria Barth und Denis Geyersbach

hERzog thEoDoR von gothLanD mit Elisabeth Hoppe, Camill Jammal und Bernd Grawert

3233.33

REpuBLIK FREIES WEnDLanD – REaKtIvIERt mit Oscar Olivo und Sabrina Fukas

»tHeater ist nicHt die tagesscHau«EingEholt vom tagEsgEschEhEn: Das FEstival thEatErFormEn hat in DiEsEm Jahr Ein wEltpolitisch hochaktuEllEs programm

von anJa Dirks

die PolitiSche BriSanz ihrer Stücke iSt Selten ein vorSatz der künStler. Sie geSchieht alS zwangSläufigkeit, die Sich auS ihren leBenSerfah-rungen ergiBt – im iran, im liBanon, irak, ägyPten, ungarn und JaPan.

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Oft ist gerade das Theater ein Ort des Widerstandes, an dem neue Ideen entstehen und Veränderungswünsche und Kritik artikuliert und entwickelt werden, bevor sie die politische Wirklichkeit erreichen. So wurden auch viele Produktionen, die beim Festival Theaterformen 2011 zu sehen sind, von aktuellen Ereignissen eingeholt – oder erwiesen sich geradezu als prophetisch.-------------------------------------------------------------------------------------Amir Reza Koohestani reist viel. Sein Pass ist voller Stempel. Seine Theaterstücke werden mit großem Erfolg überall in Europa gezeigt. Bei Grenzkontrollen allerdings erregt ein vielreisender Iraner eher Misstrauen, deshalb hat er es sich angewöhnt, immer Festivalprogrammhefte im Handgepäck zu haben. Dann kann er seinen Namen im Programm der Wiener Festwochen, des Pariser Festival d’Automne oder des Kun-stenfestivaldesarts in Brüssel vorweisen, um glaubwürdig zu versichern, dass er Künstler ist. Und kein Terrorist. Nach Hannover wird Amir Reza Koohestani in diesem Sommer allerdings nicht reisen, denn er kann den Iran zur Zeit nicht verlassen. Er leistet gerade seinen Militärdienst ab, genau wie Ali, eine Figur in seinem Stück Wo warst Du am 8. Januar?. Alis verschwundene Waffe steht im Zentrum des Stücks, das Koohestanis Reaktion ist auf die Ereignisse um die Präsidentschaftswahlen im Jahr 2009. Zu diesem Zeitpunkt war er gar nicht im Iran sondern in Manchester. Er brach die Arbeit an seiner Dissertation dort ab und kehrte nach Hause zurück, einen englischen Text im Gepäck, den er als Reaktion auf die Ereignisse im Iran inszenieren wollte. Doch zu seiner Überraschung fanden seine Freunde und Kollegen den Text überhaupt nicht passend. »Dein Stück hat nichts mit dem zu tun, was wir erlebt ha-ben. Die Wahrheit ist, dass du in jenen Tagen nicht hier warst. Und egal wie vielen Leuten du zuhörst, die auf den Straßen waren – ob vor oder nach den Wahlen – egal wie viele Handyfilme du dir anschaust, du wirst niemals im Theater oder sonst wo ausdrücken können, was wir erlebt haben. Such dir lieber ein Thema, das du wirklich selbst erlebt hast.« Und so ist Wo warst Du am 8. Januar? nicht wirklich ein Stück über die grüne Revolution geworden, sondern ein Stück über ein Land, das sich ver-ändert hat. Über ein Land, in dem die Frage nach Gerechtigkeit immer virulenter wird. Über ein Land, in dem sich irgendwie alle als Opfer fühlen und deshalb für sich in Anspruch nehmen, die Regeln zu brechen. Über ein Land, in dem die Frauen immer radikaler auf die jahrzehntelangen Drangsalierungen reagieren. Über ein Land, in dem es auf einfache Fragen keine einfachen Antworten gibt.-------------------------------------------------------------------------------------Rabih Mroué und Lina Saneh kennen das nicht anders. Sie sind während des Bür-gerkriegs von 1975–1990 aufgewachsen, der den Libanon mit zahllosen Widersprü-chen hinterlassen hat. Womöglich stehen gerade darum so oft scheinbar ganz ein-fache Fragen im Zentrum ihrer Stücke. In all den politischen Wirren, zwischen all den verschiedenen Interessen halten sie sich an das Individuum. »In unserer Gesell-schaft fehlt es an Respekt für das Individuum,« sagt Rabih Mroué. Bereits 2004 war er mit Looking for a missing employee bei Theaterformen zu Gast. Das Stück erzähl-te von Mroués Recherchen über einen verschwundenen libanesischen Finanzbeam-ten. Sein subtil ironischer Ton täuschte nicht darüber hinweg, wie ungeheuer poli-tisch es im Libanon ist, so hartnäckig nach dem Verbleib eines Einzelnen zu fragen. Kein Wunder, dass Rabih Mroué schon häufiger bei der libanesischen Zensurbehörde vorgeladen war. Er hat stundenlange Befragungen über sich ergehen lassen, musste Textpassagen streichen und beträchtliche »Bearbeitungsgebühren« bezahlen. Und genau so ein Gespräch mit dem Zensor steht im Zentrum von Photo-Romance. Lina Saneh spielt ein Künstlerin, die einen Film von Ettore Scola als Fotoroman adaptiert hat. Die berührende Geschichte von zwei einsamen Menschen im Italien des Jahres 1938 verlegt sie in den Libanon des Jahres 2006. Durch ihr subtiles Spiel auf den verschiedenen Bedeutungsebenen erzählen die beiden Künstler virtuos und unter-haltsam von den Realitäten ihres Heimatlandes. Auch wenn Rabih Mroué sagt: »Ich

repräsentiere nicht den Libanon. Ich repräsentiere nicht den Nahen Osten. Ich reprä-sentiere mich selbst.«-------------------------------------------------------------------------------------2006 war der junge irakische Theatermacher Mokhallad Rasem auf Einladung von Roberto Ciulli in Deutschland. »Meine Familie sagte mir, dass die Situation im Irak immer gefährlicher wird, also beschloss ich, in Europa zu bleiben. Seither bin ich nicht mehr im Irak gewesen. Das war natürlich eine tiefgreifende Entscheidung. Im Irak habe ich 23 Jahre lang mit meiner Familie zusammengelebt, in einem Haus ge-meinsam mit 13 Personen. Durch den Krieg habe ich meinen Vater verloren und meine Familie, meine Freunde und mein gesamtes soziales Netz zurück gelassen.« Der Krieg, mehrere Kriege habe die Generation von Mokhallad Rasem, Jahrgang 1982, geprägt: »Während des Krieges stieß ich in der Bibliothek meines Vaters auf Werke der Surrealisten. Da wurde mir klar, wie surreal das Leben im Irak geworden war. Wir lebten in einer völlig unberechenbaren Welt; es gab keine Sicherheiten mehr, nichts woran man sich hätte halten können. Die ständigen Wechsel, die dauernde Angst und die albtraumhaften Erfahrungen, der tägliche Horror an den man sich gewöhnt...« Mokhallad Rasem lebt inzwischen in Belgien. Seine Erfahrungen mit dem Krieg hat er in der gefeierten Produktion Irakese Geesten – Irakische Geister verarbeitet. Wie es im Irak mit dem Theater weitergeht ist unklar. Am 1.1.2011 meldete das Internet-portal nachtkritik.de: »Das irakische Bildungsministerium hat den Meldungen ver-schiedener Medien zufolge der Fakultät der Schönen Künste der Universität Bagdad verboten, ab 2011 Theaterkunst und Musik zu unterrichten. ›Das bedeutet den Tod für uns‹, zitiert das Deutschlandradio den stellvertretenden Dekan der Universität Falah al-Mussadi. Das Ministerium habe diese Entscheidung unter dem Druck religiöser Parteien getroffen, die das Land ins Mittelalter zurückbringen wollten.-------------------------------------------------------------------------------------Der Wahlschweizer Yan Duyvendak wollte 2007 einen Aufenthalt in Ägypten dazu nutzen, für ein Performanceprojekt Interviews mit islamistischen Gotteskriegern zu führen. In Kairo lernte er aber keine Terroristen kennen, nur ganz »normale« Men-schen. »Ich realisierte, dass ich keine Ahnung habe, von der islamischen Kultur.« Der Ägypter Omar Ghayatt kam im gleichen Jahr für ein Bühnenbildstudium in die Schweiz – eine für ihn ebenso fremde Welt. »Ich hatte das Bild einer Gesellschaft ohne Werte im Kopf, wo die Leute überall Sex haben. Eine Gesellschaft, die kurz vor dem Ende steht.« In Made in Paradise stehen sie gemeinsam auf der Bühne und thematisieren diesen Zusammenprall der Vorurteile und Missverständnisse in einer Vielzahl von szenischen Fragmenten. Sie alle zu spielen würde den Abend sprengen, daher stimmen die Zu-schauer darüber ab, welche Szenen sie sehen wollen. Die fragmentarische Annähe-rung zeigt: Es gibt keine absolute Wahrheit, weder zum Islam noch zur Begegnung mit dem Anderen. »Die arabische Sprache wird von rechts nach links geschrieben, die lateinische von links nach rechts. Ich glaube, dass wir auch so denken«, so Ghayatt. Keinesfalls versuchen die beiden über bestehende Konflikte und Widersprüche hin-wegzugehen oder gar eine heile Welt zu zeigen. Sie sind aufrichtig zu ihrem Publi-kum, ehrlich zueinander und respektvoll der jeweils anderen Kultur gegenüber. Und dadurch stellen auch die Zuschauer fest: Was man über das Fremde zu wissen glaubt, sagt vor allem etwas aus über einen selbst.«-------------------------------------------------------------------------------------Auch die eigenen Landsleute können einem plötzlich fremd werden. Den Rechtsruck in Ungarn hatten viele ungarische Künstler und Intellektuelle nicht kommen sehen. Sie überraschte auch den Regisseur, Autor und Schauspieler Béla Pintér. »Es ist schwer, über die aktuelle politische Situation etwas Kluges zu sagen, wenn man kei-nen Draufblick hat, keine Distanz,« erläutert Béla Pintér. Die aktuelle nationalkonser-vative Regierung, deren Verfassungsänderungen in ganz Europa als undemokratisch kritisiert werden, hat im eigenen Land einen scheinbar großen Rückhalt. Dass ganz

normale Menschen, Leute wie Du und ich, plötzlich radikale Thesen vertreten, erle-ben wir aber auch in Deutschland in letzter Zeit immer häufiger, man denke nur an die Debatte nach den Äußerungen Thilo Sarrazins. Um diese Erfahrung geht es in Miststück. »Ich hatte die Idee zu zeigen, wie jemand zum Neonazi wird, und ich wollte es anhand eines Familienkonflikts zeigen. Auf diese Weise konnte ich das Thema von einem neuen Blickwinkel aus betrachten und musste es nicht ganz eins zu eins behandeln. Außerdem macht ein Familienkonflikt das Ganze nachvollzieh-barer, berührender. Was mich daran besonders interessiert, ist, dass die Verwandlung von Rószi in eine Anhängerin der Ungarischen Garde für die Familie so unerwartet kommt, wie die Rechtsextreme für die ungarische Gesellschaft nach 1989 unerwartet kam.« sagt Béla Pintér über Miststück. Pintér gehört zu den wichtigsten Protago-nisten der freien Szene, die in der ungarischen Theaterlandschaft der Ort der Innova-tion und künstlerischen Freiheit ist – und der neuen Regierung ein Dorn im Auge, auch wenn die zunächst angedrohte vollständige Kürzung der Subventionen wieder zurückgenommen wurde. Die politische Situation ist allgegenwärtig. »Wenn wir tou-ren und das Publikum nicht kennen, dann beginnt sofort eine Art seltsamer Tanz: Auf welcher Seite steht Ihr? Ich weiß nicht, wie das in anderen Ländern ist, aber hier in Ungarn geht die Frage, wo man politisch steht, sehr tief. Bis ins Blut.«-------------------------------------------------------------------------------------In Japan regierte seit dem Zweiten Weltkrieg die Liberaldemokratische Partei. Als diese Regierung am 30. August 2009 abgewählt wurde, war das eine politische Sen-sation. Die japanische Gesellschaft, besonders die jungen Leute, reagierten jedoch völlig teilnahmslos. Die emotionale, soziale und auch politische Erstarrung angesichts eines historischen Ereignisses war das Thema von Toshiki Okadas vorletztem Stück Wir sind die unbeschädigten Anderen. »Dass dieser Regierungswechsel bei den Ja-panern keinerlei Emotionen ausgelöst hat, scheint mir zu zeigen, dass wir überhaupt keine Möglichkeiten mehr haben, uns Hoffnungen zu machen. Wir haben das voll-kommen aufgegeben. Seit der Niederlage im Zweiten Weltkrieg hat sich Japan wirt-schaftlich kontinuierlich entwickelt. Daraus entstand der Wohlstand des Landes, der aber schon lange schrumpft. Ältere Japaner können die Zeit des Wirtschaftsauf-schwungs nicht vergessen und träumen immer noch davon. Für unsere Generation ist diese Haltung nur lächerlich. Die Älteren wünschen sich die damalige Vitalität des Wiederaufbaus zurück. Sie denken, dass sich das Land so vom lähmenden Zustand der Gegenwart befreien kann. Für uns ist ziemlich klar, dass gerade diese Wiederaufbau-Mentalität der Älteren die Ursache des schwierigen Zustands von heute ist.« Auch seine neueste Arbeit Das Leben der Riesenschildkröten in Schallgeschwindigkeit portraitiert seine Generation als ziellos suchend, in den Oberflächen des eigenen Lebens gefangen. Bereits in ihrem Namen drückt sich das Selbstverständnis von Okadas Theatergruppe aus: chelfitsch ist eine Verballhornung in Babysprache des englischen Wortes »selfish« (selbstsüchtig) und steht für das soziale und kulturelle Klima des heutigen Japan. Vor dem Hintergrund des nuklearen Unfalls in Fukushima am 11. März 2011 bekommt Okadas Analyse der japanischen Gesellschaft plötzlich eine prophetische Dimension: »In Das Leben der Riesenschildkröten geht es um den Alltag. In dem Stück versuche ich, unsere widersprüchliche Natur zu beschreiben: Unser alltägliches Leben langweilt uns oft, obwohl ein stabiler Alltag natürlich ei-gentlich beruhigend ist. In der Tat hat sich die Bedeutung des Stücks völlig geändert, weil das Publikum jetzt die Ereignisse vom 11.3. mitdenkt. Unsere »Message« war, dass unser alltägliches Leben stabil erscheinen mag, es aber jederzeit kollabieren kann. Genau das haben wir erlebt.«--------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------ANJA DIRKS ist seit 2009 Künstlerische leiterin des Festival theaterFor-men, das vom 22. Juni bis 3. Juli 2011 wieder in hannover stattFindet.

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Auch der südafrikanische Regisseur Brett Bailey

inszeniert den antiken Mythos von Orfeus im Kontext der

gesellschaftlichen Realitäten des heutigen Südafrika.

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IMPRESSUM Heft #7 HERAUSGEBER Niedersächsische Staatstheater Hannover GmbH, Schauspiel Hannover, Spielzeit 2010/11 INTENDANT Lars-Ole Walburg REDAKTION Dramaturgie, Presse und Öffentlichkeitsarbeit FOTOS Katrin Ribbe sowie Karl-Bernd Karwasz (»Die Welt ohne uns (III): Wachsen oder weichen«, »Unternehmen Hunger« und »Verbrennungen«), Dorothea Tuch (»Bodenprobe Kasachstan«) GESTALTUNG María José Aquilanti, Philipp Baier, Birgit Schmidt DRUCK Berlin Druck, Achim

Deine moralische Anstalt

spielzeit 2011/2012 abobüro 0511 9999 2222

staatsFeinD kOhlhaas die verloBung von Santo domingo + die verloBung von Santo domingo + die verloBung von Santo domingo + die verloBung von Santo domingo + die verloBung von Santo domingo

coraline + coraline + coraline + coraline + coralinedePortation caSt + dePortation caSt + dePortation caSt + dePortation caSt + dePortation caSt + dePortation caSt + dePortation caSt + dePortation caSt + dePortation caSt+ dePortation caSt die welt ohne unS + die welt ohne unS + die welt ohne unS + die welt ohne unS + die welt ohne unS + die welt ohne unS + die welt ohne unS + die welt ohne unS + die welt ohne unS + die welt ohne unS

Die nibelUnGen fatima + fatima + fatima + fatima + fatima + fatima + fatima + fatima + fatima + fatima + fatima + fatima + fatima + fatima + fatima + fatima + fatima + fatima + fatima + fatima + fatima + fatima fegefeuer + fegefeuer + fegefeuer + fegefeuer + fegefeuer + fegefeuer + fegefeuer + fegefeuer + fegefeuer + fegefeuer + fegefeuer + fegefeuer + fegefeuer + fegefeuer + fegefeuer

Pünktchen und anton + Pünktchen und anton

antiGOne + antiGOnethe BoSS of it all + the BoSS of it all + the BoSS of it all + the BoSS of it all + the BoSS of it all + the BoSS of it all + the BoSS of it all + the BoSS of it all + the BoSS of it all + the BoSS of it allauS dem Bürgerlichen heldenleBen + auS dem Bürgerlichen heldenleBen + auS dem Bürgerlichen heldenleBen + auS dem Bürgerlichen heldenleBen + auS dem Bürgerlichen heldenleBen ein neueS Stück von anne lePPer + ein neueS Stück von anne lePPer + ein neueS Stück von anne lePPer + ein neueS Stück von anne lePPer + ein neueS Stück von anne lePPer + troiluS und creSSida + troiluS und creSSida + troiluS und creSSida + troiluS und creSSida + troiluS und creSSida + troiluS und creSSida + troiluS und creSSida + troiluS und creSSida

kOllateralschlaGerunSer lehrer iSt ein troll + unSer lehrer iSt ein troll + unSer lehrer iSt ein troll + unSer lehrer iSt ein troll + unSer lehrer iSt ein troll + unSer lehrer iSt ein troll + unSer lehrer iSt ein troll

WOYzeckStulle und Bulle: wer zuletzt lacht, iSt die Polizei + Stulle und Bulle: wer zuletzt lacht, iSt die Polizei + Stulle und Bulle: wer zuletzt lacht, iSt die Polizei + Stulle und Bulle zuSammen! + zuSammen! + zuSammen! + zuSammen! + zuSammen! + zuSammen! + zuSammen! + zuSammen! + zuSammen! + zuSammen! + zuSammen! + zuSammen! + zuSammen! + zuSammen! kaSimir und karoline + kaSimir und karoline + kaSimir und karoline + kaSimir und karoline + kaSimir und karoline + kaSimir und karoline + kaSimir und karoline + kaSimir und karoline

FaserlanD + FaserlanD + FaserlanDtod und wiederauferStehung der welt meiner eltern in mir + tod und wiederauferStehung der welt meiner eltern in mir + tod und wiederauferStehung der welt meiner eltern in mir die Summe der teile + die Summe der teile + die Summe der teile + die Summe der teile + die Summe der teile + die Summe der teile + die Summe der teile + die Summe der teile

laWrence VOn arabienBagdad 3260 km + Bagdad 3260 km + Bagdad 3260 km + Bagdad 3260 km + Bagdad 3260 km + Bagdad 3260 km + Bagdad 3260 km + Bagdad 3260 km + Bagdad 3260 km + Bagdad 3260 km SandBürger + SandBürger + SandBürger + SandBürger + SandBürger + SandBürger + SandBürger + SandBürger + SandBürger + SandBürger + SandBürger + SandBürger + SandBürger