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www.nd-netz.de HIRSCHBERG ISSN 1432-8305 | Jahrgang 71 | Ausgabe 04 | April 2018 Club of Rome: »Wir sind dran«

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Page 1: HIRSCHBERG · 2019. 10. 19. · 204 | HIRSCHBERG 04/18 Der Kern des neuen Club of Rome-Berichts lautet: Für die heutige Volle Welt brauchen wir eine Neue Aufklärung.Die alte Aufklä-rung

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HIRSCHBERGISSN 1432-8305 | Jahrgang 71 | Ausgabe 04 | April 2018

Club of Rome: »Wir sind dran«

Page 2: HIRSCHBERG · 2019. 10. 19. · 204 | HIRSCHBERG 04/18 Der Kern des neuen Club of Rome-Berichts lautet: Für die heutige Volle Welt brauchen wir eine Neue Aufklärung.Die alte Aufklä-rung

EDITORIAL

200 | HIRSCHBERG 04/18

Liebe Leserinnen und Leser, liebe Bundesgeschwister,

»Come on!« Der Originaltitel des Club of Ro-me-Berichts ist schwungvoll, drängend, auf-rüttelnd, bei der Mahnung auch ermunternd. Das deutsche »Wir sind dran« könnten auch Delinquenten vor der Hinrichtung sagen. Oder ein Sportteam, das, sowieso ohne Chance auf den Sieg, sich zum Start müht. »Die Gren-zen des Wachstums«, der erste Bericht des Wissenschaftlerclubs für eine nachhaltige Zu-kunft von Menschen, Erde und Ökosystemen, löste 1972 ein grundsätzlich anderes Erken-nen, Nachdenken und auch einiges Handeln aus. Der neue sagt, wir, die Menschen, kön-nen gewinnen, können weiterleben, aber wir müssen uns richtig anstrengen, verändern, trainieren, sehr viel besser werden. Der Präsi-dent des Clubs schreibt den Hirschberg-Leser/innen: Die Staaten alleine können es nicht schaffen, den Fortschritt in die richtige Richtung zu lenken; sie sind angewiesen auf das Mitmachen der Zivilgesellschaft. Er will wohl sagen: »Come on! Ihr seid dran.«

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INHALT

CLUB OF ROME: WIR SIND DRAN | 201

EDITORIAL | Martin Merz ……………………………………………………………… 200

GEISTLICHES WORT

Er blickt auf die Erde| Ps 104 ………………………………………………………… 202

ZUM THEMA

Wir sind dran | Ernst Ulrich von Weizsäcker …………………………………………… 204 Laudato sí: Papst Franziskus spricht | Club of Rome, Wir sind dran ………………… 209 Einladung zur Aufklärung 2.0| Markus Vogt, Ivo Frankenreiter ……………………… 217 Klima: Gute Neuigkeiten, aber noch größere Aufgaben | Club of Rome, Wir sind dran 224 »Guck dich die Welt an, dann weißte Bescheid« | Peter Otten ……………………… 233

TERMINE

Bundesweite Veranstaltungen 2018 …………………………………………………… 237 Ein Käfig voller Narren | Burgtag 2018 ………………………………………………… 238 Der technisch optimierte Mensch | AK Naturwissenschaft und Glaube ……………… 239 JuLeiCa 2018 …………………………………………………………………………… 240 Marienburg Niederalfingen – 90 Jahre bei ND und KSJ ……………………………… 241

AUS DER GEMEINSCHAFT

Marienburg Niederalfingen – 90 Jahre für ND und KSJ | Klaus Eilhoff ……………… 243 JugeND: irre relevant | Mirjam Taufenbach, Rebecca Goliasch, Johannes Neuwirth … 245 Willkommen im ND! ……………………………………………………………………… 246 ND-Kongress 2018: Innovativ beim Einmischen und Mitmischen | Johannes Menze … 248 Fringsen 2017 – Aufbruch ins Ungewisse | Peter Barzel ……………………………… 250 Schlicht privat | Stefan Vesper ………………………………………………………… 251

BUCHBESPRECHUNG

Weckruf zum Frieden | Emil Wagner …………………………………………………… 255

KOLUMNE

Kunstbeachtung | Thomas M. Hartmann ……………………………………………… 256

STIFTUNG HIRSCHBERG ……………………………………………………………… 257

FAMILIENBUCH Persönliche Nachrichten, Geburtstage, Unsere Toten …………………………………… 257

ND-ADRESSEN …………………………………………………………………………… 261

LETZTE SEITE …………………………………………………………………………… 264

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Der Kern des neuen Club of Rome-Berichts lautet: Für die heutige Volle Welt brauchen wir eine Neue Aufklärung. Die alte Aufklä-rung von Descartes bis Kant war großartig, befreiend, notwendig. Sie war die Basis für die Industrielle Revolution, die so unglaub-lich viel Wohlstand ermöglicht hat. Aber sie wurde entwickelt und formuliert in der Zeit der »Leeren Welt«. Da lebten weniger als eine Milliarde Menschen auf der Erde. Es gab noch riesige »weiße Flecken« auf der Welt-Landkarte, riesige unzerstörte Wälder, immensen Fischreichtum, beliebig viele Bo-denschätze, die meisten noch nicht einmal entdeckt. Und Europa schickte sich an, die ganze Welt zu kolonisieren, mit meistenteils grausamen Eroberungsfeldzügen gegen die jeweiligen Bewohner in den »fremden Län-dern«.

»Der Kern des neuen Club of Rome-Berichts lautet:

Für die heutige Volle Welt brauchen

wir eine Neue Aufklärung.«

Ernst Ulrich von Weizsäcker

Es war Herman Daly, der frühere Weltbank-Ökonom und Begründer der »Ökologischen Ökonomie«, der die Unterscheidung zwi-schen der Leeren Welt und der Vollen Welt geprägt hat.1 Vor 1950 wäre diese Unter-

ZUM THEMA

Wir sind dran

scheidung noch in keiner Weise plausibel ge-wesen. Erst das rasante Wachstum nach dem Zweiten Weltkrieg hat uns ins »Anthropozän« katapultiert (Abbildung S. 206/207).

In der Leeren Welt war der Raubbau an der Natur lokal und relativ harmlos. In der heuti-gen Vollen Welt wird er zur Bedrohung für un-sere Lebensgrundlagen. Für das Anthropozän brauchen wir eine neue Philosophie, die ge-eignet ist, das Überleben der Menschheit zu sichern und hierfür das Überleben der Natur zu garantieren, die uns das Leben überhaupt erst möglich macht. Noch radikaler gesagt: Wir brauchen nichts weniger als eine Neue Aufklärung.

In dem neuen programmatischen Club of Ro-me-Bericht »Wir sind dran«, englisch »Come On!«, leiten wir die diesbezügliche Diskus-sion mit der großartigen Enzyklika Laudato Si‘ von Papst Franziskus ein.3 Auch er fordert ein neues Denken für »unser gemeinsames Haus«, für die Erde. Er geißelt einen auf Geiz und Expansion aufbauenden Kapitalismus als Gefahr für das Gemeinsame Haus.

Wir setzen nach und untersuchen die Kern-aussagen von drei Ikonen der Ökonomie: Adam Smith, David Ricardo und Charles Darwin. Alle drei, scheint uns, haben zu ihrer Zeit das Richtige gesagt, das richtige für die

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CLUB OF ROME: WIR SIND DRAN | 205

leere Welt und unter allerlei Bedingungen, die heute gar nicht mehr gegeben sind.

Adam Smith hatte die Eingebung, dass der Eigennutz der Bauern, Handwerker und Händler zum Wohle der Gemeinschaft ge-reicht. Die »unsichtbare Hand« sorgte dafür, dass Eigennutz dem Gemeinwohl dient. Aber Smith konnte noch fraglos davon ausgehen, dass die geographische Reichweite des so entstandenen Handels, des »Marktes« noch identisch war mit der Reichweite des Staates und des von ihm gesetzten Rechtes. Diese Bedingung ist heute überhaupt nicht mehr gegeben. Der Markt, vor allem der Finanz-markt, ist heute global, während das Recht in der Hauptsache national ist. Und so hat der Kapitalmarkt angefangen, die Staaten zu beeinflussen, um nicht zu sagen zu erpres-sen, ihre Regeln so zu ändern, dass die Kapi-talrendite steigt.

David Ricardo hat noch angenommen, dass das Kapital (damals hauptsächlich das pro-duktive Kapital, d.h. die Fabriken oder Äcker) ortsfest blieb. Nur die Waren und die Händ-ler wanderten über die Grenzen. Und der so beschaffene Außenhandel erzeugte »kompa-rative Vorteile« und nützte allen Beteiligten. Heute dagegen ist es fast ausschließlich das (Finanz-)Kapital, das – praktisch mit Licht-geschwindigkeit – um den Globus saust und die Realwirtschaft lenkt und erpresst und sich zugleich vor den Steuerbehörden mög-lichst unsichtbar macht. Es entstehen ab-

solute Vorteile und entsprechende absolute Nachteile. Empörung kommt auf bei den Verlierern, den lokalen Produzenten und den dort Beschäftigten, und bei den braven Steu-erzahlern. Diese schamlose Entwicklung mit Ricardo zu rechtfertigen, ist unmöglich!

Charles Darwins Denken über den Wett-bewerb der Arten wird frivol in Anspruch genommen für das Niederreißen aller Han-delshemmnisse, auf dass ein weltweiter Wettbewerb aller gegen alle die Evolution zum Besseren beschleunige. Nein, würde Darwin da sagen: Barrieren sind geradezu eine Voraussetzung für die Entwicklung der beeindruckenden Artenfülle gewesen. Klima-tische Unterschiede und Barrieren, Gebirge und Gewässer ließen Vegetationszonen und lokale Spezialisierungen entstehen, die ihrer-seits die Basis für die vielen Millionen von Tier- und Pflanzenarten waren. Das Nieder-reißen von Barrieren bedeutet Vernichtung von Vielfalt, während Darwins Evolutionsleh-re die laufende Vermehrung von Vielfalt er-klären konnte. Und der genetische Mechanis-mus der Dominanz von Erbmerkmalen über »rezessive« Spielarten schützte die Letzteren vor der Ausrottung. Solche Schutzmechanis-men für »schwächere« Spielarten waren ein Segen für die Vermehrung und den Erhalt von Vielfalt, die in Notzeiten unversehens ge-braucht wurde, um auf neue Herausforderun-gen rasch genug zu antworten.

Zusammengefasst: die drei aufklärerischen

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ZUM THEMA

Die große Beschleunigung:

Ikonen im 18. und 19. Jahrhundert werden für eine primitive Sorte von Kampf der Star-ken gegen die Schwachen in Anspruch ge-nommen, welche die genialen Verfasser der aufklärenden Schriften nie im Sinn gehabt hatten.

Eine neue Aufklärung muss insbesondere ei-ner uralten Tugend wieder zur Geltung ver-helfen, der Tugend der Balance. Bei Adam Smith ist es die Balance zwischen Staat und Markt; bei David Ricardo die Balance zwi-

schen handelstreibenden Staaten; und bei Charles Darwin zwischen dem heutigen Er-folg mit dem Reichtum von zukünftigen Opti-onen. Die Autoren von »Wir sind dran« gehen aber viel weiter. Sie fordern die Balance zwi-schen Mensch und Natur, zwischen Kurzfrist und Langfrist, zwischen Leistungsanreiz und Gerechtigkeit, zwischen Staat und Religion, oder zwischen der linken und der rechten Ge-hirnhälfte. Unsere Zivilisation braucht weni-ger Rechthaberei und mehr Balance! Das ist auch eine Lehre für das »westliche« Denken,

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Das Anthropozän. 24 Kurven zeigen die Veränderungen der menschlichen Bevöl-kerung, der chemischen Zusammensetzung der Atmosphäre und der menschli-chen Bebauung und Verbrauchsmuster. Die dramatischen Veränderungen traten erst in den vergangenen fünfzig Jahren auf. (Angepasst nach Steffen et al., 20072.)

wo die Rechthaberei gedeiht, gegenüber dem östlichen Denken, wo das Yin- und Yang-Symbol die Balance widerspiegelt.

»Überall muss das Bewusstsein gepflegt werden, dass wir in einer verdammt Vollen Welt leben und dass das von uns eine Abkehr von bequemen Denkmustern aus der Leeren Welt erfordert.«

Der Club of Rome bleibt aber nicht in der

Philosophie stehen, er wird politisch kon-kret, in Sachen Klima, Kreislaufwirtschaft, Finanzmarktregulierung und vielen anderen Baustellen. Will man Wohlstand ohne Zer-störung der Natur, muss die Vermehrung der Menschen aufhören und die Ressourcen-produktivität dramatisch gesteigert werden. Sonst bräuchten wir fünf oder mehr Erdbälle für den »Wohlstand für alle«. Jedoch bei ei-ner Ideologie, dass Energie, Wasser und Land für alle »bezahlbar«, d.h. billig verfügbar sein müssten, zerstört man den unerlässlichen

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208 | HIRSCHBERG 04/18

ZUM THEMA

Anreiz, der zur drastischen Erhöhung der Ressourcenproduktivität führen würde. Die Staaten sind aufgefordert, durch geeignete Preissignale den Fortschritt in die richtige Richtung zu lenken.

Die Staaten alleine können das nicht schaf-fen. Sie sind angewiesen auf das Mitmachen der Zivilgesellschaft, der Investoren, der Bil-dungsinstitutionen. Überall muss das Be-wusstsein gepflegt werden, dass wir in einer verdammt Vollen Welt leben und dass das von uns eine Abkehr von bequemen Denk-mustern aus der Leeren Welt erfordert.

Die Nationen wiederum müssen lernen, sich als Partner statt bloß als Rivalen zu beneh-men. Ein Kapitel in »Wir sind dran« sieht vor, dass in jedem Staat ein »Kohabitationsminis-terium« geschaffen wird, dessen Aufgabe es ist, Felder zu bezeichnen und zu entwickeln, deren Pflege dem eigenen Land und einer größeren Zahl von anderen Ländern Nutzen bringt. In der EU haben wir so etwas ja schon im Ansatz: die für europäische Angelegenhei-ten zuständigen Ministerien sollen ja gerade die Synergien, nicht die Rivalitäten zwischen den EU-Staaten suchen und ausbauen. Hier tut sich ein großer Abstand zwischen dem jungen Europa und den verkalkten Doktrinen des auf ewige Rivalität fixierten gegenwär-tigen US-Präsidenten auf. Seien wir froh in Europa, dass wir hier schon weiter sind, übri-gens auch in einem balancierteren Verständ-nis von Charles Darwin!

Verweise

1 Herman Daly. 2015. Economics for a Full World. Essay for the Great Transition Initiative. Boston.

2 Will Steffen, Paul. J. Crutzen, John R. McNeill. 2007. The Anthropocene: Are Humans Now Over-whelming the Great Forces of Nature? Ambio 36 614-621, 2007.

3 Laudato si: die Umwelt-Enzyklika des Papstes. 2015 Taschenbuch. Freiburg i.Br. Herder.

Prof. Dr. Dr. h.c. Ernst Ulrich von Weizsäcker ist Chemiker, Physiker und Biologe, er hatte Lehrstühle an verschiedenen Hoch-schulen inne und ist heute Honorarpro-fessor der Universität Freiburg. Er war Direktor des Instituts für Europäische Um-weltpolitik und Gründungspräsident des Wuppertal Instituts für Klima, Umwelt, Energie. Von 1998 bis 2005 war er Mit-glied des Deutschen Bundestages (SPD). Er gehörte dem Präsidium des Deutschen Evangelischen Kirchentages an. Seit 1991 ist er Mitglied des Club of Rome, seit 2012 mit dem schwedischen Politiker Anders Wijkman dessen (Co-)Präsident.

»Wir sind dran«, der Be-richt des Club of Rome, hg. von Ernst Ulrich von Weizsäcker und Anders Wijkman, erschien im Oktober 2017 im Gü-tersloher Verlagshaus; 394 Seiten, 24,99 Euro.