ice-katastrophe von eschede

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S286 Trauma und Berufskrankheit · Supplement 2 · 2000 Das ICE-Unglück in Eschede am 3.6. 1998 war das bisher größte Unfallereig- nis im Landkreis Celle und gleichzeitig das schwerste Zugunglück in der Ge- schichte der Deutschen Bundesbahn. Es offenbarte nicht nur dem Rettungs- dienst, sondern auch allen übrigen an dem Rettungseinsatz beteiligten Orga- nisationen eine Schadenslage von bis dahin unbekannter Dimension. Rettungsdienststrukturen im Landkreis Celle Der Landkreis Celle umfasst eine Fläche von 1544,84 km 2 . Die längste Nord-Süd- Strecke beträgt 49 km, die größte Ost- West-Ausdehnung 46 km.Die Einwohn- erzahl beträgt insgesamt 180.605, hier- von entfallen 73.191 auf die Kreisstadt Celle (Stand 30.6.1998). Der Rettungsdienst ist dem Deutschen Roten Kreuz, Celle Land e.V., und einem freien Anbieter in Bergen übertragen, die diese Aufgabe als Rettungsdienstge- meinschaft wahrnehmen. Rettungsmitteldichte Die Anzahl der Rettungswachen und de- ren materielle und personelle Ausstat- tung gehen auf ein Wirtschaftlichkeits- gutachten aus dem Jahr 1996 zurück, welches zu einer Reduktion der Ret- tungsmitteldichte im Landkreis Celle geführt hatte. Danach werden die rettungsdienst- lichen Aufgaben von 5 Rettungswachen (Celle, Beckedorf, Eschede,Wienhausen und Winsen) wahrgenommen, die nach einsatztaktischen Vorgaben (15 min Hilfsfrist) im Landkreis verteilt und ganzjährig 24 h/Tag besetzt sind. In der Kreisstadt Celle sind der Wache 2 RTW zugeordnet, alle übrigen verfügen über je 1 RTW [Rettungs(transport)wagen]. Die Besatzung besteht aus je 1 Rettungs- assistenten und 1 Rettungssanitäter. Zusätzlich sind die Wachen Celle mit 2 und Winsen mit 1 KTW (Kranken- transportwagen) für den qualifizierten Krankentransport ausgerüstet, 1 weite- rer KTW steht in Bergen. Trauma Berufskrankh 2000 · 2 [Suppl 2]: S286–S290 © Springer-Verlag 2000 Großkatastrophen Ewald Hüls Klinik für Unfall- und Wiederherstellungschirurgie,Allgemeines Krankenhaus Celle ICE-Katastrophe von Eschede Fakten Dr. E. Hüls Klinik für Unfall- und Wiederherstellungs- chirurgie, Allgemeines Krankenhaus Celle, Siemensplatz 4, 29221 Celle (e-mail: [email protected], Tel.: 05141-721100, Fax: 05141-721109) Zusammenfassung Die ICE-Katastrophe am 3.6.1998 war das bislang größte Zugunglück in der Geschichte der Deutschen Bundesbahn und konfron- tierte den Rettungsdienst des Landkreises Celle mit einem Schadensausmaß von bis- lang unbekannter Dimension. In kooperati- ver Zusammenarbeit mit den benachbarten Rettungsdiensten verschiedener Organisa- tionen, den Sanitätsdiensten der Katastro- phenschutzverbände und den Einheiten der regionalen freiwilligen Feuerwehren und der Berufsfeuerwehren sowie der Unterstützung durch Bundeswehr,Technisches Hilfswerk, Polizei und Bundesgrenzschutz konnte die Rettungsaktion unter optimalen äußeren Bedingungen erfolgreich durchgeführt werden.Innerhalb von 3 h waren 87 z. T. schwerstverletzte Patienten geborgen, me- dizinisch versorgt und auf dem Weg in die weiter behandelnden Kliniken. Die außer- gewöhnlich schnelle und hohe Präsenz an Rettungs- und Bergungskräften (insgesamt > 1800!) und insbesondere auch die Verfüg- barkeit einer hohen Zahl von Luftrettungs- mitteln (39 Maschinen) ließen einen Versor- gungsmangel vor Ort de facto nicht entste- hen. Die Unfallopfer konnten annähernd in- dividualmedizinisch versorgt werden, eine Triage im üblichen Sinn erübrigte sich, und eine Überlastung nahe gelegener Kliniken wurde vermieden.Vor Ort wurden 96 Tote geborgen – im Verlauf starben 5 Patienten in den Kliniken an den Folgen ihrer schweren Verletzungen. Die Kommunikation am Ein- satzort sowie die Durchführung der Doku- mentation zeigten sich erneut als bekannte Probleme bei Großschadenslagen. Die tech- nische Bergung aus den ICE-Reisewagen stellte sich wegen fehlender Zugangs- und Eindringmöglichkeiten als besonders kritisch dar.Besonderheiten zeigten sich bei der Ko- ordination ziviler und militärischer Luftret- tungsmittel – Einsatz von SAR-Leitstelle und On-scene-Coordinator – sowie der Notwen- digkeit der Luftraumsperrung über dem Unfallort und nahe gelegener militärischer Übungsplätze. Schlüsselwörter ICE-Katastrophe · Eschede · Kommunikation am Einsatzort ·Dokumentation · Groß- schadenslagen · Massenanfall von Verletzten (MANV)

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S286 Trauma und Berufskrankheit · Supplement 2 · 2000

Das ICE-Unglück in Eschede am 3.6.1998 war das bisher größte Unfallereig-nis im Landkreis Celle und gleichzeitigdas schwerste Zugunglück in der Ge-schichte der Deutschen Bundesbahn. Esoffenbarte nicht nur dem Rettungs-dienst, sondern auch allen übrigen andem Rettungseinsatz beteiligten Orga-nisationen eine Schadenslage von bisdahin unbekannter Dimension.

Rettungsdienststrukturen im Landkreis Celle

Der Landkreis Celle umfasst eine Flächevon 1544,84 km2. Die längste Nord-Süd-Strecke beträgt 49 km, die größte Ost-West-Ausdehnung 46 km. Die Einwohn-erzahl beträgt insgesamt 180.605, hier-von entfallen 73.191 auf die KreisstadtCelle (Stand 30.6.1998).

Der Rettungsdienst ist dem DeutschenRoten Kreuz, Celle Land e.V., und einemfreien Anbieter in Bergen übertragen,die diese Aufgabe als Rettungsdienstge-meinschaft wahrnehmen.

Rettungsmitteldichte

Die Anzahl der Rettungswachen und de-ren materielle und personelle Ausstat-tung gehen auf ein Wirtschaftlichkeits-gutachten aus dem Jahr 1996 zurück,welches zu einer Reduktion der Ret-tungsmitteldichte im Landkreis Cellegeführt hatte.

Danach werden die rettungsdienst-lichen Aufgaben von 5 Rettungswachen(Celle, Beckedorf, Eschede,Wienhausenund Winsen) wahrgenommen, die nacheinsatztaktischen Vorgaben (15 minHilfsfrist) im Landkreis verteilt undganzjährig 24 h/Tag besetzt sind. In derKreisstadt Celle sind der Wache 2 RTWzugeordnet, alle übrigen verfügen überje 1 RTW [Rettungs(transport)wagen].Die Besatzung besteht aus je 1 Rettungs-assistenten und 1 Rettungssanitäter.

Zusätzlich sind die Wachen Cellemit 2 und Winsen mit 1 KTW (Kranken-transportwagen) für den qualifiziertenKrankentransport ausgerüstet, 1 weite-rer KTW steht in Bergen.

Trauma Berufskrankh2000 · 2 [Suppl 2]: S286–S290 © Springer-Verlag 2000 Großkatastrophen

Ewald HülsKlinik für Unfall- und Wiederherstellungschirurgie, Allgemeines Krankenhaus Celle

ICE-Katastrophe von EschedeFakten

Dr. E. HülsKlinik für Unfall- und Wiederherstellungs-chirurgie, Allgemeines Krankenhaus Celle,Siemensplatz 4, 29221 Celle(e-mail: [email protected],Tel.: 05141-721100, Fax: 05141-721109)

Zusammenfassung

Die ICE-Katastrophe am 3.6.1998 war dasbislang größte Zugunglück in der Geschichteder Deutschen Bundesbahn und konfron-tierte den Rettungsdienst des LandkreisesCelle mit einem Schadensausmaß von bis-lang unbekannter Dimension. In kooperati-ver Zusammenarbeit mit den benachbartenRettungsdiensten verschiedener Organisa-tionen, den Sanitätsdiensten der Katastro-phenschutzverbände und den Einheiten derregionalen freiwilligen Feuerwehren und derBerufsfeuerwehren sowie der Unterstützungdurch Bundeswehr,Technisches Hilfswerk,Polizei und Bundesgrenzschutz konnte dieRettungsaktion unter optimalen äußerenBedingungen erfolgreich durchgeführt werden. Innerhalb von 3 h waren 87 z. T.schwerstverletzte Patienten geborgen, me-dizinisch versorgt und auf dem Weg in dieweiter behandelnden Kliniken. Die außer-gewöhnlich schnelle und hohe Präsenz anRettungs- und Bergungskräften (insgesamt> 1800!) und insbesondere auch die Verfüg-barkeit einer hohen Zahl von Luftrettungs-mitteln (39 Maschinen) ließen einen Versor-gungsmangel vor Ort de facto nicht entste-hen. Die Unfallopfer konnten annähernd in-dividualmedizinisch versorgt werden, eineTriage im üblichen Sinn erübrigte sich, undeine Überlastung nahe gelegener Klinikenwurde vermieden.Vor Ort wurden 96 Totegeborgen – im Verlauf starben 5 Patienten in den Kliniken an den Folgen ihrer schwerenVerletzungen. Die Kommunikation am Ein-satzort sowie die Durchführung der Doku-mentation zeigten sich erneut als bekannteProbleme bei Großschadenslagen. Die tech-nische Bergung aus den ICE-Reisewagen

stellte sich wegen fehlender Zugangs- undEindringmöglichkeiten als besonders kritischdar. Besonderheiten zeigten sich bei der Ko-ordination ziviler und militärischer Luftret-tungsmittel – Einsatz von SAR-Leitstelle undOn-scene-Coordinator – sowie der Notwen-digkeit der Luftraumsperrung über dem Unfallort und nahe gelegener militärischerÜbungsplätze.

Schlüsselwörter

ICE-Katastrophe · Eschede · Kommunikationam Einsatzort ·Dokumentation · Groß-schadenslagen · Massenanfall von Verletzten(MANV)

Trauma und Berufskrankheit · Supplement 2 · 2000 S287

Für den Krankentransport sind 7weitere KTW anderer Organisationenund freier Unternehmer nach §19 NRDGim Landkreis zugelassen, diese stehenjedoch nur an Werktagen und tagsüberzur Verfügung.

Als Besatzung ist die Qualifikationals Rettungssanitäter für mindestens 1Person vorgeschrieben.

Benachbarte Rettungsdienste

Der Landkreis liegt im Einsatzradius der Primärrettungshubschrauber Chris-toph 4 (stationiert an der MedizinischenHochschule Hannover) und Christoph19 (Uelzen) und wird durch diese nachAnforderung unterstützt.

Die Nachbarkreise Uelzen, Gifhorn,Soltau-Fallingbostel und Hannover lei-sten bei Bedarf und nach geregelten Ab-sprachen – insbesondere bei Schadens-fällen in den Randgebieten des Land-kreises Celle – mit ihren Rettungsdienst-einrichtungen ebenfalls Hilfe zur Be-wältigung der alltäglich anfallenden ret-tungsdienstlichen Aufgaben.

Notärzte

Die Notärzte für den Rettungsdienstwerden ausschließlich und vertraglichaus dem Allgemeinen Krankenhaus Cel-le rekrutiert, die Gruppe steht unter derLeitung der Klinik für Unfall- und Wie-derherstellungschirurgie. Sie setzt sichinterdisziplinär aus 20 ausgebildetenNotärzten mit z. T. zusätzlicher theore-tischer Ausbildung als LNA (LeitenderNotarzt) ausschließlich aus den FächernAnästhesie, (Unfall)Chirurgie und Inne-rer Medizin zusammen. Alle Notärzteversehen diesen Dienst langjährig undfreiwillig.

Eine Bestallung als LNA ist aus Kos-tengründen bislang nicht erfolgt.

Eingerichtet und bestallt ist hin-gegen die Funktion „Ärztlicher LeiterRettungsdienst“; als ausgebildeter LNAübernimmt er diese Funktion zustän-digkeitshalber im Einsatzfall bei Groß-schadenslagen.

Die Notärzte versehen ihren Dienstüber je 24 h als Bereitschaftsdienst imKrankenhaus und werden im Einsatzfalldort über Funk alarmiert.An der Klinikist ein Notarzteinsatzfahrzeug (NEF) mitFahrer (Rettungsassistent vom DRK)stationiert, der Rettungseinsatzablauferfolgt im Rendezvoussystem. Für die

rettungsdienstlichen Aufgaben im ge-samten Landkreis wird ein Notarzt vor-gehalten.

Rettungsleitstelle

Bis zum 10. Oktober 1998 war die Ret-tungsleitstelle beim DRK-Celle-Land als1-Mann-Leitstelle angesiedelt und miteinem Funkmeldesystem (FMS) für dieeigenen Rettungsmittel ausgestattet.

Die neue integrierte Leitstelle (Feu-erwehr/Rettungsdienst) beim LandkreisCelle wurde inzwischen fertig gestelltund hat die DRK-Leitstelle abgelöst. Sieist mit 2 Mann rund um die Uhr besetztund arbeitet – ausgerüstet auf den heu-tigen technischen Stand – rechnerge-stützt.

Gesetzliche Bestimmungen

Zuständigkeit und Auftrag im Schadens-und Katastrophenfall sind im Nieder-sächsischen Rettungsdienstgesetz (NRett-DG, §§4 und 7 vom 29.1.1992) und demNiedersächsischen Katastrophenschutz-gesetz geregelt. Der Rettungsdienst istim NKatSG expresis verbis nicht ge-nannt – er wird unter den Fachdiensten(§15) dem Sanitätsdienst zugeordnet.

Unfallereignis

Am Mittwoch, den 3.6.1998, befand sichder ICE 884 „Wilhelm Conrad Rönt-gen“ auf der Fahrt von München nachHamburg. Um 10.33 Uhr verließ er denHauptbahnhof Hannover, um seineFahrt über Celle, Uelzen und Lüneburgnach Hamburg-Altona fortzusetzen. DerIntercity-Express 884, ein ICE der erstenGeneration, ist insgesamt 358 m lang, beieinem Gewicht von 850 t, und hat maxi-mal 759 Sitzplätze.

Um 10.59 Uhr entgleiste der ICE aneiner Weiche in Höhe des südlichenOrtsbeginns von Eschede. Nach bishervorläufigen veröffentlichten Erkennt-nissen der eingesetzten Untersuchungs-kommission – die staatsanwaltschaftli-chen Ermittlungen zur Erforschung derUnfallursache dauern noch immer an –wurden durch den 3., sich quer stellen-den Reisewagen die Pfeiler der etwa 300m hinter der Weiche befindlichen, 40 mlangen, die Bahngleise überspannendenStraßenbrücke weggerissen und diesedadurch zum Einsturz gebracht. Dervordere Triebkopf wurde dabei vom

E. Hüls

High-speed train disaster at Eschede. Facts

Abstract

The high-speed train disaster on 3.6.1998 wasthe biggest railway accident so far in the his-tory of the German Federal Railway and con-fronted the emergency services in the regionof Celle with ravages of hitherto unknowndimensions.The rescue operation was suc-cessfully achieved, in optimal outdoor condi-tions, through cooperation of the neighbour-ing rescue services of various organizations,the first aid workers belonging to the volun-tary organizations, and the volunteer and full-time firefighters, with further support fromthe army, the technical relief organization,the police and the border police.Within 3 h,87 patients, some of them very badly in-jured, had been brought out and received on-site medical care and were on the way to thehospital for further treatment.The exception-ally rapid gathering of so many rescue andsalvage workers (1800 in all!), and in particu-lar the availability of a large number of res-cue aircraft (39 craft), meant that de facto nodeficiency in care arose at the scene of theaccident. It was possible for the accident vic-tims to receive almost individual medicalcare; there was no need for triage in the usu-al way, and overloading of the hospitals closeby was avoided. Ninety-six bodies were sal-vaged from the wreckage at the scene of theaccident – later 5 severely injured patientsdied in hospital of their injuries. Communica-tion at the point of action and the prepara-tion of documentation again emerged as thefamiliar problems they always are at large-scale disaster sites.Technically, salvage fromthe high-speed railway cars provided to beparticularly difficult because there are so fewaccess and penetration points. Particular fea-tures of the rescue work were in the coordi-nation between civil and military air rescuefacilities – involvement of the sea-air rescuehead office and the on-scene coordinator –and the necessary closure of the airspaceover the scene of the accident and the near-by military drill squares.

Keywords

High-speed train disaster · Eschede · Communication at the scene of the accident ·Documentation · Large-scale disaster sites ·Masses of injured persons

Trauma Berufskrankh2000 · 2 [Suppl 2]: S286–S290 © Springer-Verlag 2000

restlichen Zug abgetrennt und kam, oh-ne zu entgleisen, etwa 2 km hinter demBahnhof Eschede unbeschädigt zumStillstand. Die Reisewagen 1–3 entglei-sten und kamen etwa 350 m hinter derBrücke im Gleisbett zum Stehen, nach-dem der hintere Teil des 3.Wagens gegeneinen Oberleitungsmasten geprallt war.

Durch den Aufprall von Brücken-teilen auf den 5. Reisewagen wurde der4. Wagen hoch gedrückt, rutschte querzum Gleisbett in einen angrenzendenkleinen Wald, wobei er sich überschlug.Die hintere Hälfte des 5. Wagens wurdedurch herabstürzende Brückenteile voll-ständig begraben, der vordere Teil rissab und kam etwa 100 m hinter derBrücke zum Stehen. Der 6. Reisewagenstellte sich quer vor die zusammenstür-zende Brücke, die folgenden 6 Reisewa-gen wurden durch den hinteren Trieb-kopf zollstockartig zusammengedrücktund z. T. über die Brückentrümmer hin-auskatapultiert.

Alarmierung

Die Rettungsleitstelle wurde am 3.6.1998um 11.02 Uhr durch die Polizei über einZugunglück in Eschede informiert:

„Zug entgleist, mehrere Verletzte“.

Die seinerzeit als 1-Mann-Leitstelle be-triebene Rettungsleitstelle des Land-kreises Celle – angesiedelt beim Deut-schen Roten Kreuz – erteilte aufgrunddieser Meldung den Einsatzauftrag an 5 RTW, 1 NEF und 3 KTW sowie an dieRettungshubschrauber Christoph 4 undChristoph 19, wobei sich ersterer nochim Einsatz befindet. Für den originärenRettungsdienst im Landkreis selbst – zu-ständig für eine Fläche von 1544,84 km2

und eine Einwohnerzahl von 180.605,blieben 1 RTW und 1 KTW verfügbar –diese wurden im weiteren Verlauf auchfür diese Aufgabe benötigt.

Nach wenigen Minuten befand sichder RTW der Rettungswache Eschede be-reits am Unfallort und setzte die erste La-gemeldung an die Rettungsleitstelle ab:

„Kompletter ICE verunglückt,völlig zerstört,

Wagen in einander verkeilt“.

Die Leitstelle löste daraufhin Großalarmaus, insbesondere wurden die Nachbar-

leitstellen um Hilfe ersucht, die ihrer-seits sowohl Primärrettungsmittel alsauch SEG (schnelle Einsatzgruppe, etwa700 verschiedene Varianten in Deutsch-land bekannt; in der Regel modulartignach Aufgabenschwerpunkt aufgebautund ausgerüstet, z. B. Betreuungs-SEGoder technische SEG für Berg-,Wasser-,Luftrettung, usw., meist entspricht eineSEG im Rettungsdienst einer NAW-Be-satzung, also Rettungswagen mit 2 Ret-tungsassistenten bzw. Rettungssanitäterund Notarzt oder dem einer KTW-Be-satzung) an die Unfallstelle entsandten.

Die Rettungsleitstelle Celle infor-mierte darüber hinaus den Landkreisund verstärkte sich selbst personell.

Lage

Um 11.14 Uhr war das Notarzteinsatz-fahrzeug am Einsatzort, um 11.19 Uhrder Ärztliche Leiter Rettungsdienst –Letzterer nimmt in dieser Funktion fürden Landkreis Celle die Aufgabe des Lei-tenden Notarzts (LNA) wahr. Zu diesemZeitpunkt befanden sich ebenfalls dertechnische Einsatzleiter der Feuerwehr(Kreisbrandmeister: KBM), die erstenfreiwilligen Ortsfeuerwehren, 3 Ret-tungshubschrauber und diverse Ret-tungsdiensteinheiten vor Ort. Der Zu-strom weiterer Einsatzkräfte hielt un-vermindert an. Bei trockenem und war-mem Wetter erreichten die Einsatzkräf-te die Unfallstelle direkt von allen Seiten,sowohl über befestigte als auch unbefes-tigte Zufahrtswege. Die Luftrettungs-mittel konnten auf einem großen freienFeld direkt neben der Unfallstelle landenund hatten somit auch direkten Zugangzum Einsatzgeschehen.

Sehr früh zeigte sich bereits, dassder Zugang und insbesondere die Ein-dringmöglichkeiten in die ICE-Reisewa-gen über die Fenster und Seitenwändeerschwert bis unmöglich und die übli-chen bergungstechnischen Gerätschaf-ten der Feuerwehren unzureichend sind.

Der Leitende Notarzt erfuhr nachKontaktaufnahme mit dem ersten vorOrt befindlichem Notarzt, dass ein Ge-samtüberblick über die Schadenslagenoch nicht vorliegt und dass bei unbe-kannter Auslastung des Zugs schät-zungsweise mit 40 Schwerverletzten undeiner unbekannten Anzahl von Toten zurechnen sei. Der LNA nahm daraufhinKontakt mit dem technischen Einsatz-leiter der Feuerwehr auf. Notwendiges

Bergungsgerät war hier bereits angefor-dert und befand sich auf dem Weg zurSchadenstelle. Nach Mitteilung der DB-AG waren die Zugoberleitungen seit11.09 Uhr abgeschaltet. Die Unfallstellemit einer Ausdehnung von 40m ¥ 600mzeigte mehrere Einsatzschwerpunkte imBereich der Brücke und der entgleistenZugreisewagen, die Schadenslage selbstwar statisch.

Einsatztaktik und Verlauf

Zum Aufbau von Führungsstrukturenan der Unfallstelle wurden in gemeinsa-mer Absprache zwischen dem tech-nischen Einsatzleiter und dem LNA dieersten taktischen Entscheidungen ge-troffen, als Führungsmittel diente zu-nächst der direkt an der Einsatzstelle po-sitionierte Einsatzleitwagen der Feuer-wehr. Durch die eingestürzte Brücke wardie Unfallstelle topographisch in 2 Ab-schnitte geteilt, wobei ein ungehinderterZugang vom einen in den anderen Teildirekt nicht bestand.

Aufgrund dieser Gegebenheit er-folgte die Aufteilung der Schadensstelleauch aus taktischen Gesichtspunkten ineinen Ost- und einen Westabschnitt. DieEinrichtung von Verletztensammelstel-len und Verbandsplätzen wurde für je-den Abschnitt gesondert bestimmt. ImOstteil lag der Unfallbrücke direkt be-nachbart eine Industriehalle. Diese wur-de als Schwerverletztensammelstelleaquiriert und sukzessive personell undmateriell ausgestattet.

Die Kommunikation war bereits inder Anfangsphase nachhaltig durch Über-lastung der BOS-Frequenzen und derMobilfunknetze gestört. Um diesen Man-gel auszugleichen, wurde aus den her-anrückenden Rettungsdiensteinheitenein Meldetrupp organisiert, dessen Auf-gabe in der Verbreitung der getroffenenEntscheidungen vor Ort und Lageer-kundung mit Rückmeldung an den LNAbestand. Über diesen Weg wurden dervorläufig verhängte Transportstopp unddie Entscheidung,Schwerstverletzte überden Luftweg nur von einem Landeplatzhinter der Industriehalle Ost auszuflie-gen, verbreitet.

Für den Ost- und Westabschnitt be-stimmte der LNA je einen erfahrenenund als Leitenden Notarzt ausgebildetenärztlichen Abschnittsleiter. Diese solltenselbstständig unter den festgelegten Vor-gaben (ggf. auch unter Bildung weiterer

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Großkatastrophen

Unterabschnitte) mit den bereits vor Ortbefindlichen und weiterhin zugeführtenBergungs- und Rettungsdienstkräftenden Unfallbereich abarbeiten. Das per-sönliche „Sich kennen“ erhöhte die Ak-zeptanz des LNA und erleichterte dieFührungsaufgaben nachhaltig. Die Zu-sammenarbeit war kollegial und koope-rativ. An der Unfallstelle eintreffendeRettungsdienste und Sanitätskräfte wur-den den gebildeten Abschnitten direktzugewiesen, soweit sie sich anmeldeten,wobei Einheiten nicht getrennt wurden.

Darüber hinaus strömte auch wei-terhin eine nicht unerhebliche Anzahlvon „selbstalarmierten“ Einsatzkräftenunangemeldet ins Einsatzgeschehen,wodurch es z. T.unmöglich wurde,einenaktuellen Einsatzstatus zu gewinnen.Die Mehrfachkennzeichnung von „Lei-tenden Notärzten“ (Rückenschilder anEinsatzkleidung bei fehlender Funktionnicht entfernt) war für die Einsatzkräfteirritierend, insbesondere für die frem-den Hilfsorganisationen vor Ort.

Innerhalb von 2 h waren etwa 40 Not-ärzte vor Ort, die Behandlung der Ver-letzten erfolgte dementsprechend an-nähernd individualmedizinisch – eineTriage im üblichen Sinn war dadurchnicht erforderlich. Bereits nach 60 minbegann ein koordinierter Abtransportvon Patienten, nach 100 min ein gene-reller Abtransport bei zwischenzeitlichausreichenden Transportkapazitäten.

Die Kommunikation zwischen denzivilen und militärischen Luftrettungs-mitteln war primär nicht möglich. DerLNA bat die Bundeswehr, diesen Man-gel- und Gefährdungszustand zu besei-tigen. Mit Hilfe eines „On scene coordi-nator“ (Hubschrauber über der Scha-densstelle) und dem Einsatz der SAR-(Bundeswehr)-Leitstelle in Münster wur-de die Kommunikation hergestellt undaußerdem eine Luftraumsperrung 5 NMrund um das Einsatzgebiet mit Inakti-vierung eines benachbart liegendenTruppenübungsschießplatzes sicherge-stellt, wodurch ein geordneter An- undAbflug der eingesetzten Hubschraubererst möglich wurde.

Gegen 13.20 Uhr waren alle Schwer-verletzten auf dem Weg in die versor-genden Kliniken, bereits um 13.45 Uhrwar kein behandlungsbedürftiger Pati-ent mehr an den Verletztensammmel-stellen, wobei einschränkend die 6 Zu-greisewagen im Bereich der eingestürz-ten Brücke noch nicht zugänglich waren

und durchsucht werden konnten. Auf-grund dieser Entwicklung wurden suk-zessive die Primärrettungsmittel ausdem Einsatzgeschehen abgezogen undihren originären Aufgaben wieder zuge-führt – dies gilt auch für die primärenLuftrettungsmittel.

Die als Sichtungsstelle nicht mehrbenötigte Halle Ost wurde im weiterenVerlauf zur zentralen Leichensammel-stelle bestimmt – an der Verbringungder zwischenzeitlich in Zelten aufge-bahrten Leichen beteiligten sich Kräfteder Bundeswehr und des technischenHilfswerks. Umfang der Identifikationvor Ort und des Transports der Leichenzum gerichts-pathologischen Institutder medizinischen Hochschule in Han-nover wurden in Absprache mit derMHH, der Kriminalpolizei Celle unddem Bundeskriminalamt im Hinter-grund geregelt.

Um 14.30 Uhr war die TechnischeEinsatzleitung (TEL) installiert und be-triebsbereit. Der Aufbau erfolgte ausPlatzgründen (Unterbringung aller be-teiligter Organisationen) und zur Ent-lastung der An- und Abfahrtwege zur ei-gentlichen Unfallstelle etwa 1,2 km vomzentralen Unfallgeschehen entfernt mit-ten im Ortskern Eschede. Um 14.41 Uhrerreichte der Tunnelrettungszug derDB-AG mit Ärzten und Sanitätspersonalden Einsatzort – der Zug selbst kam imweiteren Verlauf jedoch nicht zum Ein-satz. Um 14.45 Uhr wurde nach zeitrau-bender Bergung die letzte verletzte Per-son mit einem Rettungshubschrauberabtransportiert. Bis zu diesem Zeit-punkt war der Zustrom von Rettungs-und Sanitätsdiensten auf eine Stärke vonetwa 450 Personen mit fast 80 Fahrzeu-gen angestiegen, es waren etwa 80 Ärztevor Ort und über 38 Fluggeräte im Ein-satz – z. T. als freiwillige Helfer, insbe-sondere aber auch ohne Anforderungund Anmeldung über die Leitstelle oderörtliche Einsatzleitung.

Erste Ergebnisse

In dieser ersten Phase wurden 87 Pati-enten geborgen und medizinisch erst-versorgt. Davon waren 69 Patientenschwer verletzt und z. T. vital gefährdet,38 weitere Patienten bedurften der sta-tionären Behandlung. Mittels Rettungs-hubschrauber wurden 27, über den bo-dengebundenen Rettungsdienst 60 Pa-tienten transportiert (38% unter ärztli-

cher Begleitung) und an insgesamt 23Kliniken – die jeweiligen Verletzungs-muster berücksichtigend – über einenRadius von etwa 250 km verteilt und da-mit eine Überlastung insbesonderer dernahe liegenden Kliniken vermieden.

Die Zahl der Toten war bis auf 65angestiegen.

Der zwischenzeitlich abgearbeiteteAbschnitt West wurde in Absprache mitdem technischen Leiter aufgelöst, derAbschnitt Brücke damit zum zentralenEinsatzschwerpunkt.

Um 15.00 Uhr erfolgte die Führungs-übernahme durch die eingerichtete TEL– hier erfolgte die erste Einsatzbespre-chung gegen 15.30 Uhr.

Alle an der Rettungs- und Ber-gungsaktion beteiligten Organisationenunterstellten sich dieser Einsatzleitung,die Zusammenarbeit war sachlich undkonstruktiv. Mit Arbeitsaufnahme derTEL waren die Funkprobleme vor Ortdurch Rückgriff auf ein eigenes Funk-bzw. Kabelnetz für die Einsatzkräfte be-seitigt, Zuständigkeiten und Ansprech-partner für Aufträge und Probleme je-der Art geregelt.

Wesentlich für den weiteren Verlaufwurde eine gemeinsam gefasste Grund-satzentscheidung:

Fortsetzung der Rettungs- und Ber-gungsarbeiten bis zur vollständigen Auf-arbeitung der gesamten Schadenstelleunter dem Gesichtspunkt möglicher Ber-gung von noch Überlebenden und voll-ständigem Auffinden sämtlicher Unfall-opfer.

Kräfteansatz:Lageabhängige Anpassung

Das stückweise Abtragen der Brücken-teile gestaltete sich äußerst schwierigtrotz der inzwischen vor Ort befindli-chen und eingesetzten Schwerlastkräne.Der Einsatzauftrag des Rettungsdienstsblieb weiterhin bestehen, da zum einenmit dem Auffinden weiterer Unfallopferin den bis dahin nicht zugänglichenZugreisewagen gerechnet werden mussteund zum anderen ein Gefährdungspo-tential für die Einsatzkräfte durch dieUnfallstelle selbst, die Arbeit mit schwe-rem Gerät und bei Nacht bestand. DieStärke der Einsatzkräfte wurde den neu-en Verhältnissen angepasst und auf 5RTW mit Besatzung und je 1 Notarzt so-wie 1 Ambulanzhubschrauber und 1nachtflugtaugliche SAR-Maschine der

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S290 Trauma und Berufskrankheit · Supplement 2 · 2000

Großkatastrophen

Bundeswehr und 2 KTW reduziert. Fürden Brückenbereich wurde ein ärztli-cher Abschnittsleiter bestimmt, weiter-hin die ärztliche Betreuung der eintref-fenden Angehörigen von Unfallopfernsichergestellt. Die Ablösung der Ret-tungsdienstkräfte im Schichtwechselvon 12 h wurde an den Sanitätsdienst de-legiert – Probleme ergaben sich hiernicht. Zum Auffinden sämtlicher Lei-chenteile wurden sowohl die Zugabteileals auch die Umgebung mehrfach mit ei-ner Rettungshundestaffel abgesucht.

Letztendlich dauerten die Rettungs-und Bergungsmaßnahmen bis zumSamstag den 6.6.1998 um 6.42 Uhr.

Ergebnis der Rettungs- und Bergungsmaßnahmen

Bis zu diesem Zeitpunkt veränderte sichdie Zahl der Überlebenden nicht. VorOrt wurden 96 Tote sowie 176 Leichen-teile geborgen. Über diesen Zeitraumfanden regelmäßige Einsatzbesprechun-gen der Technische Einsatzleitung statt,auftauchende Fragen und Probleme(Medien, Pressekonferenzen und psy-chologische Betreuung der Helfer vorOrt, usw.) wurden in gemeinsamen Ab-sprachen geregelt, wobei keine wesent-lichen Maßnahmen für den Rettungs-dienst mehr anfielen. Von den Einsatz-kräften wurden letztlich 3 Personen beimEinsatz verletzt und mussten sich einerstationären Behandlung unterziehen.

In den Kliniken verstarben im wei-teren Verlauf 5 Patienten an den Folgenihrer Verletzungen – damit forderte dieICE-Katastrophe von Eschede 101 Men-schenleben.

Unter Berücksichtigung der ambu-lant behandelten Personen und nochnach Tagen eingehender Verletztenmel-dungen (hier auch ausschließlich psy-chischer Natur) erhöhte sich die Zahlder Verletzten auf insgesamt 108 Perso-nen. Die tatsächliche Zahl der Zugpas-sagiere zum Zeitpunkt des Unfalls bleibtoffen.