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    INDESZEITSCHRIFT FR POLITIK UN D GESELLSCHAFT

    Vandenhoeck & Ruprecht He 4 | 2014 | ISSN 2191-995X

    PolitikserienInterview mit Frank Kelleter u. Andreas Jahn-SudmannVon Soap Operas zum Quality TVJan KotowskiSchrott und Qualitt Annekatrin BockMachtkampf, Intrigen, Manipulation

    Clemens WirriesBorgen in der Wirklichkeit Franz WalterDie Pdophiliedebatte

    jenseits der Grnen Martin SabrowDer Erste Weltkrieg im deutschen Zeitgedchtnis

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    INDES, 2014-4, S. 11, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Gttingen, 2014, ISSN 2191-995X 1

    EDITORIAL

    Julia Kiegeland / Jran Klatt / Katharina Rahlf

    Hi Hill, its Bill. I just wanted to make sure you dont forget , my birth-

    day is coming up, right Yes, I know, Bill. You know what youre get-

    ting me yet?

    Ein Telefonat zwischen Hillary und Bill Clinton, in dem der ehemalige

    amerikanische Prsident seine Gattin an seinen bevorstehenden Geburtstag

    erinnert und den Wunsch nach einem Babyelefanten fr den Garten uert.

    Nachzuschauen bei Youtube. Ein Possenspiel? Durchaus. Im Verlaufe des

    Gesprchs kommt Hillary dem Imitator auf die Schliche und bittet Kevin,

    die Geburtstagskarte fr ihren Mann zu unterschreiben. Anrufer ist nicht

    Bill Clinton, sondern der Schauspieler Kevin Spacey. Blo ein Scherz? Nicht

    nur. In der Eingangsszene beklagt sich der Prsident ber die langweiligen

    Sommermonate in Washington und nimmt den Hrer auf mit der Absicht

    having some fun with my predecessors. Diese Stimme gehrt Frank Un-

    derwood, Protagonist der Serie House of Cards, gespielt von Kevin Spacey Spacey alias Underwood alias Clinton. Verwirrend? Sicher. Aber diese Ver-

    schmelzung zwischen Fiktion und Realitt ist charakteristisch fr ein derzeit

    populres Unterhaltungsformat: Politikserien.

    Produktionen wie House of Cards, The West Wingund Borgenals sicherlich

    populrste Beispiele, aber auchThe Thick of It, Political Animalsoder Secret

    State in den letzten Jahren hat die Anzahl aufwendig produzierter Qua-

    littsserien sichtbar zugenommen. In Zeiten vermeintlicher Politik(er)-ver-

    drossenheit scheinen der Erfolg und die Faszination fr Formate, die dezi-

    diert um das Politische kreisen, erstaunlich, jedenfalls begrndungswrdig.

    Schlielich geht es hufig explizit um jene kleinteiligen, routinehaften, kom-

    promissdurchwirkten Prozesse, die im Realen gerne fr die grassierende

    Politikverdrossenheit verantwortlich gemacht werden. In den Serien wird die

    klassische Hinterzimmerpolitik zwar auch als Hort von Intrigen prsentiert

    aber obendrein als notwendiges Element des Politikmachens. Kristallisiert

    sich hier also ein neues Genre heraus? Auf welchen Vorstellungen von poli-

    tischer Alltagskultur basieren Politikserien? Wer guckt sie und warum?

    Schlielich: Welchen Effekt haben diese Serien auf die politische Wirklich-

    keit und umgekehrt? Um diese Fragen geht es in der vorliegenden INDES.

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    INDES, 20144, S. 23, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Gttingen, 2014, ISSN 2191995X2

    INHALT

    1 Editorial

    Julia Kiegeland / Jran Klatt / Katharina Rahlf

    POLITIKSERIEN

    >>INTERVIEW 5 Eine interessante Affinitt zwischen dem seriellenErzhlen und dem Thema PolitikVon Soap Operaszum Quality TV

    Interview mit Frank Kelleter und Andreas Jahn-Sudmann

    >>STUDIE

    23Machtkampf, Intrigen und ManipulationDie negative Wahrnehmung von Politikgeschehenin aktuellen Politikserien

    Annekatrin Bock

    >>KOMMENTAR 32 Schrott und QualittKurze Reflektionen zum Phnomen derpolitischen Fernsehserie in den USA

    Jan Kotowski

    >>ANALYSE 35 Wie im FilmFernsehserien haben die Mechanismenwesteuropischer Politik verndert

    Philipp Loser

    42 I Im just making sure we dont get hit again.Serientext und Weltbezug in der TV-Serie Homeland

    Lars Koch

    55 Mal Freund, mal Feind, mal KonkurrentEin soziologischer Blick hinter die Kulissendes Politikbetriebs in House of Cards

    Il-Tschung Lim

    62 Borgenin der WirklichkeitHistorische Vorbilder und aktuelle Rezeptionen einerpopulren Fernsehserie

    Clemens Wirries

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    SCHWERPUNKT:

    POLITIKSERIEN

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    INDES, 20144, S. 6977, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Gttingen, 2014, ISSN 2191995X 69

    GROSSES, LINKES KINO

    THE WIREALS PORTRAIT DES OBEN UND UNTENUS-AMERIKANISCHER POLITIK

    David Bebnowski

    Man wrde denken: New York. Los Angeles vielleicht oder Chicago. Der

    Schauplatz der US-amerikanischen Serie The Wirejedoch liegt in Baltimore,

    einer mittleren Grostadt an der Chesapeake Bay, die dem US-amerikani-schen Festland an der Ostkste einen schmalen, zerrissenen Streifen Land

    vorlagert. Baltimore ist die grte Stadt Marylands, eines dieser neuengli-

    schen Staaten, die so klein sind, dass ihre Namen auf Karten mit einer dn-

    nen schwarzen Linie verbunden mitten im Atlantik stehen. Ganz so, als ob

    sie jeden Moment untergehen knnten.

    Tatschlich trgt dieses Bild im Falle Baltimores. Die Stadt befindet sich,

    die Serie zeigt dies, in einer unaufhaltsam wirkenden Abwrtsspirale. Den

    Boden unter den Fen im wirtschaftlichen Strukturwandel lngst verloren,wird die mrbe Stadt von innen, vom berbordenden Verbrechen, strangu-

    liert. Im real lifeoffenbaren dies bereits oberflchliche Blicke auf US-ameri-

    kanische Kriminalittsstatistiken: Hier rangiert The Greatest City in Ame-

    rica nmlich mit deutlichem Abstand vor den drei genannten weltlufigen

    Metropolen auf einem unrhmlichen Spitzenplatz, in Gesellschaft solch il-

    lustrer Hotspotswie Detroit oder New Orleans. Dabei ist Baltimore weder so

    bankrott wie Detroit noch wurde es von einer so biblisch strengen Umwelt-

    katastrophe heimgesucht wie das unglckliche New Orleans 2005 vom Hur-

    rikan Katrina. Trotzdem ist Baltimore berchtigt fr die vielen Morde, die

    sich in seinen Stadtgrenzen ereignen. Jahr fr Jahr liegt ihre Quote weit ber

    dem Bundesdurchschnitt, 2013 waren es ber 230. Ein Graffito im Vorspann

    der vierten Serienstaffel transportiert mit einem eigentmlichen Zynismus

    trostlose Resignation: Baltimore, Maryland, das ist Bodymore, Murdaland.

    Morden, professionelles Morden umso mehr, steht in den USAin enger

    Verbindung mit dem Drogenhandel. Die Drogenkonomie bildet das Herz-

    stck der Fernsehserie. In fnf Staffeln entwerfen die Autoren von The Wire,

    inspiriert vom sozialforscherischen Ansatz der soziologischen Chicago School,dabei jedoch weit mehr als dichte Beschreibungen eines opaken und bengs-

    tigenden Milieus. Sie bilden die Realitt nicht nur ab, sondern bauen sie nach:

    Etliche Figuren in der Serie, etwa der schwule Ghetto-Robin-Hood Omar

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    Little, haben reale Vorlagen in den Straen Baltimores. Der dnne Film der

    Fiktion wird in The Wireso stets von einer bedrohlichen Realitt durchrissen,

    auch dadurch, dass viele Rollen mit Gangmitgliedern und Polizisten Balti-

    mores besetzt sind. Dies reicht vor allem in den letzten Staffeln der Serie bis

    ins psychisch Unertrgliche. Besonders dann, wenn die mitleidlos mordende

    Auftragskillerin Felicia Snoop Pearson eingefhrt wird. Nicht einmal ihr

    Name wurde fr die Serie verndert: Snoop spielt in gewisser Weise sich

    selbst schon mit 14 Jahren wurde sie wegen Mordes verurteilt.

    Den smarten rivalisierenden Drogengangs aus West- und East-Baltimore

    steht die chronisch unterfinanzierte stdtische Polizei gegenber. Von An-

    fang an nimmt die Serie dabei aus dem sonst weithin unbeachteten Winkelder US-amerikanischen Strafverfolgung das Lebensgefhl im Post-Nine-Ele-

    ven-Zeitalter aufs Korn. Es ist eine besonders feine Anlage der Serie, gerade

    anhand der Mord- und Drogenermittlungseinheiten zu zeigen, wie sich die

    Schwerpunkte in der Verbrechensbekmpfung verschoben haben: What, we

    dont have enough love in our hearts for two wars?, klagt der aufmpfige

    Kommissar Jimmy McNulty und meint damit den von George W. Bush ge-

    starteten war on terror, der den rund dreiig Jahre zuvor von Richard Nixon

    ausgerufenen war on drugsin der Priorittenliste der Verbrechensbekmp-fung abgelst hat. Wrden die Dealer Mohammed oder Ahmed heien, alles

    wre leichter, witzelt man auf den Gngen des Polizeiprsidiums.

    Die beiden Pole organisierte Drogenkriminalitt und ihre aussichtlose Be-

    kmpfung bilden das dramaturgische Gerst der Serie. Dieses Gerst selbst

    ist jedoch nur Sttze fr die eigentliche Story, die die Serie als Gesamtwerk

    erzhlen will: The Wire, das ist mehr als gute Crime-Unterhaltung, es ist ein

    Portrt des Verfalls einer US-amerikanischen Industriestadt im Zeitalter des

    Postfordismus. Sie zeigt das Ausbluten staatlicher Institutionen, das Sterben

    von Gewerkschaften, die Ohnmacht des Rumpfes staatlicher Einflussnahme

    und den Alltag in einer mitten in Rationalisierungsmanahmen steckenden,

    mehr und mehr auf Profit ausgerichteten stdtischen Zeitung.

    Schon der Themenwahl halber ist es kein Wunder, dass The Wireeine

    Lieblingsserie anglophoner Linker ist. Das politische Gespr der Macher, das

    sich etwa in der ironischen Sozialkritik eines Auftragsmrders der Nation

    of Islam zeigt, der die Sprengung zweier berchtigter Sozialwohnungssilos

    zur Eindmmung der Drogenkriminalitt mit dem Posterslogan des Neoli-

    beralismus Reform kommentiert, verheit erzhlerische Meisterschaft.Der Versuch, das Politische in The Wirezu erblicken, heit, derartige Bei-

    spiele als Illustrationen des Ganzen zu verstehen. Politik in The Wirelsst

    sich dialektisch aus derartigen Szenen entfalten. Es geht darum, von dem

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    Es bedarf wenig Phantasie, um sich das Resultat solcher Abhngigkeits-

    verhltnisse auszumalen. In der Polizei West Baltimores, der Basis von The

    Wire, herrschen unerbittliche Hierarchien, deren Druck sich schlielich kon-

    traproduktiv auf die Verbrechensaufklrung auswirkt. Alles hngt an einer

    klaren Befehlskette der chain of command. In aller Krze bedeutet jene chain

    of commandeine Kommando- und Kommunikationsstruktur, die in beide

    Richtungen eine stete Kommunikation zwischen den beieinander liegenden

    Rangebenen ermglichen und das Umgehen einer zwischengeschalteten Hie-

    rarchieebene verhindern soll. Sie gilt es um jeden Preis einzuhalten konse-

    quenterweise sind es die Verste des Mordermittlers Jimmy McNultys gegen

    sie, die die Serie berhaupt erst beginnen und immerfort weiterleben lassen.In der Realitt bedeutet die chain of commandwegen der persnlichen

    Abhngigkeiten freilich einen unerbittlichen Transmissionsriemen, der oben

    formulierte Ziele in Erwartungen umformuliert und nach untenbertrgt. An-

    gefangen beim Brgermeister Clarence Royce, werden Ziele zur Verbrechens-

    bekmpfung ausgegeben. Polizeiprsident Burrell, der auf Royces Ticket sitzt,

    bertrgt diese Ziele mitsamt dem Auftrag, sie umzusetzen wiederum an

    die Leiter der Unterabteilungen, etwa den Leiter des Morddezernats. Dieser

    wiederum leitet sie schlielich auf diejenigen ber, die tatschlich mit demVerbrechen in Kontakt kommen. Zunchst an den Supervisory Detective

    Sergeant, Jay Landsman, der die Geschicke der Mordermittlungen koordi-

    niert. Die Vorgabe an ihn ist simpel: Die Mordrate muss um einen bestimmten

    Prozentsatz gesenkt werden, worauf Landsman die Morde zur Aufklrung

    an seine Mordermittler unter ihnen die Hauptcharaktere Jimmy McNulty

    und Bunk Moreland bertrgt und damit wiederum eine personalisierte

    Verantwortung einbaut.

    Hier nun, an der Basis, kann man das Problem greifen: Die Drogengangs

    Baltimores tun der Polizei nicht den Gefallen, das Morden einzustellen die,

    auch in Folge der Minimalbesteuerung der Wohlhabenden, knappen ffentli-

    chen Mittel erlauben keine nachhaltige, gar prventive Verbrechensbekmp-

    fung. Da die Vorgesetzten aber nicht nur nicht von fehlenden Ermittlungsre-

    sultaten enttuscht werden wollen, sondern darber hinaus auch persnlich

    nachverfolgen knnen, wer die geringste Aufklrungsrate aufweist, geht es

    fr jeden einzelnen Ermittler nur darum, so wenig Morde wie mglich zu

    fangen. Dieser Logik entsprechend erledigen die Ermitt ler ihre Arbeit: Was

    nicht zweifellos wie ein Mord aussieht, soll auch keiner werden, man willschlielich keine schlafenden Geister wecken. Das Bestreben darum, sich

    Mordermittlungen gar nicht erst einzuhandeln, verfhrt die Ermittler so-

    gar zu einer Art kreativer Buchfhrung: Wenn mglich, werden bekannte

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    Ttungsdelikte die Statistiken werden zu bestimmten Zeitpunkten ausge-

    zhlt in den nchsten Buchungszeitraum bertragen.

    Auf diese Weise erzwingtdie Logik des personalisierten amerikanischen

    politischen Systems, vermittelt ber die chain of command, ein individuell

    von den Ermittlern verantwortetes unwrdiges Schauspiel, das auf jeder

    Ebene der Befehlskette bekannt und akzeptiert ist. Was The Wireso zeigt, ist

    ein System, das bis ins letzte Glied von individuell nutzenmaximierendem

    Verhalten betrieben wird. Das Portrt amerikanischer Politik bildet so ein

    notwendiges Resultat von durch freie Konkurrenzbeziehungen geprgten

    Verhltnissen und damit letztlich eine klare Analogie kapitalistischer Ge-

    sellschaftsordnung ab.

    DROGEN, WORKING CLASS, PROJECTS PARALLELPOLITIK IN

    DER PARALLELGESELLSCHAFT

    Begibt man sich, einmal am Boden angekommen, auf die entgegengesetzte

    Warte und betrachtet die politischen Abhngigkeitsverhltnisse, wie sie sich

    von unten nachobenfortsetzen, wird deutlich, dass jene alteingesessenen Poli-

    tiker Macht auf sich vereinen, die solche Bezirke reprsentieren, in denen als

    wahlentscheidend angesehene Einwohner- und Whlersegmente leben. DieDramaturgie der Serie will es, dass die konkurrierenden stdtischen Spitzen-

    politiker im Verlauf der Staffeln vor allem um die Untersttzung bekannter

    Delegierter ringen, die einen guten Teil der unterprivilegierten schwarzen

    Bevlkerung in den innerstdtischen Gettos vertreten.

    Die Politik liefert auf diese Weise auch einen Schlssel, um Einblicke in

    die verschlossenen Lebensbedingungen des US-amerikanischen Prekariats

    zu erhalten. Der korrupte Senator Clay Davis ist letztlich die entscheidende

    Person, ber die der Brckenschlag in die parallelgesellschaftl iche Struktur

    der drogenbetriebenen Unterwelt gelingt. Ohne Davis Einfluss in der schwar-

    zen Community, seine Verbindungen zur bundesstaatlichen Ebene und in

    die Geschftswelt sind Wahlen deutlich schwerer zu gewinnen. Der Senator

    ist skrupellos. Fr seine Wiederwahl und persnliche Bereicherung nimmt

    er Gelder von den Drogenbaronen an und fungiert fr diese als Mittelsmann

    in legale Geschftswelten. Beherrscher der Drogenimperien wie der intellek-

    tuelle Businessman Stringer Bell, dessen Organisation schlielich neben

    Zwistigkeiten mit seinem Geschftspartner auch am gewieften Davis schei-

    tert, kaufen sich ber ihn in Immobilienentwicklungsprojekte ein und legenso die Basis fr den Einstieg in Wirtschaftswelt und Politik.

    ber diese Verbindungen von Gangstern und einzelnen Reprsentan-

    ten wird der Drogenhandel mit der groen, der offiziellen Politik verknpft.

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    The Wirelegt in seinem Blick auf das gesellschaftliche Unten zunchst offen,

    wie Politik in einer Stadt wie Baltimore nicht (mehr) funktioniert. Hauptschau-

    pltze der ersten Serienfolgen The Wiresind die heruntergekommenen Pro-

    jects: stdtische Sozialbausiedlungen, die sich fr ihre Bewohner lngst in

    eine Art sozialrumliches Gefngnis verwandelt haben. Man sprt, den hier

    aufwachsenden weit berwiegend afroamerikanischen Jugendlichen wird

    ein Ausbruch aus ihnen kaum gelingen. Nchtern und mit gemessenem

    Respekt vor den Menschen in dieser misslichen Situation entsteht eine ver-

    strend deprimierende Milieustudie, in der die allgemeine Ausweglosigkeit

    in einem Teufelskreis aus dysfunktionalen Familienverhltnissen, Drogen-

    missbrauch und alltglicher Gewalt resultiert. Das Politische ist hier etwas,das vollstndig uerlich bleibt. Selbst wenn die Folgen politischer Entschei-

    dungen sprbar sein sollten, ist Politik nichts, auf das die hier Gefangenen

    selbst irgendeinen Einfluss nehmen knnten.

    Dies ergibt sich bereits durch eine enorme Ferne zur ffentlichen Daseins-

    vorsorge, die kaum mehr bis hier reicht. Keine ffentliche Institution besitzt

    die Kraft, tatschlich etwas an den Wurzeln des bels zu verndern, auch

    nicht die nur mehr auf symbolisch hartes Durchgreifen getrimmte Polizei.

    Besonders deutlich zeigt sich dies jedoch in der Darstellung des Schulsys-tems. In Amerika teilprivatisiert, sorgt dieses dafr, dass sich die rmsten

    und Perspektivlosen in denpublic schoolssammeln. Zustzlich dramatisiert

    wird diese bedenkliche Ausgangslage dadurch, dass die Mittelausstattung

    dieser ohnehin notorisch klammen Bildungssttten stark davon abhngt, wie

    sie in den landesweiten Lerntests abschneiden. Der zuvor bereits defizitre

    Lehrbetrieb mit kaum zu bndigenden Schlern wird hierdurch zustzlich

    auf das Einpauken standardisierter Testinhalte verengt. Ein meritokratisches

    Aufstiegsversprechen bleibt unter diesen Bedingungen kaum mehr als eine

    zynische Randnotiz. Wissend, dass der Aufstieg aus den Projectsaus eigener

    Kraft kaum gelingen wird, sind die prekarisierten Jugendlichen perspektiv-

    los Gestrandete.

    Erst recht, da die US-amerikanische Gesellschaft bekanntlich ber keine

    funktionierende soziale Grundsicherung verfgt. Der Schritt in den einzig

    florierenden Wirtschaftszweig die Drogenkonomie liegt fr die ohne-

    hin an wenig zimperliche Viertelsitten Gewhnten daher sehr nah. Kinder

    sind in diesen Vierteln nicht in erster Linie Schler, sondern Hoppers:

    Kaum eingeschult, stehen sie Schmiere, um Drogengeschfte ohne die Ein-mischung von Polizeistreifen laufen zu lassen, oder bearbeiten die Straen-

    ecken, die Corners, auf Gehei ihrer Chefs selbst. Institutionell ausge-

    sperrt und wohlfahrtsstaatlich blockiert, ist es ihnen nur auf diese Weise

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    mglich, fr das eigene Dasein zu sorgen. Natrlich liegt hierin eine beson-

    ders fein komponierte Ironie: Tritt doch im Aufstieg vom Cornerboy zum

    Drogen-Millionr das Stereotyp des American Dreamoffen zu Tage. Wie

    in der Grndungszeit der USAwird er hier, so liee sich sagen, allerdings

    gnzlich unbrgerlich gelebt: Geld, ein letztl ich brgerliches Lebensmodell

    mit Anwesen, Kindern und Familie, all das ja, nur sttzt sich die Karriere

    hier eben auf Ellenbogen und 9 mm-Halbautomatik, luft sie vorbei an for-

    malen Zertifikaten und Aufstiegswegen, die aus der Sicht der Hoppersnur

    unntige Umwege darstellen.

    Die Vernunft, nach der sich diese Gesellschaft ordnet, ist eine rohe kono-

    mische. Dies ist kein Geheimwissen, sondern wird gerade auf dem Streetlevelnchtern anerkannt. In einem Schlsselmoment der Serie verfolgt Detective

    McNulty den angesprochenen Drogendealer Stringer Bell in ein Community

    College und registriert, dass dieser dort Abendvorlesungen in Makrokono-

    mie besucht. Inspiriert von den konomischen Lehrbuchweisheiten beginnt

    Bell schlielich damit, sein Imperium in einer Zeit umzubauen, in der er zwar

    ber die wichtigsten Drogenumschlagpltze der Stadt, selbst jedoch nur ber

    minderwertige Ware verfgt. Schlielich hebt er durch Verstndigung mit

    den Drogenbossen aus anderen Stadteilen Baltimores ein auf Produkt- undPreisabsprachen basierendes (Drogen)Kartell aus dem Boden. In freier histo-

    rischer Assoziation erinnert all dies, zustzlich durch Bells Beteiligung an Im-

    mobilienprojekten gesteigert, bissig an den auf Kartellabsprachen gesttzten

    Aufstieg des lbarons John D. Rockefeller, der spter bekanntlich Namenspa-

    tron eines der bekanntesten Wolkenkratzer in der Skyline New Yorks wurde.

    Die selbstverstndliche und an keinerlei ethische Grenzen gebundene

    bertragbarkeit der konomischen Rationalitt auf alle Lebensbereiche fhrt

    dazu, dass sich im vom allgegenwrtigen Drogenhandel dominierten Bal-

    timore, in den dsteren Straenzgen mit all ihren Broken Windows, eine

    alternative Wertehierarchie etabliert, in der es eben ganz normal ist, im

    Drogenbusiness zu arbeiten. Selbstverstndlich bezeichnen selbst die sol-

    diers die auf Gehei der Bosse Mordenden ihr Tagewerk als line of

    work, eine amerikanische Entsprechung des deutschen Berufs. Dies indes

    sollte nicht zu sehr verwundern: Denn die Drogenindustrie Baltimores sorgt

    anders als die chronisch klamme und blockierte offizielle Politik dafr, dass

    ein komplettes und rentables Geschftsfeld entsteht. Manager kontrollieren

    ein Wirtschaftsimperium, das Posten im Import- und Exportgeschft undauf mitt leren Verwaltungsebenen bereitstellt, bis schlielich auf der Strae

    Dienstleistungsjobs gewissermaen einfache Arbeiten, unskilled labour

    im Verkauf der Ware entstehen.

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    The Wire ganz stadtsoziologisches Portrt zeigt, wie all dies in einer

    globalisierten konomie, in der Arbeitsangebote fr die industrielle work-

    ing classausgelagert und in andere Staaten verschoben werden, aus den

    Projectsin andere Bereiche der Stadt schwappt. Rhrend und man denke

    an das vernderte Stadtbild Hamburgs auch in Deutschland ein aktuelles

    Thema, ist der hoffnungslose Kampf des Fhrers der Dockarbeitergewerk-

    schaft, Frank Sobotka, gegen die Gentrifizierung der Hafenanlagen. Um sei-

    nen Kollegen eine Zukunft als Longshoremengarantieren zu knnen, muss

    die Umwandlung eines Kais mitsamt Getreidespeicher in einen Wohn- und

    Reprsentationskomplex gestoppt werden. Da Sobotkas Gewerkschaft selbst

    kaum mehr ber die Mittel verfgt, Druck auf die organisierten politischenInteressen auszuben, lsst auch er sich mit Drogen- und Menschenhndlern

    ein. Mit den Extraeinnahmen fr den Import ihrer Waren bezahlt er Lob-

    byisten fr seine Sache. berzeugt davon, fr die Sache zu kmpfen, merkt

    Sobotka nicht, dass er die jngeren Dockarbeiter mit der Nase auf alternative

    Einnahmequellen stt, immer strker schlagen sein Sohn und sein Neffe

    selbst Profit aus Drogengeschften.

    In einem eindrcklichen Dialog zwischen Sobotkas Neffen Nick und einem

    weien Drogendealer manifestiert sich dabei die Verheerung der postindus-triellen, ungebremsten Wettbewerbsgesellschaft. Nick hlt dem im Stil eines

    Gangsta-Rapperssprechenden weien Drogendealer Frog gegenber lapidar

    fest: you happen to be white und konfrontiert ihn mit einer gemeinsamen

    Sozialisation in den von polnischen Einwanderern geprgten industriellen

    Hafenvierteln Baltimores. In dieser Szene wird das Zerreien solidarischer

    Bande in den einstmals stolzen Quartieren der industriellen Arbeiterklasse

    gewissermaen in Form einer Kolonisierung durch die Drogenkonomie er-

    setzt. Auf das Feld ethnischer Grenzlinien blackvs. white bertragen, wird

    dies symbolisiert durch die Gegenberstellung des Gangsta-Chictragenden

    und in tiefstem Ebonicssprechenden Dealers Frog und des in Flanellhemd

    und Arbeiterschuhen auftretenden Blue-Collar-WorkersNick. Die Politik in

    der verwundeten Post-Industriestadt Baltimore missachtet traurigerweise

    jene Klasse, die die Stadt zu ihrer alten Gre gefhrt hat.

    ITS ALL IN THE GAME

    Its all in the game so funktioniert das Spiel eben , dieser Spruch be-

    gegnet den Zuschauern in The Wirein jeder Staffel. Mantrahaft vorgetragenwird er vor allem von den Drogendealern zur Erklrung, mglicherweise

    auch zur inneren Rechtfertigung von drug-related murders, wie es im US-

    Amtsenglisch heit. So ist es eben, soll das heien, wer schlecht ber einen

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    77David Bebnowski Groes, linkes Kino

    Drogenboss redet, wessen Abrechnungen nicht stimmen, wer Gefahr luft,

    zum Belastungszeugen zu werden, wird die Folgen, die er oder sie vorher

    kannte es sind schlielich die Spielregeln zu spren bekommen.

    Kann man auf einen Begriff bringen, was es ist, das die Regeln des Spiels

    konstituiert? Man kann. The Wireerzhlt auf allen Ebenen, von der groen

    Politik ber die Ebenen der chain of commandbis hin zu den Drogendealern

    und -schtigen, die Story von Menschen, die sich einem berlebenskampf

    ausgesetzt sehen. Eine dog-eat-dog-worldwrde man all dies wohl in den

    USAnennen. Und selbstverstndlich ist der Kampf, der hier ausgefochten wird,

    der um das physische, psychische und moralische berleben von Menschen

    im Kapitalismus. berall, in jeder Stufe der Serie, drckt sich die unerbitt-liche Logik (konomischer) Wettbewerbsbeziehungen als strukturierendes

    Prinzip aus, wird, auf den eigenen Vorteil bedacht, entlang der Maxime ge-

    handelt: Wenn jeder an sich selbst denkt, ist an alle gedacht.

    The Wireerinnert dabei durch seinen schmerzhaften Hyperrealismus ein-

    drcklich an das Grundprinzip der Vergesellschaftung im Laissez-Fairedes

    Kapitalismus. Auf jegliche moralische Erhhung verzichtend, wird dies ge-

    rade in der detailliert aufgefcherten Darstellung der Zusammenhnge in

    der Drogenkonomie deutlich. Das Garn, aus dem das Netz gesellschaftlicherStrukturen gesponnen wird das zeigt sich bei all denen, die gegen den Ab-

    stieg oder fr ein kleines Bisschen vom Aufstieg kmpfen ist der Zwang

    zum Verkauf der eigenen Arbeitskraft. Sind die Krfte des freien Marktes

    einmal von der Kette gelassen das zeigt The Wire, das zeigt auch Baltimore

    insgesamt als stellvertretendes Beispiel einer maroden Industriestadt in den

    USAdes 21. Jahrhunderts entwickelt sich von hier aus hinter dem Rcken

    liebenswertester Menschen ein Gemeinwesen, das diesen Namen nicht mehr

    verdient.

    David Bebnowski,geb. 1984, ist wissenschaftlicher Mit-

    arbeiter am Gttinger Institut fr Demokratieforschung.

    Nachdem Karrierestarts als Profifuballer, Sternekoch oder

    Musiker von Weltruf versandeten, studierte er Sozialwis-senschaften an der Universitt Gttingen und der UC San

    Diego. Heute promoviert er zum Thema Die Neue Linke

    und die Theorie Anziehungskraft und Niedergang poli-

    tischer Ideen im Spiegel der Zeitschriften PROKLAund

    Das Argument.

  • 8/10/2019 INDES 4-2014: Politikserien

    15/15

    INDESZEITSCHRIFT FR POLITIKUND GESELLSCHAFT

    Herausgegeben von Prof. Dr. Franz Walter, Insti-

    tut fr Demokratieforschung der Georg-August-

    Universitt Gttingen.

    Redaktion:

    David Bebnowski, Felix Butzlaff, Dr. Lars

    Geiges, Roland Hiemann, Julia Kiegeland,

    Danny Michelsen, Dr. Robert Lorenz, Michael

    Lhmann, Dr. Torben Ltjen, Marika Przybilla.

    Konzeption dieser Ausgabe: Julia Kiegeland,

    Jran Klatt.

    Redaktionsleitung:

    Katharina Rahlf (verantw. i. S. des niederschs.

    Pressegesetzes), Dr. Matthias Micus.

    Redaktionsanschrift:

    Redaktion INDES

    c/o Gttinger Institut fr Demokratieforschung

    Weender Landstrae 14, 37073 Gttingen,

    [email protected]

    Online-Auftritt:

    www.indes-online.de

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    ISBN 978-3-525-80009-6

    ISSN 2191-995X

    2014 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co.

    KG, Gttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC,

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    Gestaltung, Satz und Lithografie:

    SchwabScantechnik, Gttingen

    Druck und Bindung:

    Memminger MedienCentrum, Memmingen

    Printed in Germany

    BEBILDERUNG

    Cover sowie Collagen der Seiten 4, 38/39, 67, 90, 104 und 120

    von Marcel Klein, Professional Artist & Filmmaker

    CONTACT e-mail: [email protected]

    MEHR INFORMATIONEN http://1mproduction.com