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1 Rechtsschutz und Soziale Rechte in Südamerika – ein Überblick, behandelt an einigen Beispielen 1 Ingo Wolfgang Sarlet Dr. Iur. (LMU -München). Professor für Verfassungsrecht an der katholischen Universität zu Porto Alegre, Brasilien. Richter am Landgericht Porto Alegre . 1) Einleitende Bemerkungen Ganz allgemein formuliert, kann auch im Rahmen dieses Beitrags davon ausgegangen werden, dass Soziale Rechte - als Grund-und/oder Menschenrechte verstanden 2 – ohne Zweifel zu den Kernelementen der verschiedenen südamerikanischen Verfassungsordnungen gehören, obwohl in unterschiedlicher Weise. Darüber hinaus bilden die, in der Verfassung verbürgten sozialen Grundrechte, meistens in Verbindung mit anderen Verfassungnormen (z.B. solchen, die über Grundlagen der sozialen und wirtschaftlichen Ordnung des Staates und der Gesellschaft bestimmen), die Säule des gesamten Systems der sozialen Sicherheit, welches natürlich durch den Gesetzgeber und die Verwaltungsorgane, aber auch im Rahmen der Rechtssprechung nähe r konkretisiert und umgesetzt wird oder zumindest werden sollte. Dass die, in der Verfassung und im Gesetz verankerten sozialen Rechte (und Pflichten), – vor allem in Entwicklungsländern - üblicherweise unter mehr oder weniger starken Verwirklichungsdefiziten leiden, welche wiederum die unübersehbare (und kaum unüberbrückbare) Kluft zwischen Verfassungs-und Gesetzestexten und Realität erweisen, liegt bereits auf der Hand und lässt sich darüber hinaus leicht mit einigen Statistiken belegen, welche im letzten Abschnitt aufgezeichnet werden. Obwohl der italienische Rechtsphilosoph und Politologe Norberto Bobbio vielleicht doch nicht völlig Recht hatte mit seiner Bemerkung, dass heutzutage die Grund-und Menschenrechte kaum Begründungsprobleme aufweisen (man braucht hier nur auf die fortbestehende Kontroverse um die Legitimation und Begründung sozialer Grundrechte hinzuweisen), so hatte er auf jeden Fall grundsätzlich Recht mit dem zweiten Teil seiner 1 Was die Anschaffung der notwendigen Unterlagen (hauptsächlich im Bereich der Gesetzgebung und der verschiedenen Informationen, was die sozialen und wirtschafltichen Umstände betrifft) habe ich besonders folgenden Mitgliedern meiner Forschungsgruppe zu danken: Selma Petterle, Cibele Gralha Mateus, Rafael Vincente Ramos und Mateus Utzig. 2 Hier wird nicht auf die unendliche Diskussion über die Unterschiede zwischen Grundrechten und Menschenrechten eingegangen, sondern einfach davon ausgegangen, dass wir uns hier auf eine positiv- rechtliche Perspektive beschränken. Mit anderen Worten, es handelt sich stets um soziale Rechte (und Pflichten) die entweder im Text der Verfassung ausdrücklich verbürgt sind (einschliesslich Rechte, die in Internationalen Abkommen enthalten sind und von der Verfassung rezipiert wurden), oder um von der Verfassung interpretativ abgeleitete Rechte.

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Rechtsschutz und Soziale Rechte in Südamerika – ein Überblick, behandelt an einigen Beispielen1 Ingo Wolfgang Sarlet Dr. Iur. (LMU-München).

Professor für Verfassungsrecht an der katholischen Universität zu Porto Alegre, Brasilien. Richter am Landgericht Porto Alegre.

1) Einleitende Bemerkungen

Ganz allgemein formuliert, kann auch im Rahmen dieses Beitrags davon ausgegangen werden, dass Soziale Rechte - als Grund-und/oder Menschenrechte verstanden2 – ohne Zweifel zu den Kernelementen der verschiedenen südamerikanischen Verfassungsordnungen gehören, obwohl in unterschiedlicher Weise. Darüber hinaus bilden die, in der Verfassung verbürgten sozialen Grundrechte, meistens in Verbindung mit anderen Verfassungnormen (z.B. solchen, die über Grundlagen der sozialen und wirtschaftlichen Ordnung des Staates und der Gesellschaft bestimmen), die Säule des gesamten Systems der sozialen Sicherheit, welches natürlich durch den Gesetzgeber und die Verwaltungsorgane, aber auch im Rahmen der Rechtssprechung nähe r konkretisiert und umgesetzt wird oder zumindest werden sollte. Dass die, in der Verfassung und im Gesetz verankerten sozialen Rechte (und Pflichten), – vor allem in Entwicklungsländern - üblicherweise unter mehr oder weniger starken Verwirklichungsdefiziten leiden, welche wiederum die unübersehbare (und kaum unüberbrückbare) Kluft zwischen Verfassungs-und Gesetzestexten und Realität erweisen, liegt bereits auf der Hand und lässt sich darüber hinaus leicht mit einigen Statistiken belegen, welche im letzten Abschnitt aufgezeichnet werden. Obwohl der italienische Rechtsphilosoph und Politologe Norberto Bobbio vielleicht doch nicht völlig Recht hatte mit seiner Bemerkung, dass heutzutage die Grund-und Menschenrechte kaum Begründungsprobleme aufweisen (man braucht hier nur auf die fortbestehende Kontroverse um die Legitimation und Begründung sozialer Grundrechte hinzuweisen), so hatte er auf jeden Fall grundsätzlich Recht mit dem zweiten Teil seiner

1 Was die Anschaffung der notwendigen Unterlagen (hauptsächlich im Bereich der Gesetzgebung und der verschiedenen Informationen, was die sozialen und wirtschafltichen Umstände betrifft) habe ich besonders folgenden Mitgliedern meiner Forschungsgruppe zu danken: Selma Petterle, Cibele Gralha Mateus, Rafael Vincente Ramos und Mateus Utzig. 2 Hier wird nicht auf die unendliche Diskussion über die Unterschiede zwischen Grundrechten und Menschenrechten eingegangen, sondern einfach davon ausgegangen, dass wir uns hier auf eine positiv-rechtliche Perspektive beschränken. Mit anderen Worten, es handelt sich stets um soziale Rechte (und Pflichten) die entweder im Text der Verfassung ausdrücklich verbürgt sind (einschliesslich Rechte, die in Internationalen Abkommen enthalten sind und von der Verfassung rezipiert wurden), oder um von der Verfassung interpretativ abgeleitete Rechte.

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Aussage, in der Hinsicht, dass die Problematik der Verwirklichung der Grund-und Menschenrechte sicherlich im Vordergrund steht. Wenn auch die klassischen Grundrechte der ersten Generation (vor allem die bürgerlichen, wirtschaftlichen und politischen Freiheiten, sowie die Abwehrrechte im Allgemeinen) starke Effektivitätsprobleme aufweisen (was nicht unbedingt – aber auch - mit ihrer gerichtlichen Durchsetzbarkeit verknüpft ist), trifft diese Problematik hauptsächlich die sogenannten sozialen Grundrechte, sei es wegen der mangelnden sozialen und wirtschaftlichen Voraussetzung, sei es hinsichtlich der fehlenden oder prekären institutionellen Absicherungs-und Konkretisierungsmöglichkeiten, unter denen der Zugang zu den Gerichten und die Effektivität der Rechtsschutz-und Verfahrensgarantien im Allgemeinen eine mehr oder weniger gewichtige Rolle spielen, was natürlich auch die Kontroverse um die Legitimation der Gerichte als Durchsetzungsinstanzen der sozialen Leistungsgrundrechte umfasst. Dass die Rechtsschutzgarantie (einschliesslich des Zugangs zu den Gerichten) offensichtlich eine leistungsrechtliche Dimension aufweist und deshalb, entweder im Rahmen der Leistungsrechte im weiten Sinn (Robert Alexy3) eingeordnet wird oder sogar selbst als ein soziales Grundrecht bezeichnet wurde (Mauro Cappelletti und Bryan Garth4) hat sicherlich eher eine sekundäre Bedeutung gegenüber der Tatsache, dass ohne ein effektives Rechtschutzsystem die Grundrechte im Allgemeinen oft nicht mehr als blosse Programmsätze und Versprechungen wären. Wenn die Staatsbürgerschaft als eine Art Recht auf Rechte verstanden werden kann (Hannah Ahrendt) so ist es möglich auch die Rechtschutzgarantie in gewissem Sinne als ein Recht auf effektive Rechte zu verstehen. Diese Perspektive (der Effektivität der sozialen Grundrechte und der sozialen Sicherheitssysteme im südamerikanischem Raum) bildet den Ansatzpunkt dieses Beitrags. Obwohl der Zugang zu den Gerichten, die Rechtschutzgarantie und die verfahrensrechtlichen Verbürgungen im Allgemeinen wohlbekannt nur eine der Konkretisierungsschienen bilden, werden diese Aspekte hier (auch wegen dem Anliegen des gesamten Werkes und hauptsächlich wegen dem möglichen Umfang der einzelnen Beiträge) etwas näher betrachtet, obwohl auch mit dieser Einschränkung nicht wiel mehr als ein Gesamtüberblick geboten werden kann, so dass die Arbeit einen vorwiegend deskritiven Akzent haben wird.

Was die Gliederung der Arbeit betrifft, wird zunächst einmal der Versuch unternommen, kurz die verfassungsrechtlichen Grundlagen der sozialen Sicherheitssysteme und der sozialen Grundrechte (2.1 und 2.2), am Beispiel einiger der wichtigsten südamerikanischen Länder (vor allem Brasilien, Argentinien, Chile, Kolumbien und Venezuela) darzustellen. Die Auswahl der Länder (welche eventuelle Hinweise auf andere Erfahrungen natürlich nicht ausgrenzt) beruht nicht nur auf dem Kriterium ihrer wirtschaftlichen und politischen Relevanz, sondern ist auch mit einigen wichtigen Erfahrungen im Bereich des Zugangs zu den Gerichten und des Rechtschutzes im Allgemeinen verknüpft, wie es beispielsweise mit der Entscheidung für die Einrichtung

3 Vgl. Robert Alexy, Theorie der Grundrechte, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1994, p. 402 ff. 4 Vgl. Mauro Cappelletti und Bryan Garth, Acesso à Justiça, Porto Alegre: Sérgio Fabris Editor, 1988.

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einer unabhängigen Verfassungsgerichtsbarkeit (Chile und Kolumbien) der Fall ist. Im nächsten Abschnitt (3.1 und 3.2) wird insbesondere auf die Verbürgung und Strukturierung der jeweiligen Rechtschutzsysteme eingegangen, wobei die Aspekte, welche mit der Durchsetzung der sozialen Rechte verbunden sind, näher berücksichtigt werden sollen. Vor allem soll hier ein Überblick auf die wichtigsten Regelungen im Bereich des Zugangs zu den Gerichten und des Rechtschutzes im Allgemeinen geboten werden. Im vierten (4) Teil werden einige theoretische und verfassungsrechtliche Grundlagen, aber auch einige konkrete Erfahrungen im Rahmen der Effektivität der sozialen Grundrechte und sozialstaatlichen Verbürgungen dargestellt, insbesondere was eine Konkretisierung durch die Gerichte angeht. Anschliessend (5) werden Informationen zu der sozialen und wirtschaftlichen Wirklichkeit der ausgewählten Ländern geliefert, gerade um den mehr oder weniger grossen Kontrast zwischen den Verfassungs-und Gesetzestexten und der Realität zu zeigen. Es sei hier nochmals hervorgehoben, dass mit diesem Beitrag nicht viel mehr als ein sehr breiter Überblick auf einige der Aspekte des Rechtsschutzes und insbesonders des Rechtschutzes durch die Gerichte im Bereich der sozialen Sicherheit geboten werden kann, so dass auf eine Vertiefung grundsätzlich verzichtet werden musste. Es bleibt die Hoffnung, dass der Leser sich wenigstens ein relativ aktuelles und übersichtliches Bild von der südamerikanischen Lage machen kann.

2 – Verfassungsrechtliche Grundlagen der Sozialstaatlichkeit und der sozialen Sicherheit

2.1 – Sozialstaatlichkeit und soziale Sicherheit im südamerikanischen Raum Abgesehen von einer Verwirklichung der in den verschiedenen Verfassungs-und

Gesetzesordnungen geregelten Grundlagen, kann davon ausgegangen werden, dass die heutzutage geltenden südamerikanischen Verfassungen (obwohl auf unterschiedliche Weise) eine deutliche Entscheidung für die Sozialstaatlichkeit und die Verankerung schon auf der Verfassungsebene der wesentlichen Elemente ihres jeweiligen Systems der sozialer Sicherheit vorgenommen haben, was auch die Verbürgung verchiedener sozialen Grundrechte einschliesst.

Dieses lässt sich schon am Beispiel der brasilianischen Verfassungsentwicklung darstellen, vor allem (aber nicht nur 5) seit 1934, wobei hier auf die Gemeinsamkeiten mit dem deutschen Verfassungsrecht hingewiesen werden kann, insbesondere was die Sozialstaatlichkeit und die Grundrechtsordnung im Allgemeinen betrifft, obwohl zum Thema soziale Grundrechte und soziale Sicherheit der Einfluss von Weimar wesentlich tiefgreifender war und geblieben ist.6 Natürlich hat sich der Verfassungsgeber von 1988

5 Schon die monarchistische Verfassung von 1824, trotz ihrer vorwiegend liberalen Prägung, beinhaltete einige soziale Rechte, wie z.B. ein Recht auf soziale Unterstützung für Arme und ein Recht auf Erziehung. 6 Vgl. Paulo Bonavides, “Der brasilianische Sozialstaat und die Verfassungen von Weimar und Bonn”, in: Klaus Stern (Hsgb), 40 Jahre Grundgesetz, München, 1990, S. 279 ff., nach dessen Ansicht die brasilianische Verfassungsgeschichte in drei grosse Phasen eingeteilt werden kann: a) Der Konstitutionalismus der Monarchie (1822-1889), wo sich der vorwiegende Einfluss des französischen und englischen Verfassungsdenkens besonders widerspiegelte; b) Der Konstitutionalismus der sogenannten "Ersten Republik" (1891-1930), der sich durch die Übernahme des amerikanischen Föderalismus und

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nicht mehr direkt auf die Weimarer Verfassung gestützt, sondern sich hauptsächlich – trotz der vielfachen und heterogenen Einflüsse anderer Verfassungsordnungen - dem gegenwärtigen portugiesischem und spanischem Verfassungsrecht angeschlossen. 7 Der Ursprung des brasilianischen Sozialstaats wurzelt aber in Weimar, so dass im Bereich Sozialstaatlichkeit die heutige Verfassung von 1988 - im Vergleich zu Deutschland - eigentlich der Weimarer Verfassung näher steht als dem Grundgesetz.

Was das geltende positive Verfassungsrecht angeht, so ist in der brasilianischen

Verfassung von 1988 - im Gegensatz zum Grundgesetz und zur spanischen Verfassung - keine ausdrückliche Bestimmung in der das Wort Sozialstaat (auch in Verbindung mit den Bestimmungen über den Bundestaat, die Republik und den Rechtsstaat) ausfindig zu machen wäre. Art. 1 der brasilianischen Verfassung enthält lediglich eine ausdrückliche Fundamentalnorm, die klarstellt, dass die brasilianische Republik ein Bundesstaat und ein demokratischer Rechtsstaat ist. Die Entscheidung für die Sozialstaatlichkeit als eines der obersten Verfassungsprinzipien und Fundamentalnorm lässt sich daher erst aus anderen Bestimmungen entnehmen.

Schon im Art. 1, Abs. III und IV, steht fest, dass diesem demokratischen Rechtsstaat

und Bundesstaat die Menschenwürde und die sozialen Werte der Arbeit und der Freizügigkeit zugrundeliegen. Darüber hinaus, enthält Art. 3 folgende grundlegende Staatsziele: I - Die Errichtung einer freien und gerechten Gesellschaft; II - Die Gewährleistung der nationalen Entwicklung; III - Die Abschaffung der Armut und der Ausgrenzung, sowie die Minderung der regionalen und sozialen Ungleichheiten; IV - Die Förderung des Allgemeinwohls ohne Vorurteile, was Herkunft, Rasse, Geschlecht, Farbe, Alter angeht und ohne irgendwelche Art der Diskriminierung. Bereits hier könnte man schon davon ausgehen, dass die soziale (materielle) Gerechtigkeit und die soziale Sicherheit zweifellos im Verfassungsprogramm enthalten sind, wobei damit auch schon die dirigierenden, in gewisser Hinsicht aber auch utopischen Elemente des brasilianischen Verfassungsrechts zum Ausdruck kommen (welche sich in den meisten südamerikanischen Verfassungen widerspiegeln), ohne dass zu diesem Punkt hier Stellung genommen wird. Zu diesen Verfassungsbestimmungen und zur Darstellung des in der Verfassung verankerten Sozia lstaats, zählt natürlich der ausführliche Katalog sozialer Grundrechte (Art. 6 bis 11), unter denen die Rechte auf Arbeit, Erziehung, Gesundheit, Wohnung, soziale Sicherheit und die verschiedenen Rechte der Arbeiter (z.B. Mindestgehalt, Streikrecht, Kündigungsschutz) besonders zu erwähnen sind. Darüber hinaus spielen in diesem Zusammenhang auch weitere Regelungen der Verfassung eine beachtliche Rolle, nämlich die, in den beiden letzten Titeln enthaltenen Regelungen, über die Wirtschaftsverfassung (Art. 170-192) und über die soziale Verfassungsordnung (Art. 193-232), wo allerdings das gesamte System der sozialen Sicherheit näher geregelt wird.

Präsidentialismus auszeichnete und c) Der Konstitutionalismus des Sozialstaates (seit 1934), wo - bis zum heutigen Stand - der Einfluss der deutschen Verfassungen von Weimar und Bonn stark zum Ausdruck kam. 7 Über den Einfluss ausländischer Verfassungen auf die gegenwärtige b.V. vgl. Ana Lúcia Lyra Tavares, “A Constituição Brasileira de 1988: subsídios para os comparatistas”, in: Revista de Informação Legislativa Nr. 109 (1991), S. 88 ff. Der vorwiegend portugiesische Einfluss war allerdings schon im ersten Entwurf der sogenannten Komission "Afonso Arinos" zu bemerken, da - so Jorge Miranda, “Transição Constitucional e Anteprojeto da Comissão Afonso Arinos”, in: Revista de Direito Público Nr. 80 (1987), S. 253 ff. - insgesamt über 30 aus der portugiesischen Verfassung übernommene Bestimmungen ausfindig gemacht wurden.

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Im Art. 170 der brasilianischen Verfassung wurden die Grundlagen und Ziele der

Wirtschaftsverfassung festgelegt, nämlich, dass die wirtschaftliche Ordnung auf der Wertung der menschlichen Arbeit und der Freizügigkeit basiert und im Rahmen der sozialen Gerechtigkeit allen eine menschenwürdige Existenz zu gewähren beabsichtigt, insbesondere unter Beachtung folgender Prinzipien: I - nationale Souveranität; II - Privateigentum; III - Sozialgebundenheit des Eigentums; IV - freier Wettbewerb; V - Verbraucherschutz; VI - Umweltschutz; VII - Minderung der regionalen und sozialen Ungleichheiten; VIII - Vollbeschäftigung, IX - Unterstützung der kleinen Unternehmen. Trotz einiger Wiederholungen der im ersten Titel der Verfassung bereits enthaltenen Staatsziele, zeigt der Verfassungstext - jetzt im Rahmen der Wirtschaftsverfassung - dass auch Brasilien (obwohl auf einem anderen Weg als die sogenannte deutsche "soziale Marktwirtschaft") den Versuch unternommen hat Freizügigkeit und soziale Gerechtigkeit, aber auch Kapital und Eigentum mit Arbeit und Menschenwürde zu verknüpfen. 8

Kaum anders ist es mit den weiteren südamerikanischen Verfassungsordnungen. Die geltenden Verfassungen sind meistens einigermassen jung und/oder wurden oft und stark geändert. Eine wenigstens formelle Entscheidung für die soziale Gerechtigkeit, die sozialen Grundrechte und für die, in der Verfassung verankerte soziale Sicherheit ist ihnen, wie bereits angedeutet, gemeinsam. Beispielsweise werden hier einige Hinweise bezüglich der Verfassungen von Argentinien, Chile, Kolumbien und Venezuela geliefert.

Die argentinische republikanische und bundestaatlicheVerfassung (1994) ist eigentlich eher eine liberale Verfassung und deshalb – gegenüber den meisten südamerikanischen Verfassungen – eher zurückhaltend, nicht zuletzt weil sie urprünglich im XIX Jahrhunder verkündet worden ist, obwohl sie 1994 einer tiefgreifenden Reform unterzogen wurde, wo ein besonderer Abschnitt für die neuen Rechte (nuevos derechos y garantias) eingefügt wurde (Artikel 36-43).9 Unter den sozialstaatlichen Verbürgungen ist Art. 14 zu erwähnen, wo ein Recht auf angemessene und menschenwürdige Arbeitsbedingungen und ein Recht auf soziale Sicherheitsleistungen, insbesondere für den Schutz der Familie und den Zugang zu einer menschenwürdigen Wohnung enthalten sind. Art. 41 enthält ein Recht auf eine gesunde Umwelt und Art. 42 sichert den Konsumentenschutz, einschliesslich des Schutzes der Gesundheit und Sicherheit, darüber hinaus auch ein Recht auf Informationen und Erziehung im Bereich der Konsumverhältnisse.

Was die chilenische Verfassung (1980) betrifft, ist schon in Art. 1 eine Staatszielbestimmung enthalten, welche der öffentlichen Gewalt den Auftrag erteilt, dafür zu sorgen, dass die sozialen Voraussetzungen der Grundrechtsausübung vorhanden sind. Der Grundrechtskatalog sichert ausdrücklich das Recht auf eine gesunde Umwelt (Art. 8), den Gesundheitsschutz und den freien und gleichen Zugang zu den verschiedenen Leistungen im Bereich des Gesundheitswesens (Art. 9), ein Recht auf Erziehung (Art. 10) und ein Recht auf soziale Sicherheit (Art. 18). Die kolumbianische Verfassung (1990) ist schon bedeutend ergiebiger in Sachen sozialstaatlicher Verbürgungen. Bereits im ersten

8 Zu diesem Aspekt, vor allem was die Entscheidung für den Kapitalismus als Wirtschaftssystem und die sozialen Elemente der Wirtschaftsverfassung vgl. Eros Roberto Grau, A Ordem Econômica na Constituição de 1988, São Paulo: Editora Revista dos Tribunais, 1991, S. 285 ff. 9 Nennenswert ist der Hinweis auf die Befreihung der noch vorhandenen Sklaven und die Entscheidung für den Katholizismus als ofizieller Glauben der Republik.

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Artikel steht, dass Kolumbien ein sozialer Rechtsstaat ist, welcher auf den Grundlagen der Achtung der Menschenwürde, der Arbeit und der Solidarität basiert. Der umfangreiche Katalog sozialer Grundrechte (Art. 42-77) enthält unter anderen ein Recht auf Schutz der Familiem, Jugendlichen und Kinder (Art. 42-45), ein Recht auf soziale Sicherheit (Art. 48), sowohl auch die Rechte auf Gesundheit (Art 49), Wohnung (Art. 51), Schutz und Förderung der Lebensmittelherstellung (Art. 65), und Erziehung (Art. 67). Als letztes Beispiel wird hier die Verfassung von Venezuela (1999) genannt. Auch der venezuelanische Verfassungsgeber (1999) hat eine ausdrückliche Entscheidung für die Sozialstaatlichkeit getroffen, da Art. 1 von einem sozialen und demokratischen Rechtstaat spricht und als einen der grundlegenden Werte die soziale Verantwortung erwähnt. Die sozialen Grundrechte sind in Abschnitt V sehr umfangreich verbürgt, so dass hier beispielsweise nur die Rechte auf eine angemessene Wohnung (Art. 82), Gesundheit (Art. 83), soziale Sicherheit (Art. 86), Arbeit (Art. 87), Mindestgehalt (Art. 88) und Erziehumg (Art. 102) genannt werden. Ohne das hier noch weitere einzelne Verfassungsbestimmungen zitiert werden, lohnt sich jedoch kurz darauf hinzuweisen, dass die weiteren südamerikanischen Verfassungen alle mehr oder weniger einem ähnlichen Weg gefolgt sind10

Schon die erwähnten Verfassungsbestimmungen - abgesehen von anderen

Beispielen, die in Fülle herangezogen werden könnten - führen zwangsmässig zu einem kaum bestreitbaren programmatischen und dirigierenden Charakter, darüber hinaus aber auch zu dem pluralistischen und kompromissären Akzent der brasilianischen, aber auch der meisten südamerikanischen Verfassungen, obwohl – wie bereits angedeutet – auch hier die Unterschiede nicht gering sind.11 In der Tat haben die genannten Verfassungen, auch infolge der politischen Umstände – es darf nicht vernachlässigt werden, dass die meisten geltenden Verfassungen einige der wichtigsten Konsequenzen des Rückzuges der Diktaturen12 waren - auch (aber nicht nur) deshalb in ihrem jeweiligen Text nicht immer harmonisierbare politische Kräfte und den nicht geringen Druck der verschiedenen Segmente der Gesellschaft in Kauf genommen haben. Nach dem Vorbild der portugiesischen Verfassung von 1976 und im Anschluss an die Lehre des portugiesischen Verfassungsrechtlers Gomes Canotilho können deshalb auch die südamerikanischen Verfassungen als dirigierende Verfassungen, im Sinne einer Garantie des Bestehenden und eines Programmes für die Zukunft 13 bezeichnet werden, was jedoch noch nichts über die

10 Die Verfassungen von Uruguai, Paraguai, Peru, Equador und Bolivien enthalten – abgesehen von anderen sozialstaatlichen Bestimmungen - alle verschiedene soziale Grundrechte (Erziehung, Gesundheit und soziale Sicherheit), wobei nur die Verfassung von Peru kein ausdrückliches Recht auf Wohnung enthält. 11 Vgl. zu diesem Punkt vor allem Josaphat Marinho, “Uma Perspectiva da Nova Constituição Brasileira”, in: Revista Forense Nr. 303 (1988), S. 101 ff. 12 Das im Allgemeinen die härtesten Militärdiktaturen zurückgetreten sind, mit einer Machtübergabe an eine frei gewählte Zivilregierung, bedeutet natürlich nicht, das die autoritären Elemente völlig beseitigt wurden. Dazu reicht insbesondere der Hinwe is auf die Beispiele von Peru (mit der Regierung von Fujimori und den nachfolgenden Problemen), Venezuela (mit dem populistischen und zentralisierten Regime von Hugo Chávez und der ständigen politischen Instabilität ) und Kolumbien (mit dem andauernden Bürgerkrieg und Ausnahmezustand, aber auch mit dem Kampf gegen die Drogenmafia und den damit verbundenen Terror und Korruption) hinzuweisen 13 Joaquim José Gomes Canotilho, Constituição Dirigente e Vinculação do Legislador, Coimbra, 1982, S. 151, der allerdings - und nicht nur was den Gedanken einer Bindung des Gesetzgebers a n die

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Bindungskraft und Wirksamkeit dieser dirigierenden (programmatischen) Elemente aussagt. Andererseits herrscht in der brasilianischen Verfassungsliteratur eine intensive Diskussion über die Einhaltung des Konzeptes einer dirigierenden, die gesamten staatlichen Organe und die gesamte Gesellschaft lenkende Verfassung, welches im europäischen Raum – gerade da, wo die theoretischen Grundlagen eines Verfassungsdirigismus ihre Wurzeln fanden – kaum noch vertretbar ist14.

Abgesehen von dieser, eigentlich nicht sehr fruchtbaren Kontroverse über Tod oder Leben der dirigierenden Verfassung, die auf jeden Fall weiterhin mehr oder weniger dem positiven Verfassungsrecht im südamerikanischen Raum entspricht, (es reicht hier ein Hinweis auf die, nur beispielsweise, zitierten Staatszielbestimmungen und Gesetzgebungsaufträge) scheint es unbestreitbar zu sein - wenigstens aus einer positivrechtlichen Perspektive -, dass Brasilien und die anderen Länder Südamerikas eine sozialstaatliche Verfassung haben, im Sinne eines demokratischen und sozialen Rechtsstaates, oder wenigstens förmlich dem Anliegen sozialer Gerechtigkeit verpflichtet sind. Obwohl in Anbetracht der Literatur und der spezifischen Verfassungsordnungen eigentlich schon immer von verschiedenen Modellen im Rahmen der Sozialstaatlichkeit die Rede war, und wenn man sich auch nie richtig einigen konnte was den Begriff Sozialstaat (vor allem aber seinen Inhalt) angeht, werde ich mir erlauben - für den Zweck dieser Darstellung - an das Sozialstaatverständnis von Hans Friedrich Zacher anzuknüpfen, auch weil es meines Erachtens wesentlich im Einklang mit dem positiven Verfassungsrecht der gegenwärtigen südamerikanischen Verfassungen steht, was auf jeden Fall - wie schon angedeutet - noch nichts über die Verfassungswirklichkeit aussagt.

In der Tat, insbesondere wegen der Verbindung von starken demokratischen und rechtstaatlichen Elementen in den meisten südamerikanischen Verfassungen15 - auf die hier nicht näher eingegangen werden kann - scheint es nicht nur möglich, sondern ebenso nützlich - dass wir uns in terminologischer Hinsicht einigen und auch in Südamerika von einem sozialen (und natürlich demokratische n) Rechtstaat sprechen können, der im Sinne des bekannten Beitrags von Zacher über das soziale Staatsziel im deutschen Grundgesetz, als "ein Sozialstaat, der sich in den Verfahren, Formen und Grenzen des Rechtsstaates verwirklicht, und ein Rechtsstaat, der offen ist dafür, vom sozialen Zweck erfüllt und in Dienst genommen zu werden" beschrieben werden kann. 16 Dass im südamerikanischen Verfassungsdirektiven angeht - einen starken Einfluss der deutschen Verfassungslehre, vor allem aber von Peter Lerche, anerkennt. 14 Über diese Diskussion siehe vor allem Jacinto Nelson Miranda Coutinho (Hsgb), Canotilho e a Constituição Dirigente, Rio de Janeiro: Renovar, 2002, mit Beiträgen verschiedener Autoren und eine Diskussion mit dem portugiesischen Professor Gomes Canotilho. 15 Neben der schon erwähnten ausdrücklichen Entscheidung des Verfassungsgebers (Art. 1), das Brasilien ein demokratischer Rechtstaat ist, sollte auch die Verbürgung des Gewaltenteilungprinzips (Art. 2 ), insbesondere aber der umfangreiche Grundrechtskatalog aufgezeichnet werden. Nur im Titel II der Verfassung (abgesehen davon, dass laut Art. 5 § 2 andere Grundrechte - sogar ungeschriebene - nicht ausgeschlossen sind), sind es 6 Artikel, wobei die beiden wichtigsten Artikel (5 und 7) zusammen nicht weniger als 112 Absätze (und dementsprechend verbürgte Grundrechte) enthalten, unter denen (insbesondere in Art. 5 mit seinen 77 Absätzen) alle wichtigsten Freiheits -und Gleichheitsrechte, Verfahrensgarantien, Schutz des Lebens, Eigentums, Verbot von Folter und Todesstrafe, u.a. ausdrücklich verbürgt wurden. Einen guten und kritischen Überblick, was die Grundrechte in der brasilianischen Verfassung betrifft, bietet Andreas Krell, “10 Jahre brasilianische Bundesverfassung: Rechtsdogmatische und rechtssoziologische Aspekte der Entwicklung des Grundrechtsschutzes”, in: Verfassung und Recht in Übersee , 1. Quartal 1999, S. 7 ff. 16 Vgl. Hans-Friedrich Zacher, Das soziale Staatsziel , in: Isensee-Kirchhof (Hsgb), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, S. 1102 (RdNr. 96).

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Raum nicht nur die sozialstaatlichen und sozialgrundrechtlichen Versprechungen und Herausforderungen der verschiedenen Verfassungen, sondern auch (und auch gerade deshalb) die rechtsstaatlichen und demokratischen Grundsätze (insbesondere im materiellen Sinn) noch kaum den sozialen und wirtschaftlichen Umständen, den Herausforderungen und Zielen der verschiedenen Verfassungen entsprechen, bleibt hier vorläufig offen und soll im Rahmen der Problematik über die Verwirklichung der in ihnen verbürgten sozialen Grundrechten und ihrer sozialstaatlichen Elemente behandelt werden.

Andererseits kann hier nicht auf die Diskussion eingegangen werden, ob eigentlich heute noch von einem Sozialstaat im Allgemeinen die Rede sein kann. Die Auseinandersetzungen gehen natürlich weit darüber hinaus und umfassen auch die Problematik des Fortbestehens der Verfassungen als Grundordnung eines Staates, der Vorrangigkeit des Verfassungsrechtes und der Aufgaben und Leistungsfähigkeiten der Verfassungen, was offensichtlich auch mit der hier behandelten Problematik verknüpft ist17. Was das Beispiel Brasilien betrifft – aber auch auf andere Verfassungsordnungen übertragen werden kann - spricht man in der Literatur von einem Unterschied zwischen dem Sozialstaat (da auch eine Diktatur ein Sozialstaat sein kann) und dem demokratischen Rechtsstaat, dieser als eine Art "verbesserte" Form des Sozialstaats verstanden, weil er zugleich die demokratischen und rechtstaatlichen Grundsätze mit dem Anliegen sozialer (materieller) Gerechtigkeit verbindet.18 Abgesehen von der Richtigkeit dieser These und ohne Berücksichtigung der Verfassungswirklichkeit, bleibt das hier, von uns gewählte Konzept Zachers auf jeden Fall - auch im Sinne der eben dargestellten Meinung - für die meisten Verfassungen Südamerikas aktuell und bildet einen angemessenen Ausgangspunkt und Richtlinie.

2.2 - Die sozialen Grundrechte als Grundlage der Sozials taatlichkeit und der

sozialen Sicherheit 3.1 - Die sozialen Grundrechtskataloge: ein Gesamtüberblick Dass die Grundrechte im Allgemeinen und die Menschenwürde (in deren Dienst die

ersten eigentlich stehen) den Kern, und in gewisser Hinsicht, das "Alfa und Omega" des brasilianischen sozialen und demokratischen Rechtsstaats bilden, liegt auf der Hand und braucht hier nicht vertieft zu werden. Es entspricht darüber hinaus der herrschenden Meinung und der Stellung der jeweiligen Bestimmungen im Verfassungsge füge,19

17 Im brasilianischen Recht vgl. u.a. Lênio Luiz Streck, Jurisdição Constitucional e Hermenêutica, Rio de Janeiro: Editora Forense, 2003. Aus USA lohnt sich ein Blick in das neue Buch von Mark Tushnet, The new constitutional order, Princeton University Press, 2003. Aus der deutschen Literatur vgl. u.a. Dieter Grimm, “Ursprung und Wandel der Verfassung”, in: Isensee-Kirchhof (Hsgb) Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 3. Aufl, 2003. 18 Zu diesem Thema vgl. in der brasilianischen Literatur, u.a. Lenio L. Streck und José L. Bolzan de Morais, Ciência Política e Teoria Geral do Estado , Porto Alegre, 2000, S. 83 ff. 19 Vgl. u.a Francis Delpérée, “O Direito à Dignidade Humana”, in: Direito Constitucional - Estudos em Homenagem a Manoel Gonçalves Ferreira Filho, São Paulo, 1999, und Jorge Miranda, Manual de Direito Constitucional, 3. Aufl., Bd. IV, Coimbra, 2000, S. 181 wobei hier der tiefgreifende Einfluss der deutschen Verfassungslehre registriert werden sollte. Aus der deutschen Literatur, vgl. beispielsweise Adalbert Podlech, “Anmerkungen zu Art. 1 Abs. I GG”, in: Rudolf Wassermann (Hsgb), Kommentar zum Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland (Alternativ Kommentar) , 2. Aufl., Bd. I, 1989, S. 281 und Wolfram Höfling, “Anmerkungen zu Art. 1 Abs. 3 GG”, in: Michael Sachs (Hsgb), Grundgesetz-Kommentar, München, 1996.

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Voraussetzung, die auch für die weiteren südamerikanischen Verfassungen gilt. Mit Recht hat diesbezüglich Klaus Stern darauf hingewiesen, dass die Grundrechte die Verfassung - und deswegen gewissermassen auch die gesamte Rechtsordnung - regieren und determinieren.20 Sie - die Grundrechte - können darüber hinaus als conditio sine qua non eines demokratischen Verfassungstaats betrachtet werden21 und bilden - wie es der berühmte Art. 16 der französischen Menschenrechtserklärung von 1789 schon deutlich voraussagte - zwangsmässig den materiellen Kern jeder Verfassungsordnung, die einen Anspruch auf Anerkennung ihrer Legitimität erhebt.22

Was die sozialen Grundrechte angeht (welche nach herrschender Lehre auch ihre

Grundlage in der Menschenwürde finden23), zeigt sich bereits, dass die in Deutschland, im Rahmen der Wiedervereinung vorgenomene Diskussion um Zweck und Form einer verfassungsrechtlichen Positivierung sozialer Grundrechte, bzw. Staatszielbestimmungen, für Brasilien und die weiteren südamerikanischen Verfassungen (vor allem diejenigen, welche eine ausdrückliche Entscheidung für soziale Grundrechte in der Verfassung getroffen haben) keinen grösseren Wert hat, da die Entscheidung längst gefallen ist. 24 Dies ist aber nur teilweise korrekt, da es nicht wenige Stimmen gibt, - vor allem im Bereich der Politik und der wirtschaftlichen Kräfte) die – auch (aber nicht nur) unter dem Druck der wirtschaftlichen Globalisierung - für eine Abschaffung oder wenigstens eine Flexibilisierung der sozialen Grundrechte plädieren, vor allem, was die Sozialversicherung und Arbeitsverfassung betrifft, so dass zum Thema Grundrechtsschutz gegen Verfassungsänderung - aber auch was die Wirksamkeit und Verwirklichung angeht - die Argumente für und gegen soziale Grundrechte eine gewichtige Rolle spielen können und ein Rückgriff auf die deutschsprachige Literatur – wo dieses Thema besonders diskutiert wurde - kaum zu umgehen ist. Hier ist jedoch nicht der passende Ort für solche Überlegungen.

Zurück zum Katalog der sozialen Grundrechte, zeigt sich von Bedeutung, dass sie - nach dem im luso-brasilianischen Schrifttum schon rezipierten Vorschlag Alexys - in zwei grosse Grundrechtsgruppen bzw Grundrechtsfunktionen eingeteilt werden können: a) soziale Abwehrrechte (die portugiesische Literatur spricht hier von sozialen Freiheiten25); Im brasilianischen Schrifttum vgl. u.a. José Afonso da Silva, “A Dignidade da Pessoa Humana como Valor Supremo da Democracia”, in: Revista de Direito Administrativo Nr. 212 (1998), S. 89 ff., und Cármen Lúcia Antunes Rocha,” O Princípio da Dignidade da Pessoa Humana e a Exclusão Social”, in: Revista Interesse Público Nr. 04 (1999), S. 23 ff. 20 Klaus Stern, “Idee der Menschenrechte und Positivität der Grundrechte”, in: Isensee-Kirchhof (Hsgb), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland , Bd. V (1992), § 108, S. 21 (RdNr. 31), im Anschluss a n den Gedanken , dass die Grundrechte (im Sinne des Virginia Bill of Rights von 1776) zugleich als "basis and foundation of government" betrachtet werden können. 21 Vgl. Hans-Peter Schneider, “Peculiaridad y Funcion de los Derechos Fundamentales em el Estado Constitucional Democratico”, in: Revista de Estudios Politicos Nr. 07 (1979), S. 23. 22 In dieser Hinsicht, vgl. u.a Winfried Brugger, Menschenwürde, Menschenrechte, Grundrechte, Baden-Baden, 1997, S. 5 ff. 23 Vgl. hierzu vor allem Edilsom Pereira Nobre Júnior, “O Direito Brasileiro e o Princípio da Dignidade da Pessoa Humana”, in: Jus Navegandi - http:/www.jus.com.br, S. 08 ff. 24 Auf diese Diskussion sind wir selbst schon näher eingegangen. Vgl. hierzu Ingo Wolfgang Sarlet, Die Problematik der sozialen Grundrechte in der brasilianischen Verfassung und im deutschen Grundgesetz - Eine rechtsvergleichende Untersuchung, Frankfurt a M., 1997, S.437 ff. 25 Vgl. hierzu José Carlos Vieira de Andrade, Rapport sur la protection des droits fondamenteaux au Portugal, Coimbra, 1994, S. 4.

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b) soziale Leistungsrechte (hier die Leistungsrechte im weiteren und im engeren Sinn mit eingeschlossen).26

Die erste Gruppe umfasst daher alle sozialen Grundrechte, die - im gleichen Sinne der klassischen Freiheitsrechte - vorwiegend als negative Rechte gestaltet worden sind, da sie primär auf Unterlassungspflichten des Staates zielen, in der Hinsicht, dass dem Einzelnen ein Anspruch darauf zusteht, dass die jeweiligen Grundrechtsadressaten bestimmte grundrechtlich geschützte Interessen respektieren und Eingriffe unterlassen, oder nur unter bestimmten Voraussetzungen vornehmen.27 Hierzu zählen, z.B. verschiedene typische Freiheits-und Gleichheitsrechte, die als soziale Grundrechte vom Verfassungsgeber behandelt wurden, da sie gewissen sozialen Gruppen (insbesondere den Arbeitnehmern), wegen ihrer schwächeren Stellung gegenüber den Trägern sozialer Macht, einen besonderen Schutz gewähren sollen,28 was zugleich auch zeigt, dass es sich bei all diesen Grundrechten - vor allem was die Grundrechte der Arbeiter betrifft - um ausdrücklich und unmittelbar drittgerichtete Grundrechte handelt.29 Dieser grundrechtliche Arbeiterschutz ist in den meisten südamerikanischen Rechtsordnungen schon auf der Verfassungsebene stark ausgebaut. Was die brasilianische Verfassung betrifft, sei hier u.a. auf das Streikrecht (Art. 9), die freie Bildung und Mitgliedschaft von Gewerkschaften (Art. 8) und die spezifischen Diskriminierungsverbote im Arbeitsverhältnis (Art. 7, XXX-XXXIV), hingewiesen, nur um einige der wichtigsten Beispiele aufzuzeigen. Das gleiche gilt natürlich für Argentinien, Chile, Kolumbien und Venezuela, wobei hier schon einige Beispiele erwähnt wurden (2.1) und für den hier verfolgten Zweck ausreichend sind.

Was die sogenannten sozialen Leistungsrechte angeht, sollte man hier - wieder im

Sinne Alexys30 - besser von Leistungsrechten i.w. Sinne sprechen, da nicht nur Rechte auf materielle (konkrete) Leistungen, sondern auch die sogenannten Rechte auf Schutz und auf Organisation und Verfahren (also auch Rechte auf normative Leistungen), welche üblicherweise einem "status positivus libertatis" zugeordnet werden31, im Katalog der sozialen Grundrechte positiviert wurden. In der brasilianischen Verfassung sind hier insvesonders der Konsumentenschutzauftrag an den Gesetzgeber zu nennen (Art. 5, XXXII) aber auch die verschiedenen Schutzaufträge im Rahmen der Grundrechte der Arbeiter, wie es Art. 7, I (Schutz des Arbeitsverhältnisses gegen arbiträre Entlassug im 26 Vgl. Robert Alexy, Theorie der Grundrechte, 2. Aufl., Frankfurt a M., S, 402 ff., In Portugual, vor allem Joaquim José Gomes Canotilho, Direito Constitucional e Teoria da Constituição, 3. Aufl., Coimbra, 1999, S.383 ff. Für Brasilien, vgl. Ingo Wolfgang Sarlet, A Eficácia dos Direitos Fundamentais , Porto Alegre, 1998, S. 158 ff., und zuletzt auch Gilmar F. Mendes/Inocência Mártires Coelho/Paulo G.G. Branco, Hermenêutica Constitucional e Direitos Fundamentais, S. 139 ff. und S. 200 ff. 27 In dieser Richtung, u.a , die Formulierung von Gerrit Manssen, Staatsrecht I Grundrechtsdogmatik , München, S. 13 (RdNr. 39). Auch die, in der deutschen Verfassungslehre und Rechtssprechung ausgearbeitete Definition der Abwehrrechte wurde mittlerweile auch in Brasilien - wenigstens durch ein Teil der Lehre - übernommen. In dieser Hinsicht vgl. Ingo Wolfgang Sarlet,A Eficácia dos Direitos Fundamentais, S. 167 ff. und, zu letzt, Gilmar F. Mendes/Inocêncio M. Coelho/Paulo G.G. Branco, Hermenêutica Constitucional e Direitos Fundamentais, Brasília, 2000, S. 140 ff. 28 Zu diesem Punkt vgl. Ingo Wolfgang Sarlet, Os Direitos Fundamentais Sociais na Constituição de 1988, in: Ingo W. Sarlet (Hsgb), Direito Público em Tempos de Crise, Porto Alegre, 1999, S. 146 ff. 29 Vgl. u.a Gilmar F. Mendes/Inocêncio M. Coelho/Paulo G.G. Branco, Hermenêutica Constitucional e Direitos Fundamentais, Brasília, 2000, S. 171. 30 Robert Alexy, Theorie der Grundrechte , S. 402 ff. 31 Vgl. den Vorschlag von Dietrich Murswiek, “Grundrechte als Teilhaberechte, soziale Grundrechte”, in: Isensee-Krichhof (Hsgb), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. V, S. 245 ff.

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Rahmen des Gesetzes), aber auch Art. 7 , X (Schutz des Gehaltes nach Massgabe des Gesetzes), Art. 7, XX (Schutz des Arbeitsmarktes der Frauen, durch spezifische Förderung im Rahmen des Gesetzes) und Art. 7, XXVII gesetzlicher Schutz gegen Automatisierung.) gut belegen. Als Recht auf Organisation und Verfahren kann z.B. Art. 7, XI eingestuft werden, da diese Bestimmung, neben dem Recht der Arbeiter auf Beteiligung am Gewinn der Unternehmen (hier ein soziales Leistungsrecht), auch die Mitwirkung a n der Verwaltung des Unternehmens, wieder nach Massgabe des Gesetzgebers, vorsieht. Aus den weiteren südamerikanischen Verfassungen sind natürlich sehr unterschiedliche Regelungen in diesem Bereich zu erwähnen, so z.B. die staatlichen Schutzpflichten im Rahmen des nationalen kulturellem Vermögens und des öffentlichem Raumes (Art. 72 und 82 der kolombianischen Verfassung) oder auch des, in den meisten Verfassungen bereits anerkannten Rechts auf Umweltschutz.

Im Art. 6 der brasilianischen Verfassung, aber auch unter den schon erwähnten

Rechten der Arbeiter (Art. 7 ff.) sind, wie bereits angekündigt, eine Fülle von Leistungsrechten im engeren Sinn vorgesehen, welche auch den Kern des verfassungsrechtlichen Systems sozialer Sicherheit bilden. Hierzu zählen die schon erwähnten Rechte auf Erziehung, Gesundheit, Arbeit, Freizeit, Sicherheit, Sozialversicherung, Schutz der Mutterschaft und Kindheit, Sozialhilfe und letztens (in diesem Jahr durch eine Verfassungsänderung eingeführt) auch ein soziales Leistungsrecht auf Wohnung. Unter den Rechten der Arbeiter (Art. 7) sollten hier auch einige erwähnt werden, nämlich ein Recht auf Arbeitslosenversicherung (Art. 7, II), das Recht auf ein Mindestgehalt (Art. 7, IV), das Recht auf ein 13. Gehalt (Art. 7, VIII), das Recht auf eine Rente (Art. 7, XXIV), unter vielen anderen. Auch hier ist es nicht notwendig weitere Beispiele aus anderen Verfassungen zu erwähnen, da solche bereits oben (2.1) genannt wurden.

Wichtig ist hier hinzuzufügen – da eine ausführliche Aufzeichung sämtlicher

sozialer Grundrechtsverbürgungen in Brasilien und den weiteren südamerikanischen Verfassungen nicht nur unmöglich, sondern nutzlos ist - dass nach herrschender Ansicht (obwohl nicht ohne gewisse Auseinandersetzung) im südamerikanischen Verfassungsrecht (sowie auch in Portugal und anscheinend auch in Deutschland, trotz einer eher zurückhaltenden Stellung) eine materielle Offenheit des Grundrechtskatalogs vertreten wird. 32 In der Tat findet diese Meinung schon im Verfassungstext der meisten südamerikanischen Staaten ihre Rechtfertigung33. Laut Art. 5, § 2 der brasilianischen Verfassung, schliessen die, in der Verfassung ausdrücklich positivierten Rechte, nicht andere Rechte aus, die von den Verfassungsprinzipien abgeleitet werden können oder in den, von Brasilien unterzeichneten, internationalen Abkommen enthalten sind, so dass auch diese als Teil des geltenden Verfassungsrechts betrachtet werden können, was jedoch eine Diskussion um den Rang dieser internationalen menschenrechtlichen Verbürgungen nicht ausschliesst. Obwohl in Ländern wie Argentinien, Kolumbien und Venezuela die 32 Hierzu vgl. Ingo Wolfgang Sarlet, Die Problematik der sozialen Grundrechte…, S.75 ff. Tiefgreifender Ders. A Eficácia dos Direitos Fundamentais, S.81-137. Im portugiesischen Schrifttum vgl. vor allem Jorge Miranda, Manual de Direito Constitucional, 3. Aufl., Bd. IV, Coimbra, 2000, S. 162 ff., und José Joaquim Gomes Canotilho, Direito Constitucional e Teoria da Constituição , S. 379 ff. 33 Siehe beispielsweise Art. 22 der Verfassung von Venezuela, Art. 45 der Verfassung von Paraguai, Art. 94 der Verfassung von Kolumbien und, Art. 33 der argentinischen Verfassung.

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internationalen Abkommen Verfassungsrang geniessen (laut Art. 77, 93 und 23 der jeweiligen Verfassungen), bestehen einige Kontroversen in diesem Bereich34. Gerade in Brasilien – trotz der überwiegenden Meinung in der Literatur und in der Rechtsprechung der Fachgerichtsbarkeit – hält sich der oberste Gerichtshof (Supremo Tribunal Federal) weiterhin an seine frühere Rechtsprechung und spricht den internationalen Menschenrechtsabkommen lediglich den Rang eines einfachen Gesetzes zu, was allerdings zur Verurteilung Brasiliens durch den Amerikanischen Menschenrechtsgerichtshof (Costa Rica) in verschiedenen Verfahren geführt hat.35 Das diese Problematik einen beachtlichen Einfluss im Bereich der sozialen Grundrechte hat (man bräuchte hier nur auf den Rang der sozialrechtlichen Verbürgungen der ILO hinzuweisen) vor allem aber, was den Rechtsschutz und den Zugang zu den Gerichten angeht, liegt auf der Hand, da die Offenheitsklausel des Grundrechtskatalogs soziale Grundrechte nicht ausschliesst und gerade in diesem Bereich besonders wichtig ist.

Welche Bestimmungen ausserhalb des Grundrechtskatalogs in der Tat auch

Grundrechtsnormen enthalten, darüber hinaus welche Kriterien herangezogen werden müssen, um diese Grundrechtspos itionen auf dem Weg der Auslegung ausfindig zu machen, ist weiterhin umstritten und bildet ein Problem für sich, welches wir hier nicht behandeln können.36 Es sei hier nur kurz darauf hingewiesen, dass die brasilianische Verfassung, anders als das deutsche Grundgesetz, keine ausdrückliche Regelung enthält, wie es der Fall der sogenannten Grundrechtsgleichen Rechte ist (Art. 93 Nr. 4a in Verbindung mit Art. 101, 103 und 104 GG), welche auch mittels einer Verfassungsbeschwerde verfassungsgerichtlich durchgeset zt werden können und wo die Entscheidung, was die Grundrechtsnatur betrifft (zumindest im formalen Sinn), klar und deutlich vom Verfassungsgeber getroffen wurde. Darüber hinaus spielt die Ableitung (durch die rechtsprechende Organe) ungeschriebener – im Sinne interpretativ zugeordneter (um hier die Terminologie Alexy’s zu benutzen) – Grundrechte eine nicht unbeachtliche Rolle, auch im Bereich der sozialen Grundrechte, wobei hier vor allem das Beispiel eines Rechts auf ein menschenwürdiges Existenzminimum erwähnt werden sollte, welches nachstehend näher berücksichtigt wird. Wichtig ist, um diesen Abschnitt zu Ende zu führen, die Feststellung, dass im Bereich der Grundrechte (innerhalb und ausserhalb des Katalogs), aber insbesondere was die Sozialstaatlichkeit und die sozialen Grundrechte betrifft, die brasilianische Verfassung ein komplexes und unterschiedliches Bündel von Verfassungsnormen enthält, die hinsichtlich ihres Inhaltes und der Form ihrer Positivierung

34 Vgl. hierzu die umfassende Sonderausgabe der Zeitschrift “Ius et Praxis”, über das Thema “Menschenrechte, Verfassung und internationale Abkommen”, Chile, 2003, wo verschiedene aktuelle Beiträge von den meisten südamerikanischen Ländern enthalten sind. Es handelte sich um ein internationales Symposium über das erwähnte Thema, unter Mitwirkung der Konrad Adenauer Stiftung in Chile. 35 Zu dieser Diskussion im brasilianischen Recht vgl. hauptsächlich Flavia Piovesan, Direitos Humanos e o Direito Constitucional Internacional , São Paulo: Max Limonad, 1996 und der jüngere Beitrag von George Rodrigo Bandeira Galindo, Tratados Internacionais de Direitos Humanos e Constituição Brasileira , Belo Horizonte: Del Rey, 2003. 36 Es handelt sich vor allem um ein Problem der Auslegung und der Konstruktion eines materiellen Grundrechtsbegriffs. In diesem Zusammenhang hat man - im portugiesischen Schrifttum - mit Recht auf die Menschenwürde hingewiesen, welche als Massstab zur Identifizierung von Grundrechtspositionen ausserhalb des Grundrechtskatalogs herangezogen werden kann und sollte (Vgl. in dieser Hinsicht vor allem José Carlos Vieira de Andrade, Os Direitos Fundamentais na Constituição Portuguesa de 1976, S. 83 ff.).

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keine homogene Gruppe bilden.37 Dass diese Vielfalt auch für die Problematik der Wirksamkeit und Verwirklichung der sozialen Grundrechte von eindeutiger Relevanz ist, liegt auf der Hand und spielt deshalb auch im Bereich des Rechtschutzes eine grosse Rolle.

3 – Rechtsschutz und Zugang zu den Gerichten im südamerikanischen

Bereich: ein kurzer Überblick 3.1 – Die Gewährleistung eines Zugangs zu den Gerichten und die

verschiedenen verfassungsrechtlichen Rechtsschutzbehelfe Was die Sicherung eines umfassenden Rechtsschutzes und vor allem den Zugang zu

den Gerichten im Rahmen einer möglichen Durchsetzung sozialrechtlicher Verbürgungen betrifft, öffnet sich ein sehr breiter Horizont, der hier nur teil-und beispielsweise behandelt werden kann. Obwohl Rechtsschutzgewährung mit der Verwirklichung der sozialen Rechte und weiteren sozialstaatlichen Bestimmungen eng verbunden ist, sollen hier – auch wegen einer besseren Übersicht – zunächst einmal einige Bemerkungen über die vorhandenen Einrichtungen und Gewährleistungen im Allgemeinen gemacht werden.

Die südamerikanischen Verfassungen beinhalten meistens eine ausdrückliche Bestimmung welche jedem Bürger prinzipiell einen uneingeschränkten Zugang zu den Gerichten gewährt. Dieses lässt sich leicht wieder an Hand einiger Beispiele belegen. Laut Art. 5, XXXV der brasilianischen Verfassung darf kein Gesetz eine gerichtliche Uberprüfung jeglicher Rechtsverletzung oder Rechtsgefährdung ausschliessen. Obwohl der Wortlaut oft nicht der Gleiche ist, findet sich eine solche Verbürgung auch in anderen Vefassungen, wie es der Fa ll der chilenischen Verfassung (Art. 3) ist, wo das Recht jeder Person auf Rechtsschutz (defensa juridica) enthalten ist. Auch die kolumbianische Verfassung sichert das Recht jeder Person vor einem Gericht die Durchsetzung eines Gesetzes oder Verwaltungsaktes zu verlangen (Art. 87). Nach der Verfassung von Venezuela (Art. 26) hat jedermann das Recht auf einen Zugang zu den Gerichtsorganen, zum Zweck der Geltungmachung seiner Rechte und Interessen, einschliesslich der kollektiven Rechte.

Diese allgemeine Rechtsschutzgewährung wird schon auf der Verfassungsebene näher ausgebaut, vor allem (aber nicht immer ausschliesslich) was den Schutz und Durchsetzung der verfassungsrechtlich-verbürgten Grundrechte angeht. In dieser Hinsicht lohnt es sich einige besondere Verfahren und Einrichtungen zu erwähnen, obwohl hier verständlicherweise auf spezifische verfahrensrechtliche und rechtsvergleichende Aspekte verzichtet werden muss. Andererseits ist es wichtig darauf hinzuweisen, dass es sich bei diesen Durchsetzungsinstrumente selbst um Grundrechtsgewährleistungen handelt, die ihrerseits den gleichen formellen und materiellen Rang der weiteren Grundrechte geniessen und in der Literatur oft als “Verfassungsrechtsmittel” oder “Verfassungsrechtliche Verfahren” bezeichnet werden.

Darüber hinaus - auch in diesem Zusammenhang – spielt nicht nur die Einrichtung einer selbständigen Verfassungsgerichtsbarkeit – welche nicht in allen südamerikanischen Ländern existiert – sondern auch die Zuständigkeiten der Gerichte im Allgemeinen hinsichtlich einer Prüfung und Kontrolle der staatlichen und privatrechtlichen Akte und

37 So schon Ingo Wolfgang Sarlet, A Eficácia dos Direitos Fundamentais, S. 199 ff. In der gleichen Richtung auch Andreas Krell, in: Verfassung und Recht in Übersee, S. 13.

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Handlungen am Masstab der Verfassung und vor allem der Grundrechte, eine beachtliche Rolle. In dieser Hinsicht kann hier davon ausgegangen werden dass, mit oder ohne eine besondere und selbständige Verfassungsgerichtsbarkeit, (wie es de Fall von Chile und Kolumbien ist) die Gerichte auf jeden Fall für die Verfassungsmässigkeitskontrolle befugt sind, wobei hier ein starker Einfluss des amerikanischen Modells des “judicia l review” bemerkbar ist, welches in verschiedenen Ländern (vor allem Argentinien und Brasilien) schon seit dem XIX Jahrhundert Eingang gefunden hat, auch was die Stellung und Besetzung der obersten Gerichte betrifft. Was den Schutz und die Durchsetzung sozialer Grundrechte und sozialstaatlicher Verbürgungen im Allgemeinen durch eine Verfassungsmässigkeitskontrolle angeht, werden nachstehend noch einige Worte gesagt. Zunächst einiges über die angesagten besonderen Rechtsmittel. Im brasilianischen und südamerikanischen Verfassungsrecht sind mehrere Alternativen für verschiedene Zwecke vorgesehen, so dass nicht nur der Schutz individueller Rechtspositionen, sondern oft auch kollektive Rechte und Interessen besondere verfahrensrechtliche Durchsetzungsmöglichkeiten bekommen haben. Abgesehen von dem klassischen Habeas Corpus-Verfahren, welches in allen Verfassungen enthalten ist und prinzipiell die persönliche Bewegungsfreiheit schützt, (ausnahmsweise aber – mangels anderer Möglichkeiten – auch subsidiär für den Schutz anderer Grundrechte benutzt werden kann) hat eine weitere Verfahrensart die wichtigste Stellung erlangt, vor allem, wenn man von der Zahl und Effektivität dieser Verfahren ausgeht. In Brasilien handelt es sich um den sogenannten “Mandado de Segurança”, eine Art “injunction” oder Beschwerde, welche aber kaum anderen Rechtsmitteln gleichgestellt werden kann, so dass hier auf eine Übersetzung verzichtet wird. Der Mandado de Segurança (welcher auch für Schutz und Durchsetzung von kollektiven Rechten dient, was erst in der geltenden Verfassung von 1988 vorgesehen wurde – Art. 5, LXX38) gehört zu der brasilianischen Verfassungstradition seit 1934 und ist in einem Gesetz ausführlich geregelt. Er ist für alle Fälle bestimmt, welche nicht durch die Verfahren des Habeas Corpus und Habeas Data 39 gedeckt sind und wo es sich um eine Verletzung und/oder Gefährdung individueller (und kollektiver) Rechte handelt. Weitere spezifische Voraussetzungen (bereits in der Verfassung enthalten – Art. 5, LXIX) sind, dass es sich um eine Verletzung oder Gefährdung seitens eines Trägers öffentlicher Gewalt 40, aber auch, dass es sich um ein unmittelbar geltendes Recht des Klägers handeln muss. Dieses bedeutet zunächst einmal, dass es nicht unbedingt (obwohl sehr oft) um den Schutz eines Grundrechts geht, aber auch, dass es sich – wegen dem Gegenstand der Klage – um ein einigermassen schnelles Verfahren handelt, da prinzipiell keine Beweisaufnahme zugelassen wird und die Fristen im Gesetz sehr knapp festgelegt wurden. Obwohl in den meisten Fällen, in denen ein Mandado de Segurança benutzt wird, 38 Für diese kollektive Klage sind politische Parteien, Gewerkschaften und Vereine im allgemeinen befugt, wenn es sich um den Schutz und Durchsetzung der Rechte und Interessen ihrer jeweiligen Mitglieder handelt. 39 Das Habeas Data-Verfahren (Art. 5, LXXII der brasilianischen Verfassung) ermöglicht die Kenntnis und gegebenfalls auch die Beseitigung und Korrektur persönlicher Daten und Informationen die in staalichen und öffentlichen Datenbanken gespeichert sind. Auch verschiedene andere südamerikanische Verfassungen enthalten ein spezifisches Verfahren für den Datenschutz, wie es der Fall von Argentinien ist (Art. 43, Abs. 3), Venezuela (Art. 28) und Colombien (Art. 15) , obwohl einige Unterschiede bestehen, vor allem was verfahrensrechtliche Aspekte angeht, auf die hier jedoch nicht eingegangen werden kann. 40 Im Rahmen der Rechtsprechung hat sich schon seit längerer Zeit die Auffassung durchgesetzt, dass es sich nicht unbedingt um eine Handlung einer Behörde handeln muss, sondern dass auch eine Privatperson auf dem Weg des Mandado de Segurança beklagt werden kann, unter der Voraussetzung der Ausübung einer öffentlich-rechtlichen Befugnis, was z.B. der Fall von Schulen und Universitäten sein kann.

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nicht die Durchsetzung sozialer Rechte gerügt wird, ist dies doch nicht selten der Fall, vor allem im Bereich des Rechts auf Erziehung und Gesundheit. Trotz einigen wichtigen Kontaktpunkten mit anderen Verfahrensarten, findet der brasilianische Mandado de Segurança nicht seinesgleichen im südamerikanischen Raum. Dieses ergibt sich nicht zuletzt weil viele der weiteren Rechtsordnungen einen starken Einfluss des spanischen Systems erfahren haben und sich deshalb im Allgemeinen für die Einführung eines “Recurso oder Juicio de Amparo” entschlossen haben, der auch in Mittelamerika zu finden ist, vor allem in Mexico. Hier werden die Beispiele von Argentinien und Venezuela besonders hervorgehoben. Art. 43 Abs.1 der argentinischen Verfassung besagt, dass – immer wenn kein weiterer und effektiverer Rechtsbehelf zur Verfügung steht - jedermann eine schnelle “acción de amparo” gegen eine Handlung oder Unterlassung seitens einer staatlichen Behörde oder einer Privatperson erheben kann, falls es sich um eine rechtswidrige und offensichtlich willkürliche Verletzung oder Gefährdung der, in der Verfassung, im Gesetz oder in einem internationalen Abkommen enthaltenen Rechte handelt. Die gleiche Klage kann auch im Fall irgendwelcher Diskriminierung und hinsichtlich der Durchsetzung und des Schutzes des Rechts auf eine gesunde Umwelt, der Rechte der Konsumenten und der kollektiven Rechte im Allgemeinen durch den einzelnen betroffenen, durch den Volksanwalt (defensor de l pueblo) oder durch Verbände und Vereine, welche die im Gesetz festgelegten Voraussetzungen erfüllen, erhoben werden (Art. 43 Abs. 2). Darüber hinaus, kann der Richter in jedem Fal die Verfassungswidrigkeit der Norm, die als Grundlage für die rechtsverlet zende Handlung dient, erklären (Art. 43 Abs. 1, letzter Satz).

Was die Verfassung von Venezuela angeht, sichert Art. 27 Abs. 1 jeder Person das Recht auf Unterstützung der Gerichte hinsichtlich der Ausübung ihrer, in der Verfassung verbürgten Rechte, ebenso wie diejenigen, welche nicht ausdrücklich in der Verfassung oder in einem internationalen Abkommen enthalten sind. Laut Art. 27 Abs. 2 ist das Verfahren mündlich, öffentlich, rasch und kostenlos. Darüber hinaus ist der Richter befugt, die Rechtsverletzung unverzüglich zu beseitigen oder die zuvor bestehende Situation sobald als möglich wiederherzustellen (Art. 27 Abs. 2, Satz 1). Konkrete Beispiele der Grundrechtsdurchsetzung mittels des “Amparo” werden noch erwähnt.

Beide Beispiele zeigen, dass die in Argentinien und Venezuela bevorzugte Klage umfangreicher ist als in Brasilien, da in Argentinien der Amparo auch im allgemeinen gegen Privatpersonen gerichtet werden kann, und in beiden Verfassungsordnungen – trotz ihrer Subsidiarität und nach der einschlägigen Verfassungsbestimmung – auch zur Beseitigung von Unterlassungen dient. Dies bedeutet jedoch nicht, dass in Brasilien der Rechtsschutz geringer ist, da weitere Rechtsbehelfe zur Verfügung stehen, auf die nachstehend noch eingegangen wird.

Der Kolubianische Verfassungsgeber hat ein ähnliches Verfahren vorgesehen, obwohl er nicht von dem Ausdruck “Amparo” Gebrauch gemacht hat. Nach Art. 86 Abs. 1, hat jede Person das Recht gerichtlich – mittels eines schnellen und präferenziellen Verfahrens -die Wiederherstellung und/oder den Schutz seiner Rechte zu verlangen, insofern diese durch eine Handlung oder Unterlassung seitens eines Trägers öffentlicher Gewalt verletzt oder gefährdet werden. Der gerichtliche Beschluss ist sofort durchsetzbar und kann unmittelbar eine Handlung oder Unterlassung der öffentlichen Hand bestimmen. In jedem Fall muss die gerichtliche Entscheidung durch das Verfassungsgericht überprüft werden (Art. 86 Abs. 2). Darüber hinaus kann diese Klage nur in Abwesenheit eines anderen effektiven Rechtsbehelfs erhoben werden. Ausnahmsweise kann jedoch von der

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Klage vorübergehend Gebrauch gemacht werden, wenn es sich um die Vermeidung eines Schadens handelt, der nicht (oder kaum) wieder gut zu machen ist (Art. 86 Abs. 3). Letztendlich besteht die Möglichkeit, die Klage auch gegen Privatpersonen, welche staatliche Aufträge erfülllen oder deren Handlungen unmittelbar und tiefgreifend das kollektive Interesse treffen, oder auch gegenüber welchen der Klageführer sich in einem untergeordneten und schutzbedürftigen Zustand befindet.

In Chile hat die Verfassung von 1980 eine Art “Schutzrechtsbehelf” (Recurso de Protección) vorgesehen (Art. 20), welcher jedem die Möglichkeit sichert sich gegen irgendwelche willkürliche oder rechstswidrige Handlungen und Unterlassungen vor den Gerichten zu schützen, wobei darauf aufmerksam gemacht werden muss, dass diese Klage für den Schutz und Durchsetzung einiger bestimmter Grundrechte (z.B. die Rechte auf freie Arbeitswahl und freie Wahl der Vertragsbedingungen im Arbeitsverhältnis) vorgesehen ist, was aber den Rechtsschutz für andere Rechte – jedoch durch andere Verfahren - nicht ausschliesst41. Darüber hinaus ist im Art. 21 ein Verfahren zum Schutz der persönlichen Freiheit und Sicherheit vorgesehen, im Rahmen dessen die Gerichte alle geeigneten Mittel zur Beseitigung oder Abwehr der Rechtsverletzung anordnen können. Dieses Verfahren hat insofern einen weiteren Umfang als die übliche Habeas Corpus -Klage, da es nicht ausschliesslich zur Sicherung der Bewegungsfreiheit gegen willkürliche und rechtswidrige Freiheitsentziehungen dient.

Abgesehen von diesen besonderen Rechtsmitteln stehen noch weitere

Verfahrensarten zur Verfügung, wobei hier insbesondere auf Brasilien und Kolumbien hingewiesen wird.

Was die brasilianische Verfassungs-und Rechtsordnung betrifft, sind wenigstens

noch drei spezifische Verfahrensarten zu erwähnen. Gegen Unterlassungen der öffentlichen Gewalt (was auch die Verwaltungsorgane einschliesst) hat der Verfassungsgeber den sogenannten “Mandado de Injunção” vorgesehen, welcher jedermann dazu berechtigt vor den Gerichten (die Zuständigkeit ist in der Verfassung selbst geregelt) die effektive Ausübung eines nicht geregelten Rechts zu sichern, insofern die fehlende Regelung die Ausübung, der in der Verfassung verbürgten Rechte nicht ermöglicht (Art. 5, LXXI). Obwohl der Mandado de Injunção nicht nur vor dem obersten Gerichtshof (Supremo Tribunal Federal) erhoben werden kann, ist dieses meistens der Fall. Abgesehen davon zeigt sich, dass der Verfassungsgeber eine konkrete Kontrolle von verfassungswidrigen Unterlassungen vorgesehen hat, was dementsprechend nicht zu einer normativen Kompetenz der Gerichte führen müsste. Dennoch hat der oberste Gerichtshof, mit einigen seltenen Ausnahmen42, den Mandado de Injunção lediglich der abstrakten Unterlassungskontrolle gleichgestellt und begnügt sich damit, dem Gesetzgeber (bzw. der

41 Vor allem, was die in der chilenischen Verfassung enthaltenen Rechten und Pflichten und ihren gerichtlichen Schutz angeht vgl. Das umfangreiche Werk von José Luis Cea Egaña, Derecho Constitucional Chileno , Bd. II, Santiago: Ediciones Universidad Católica de Chile, 2003. 42 So hat z.B. der oberste Gerichtshof, mangels einer gesetzlichen Regelung, ein Recht auf Schadensersatz für die Mitglieder der Luftwaffe erkannt, welche von der Militärregierung aus politischen Gründen entlassen worden sind, so dass die Betroffenen vor den zuständigen Gerichten nur noch den Wert (aber nicht mehr das Recht) des Schadenersatzes bestimmen müssen (Vgl. Die Entscheidung im Mandado de Injunção Nr. 283-5, vom 14.11.1991.

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Verwaltung) eine Frist zur Beseitigung der Unterlassung zu setzen, was meistens seitens des Gesetzgebers völlig unbeachtet bleibt 43.

Auch die ve rfassungsrechtliche Popularklage (Ação Popular Constitucional) dient dem Schutz bestimmter Verfassungsgüter. Laut Art. 5, LXXIII der brasilianischen Verfassung, ist jeder Bürger (in diesem Fall nur wahlberechtigte Personen) mittels dieser Klage, deren Verfahren gesetzlich geregelt ist, berechtigt, die Nichtigkeit irgendwelcher Akte welche das staatliche Vermögen (oder das Vermögen einer mit staalichen Mitteln finanzierten Einrichtung), die Umwelt, das historische und kulturelle Patrimonium oder die Moralität der Verwaltung gefährden oder verletzen, zu beantragen. Abgesehen von einem Verstoss gegen Treu und Glauben, trägt der Kläger keine Gerichtskosten und wird nicht zur Zahlung von Anwaltshonoraren verurteilt. In dieser Richtung – obwohl in einem weiteren Umfang, anderen Voraussetzungen und gesonderten Verfahren, ist schliesslich die sogenannte Ação Civil Pública (wortwörtlich: öffentliche Zivilklage), eine Art “Class Action”, welche vor allem dem Umwelt-und Konsumentenschutz dient, aber auch für die Verantwortlichkeit von Behörden, die gegen das staatliche Vermögen und/oder die öffentliche Moralität und weitere Grundsätze der öffentlichen Verwaltung verstossen haben44. Darüber hinaus wird die “Ação Civil Pública” auch zur Durchsetzung anderer sozialer Rechte benutzt, wie der Kinder-und Jugendschutz, um hier nur die bedeutsamsten Beispiele zu erwähnen. Im Rahmen der Ação Civil Pública werden die Interessen von bestimmten Gruppen, der Bevölkerung im Allgemeinen oder auch des Staates als solcher (im Sinne des öffentlichen und sozialen Interesses) geschützt und durchgesetzt. Obwohl die Ação Civil Pública nicht zusammen mit den anderen erwähnten Rechtsmitteln im Grundrechtskatalog der Verfassung enthalten ist, hat der Verfassungsgeber (Art. 129, II) die Staatsanwaltschaft (in Brasilien Ministério Público genannt) befugt, eine solche Klage zur Verteidigung der Umwelt, des sozialen und staatlichen Vermögens und anderer kollektiven Interessen zu erheben. Darüber hinaus hat sich die “Ação Civil Pública” als eines der bedeutsamsten und effektivsten Instrumente zum Schutz und zur Durchsetzung einiger der wichtigsten sozialen Rechte und Interessen erwiesen. Beispiele hierzu sollen nachstehend zitiert werden (Abschnitt 4).

Obwohl es in anderen südamerikanischen Rechtsordnungen im Allgemeinen keine, der “Ação Civil Pública” in ihren wesentlichsten Aspekten gleichgestellte Klage gibt, wurde schon darauf hingewiesen, dass zumindest sehr ähnliche Anliegen durch andere Arten von Rechtsbehelfen erreicht werden können, wie es beispielsweise bei der argentinischen und venezuelanischen “Amparo-Klage” der Fall ist. In Kolumbien hat die Verfassung dem Gesetzgeber den Auftrag erteilt, die sogenannten “acciones populares” (Popularklagen) für den Schutz von kollektiven Rechten und Interessen, welche dem öffentlichen Vermögen, der öffentlichen Sicherheit und Gesundheit, der Moralität der Verwaltung, der Umwelt, dem freien wirtschaftlichen Wettbewerb oder anderen ähnlichen Rechten und Interessen dienen, zu regeln (Art. 88). Im Art. 89 hat die kolumbianische Verfassung auch noch die gesetzliche Regelung weiterer Rechtsmittel zum Schutz und zur

43 In der umfangreichen Literatur vgl.u.a. Clémerson Merlin Cléve, A Fiscalização abstrata da constitucionalidade no direito brasileiro, São Paulo: Editora Revista dos Tribunais, 1999, S. 361 ff. 44 In einem einfachen Gesetz wurden die verschiedenen Verstösse gegen die Verwaltungsgrundsätze geregelt. Es sei auch darauf hingewiesen, dass diese Prinzipien Verfassungsrang haben, wie z.B. die im Art. 37 enthaltenen Prinzipien der Gesetzesmässigkeit (legalidade), Unpersönlichkeit (impessoalidade), Moralität (moralidade), Publizität (Publicidade) und Efizienz (eficiência).

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Durchsetzung individueller und kollektiver Rechte vorgesehen, auf welche jedoch hier nicht eingegangen wird.

Dieser Überblick zeigt, dass in verschiedenen südamerikanischen Ländern, die in der Verfassung vorgesehenen speziellen Rechtsmittel zum Schutz und Duchsetzung der Grundrechte, – abgesehen von einigen Ausnahmen (wie z.B. der Habeas Corpus und der Habeas Data) generell für alle Grundrechte – daher auch soziale Rechte – mehr oder weniger geeignet sind, manche sogar vor allem für die Durchsetzung sozialstaatlicher Verbürgungen dienen, insbesondere, was die Interessen der Kollektivität betrifft. In allen diesen Verfahren besteht die Möglichkeit einer konkreten Normenkontrolle zur Sicherung des Vorrangs der Verfassung. Wichtig ist hier hinzuzufügen dass, abgesehen von der Gewährleistung der erwähnten Rechtsbehelfe, der Schutz und Durchsetzung der sozialen Rechte schon immer im Rahmen der Verfassungsmässigkeitskontrolle der Akte der öffentlichen Gewalt, aber auch von Privatrechtssubjekten im Allgemeinen möglich ist, wobei allerdings dieses nicht überall auf die selbe Weise erfolgt. Andererseits haben verschiedene südamerikanische Verfassungsordnungen, insbesonders in den letzten 20 Jahren, nach und nach Aspekte der abstrakten und konzentrierten Normenkontrolle übernommen, welche auch als wichtiges Instrument zum Schutz, nicht nur der sozialstaatlichen Elemente, aber auch der Verfassungsordnung im Allgemeinen dienen.

Was die Effekivität der sozialen Grundrechte und des sozialen Sicherheitssystems im Allgemeinen betrifft, spielt die schon erwähnte Möglichkeit der Verfassungsmässigkeitskontrolle eine gewichtige Rolle, was allerdings nicht nur in den Ländern, welche eine selbständige Verfassungsgerichtsbarkeit eingerichtet haben, sondern auch in den Rechtsordnungen, wo diese nicht existiert, der Fall ist. In Argentinien, wo der Verfassungsgeber keine eigenständige und unabhängige Verfassungsgerichtsbarkeit vorgesehen hat, besteht lediglich die Möglichkeit einer konkreten Verfassungsmässigkeitskontrolle zu der jedes Gericht befugt ist, wobei die Entscheidung – unter der Erfüllung der Verfahrensvoraussetzungen – vor dem obersten Gerichtshof (Corte Suprema de Justicia) auf dem Weg eines “judicial review” angefochten werden kann. Hier darf nicht vergessen werden, dass Argentinien ein Bundesstaat ist und dass auch auf der Landesebene das gleiche System gilt, abgesehen davon, dass die Entscheidungen der obersten Gerichtshöfe der Länder auch von der “Corte Suprema de Justicia” überprüft werden können45.

In Brasilien hat sich im Laufe der Verfassungsgeschichte ein komplexes System, entwickelt, welches zugleich Elemente des amerikanischen “judicial review” und des europäischen Normenkontrollmodells übernommen hat. Das führt nicht selten zu starken Kontroversen führt, vor allem was die Versöhnung beider Modelle betrifft. Wichtig ist hier zunächst einmal, dass jeder Richter und jedes Gericht in Brasilien zu einer solchen Kontrolle in irgendwelchem Verfahren befugt ist, mit der Möglichkeit einer Überprüfung durch den Supremo Tribunal Federal, der jedoch nicht einem in den meisten europäischen Ländern bestehenden Verfassungsgerichten entspricht. Eine Vorlagepflicht der Gerichte besteht prinzipiell nicht (zumindest nicht im Sinne einer Anrufung des obersten Bundesgerichtshof), anders als zum Beispiel in Uruguai46. Die abstrakte Normenkontrolle

45 Über die Verfassungsmässigkeitsprüfung der staatlichen Akte in Argentinien vgl.u.a. Nestor Pedro Sagüés, Elementos de Derecho Constitucional, Buenos Aires: Ed. Astrea, 1993. 46 Nach der Verfassung von Uruguay kann in jedem Verfahren (aber auch direkt vor dem obersten Gerichtshof) die Verfassunswidrigkeit einer Norm oder Akt der öffentlichen Gewalt gerügt werden, aber die

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(auch was Unterlassungen des Gesetzgebers und der Verwaltung betrifft, insofern diese zur Normsetzung ausnahmsweise befugt ist) kann vor dem Supremo Tribunal Federal (Oberster Gerichtshof des Bundes), aber auch vor den obersten Landesgerichtshöfen erfolgen, in diesem Fall allerdings nur, was die Verfassungsmässigkeitsprüfung von Normen der Gemeinden und des Landes am Massstab der Landesverfassung betrifft. Im Rahmen der abstrakten Normenkontrolle haben die Entscheidungen eine allgemeine Bindungswirkung (mit Gesetzeskraft), was in der Lehre sehr umstritten ist, da diese Bindungswirkung auch die verfassungskonforme Auslegung und die Verfassungsmässigkeitserklärung umfasst (diese allerdings nur, was die Überprüfung von Bundesrecht durch den Supremo Tribunal Federal angeht)47.

In Kolumbien hat der Verfassungsgeber demgegenüber eine selbstständige und unabhängige Verfassungsgerichtsbarkeit eingerichtet, in dem die Richter - nach dem europäischem Vorbild - von dem Senat gewählt werden und eine feste Amtszeit von acht Jahren haben (Art. 239 der Verfassung). Unter anderen Zuständigkeiten ist die Verfassungsgerichtsbarkeit zu einer abstrakten Normenkontrolle befugt, was auch die Verfassungsmässigkeitskontrolle von Verfassungsänderungen, von Volksumfragen und Referenden, aber auch den Aufruf zu einer Volksumfrage über eine Verfassungsrevision einschliesst, wobei in diesen letzten drei Fällen (Verfassungsänderungen, Volksumfragen und Verfassungsrevision) diese Kontrolle nur verfahrensrechtliche Aspekte betrifft (Art. 241, Abs. 1 bis 8). Darüber hinaus ist auch eine konkrete Verfassungsmässigkeitsprüfung möglich, welche aber von dem Verfassungsgericht überprüft werden kann (Art. 241, Abs. 9).

Was die venezuelanische Verfassungsordnung angeht, hat die Verfassung von 1999 kein eigenständiges Verfassungsgericht vorgesehen, dennoch ist für eine selbstständige Verfassungsgerichtsbarkeit gesorgt, da einer der Senate des Tribunal Supremo de Justicia (Obersten Gerichtshof) für die Verfassungsgerichtsbarkeitausübung befugt ist (Art. 334, Abs. 3) und laut Art. 335 für Vorrang und Effektivität der Normen und Prinzipien der Verfassung verantwortlich ist. Darüber hinaus haben seine Entscheidungen (was die Ausübung der Verfassungsgerichtsbarkeit betrifft) eine Bindungswirkung den anderen Senaten des obersten Gerichtshofes gegenüber, sowie auch den weiteren Richtern und Gerichten gegenüber (Art. 335), was den Zuständigkeiten des obersten venezuelanischen Gerichtshofs eine gesonderte Stellung gegenüber den meisten anderen südamerikanischen Verfassungen verleiht. Die Möglichkeiten der Verfassungsmässigkeitsüberprüfung von Gesetzen umfasst die abstrakte und konkrete Normenkontrolle und die Überprüfung weiterer Akte und Unterlassungen der staatlichen Organe (Art. 336), einschliesslich der Entscheidungen im Rahmen der konkreten Verfassungsmässigkeitskontrolle durch die anderen Gerichte (und Senate des obersten Gerichtes selbst). Auf jeden Fall soll hier noch

Richter und Gerichte müssen die Entscheidung dem obersten Gerichtshof vorlegen, wozu der Richter auch ohne Antrag einer der Parteien befugt ist (Art. 256 bis 261 der Verfassung von 1967, schon in der Fassung nach den tiefgreifenden Reformen von 1989 und 1994) 47 Zur Verfassungsmässigkeitsprüfung in Brasilien vgl., u.a., hauptsächlich die umfassenden und tiefgreifenden Beiträge von Gilmar Ferreira Mendes, Jurisdição Constitucional, São Paulo: Saraiva, 1996 (es gibt neuere Auflagen, welche die neue Gesetzgebung und Rechtssprechung berücksichtigen), Clémerson Melin Cléve, A Fiscalização Abstrata da Constitucionalidade no Direito Brasileiro, 2. Aufl.,São Paulo: Revista dos Tribunais, 1999 und Zeno Veloso, Controle Jurisdicional de Constitucionalidade, 2. Aufl, Belo Horizonte: Del Rey, 2000, Lenio Streck, Jurisdição Constitucional e Hermenêutica, 2. Aufl., Rio de Janeiro: Forense, 2003.

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einmal deutlich erwähnt werden, dass auch in Venezuela alle Richter und Gerichte zu einer Verfassungsmässigkeitsprüfung im konkreten Fall und in jedem Verfahren befugt sind (Art. 334).

Schliesslich hat sich auch Chile (wie Kolumbien) für eine eigenständige und unabhängige Verfassungsgerichtsbarkeit entschieden. In Chile haben die Verfassungsrichter eine feste Amtszeit von acht Jahren und sind völlig unabhängig, was die Ausübung ihrer Funktionen betrifft (Art. 81). Von den sieben Richtern kommen drei aus der Corte Suprema de Justicia (Oberster Gerichtshof) und werden von dessen Mitgliedern mit einer qualifizierten Mehrheit gewählt. Ein Richter wird von dem Präsidenten der Republik ernannt, zwei werden von dem Nationalen Sicherheitsrat (Consejo de Seguridad Nacional) gewählt und einer durch den Senat der Republik. Die Entscheidungen des Verfassungsgerichts sind unanfechtbar und die breite Befugnispallete umfasst die Verfassungsmässigkeitskontrolle aller Normen, auch solche, die von der Executive erlassen werden (Art. 82). Darüber hinaus ist auch eine konkrete Normenkontrolle durch die weiteren Gerichte möglich, aber ohne eine Überprüfung durch den Verfassungsgerichtshof 48.

3.2 - Weitere Sicherungen eines effektiven und umfangreichen Rechtsschutzes

und Zugang zu den Gerichten Die bis zu diesem Punkt erwähnten Rechtsschutzinstrumente, welche wenigstens

formell im positiven Verfassungsrecht verankert sind, sichern natürlich nicht alleine einen effektiven Rechtsschutz, da weitere Instrumente und Sicherungen notwendig sind, wie beispielsweise die Möglichkeit eines umfassenden Zugangs zu den Gerichten (welcher auch den grossen Teil der armen Bevölkerung einschliesst), die Unabhängigkeit der Gerichte und Richter selbst, unter anderen. Da wir hier nur einen Gesamtüberblick bieten und es auf jeden Fall unmöglich ist im Rahmen eines Aufsatzes alle einzelnen Aspekte in den verschiedenen Rechtsordnungen aufzuzeichnen, geschweige einzeln zu behandeln, werden wir uns nachstehend auf die Unabhängigkeit der Gerichte und die Gewährleistung eines umfassenden und effektiven Zugangs zu den Gerichten beschränken.

Was das zweite Anliegen betrifft, wurde schon darauf aufmerksam gemacht, dass

die südamerikanischen Verfassungen im allgemeinen für Jeden ein Recht auf gerichtlichen Rechtsschutz gewährleisten, so dass die einzelnen Bestimmungen hier nicht wieder zitiert werden. Deswegen werden wir uns lediglich mit folgenden Aspekten befassen: a) die Sicherung der Unabhängigkeit der Richter und Gerichte; b) die Gewährleistung einer Prozesskostenhilfe oder Kostenbefreiung, sowie die Möglichkeit einer rechlichen Beratung und Unterstützung, auch ausserhalb eines Gerichtsverfahrens; c) Die Einrichtung eines alternativen oder zumindest informelleren Rechtschutzsystems.

a) Unabhängigkeit von Richtern und Gerichten Was die Unabhängigkeit der Richter und Gerichte betrifft, ist diese wenigstens im positiven Recht der südamerikanischen Länder (meistens schon auf der

48 Vgl. hierzu Humberto Nogueira Alcalá, Dogmática Constitucional, Talca: Editorial Universidad de Talca, S. 197 ff.

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Verfassungsebene) gesichert. Es bestehen aber nicht geringe Unterschiede was die Reichweite dieser Unabhängigkeit angeht, nicht nur im Rahmen der funktionellen Sicherungen der Richter und Gerichte, aber auch hinsichtlich der Verwaltung des Gerichtswesens und seiner finanziellen Autonomie. Abgesehen davon, werden andere Dimensionen der Problematik hier nicht behandelt, wie es beispielsweise der Fall bei politischen Druck auf die Gerichte, bei Korruption und sogar des Terrorismus (hier bietet Kolumbien wohl das traurigste Beispiel) ist. In der Tat, auch mit vertrauenswürdigsten Informationen zu diesen Aspekten, wäre kaum nachzufolgen inwiefern die Unabhängigkeit von Richtern und Gerichten, sowie auch der weiteren Organe der öffentlichen Rechtspflege davon betroffen wären. Auf jeden Fall würde dieses eine eigene Behandlung erfordern. In der brasilianischen Verfassung ist die Unabhängigkeit der Gerichte wohl am stärksten ausgebaut. Art. 99 gewährt der rechtsprechenden Gewalt und allen seinen Organen auf Bundes-und Landesebene die finanzielle und verwaltungsrechtliche Autonomie, was die Befugnis der Gesetzesinitiative in diesem Bereich umfasst. Dennoch trifft der Gesetzesgeber die Entscheidung über den Anteil der Gerichte am öffentlichen Budget. Die Richter werden (mit Ausna hme der obersten Bundesgerichte) in der Regel von den Gerichten selbst ausgewählt und ernannt, müssen jedoch stets eines der von den jeweiligen Obrlandesgerichten und Bundesgerichten durchgeführten Staatsexamen bestehen (Art. 93). Ausnahmen sind in der Verfassung selbst vorgesehen, da 1/5 der Richter der Oberlandesgerichte und der Bundesgerichte der zweiten Instanz, je zur Hälfte (also 1/10) von Anwälten und Staatsanwälten besetzt sind. Diese werden von ihren jeweiligen Klassenorganen gewählt. Die sechs gewählten Namen werden dem entsprechenden Gericht vorgelegt, das wiederum drei Namen wählt. Der Landes-bzw. der Bundesregierung obliegt dann die Ernennung einer dieser drei Namen (Art. 94). Die Richter (auch diejenigen, die aus der Anwaltschaft und Staatsanwa ltschaft stammen) haben (laut Art. 95) folgende persönliche Sicherungen: a) Nach drei Jahren Amtszeit (Probezeit) erlangen alle Richter die Sicherung ihres Amtes bis zum 70. Lebensjahr, wenn die Zwangspensionierung eintritt; b) Die Richter können ihr Amt nur auf Grund einer gerichtlichen Entscheidung, im Rahmen eines Disziplinarverfahrens oder Strafverfahrens verlieren; c) Die Richter können nicht zu einem Stellenwechsel gezwungen werden und sind in diesem Sinne unbeweglich, abgesehen von einer begründeten Entscheidung des jeweiligen obersten Gerichtes unter der Voraussetzung, dass diese Entscheidung mit einer absoluten Mehrheit getroffen wird; d) Die Vergütung der Richter ist einer Reduzierung prinzipiell entzogen. Die Überwachung der Gerichte und Richter, was die Ausübung ihrer gerichtlichen und verwaltungsrechtlichen Befugnisse betrifft, wird vor allem durch die internen Verwaltungsorgane ausgeübt (jeweils durch die Oberlandesgerichte und die weiteren obersten Gerichte der Bundesgerichtsbarkeit). Eine Kontrolle durch nicht gerichtliche Organe wird lediglich durch die Rechnugshöfe der Länder und des Bundes, aber auch durch die Staatsanwaltschaft ausgeübt, da diese für die Klageeröffnung gegen Richter befugt ist, auch was Verwaltungsakte angeht, da auch Richter ausnahmsweise wegen eines Verstosses gegen die Verwaltungsmoralität verurteilt werden können, abgesehen von ihrer disziplinären,

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zivilrechtlichen und strafrechtlichen Verantwortung. Laut Art. 5, LXXV haftet der Staat für eine fehlerhafte strafrechtliche Verurteilung und für eine, in einem gerichtlichen Urteil festgelegte fristüberschreitende Freiheitsstrafe. Darüber hinaus haftet der Staat auch generell für irgendwelche rechtswidrige Akte der Richter, obwohl die Möglichkeit einer direkten Verantwortung der Richter nicht besteht, da diese nur im Fall des Vorsatzes oder grober Schuld dem bereits verurteilten Staat gegenüber in einem gesonderten Verfahren zur Veranwortung gezogen werden können, was allerdings auch für die weiteren Träger öffentlicher Gewalt im Allgemeinen der Fall ist (Art. 37, § 6). Zur Zeit ist in Brasilien eine Verfassungsnovelle im Gang, in deren Rahmen die Einführung eines obersten Bundesjustizrates diskutiert wird, welcher (nach dem Regierungsvorschlag) auch Mitglieder ausserhalb der Gerichtsbarkeit haben soll.

Was die anderen südamerikanischen Verfassungsordnungen betrifft, ist die

Unabhängigkeit der Gerichte generell gesichert, aber im Allgemeinen nicht auf die gleiche Weise und vor allem nicht mit der selben Intensität wie in Brasilien. Die argentinische Verfassung sichert den Richtern aller Instanzen die Ausübung ihres Amtes zu, insofern sie ein gutes Verhalten (boa conduta) haben (Art. 110, Satz 1). Darüber hinaus, kann auch in Argentinien die Vergütung nicht reduziert werden, solange die Richter ihr Amt ausüben (Art. 110, Satz 2). Was eine Einmischung der Verwaltung angeht, enthält die Verfassung eine Bestimmung welche dem Bundespräsidenten die Ausübung gerichtlicher Funktionen verwehrt (Art. 109). Anders als in Brasilien, wird die oberste Verwaltung des Gerichtswesens, einschliesslich der Anstellung und Überwachung der Richter und ihrer Tätigkeit durch einen Gerichtsrat (Consejo de la Magistratura) ausgeübt. Die in der Verfassung bestimmten Befugnisse und die Aufgaben des Gerichtsrates werden in einem Bundesgesetz geregelt. Er wird abwechselnd durch Mitglieder der gewählten politischen Organe, der verschiedenen Gerichtsbarkeiten und durch Rechtsanwälte besetzt (Art. 114).

In Chile ist die Unabhängigkeit der Gerichte zumindest teilweise gesichert, da der Verfassungsgeber jegliche Einwirkung anderer Staatsorgane in einem gerichtlichen Verfahren verbietet (Art. 73). Darüber hinaus, darf das Gesetz über die Gerichtsverfassung nur nach der Anhörung des obersten Gerichts (Corte Suprema) geändert werden (Art. 74). Die Richter des Verfassungsgerichts (wie oben schon erwähnt) haben eine Amtszeit von 08 Jahren und können prinzipiell nicht abgesetzt werden (Art. 81). Die Verwaltung der Gerichtsbarkeit (mit Ausnahme des Verfassungsgerichts und der Wahlgerichtsbarkeit) wird durch das oberste Gericht ausgeübt (Art. 79). Die Richter haben ihre Stelle bis zu ihrem 75. Lebensjahr gesichtert, insofern sie ein gutes Verhalten haben. Die Richter der unteren Instanzen haben eine, im Gesetz bestimmte, Amtszeit (Art. 77). Darüber hinaus können Richter nur bei frischer Tat festgenommen werden, müssen aber unverzüglich dem jeweils zuständigen oberen Gericht vorgestellt werden (Art. 78), was allerdings auch in Brasilien der Fall ist. Eine persönliche Haftung des Richters ist im Fall einer rechtswidrigen Handlung, aber auch bei einem Verstoss gegen die Verfahrensvorschriften und mangelhafter Justizverteilung möglich (Art. 76). Der Präsident der Republik ernennt die Richter auf Grund eines Vorschlags des obersten Gerichts und der Berufungsgerichte (Art. 32 in Verbindung mit 75). Ein dem argentinischen Justizrat ähnliches Organ, das eine Art äussere Kontrolle ausübt, gibt es in Chile nicht.

In Kolumbien (Art. 228 der Verfassung) wird die Unabhängigkeit der gerichtlichen Entscheidungen gesichert, auch in der Hinsicht auf die auschliessliche Bindung der Richter

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an das Gesetz, an die allgemeinen Rechtsprinzipien, an die Lehre, an die Rechtsprechung und an die Gerechtigkeit (Art. 230). Die Richter des Verfassungsgerichts, des obersten Gerichts (Corte Suprema de Justicia) und des Staatsrats (Consejo de Estado) werden für eine Amtszeit von 08 Jahren gewählt, ohne die Möglichkeit einer Wiederwahl Sie können nur im Fall schlechten Benehmens, einer nicht hinreichenden Effektivität und im Fall der Zwangspensionierung ihr Amt verlieren (Art. 233). Ähnlich wie in Argentinien, sieht die kolumbianische Verfassung einen obersten Justizrat (Consejo Superior de la Judicatura) vor (Art. 254 ff.). Dieser Rat besteht aus zwei Senaten mit insgesamt 13 Richtern. Der erste Senat ist für die Justizverwaltung im Allgemeinen zuständig und die Mitglieder werden jeweils von dem obersten Gericht (2), vom Verfassungsgericht (1) und vom Staatsrat (3) gewählt. Der zweite Senat ist in erster Linie für die Kontrolle der Disziplin der Richter zuständig und seine sieben Mitglieder werden von dem nationalen Kongress gewählt (Art. 254). Die Organisation und Zuständigkeiten werden ausführlich in einem Gesetz geregelt, obwohl die grundlegenden Aufgaben des Justizrates schon auf der Verfassungsebene bestimmt wurden (Art. 256). Unter den, in der Verfassung bereits festgelegten Zuständigkeiten, befindet sich die Kontrolle der richterlichen Tätigkeit, sei es die Effektivität der Arbeit der Richter und Gerichte, oder sei es, was das gute Verhalten von Richtern und Anwälten angeht (Art. 256). Weitere Aspekte hinsichtlich der Unabhängigkeit und Kontrolle der Gerichte und Richter werden im Rahmen der einfachen Gesetzgebung geregelt, und können hier nicht berücksichtigt werden.

Schliesslich hat die junge Verfassung von Venezuela (1999) auch die Unabhängigkeit der Gerichte ausdrücklich gewährleistet, einschliesslich der Sicherung einer funktionalen, verwaltungsrechtlichen und finanziellen Autonomie, so dass der rechtsprechenden Gewalt auf keinen Fall weniger als 2% der staatlichen Haushaltsmittel zuerkannt werden kann (Art. 254). Die Richter werden auf Grund eines Staatexamens ernannt und dürfen nur im Rahmen eines im Gesetz geregelten Verfahrens zwangsmässig versetzt und suspendiert werden (Art. 255 Abs.1). Darüber hinaus haften sie persönlich für irgendwelche rechtswidrige Handlungen oder Unterlassungen, auch was die nicht vertretbare Verzögerung der Verfahrensakte, der Missachtung von Prozessregelungen, unter anderem betrifft (Art. 255 Abs. 4). Den Richtern ist es verwehrt Mitglied einer Partei oder Gewerkschaft zu sein, sie können auch keine mit ihrem Amt unvereinbaren Tätigkeiten ausüben (Art. 256). Der oberste Gerichtshof (Supremo Tribunal de Justicia) ist für die Verwaltung und Kontrolle der weiteren Gerichte und Richter zuständig (Art. 267). Die Einrichtung von Disziplinargerichten wird in einem Gesetz geregelt, welches auch die Zuständigkeiten (aber auch die Verfahren) dieser Gerichte bestimmt (Art. 267).

b) Prozesskosten, Rechtsberatung und Unterstützung: Was die Prozesskosten und die Rechtspflege und Unterstützung im Allgemeinen

angeht, hat der brasilianische Verfassungsgeber dem Staat die Pflicht auferlegt, jedem, der nachweislich unzureichende Mittel hat, eine integrale und kostenfreie Rechtsunterstützung zu gewährleisten (Art. 5, LXXIV). Diese generelle Regelung umfasst deshalb nicht nur die Gerichtskostenbefreiung, sondern auch die Unterstützung durch einen Anwalt und eine Rechtsberatung. Das Bundesgese tz Nr. 1.060 über die Rechtsunterstützung (Lei de Assistência Judiciária), – 1950 erlassen – welches prinzipiell von der neuen Verfassung rezipiert wurde, verlangt für eine Gerichtskostenbefreiung und/oder für die Ernennung eines Anwalts auf Kosten des Staates lediglich eine persönliche schriftliche Erklärung der

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unreichenden Mittel für die Zahlung der Gerichtskosten, ohne damit das eigene Überleben und/oder der Familie zu gefährden, was gerade die herrschende Meinung in der Lehre und Rechtsprechung widerspiegelt. Die im Art. 5, LXXIV enthaltene Regelung schliesst jedoch besondere Normen in diesem Bereich nicht aus, da - wie oben schon erwähnt -, verschiedene Gerichtsverfahren keine Gerichtskosten voraussetzen, wie beispielsweise das Habeas Data-und Habeas Corpus-Verfahren (Art. 5, LXXVII) und die Popularklage (Art. 5, LXXVII). Die im Gesetz Nr. 1060 enthaltene Regelung führt zu der Vermutung hinsichtlich der Unmöglichkeit die Gerichtskosten zu zahlen, welche jedoch durch den zuständigen Richter, durch die Staatsanwaltschaft oder die andere Prozesspartei widerlegt werden kann.

Wenn die Befreiung der Gerichtskosten relativ einfach und leicht zu erreichen ist, ist es bezüglich der Unterstützung durch einen Anwalt nicht so einfach, was in Anbetracht des prinzipiellen Anwaltzwanges (mit einigen Ausnahmen) die Schwierigkeiten steigert. Obwohl die Verfassung von 1988 eine Art öffentliche Anwaltschaft (Defensoria Pública) vorgesehen hat, welche im Rahmen des Bundes und der Länder eingerichtet und gesetzlich geregelt werden muss (Art. 134), aber leider in manchen Bundesländern noch nicht durchgeführt wurde. Die auf Grund eines Staatsexamens ernannten Anwälte haben den Status einer Behörde und die Pflicht der Rechtsberatung und Vertretung der Bedüftigen in allen Instanzen. Darüber hinaus dürfen diese Anwälte nicht privat und selbständig arbeiten. Obwohl im Bundesbereich diese öffentliche Anwaltschaft schon gesetzlich geregelt wurde (Gesetz Nr. 80 von 1994 und Gesetz Nr. 98 von 1999), heisst das noch nicht, dass es genügend Anwälte gibt und das die vorhandene Struktur hinreichend ist. Das gleiche gilt für die Landesebene, wo manche Bundesländer noch nicht einmal ein Staatsexamen durchgeführt haben. Einige weitere Möglichkeiten, das Anliegen von Art. 5, LXXIV der Verfassung (welches den Status eines Grundrechts hat) durchzusetzen, sind jedoch vorhanden. Beispielsweise sei hier die Einrichtung einer Rechtsberatung im Bereich der Munizipien, aber auch durch Universitäten, Gewerkschaften und andere zu nennen. Schon das Gesetz 1060 von 1950 – welches auch in dieser Hinsicht weiterhin angewendet wird – ermöglicht dem Richter den Parteien einen Anwalt zu ernennen, der anschliessend einen Anspruch auf die, durch den Richter (Gericht) festgelegten Honorare gegen den Staat hat. Im Bereich der Arbeitsgerichtsbarkeit (welche dem Bund zugeordnet ist) wurde die Kostenbefreiung und die Rechtsunterstützung in dem Gesetz Nr. 5584/70 geregelt, nach dem die Gerichtskostenbefreiung in der Regel jedem, der ein Einkommen unter dem Wert von zwei Mindestgehalten nachweist, sichert. Die Anwaltskosten müssen selbst getragen werden, hängen jedoch von dem Erfolg der Klage ab. Darüber hinaus wird die Rechtsberatung und Vertretung üblicherweise – im Fall der Arbeitnehmer – von den jeweiligen Gewerkschaften als kostenlose Leistung infolge der Mitgliedschaft zur Verfügung gestellt.

Unter den anderen südamerikanischen Ländern zeigt sich, dass Argentinien Brasilien gegenüber einigermassen zurückliegt, obwohl hier nur formelle Sicherungen (z.B. solche, die in der Verfassung und im Gesetz geregelt sind) berücksichtigt werden, da uns vertrauenswürdige Statistiken fehlen, was die Effektivität dieser Verbürgungen betrifft. Das Bundesgesetz Nr. 24.946 von 1998 regelt im Art. 60 und ff. die Aufgabe der offiziellen öffentlichen Verteidiger (“Defensores Públicos Oficiales”), und sichert die Vertretung aller Armen oder nichtanwesenden Personen in irgendwelchen Verfahren, aber auch eine aussergerichtliche Rechtsberatung. Ähnliche Regelungen sind in den verschiedenen Provinzen getroffen worden. Die Einrichtung der “Defensoria Pública Oficial” schliesst

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jedoch weitere wichtige Massnahmen nicht aus, insbesondere was die Selbstorganisation der Gesellschat in diesem Bereich betrifft, vor allem im Rahmen der Anwaltsverbände auf Bundes=und Landesebene, der juristischen Fakultäten, Gewerkschaften und verschiedener NGO’S. Unter den neuesten Massnahmen ist hier ein Abkommen (September 2002) zwischen dem “Colegio Publico de Abogados” (Anwaltskammer) von Buenos Aires und dem Justizministerium zu erwähnen, welches die Einrichtung einer mobilen Rechtsberatung für die Bevölkerung vorsieht. Was die Gerichtskosten angeht, regelt das Gesetz Nr. 23.898 (1990) die Erhebung, aber auch die Reduzierung (Prozentsätze und Voraussetzungen sind im Gesetz ausführlich geregelt) und Befreiung von Gerichtskosten. Laut Art. 13 des Gesetzes, sind alle Personen von den Gerichtskosten befreit, falls sie im Rahmen eines besonderen Verfahrens nachweisen, nicht im Stande zu sein die Gerichtskosten zu tragen.

In Chile hat der Gesetzgeber bereits 2001 (Gesetz Nr. 19.718) eine öffentliche strafrechtliche Verteidigung (Defensoria Penal Pública) in allen Gerichtsinstanzen eingerichtet und geregelt. Ansonsten wird die Rechtsberatung und Vertretung vor den Gerichten für die ärmere Bevölkerung von den Anwaltsverbänden gesichert. Eine Gerichtskostenbefreiung bzw. Ermässigung wird in der Gesetzesverordnung (Decreto Ley) Nr. 3.454 von 1980 und im Zivilprozessgesetzbuch (Código de Procedimiento Civil) geregelt. Alle Personen mit mangelnden Mitteln haben ein Anspruch auf entsprechende Gerichtskostenbefreiung auf Grund der Anerkennung eines sogenannten “Armenprivilegs” (Privilegio de Pobreza). Laut Art. 129 und ff. des Zivilprozessgesetzbuches wird von der Vermutung ausgegangen, dass alle Verklagten, welche in Haft sind oder alle Personen, welche von den verschiedenen Einrichtungen im Bereich der kostenlosen Rechtsberatung vertreten werden, eine Gerichtskostenbefreiung benötigen. In der Regel, ist jedoch ein Nachweis seitens des Antragstellers notwendig, in einem besonderen Verfahren vor dem Gericht, welches für die Rechtstreitigkeit zuständig ist.

In Kolumbien enthält die Verfassung keine ausdrückliche Regelung, was eine allgemeine und absolute Gerichtskostenbefreiung und Rechtsvertretung betrifft. Dieses Anliegen wurde im Gesetz Nr. 270 von 1996 näher geregelt, in Verbindung vor allem mit dem Zivilprozessgesetzbuch (Código de Procedimiento Civil) und dem Arbeitsverfahrensgesetzbuch (Código de Processo Laboral). Die sogenannte “Armenunterstützung” (Amparo de Pobreza) ist im Zivilprozessgesetzbuch (Art. 160 bis 167) geregelt und verlangt von dem Antragsteller eine formelle und unter Eid erlassene Erklärung, in der Hinsicht, dass ihm die notwendigen Mittel für die Gerichtskostenfinanzierung fehlen. Im Rahmen der Arbeitsgerichtsbarkeit wurde von dem kolumbianischen Verfassungsgericht ein ungeschriebenes – aber nur relatives - Recht auf einen kostenlosen Rechtschutz durch die Arbeitsgerichte anerkannt, da – unter anderen Gründen - die Arbeit als ein grundlegender Wert und als eines, dem Sozialstaat eng zugeordnetes Grundrecht in der Verfassung verankert wurde.49 Schliesslich hat der Gesetzgeber auch die Einrichtung einer “Defensoria Publica” (einer öffentlichen Rechtsberatung) vorgesehen, mit dem Hinweis, dass in jedem Ort zumindest ein öffentlicher Verteidiger (im Sinne eines Anwalts) der Bevölkerung zur Verfügung stehen muss (Art. 2 vom Gesetz Nr. 270/1996).

In Venezuela hat der Verfassungsgeber von 1999 bereits im Art. 26 der Verfassung einen kostenlosen Zugang zu den Gerichten gesichert, welcher auf der Gesetzesebene näher geregelt wurde, wie vor allem im Ziviprozessgesetzbuch (1990) und in den Gesetzen über 49 Entscheidung des kolombianischen Verfassungsgerichts Nr. T 522, von 1994.

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das Arbeitsverfahrensrecht von 2002, wo eine allgemeine Gerichtskostenbefreiung zugesichert ist (Art. 8), aber auch im Gesetz über den Schutz von Kindern und Jugendlichem (2000). Nach dem Art. 175 ff. des Zivilprozessgesetzbuches kann jedermann vor Gericht einen Anspruch auf kostenlose gerichtliche Unterstützung geltend machen, muss jedoch seine mangelden Mittel für die eigene Finanzierung der Gerichts-und Anwaltskosten nachweisen. Die vom zuständigen Gericht erteilte Unterstützung, umfasst nicht nur die Gerichtskosten im Allgemeinen, sondern auch die Zuteilung (auf Kosten des Staates) eines Verteidigers oder Vertreters.

c) Alternative und/oder informelle Rechtschutzmöglichkeiten In diesem Abschnitt sollen kurz einige eingeführte Reformen, was die

Vereinfachung und Informalisierung der Gerichtsverfahren und des Rechtschutzes im Allgemeinen angeht, genannt werden. Hier ist vor allem das Beispiel Brasiliens hervorzuheben, da schon der Verfassungsgeber von 1988 (Art. 98) die Einrichtung von besonderen Gerichten, mit einem im Gesetz geregelten, besonderen Verfahren vorgesehen hat, was zugleich für die Zivilgerichtsbarkeit und Strafgerichtsbarkeit gilt, im Sinne der in USA und anderen Ländern vorhandenen Systeme der “Small Claims”. Diese Möglichkeit wurde bereits vom Gesetzgeber wahrgenommen und hat sich nach und nach auf der Landesebene, aber letztens auch im Rahmen der Bundesgerichtsbarkeit durchgesetzt. Diese besonderen Zivil-und Strafgerichte (Juizados Especiais Cíveis e Criminais) werden durch Berufsrichter und Laienrichter besetzt und sind für die Vergleichung, Verurteilung und Vollstreckung von Zivilverfahren mit geringer Komplexität oder niedrigem Streitwert oder für mildere Straftaten zuständig. Das Verfahren ist im Wesentlichen mündlich und schnell, so dass sich die Beweisaufnahme prinzipiell auf die Bewertung von Dokumenten uder Aussagen der Parteien und Zeugen beschränkt. Die Verhandlung im Rahmen der Zivilverfahren wird von einem Laienrichter (unter Voraussetzung eines juristischem Studienabschlusses) übernommen, dessen Entscheidungsentwurf anschliessend von einem Berufsrichter nachgeprüft wird. Dieses erlaubt eine Vervielfachung der Verfahren und Entscheidungen und, demzufolge, einen bedeutsamen Zeitgewinn. Darüber hinaus besteht die Möglichkeit der Einrichtung einer besonderen zweiten Instanz, welche durch eine Gruppe von erstinstanzlichen Richtern ausgeübt wird. Sowohl das Zivilverfahren, als auch das Strafverfahren wurde im Bundesgesetz Nr. 9099 von 1995 geregelt, jedoch durch weitere Regelungen auch auf der Landesebene (hier mit einigen Unterschieden von Bundesland zu Bundesland) ergänzt. Wichtig ist hier zu erwähnen, dass das Verfahren in der Regel kostenfrei ist und keine formelle Klageschrift notwendig ist. Ein Anwaltszwang besteht auch nur vor den besonderen Strafgerichten oder im Zivilverfahren über einen, im Gesetz festgelegten Streitwert, oder falls die andere Partei bei der Verhandlung bereits von einem Anwalt vertreten wird. In diesem Fall wird der anderen Partei ein vom Staat bezahlter Anwalt zur Verfügung gestell50t.

Insbesondere was den Rechtschutz im Rahmen der sozialen Sicherheit angeht, haben diese Gerichte eher eine unbedeutende Funktion, was sich vor Kurzem auf der

50 Über die brasilianische Erfahrung im Rahmen des Zugangs zu den Gerichten und insbesondere im Bereich der “Juizados de Pequenas Causas” und einiger der verschiedenen Experimente mit alternativen Rechtsschutzinstrumenten, vgl. Maria Tereza Sadek (Hsgb), Acesso à Justiça, São Paulo: Fundação Konrad Adenauer, 2001.

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Bundesebene geändert hat, da hier besondere Gerichte für kleine Streitigkeiten in diesem Bereich (vor allem, was die Duchsetztung sozialrechtlicher Ansprüche angeht) eingerichtet wurden, was zu einer erheblichen Entlastung der Bundesgerichtsbarkeit führte und eine beachtliche Beschleunigung der Verfahren erbrachte, da auch hier die Zuständigkeit für die Berufung von einem Kollegium mit drei Bundesrichtern der ersten Instanz ausgeübt wird. In dem selben Bundesgesetz (Nr. 10.259 von 2001) wurde auch eine besondere Strafgerichtsbarkeit des Bundes für geringfügige Delikte eingeführt. Was eine Erfahrung aussergerichtlicher Rechtschutzalternativen in Brasilien betrifft, hat der Gesetzgeber wohl eine Art Vermittlungsverfahren vorgesehen (Gesetz Nr. 9.307, von 1996) welches jedoch eine sehr bescheidene praktische Anwendung gefunden hat, da prinzipiell eine Überprüfung durch die staatlichen Gerichtsorgane nicht auszuschliessen ist. Obwohl der Gesetzgeber den Entscheidungen der Vermittler (Árbitros) die Rechtskraft gerichtlicher Urteile zuerkannt hat, wird diese Regelung nach überwiegender Meinung für verfassungswidrig gehalten, zumindest insofern eine gerichtliche Überprüfung ausgeschlossen wird. Darüber hinaus, stellt sich das Problem der Kosten des Vermittlungsverfahrens, welche auch gegenüber der Gerichtskosten nicht gering sind, abgesehen der Problematik einer Vertretung durch einen Anwalt.

Ein weiteres Beispiel in diesem Zusammenhang liefert der argentinische Gesetzgeber, da nach dem nationalen Gesetz Nr. 24.573, von 199551, ein vorgerichtliches Vermittlungsverfahren notwendig ist, um eine aussergerichtliche Lösung der Konflikte zu fördern, was auch für arbeitsrechtliche Auseinandersetzungen gilt. Dieses Verfahren ist nur in den, im Gesetz (Art. 2) bestimmten Ausnahmen, nicht anzuwenden (wie z.B. in Strafverfahren, Konkursverfahren, Verfahren mit Beteiligung der öffentlichen Gewalt, Trennungen, Scheidunge n, und im Allgemeinen familienrechtlicher Konflikte, wobei in diesem Fall die rein vermögensrechtlichen Aspekte zunächst einem Vermittler zugewiesen werden) oder wenn die Parteien nachweisen, dass sie schon eine Vermittlung durch einen, beim Justizministerium eingetragenen Vermittler, unternommen haben. Andererseits wurde dieses Vermittlungsverfahren in den meisten Gerichtsbezirken der Bundesländer nicht durch den Gesetzgeber geregelt, so dass es hauptsächlich im Bezirk der Bundesgerichsbarkeit von Buenos Aires gilt. Abgesehen davon, wurden verschiedene Aspekte des Gesetzes intensive diskutiert, vor allem was den obligatorischen Charakter des Vermittlungsverfahrens betrifft, was einschliesslich zu einer Rüge der Verfassungswidrigkeit des Gesetzes führte, welche jedoch noch nicht entschieden wurde 52. Eine weitere Alternative hinsichtlich einer Erweiterung des Rechtschutzes und deren Erleichterung, bilden die sogenannten “Tribunales Arbitrales de Consumo”, welche eine Art Vermittlungsverfahren im Bereich des Konsumentenschutzes durchführen. Diese aussergerichtliche Vermittlungsinstanzen existieren in Argentinien seit 1998 und stehen unter der Aufsicht der staatllichen Konsumentenschutzbehörde (Secretaria de Defensa de la Competencia y del

51 Dieses Gesetz wurde durch verschiedene Verordnungen geregelt und durch weitere Gesetze geändert. Hier ist besonders die Verzögerung der Anwendungszeit des Vermittlungsverfahrens zu erwähnen, welche laut dem Gesetz von 1995 auf fünf Jahre befristet war. 52 Vgl.zur Kontroverse um das Vermittlungsverfahren in Argentinien Sérgio Dugo,”La Mediación e n Argentina”, in: Revista do Centro de Estudos Judiciários, Nr. 13, 2001, S. 155 ff.

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Consumidor). Die Entsche idungen haben die Rechtskraft einer gerichtlichen Entscheidung53.

In Chile hat der Gesetzgeber, ebenfalls im Bereich des Konsumentenschutzes, auch ein besonderes Verfahren vorgesehen und eingeführt (Gesetz Nr. 19.496, von 1997, welches über den Konsumentenschutz bestimmt). Es handelt sich – wie auch in Argentinien – um ein nicht gerichtliches Vermittlungsverfahren, welches jedoch einen direkten Weg zu den Gerichten nicht verschliesst, da in Chile – ähnlich als in Brasilien – der Gesetzgeber eine Art Gerichtsbarkeit für kleine Angelegenheiten eingeführt hat, mit einem grundsätzlich mündlichen und schnellen Verfahren. Die sogenannten “Juzgados de Policia Local” wurden ursprünglich im Gesetz Nr. 15.231 eingeführt und geregelt, obwohl die Zuständigkeiten und vor allem das Verfahren durch weitere Gesetze im Laufe der Jahre oft geändert wurde 54. Diese Gerichte sind für die, im Gesetz bestimmten strafrechtlichen (beispielsweise was Verkehrsunfälle angeht) und zivilrechtlichen Streitigkeiten, zuständig und das Verfahren ist vorwiegend mündlich und unterliegt einem Gebot der unverzüglichkeit, da die Fristen für die Parteien und Richter relativ knapp sind. Darüber hinaus sind die meisten Entscheidungen unanfechtbar und es besteht prinzipiell kein Anwaltszwang.

4 - Das Problem der gerichtlichen Verwirklichung der sozialen Grundrechte und sozialstaatlichen Verbürgungen

Zentrale Bedeutung für die Verwirklichung der verfassungsrechtlich verankertern

Sozialstaatlichkeit hat die Problematik der gerichtlichen Durchsetzung der entsprechenden sozialen Grundrechtsnormen, bzw. der weiteren sozialrechtlichen Verbürgungen der verschiedenen Verfassungen, Thema mit dem sich die brasilianische – aber auch die südamerikanische - Lehre und Rechtssprechung schon seit längerer Zeit befassen und wo bis heute eine tiefe Kontroverse besteht.55 Da eine ausführliche Bewertung der verschiedenen nationalen Diskussionen und Lösungen (sei es im positiven Recht, sei es im Rahmen der Lehre und Rechtsprechung) hier unmöglich ist, werden auch zu diesem Punkt nur einige Aspekte hervorgehoben.

Trotz aller Auseinandersetzungen scheint sich mehr oder weniger die Auffassung durchzusetzen, dass auch die sozialstaatlichen Verbürgungen, vor allem aber die sozialen Grundrechte, nicht gegenüber einer gerichtlichen Konkretisierung (bzw. Schutz und Durchsetzung) verschlossen sind, sondern im Gegenteil, nicht auschliesslich von einer gesetzlichen Regelung abhängen. Es ist deshalb wichtig darauf hinzuweisen, dass der brasilianische Verfassungsgeber von 1988 eine ausdrückliche Entscheidung für die unmittelbare Anwendbarkeit der Grundrechte getroffen hat, ohne irgendwelche Grundrechtsnormen prinzipiell auszugrenzen (Art. 5 Abs. 1). In Anbetracht der Tatsache, dass im Grundrechtskatalog auch Leistungsrechte enthalten sind, stellt sich natürlicherweise die Frage, ob auch diese Grundrechtsnormen ohne einen Gesetzgebungsakt direkt von den Gerichten angewendet und durchgesetzt werden können

53 Was den Konsumentenschutz in Argentinien betrifft vgl. u.a. Jorge Iturraspe y Ricardo Lorenzetti, Derecho del Consumidor, Santa Fé, 1994. 54 Das Verfahren ist vor allem im Gesetz Nr. 18.287 geregelt. 55 Zu dieser Disku ssion vgl. Ingo Wolfgang Sarlet, A Eficácia dos Direitos Fundamentais , S. 207 ff.

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und vor allem, ob für den Einzelnen ein subjektives Recht anerkannt werden kann, insbesondere im Bereich der sogenannten sozialen Leistungsgrundrechte.

Da der brasilianische Verfassungsgeber - anders als z.B. in Portugal, Spanien und auch Kolumbien56 - keinen ausdrücklichen Unterschied zwischen den sozialen Leistungsgrundrechten und den weiteren Grundrechtsnormen gemacht hat, wird nach einer, in der Lehre und Rechtsprechung schon einigermassen stark vertretenen Meinung, davon ausgegangen, dass Art. 5 Abs. 1 der brasilianischen Verfassung als eine Art Generalklausel betrachtet werden kann, die für das gesamte Grundrechtssystem der Verfassung gilt.57 Dieses rechtfertigt sich schon deshalb, weil unter den sozialen Grundrechten - wie bereits dargestellt - viele typische Abwehrrechte vorhanden sind, an deren unmittelbarer Anwendbarkeit (Wirksamkeit) und subjektiv-rechtlichen Charakter prinzipiell keine Zweifel bestehen. 58

Trotz einiger Gegenmeinungen ist andererseits leicht zu vertreten, dass die verfassungsrechtliche Aussage für die unmittelbare Anwendbarkeit aller Grundrechte nicht zwingend zu einer gleichen Anwendbarkeit und Wirksamkeit führt,59 was offensichtlich nicht die Auffassung ausschliesst (wie in der brasilianischen herrschenden Lehre vertreten), dass alle Verfassungsnormen einen gewissen Grad an Wirksamkeit (hier als die mögliche Entfaltung rechtlicher Folgen verstanden) entfalten und in dieser Hinsicht auch einer Verwirklichung durch die Gerichte zugänglich sind. 60 Abgesehen davon dürfte man nicht vernachlässigen, dass nicht alle Verfassungsnormen im Bereich der Sozialstaatlichkeit Grundrechtsqualität haben, so dass in diesen Fällen nicht unbedingt das Postulat der direkten Anwendbarkeit einschlägig ist. Darüber hinaus spielt die gesetzliche Regelung der meisten Verfassungsbestimmungen - auch was die sozialen Grundrechte angeht - eine nicht unerhebliche Rolle, insbesondere wo es um die Anerkennung subjektiver Rechte geht und die üblichen Einwände gegen originäre soziale Leistungsrechte (wie vor allem der Vorbehalt des Möglichen und das Gewaltenteilungsprinzip) prinzipiell keinen, b.z.w. einen geringen Einfluss haben. Auf jeden Fall soll hier berücksichtigt werden, dass was eine gesetzgeberische und verwaltungsrechtliche Regelung betrifft, es sich in der Regel um eine direkte oder zumindest indirekte Konkretisierung der Verfassung handelt, was wiederum -

56 Sowohl die portugiesische Verfassung von 1976 als auch die spanische Verfassung von 1978, unterscheiden ausdrücklich zwischen den sogenannten negativen Grundrechten und den sozialen Leistungsgrundrechten (so auch die allgemeinen Grundsätze der wirtschaftlichen und sozialen Ordnung), in dem Sinn, dass die letzten keine unmittelbare Anwendung haben und prinzipiell nach einer Konkretisierung durch den Gesetzgeber verlangen. Zu diesem Punkt vgl. unter vielen José Casalta Nabais, Direitos Fundamentais na Constituição Portuguesa , in: Boletim do Ministério da Justiça Nr. 400 (1990), S. 21 ff. und - für Spanien - Francisco Fernandez Segado, La Teoria Jurídica de los Derechos Fundamentales e n la Constitución Española de 1978 y su Interpretación por el Tribunal Constitucional , in: Revista de Informação Legislativa Nr. 121 (1994), S. 80. Die kolumbianische Verfassung von 1990 enthält im Art. 85 eine Liste der direkt -anwendbaren Grundrechtsbestimmungen, unter denen sich die meisten sozialen und wirtschaftlichen Grundrechte nicht befinden. 57 So etwa Flávia Piovesan, Proteção Judicial contra Omissões Legislativas, S. 90. 58 Vgl. Luís Roberto Barroso, O Direito Constitucional e a Efetividade de suas Normas, S. 105 ff., Meinung die wohl ohne Zweifel der überwiegenden Ansicht in der deutschen, portugiesischen und spanischen Lehre und Rechtsprechung entspricht, so dass wir hier auf weitere Literaturhinweise verzichten. 59 In dieser Hinsicht vgl. u.a José Carlos Vieira de Andrade, Os Direitos Fundamentais na Constituição Portuguesa de 1976, S. 253 ff. 60 Vgl. vor allem J.A da Silva, Aplicabilidade das normas constitucionais, São Paulo, 1982, S. 42 ff.

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abgesehen von der Anerkennung derivativer Leistungsansprüche 61 - auch für die Problematik des sozialen Rückschritts wichtig ist, die jedoch hier nicht besonders berücksichtigt wird.

Ohne hier näher auf diese spezifische Problematik eingehen zu können, möchten wir festhalten, dass Art. 5 Abs. 1 der brasilianischen Verfassung – gerade wegen der Vielfältigkeit der Grundrechtsnormen - zwangsmässig prinzipiellen Charakter erweist, da sich ansonsten die Frage der Wirksamkeit der Grundrechte mit einer ersichtlich nicht haltbaren "alles oder nichts" Logik lösen müsste, was von sich aus schon im Konflikt mit dem Prinzipiencharakter der meisten Grundrechtsnormen in den südamerikanischen Verfassungen stehen würde, so dass wir (unter anderen) auch zu diesem Punkt der Lehre Alexys folgen, die sich wenigstens in Brasilien – obwohl nicht immer auf gleiche Weise und unter direkter Berufung auf Alexy – durchzusetzen scheint.62 Dies bedeutet grundsätzlich, dass allen Grundrechtsnormen - auch den sozialen Grundrechten in ihrer leistungsrechtlichen Dimension - die gröstmögliche Wirksamkeit und Verwirklichung verliehen werden soll, dieses aber wiederum die Anerkennung von subjektiven Leistungsrechten – anhand der Umstände des konkreten Falles - prinzipiell nicht ausschliesst.63 Obwohl hier nicht auf die einzelnen Argumentatiostrukturen in der brasilianischen und südamerikanischen Lehre und Rechtsprechung eingegangen wird, kann davon ausgegangen werden, dass im Allgemeinen das Postulat einer grösstmöglichen Verwirklichung von den Gerichten immer ernster genommen wird, was natürlich zu nicht geringen Auseinandersetzungen in der Lehre, aber auch zwischen den Gerichten, dem Gesetzgeber und vor allem den Regierungsorganen führt.

Wie die Gerichte in Brasilien, aber auch in den weiteren südamerikanischen Ländern den Schutz und die Durchsetzung sozialer Grundrechte und sozialtaatlicher Verbürgungen durchzuführen, bleibt jedoch noch offen und kann hier nur beispielsweise behandelt werden. Sicher ist auf jeden Fall, dass die Vielfältigkeit und fehlende normative Homogenität der sozialen Grundrechte und sozialstaatlichen Verbürgungen sehr unterschiedliche Lösungen oder auch Probleme im Rahmen einer gerichtlichen Verwirklichung erfahren.

Vor allem ist zu beachten, dass den sozialen Grundrechten (und sozialstaalichen Bestimmungen, wie es der Fall der meisten Staatszielbestimmungen und Gesetzgebungsaufträgen ist) nicht nur ein leistungsrechtlicher Charakter, sondern auch eine abwehrrechtliche Dimension zuerkannt wird. Insbesondere die verschiedenen Rechte der Arbeiter (wie z.B. das Recht auf Streik und die freie Gründung von und Mitgliedschaft an Gewerkschaften) sind vorwiegend den Abwehrrechten zuzuordnen. Selbst Rechte, wie die auf Gesundheit und Wohnung haben auch eine abwehrrechtliche Seite und dienem dem Schutz der Gesundheit und Wohnung der Personen gegen unzulässige Eingriffe seitens des

61 Über die Unterscheidung zwischen originären und derivativen sozialen Grundrechten (oder Leistungsansprüchen) vgl. vor allem den bekannten Beitrag von Wolfgang Martens, Grundrechte im Leistungsstaat, in: VVDStRL Nr. 30 (1972), S. 21 ff. 62 Über die Prinzipien-Regeln-Struktur der Grundrechtsnormen vgl. Robert Alexy, Theorie der Grundrechte , S.. 71 ff. 63 Vgl. hierzu auch F. Piovesan, Proteção Judicial contra Omissões Legislativas, p. 92, im Anschluss na die Lehre des portugiesischen Verfassungrechtlers Gomes Canotilho.

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Staates (auch auf dem Weg eines sozialen Rückschrittsverbotes64) oder seitens Privater, insofern eine sogenannte “Drittwirkung” angenommen wird, was allerdings in Brasilien der Fall ist65. Auch im Rahmen der als Programmsätze, Staatszielbestimmungen und Gesetzgebungsaufträgen positivierten Grundrechte oder sozialstaatlicher Verbürgungen, wird die Sicherung eines subjektiven Rechts im “negativen Sinn” (mit anderen Worten, als Abwehrrecht) prinzipiell anerkannt66, in der Hinsicht, dass jedermann sich gerichtlich gegen einen Verstoss gegen seine sozialen Rechtspositionen schützen darf, wozu die oben erwähnten Rechtsmittel, hautpsächlich jedoch die Verfassungsmässigkeitskontrolle, in der Regel hinreichend sind, was natürlich nicht bedeutet, dass es in manchen Fällen auch in dieser Perspektive beunruhigende Durchsetzungsprobleme gibt (was z.B., u.a, die Besetzung von Land und/oder Wohnflächen im städtischen Bereich angeht).

Hinsichtlich dieser abwehrrechtlichen Dimension der sozialen Grundrechte und Verfassungsnormen im Allgemeinen, könnte hier eine sehr beachtliche Zahl von Gerichtsentscheidungen erwähnt werden, wie z.B., was den Schutz der eigenen Wohnung betrifft, vor allem gegen Pfändungen in einem Gerichtsverfahren. In der brasilianischen Rechtsprechung setzt sich nach und nach die Aufassung durch, dass auch gesetzliche Regelungen, welche eine Pfändung der eigenen Wohnung ausnahmsweise gestatten, verfassungswidrig sind, da das Recht auf Wohnung ein Ausdruck des Rechts auf eine menschenwürdige Existenz ist67. Unter Berufung auf das Recht auf Erziehung hat die Rechtsprechung (auch im Sinne eines Abwehrrechts) schon seit einiger Zeit gegen die Möglichkeit einer Exmatrikulation von Studenten während des Schuljahres oder Studiensemesters Stellung genommen, so dass auch bei fehlender Zahlung der Studiengebühren das Semester oder Jahr nicht unterbrochen werden darf und den Privatschulen und Universitäten lediglich die Alternative bleibt keine neue Imatrikulation anzunehmen68.

Im dem Bereich “subjektiver Rechte auf soziale Leistungen" ist die Lage offensichtlich anders und die Zurückhaltung der Gerichte wesentlich grösser. Vor allem da, wo es sich um rein normative Leistungen handelt, was insbesondere bei den Schutzrechten der Fall ist, geht (auch in Brasilien) die herrschende Meinung zu Recht, davon aus, dass für den Einzelnen kein subjektives Recht, zumindest nicht im Sinne eines Rechtes auf Erlass eines Gesetzes entsteht und lediglich die Möglichkeit einer Verfassungsmässigkeitsprüfung

64 Hierzu vgl. Ingo Wolfgang Sarlet, Direitos fundamentais sociais e proibição de retrocesso: algumas notas sobre o desafio de sobrevivência dos direitos sociais num contexto de crise, in: Revista do Instituto de Hermenêutica Jurídica, Bd. II, 2004, S. 121-169. 65 Über dieses Thema vgl. in der brasilianischen Lehre Daniel Sarmento, Direitos Fundamentais e Relações Privadas, Rio de Janeiro: Lumen Júris, 2003. 66 67 Bezüglich des Umfangs und der Wirksamkeit des Rechts auf Wohnung in der brasilianischen Verfassung vgl. Ingo Wolfgang Sarlet, “O direito fundamental à moradia na Constituição: algumas anotações a respeito de seu contexto, conteúdo e possível eficácia”, in: José Adércio Leite Sampaio (Hsgb), Crise e Desafios da Constituição , Belo Horizonte: Del Rey, 2003, S. 415-469. Insbesondere was die Problematik der Landlosen angeht, vor allem hinsichtlich des Rechts auf Nahrung und Wohnung, mit verschiedenen Beispielen aus der Rechtsprechung, vgl. Jacques Távora Alfonsin. O acesso à terra como conteúdo de direitos humanos fundamentais à alimentação e à moradia, Porto Alegre: Sérgio Fabris, 2003. 68 Über das Recht auf Erziehung in der brasilianischen Verfassung, mit Hinweisen auf die Literatur und Rechtsprechung, vgl. Marcos Augusto Maliska, O Direito à Educação e a Constituição, Porto Alegre: Sérgio Fabris, 2001.

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des Unterlassens des Gesetzgebers bzw. der Verwaltung bleibt, was allerdings nicht in allen Ländern der Fall ist. 69

Was die Rechte auf konkrete sozialstaatliche Leistungen betrifft, muss jedoch - wie bereits erwähnt - zwischen den vom Gesetzgeber geregelten sozialen Grundrechten (wo nach Massgabe des jeweiligen Gesetzes prinzipiell für den Einzelnen auch in Brasilien ein subjektives Recht anerkannt wird) und den im deutschen Schrifttum sogenannten originären, unmittelbar von der Verfassung abgeleiteten, subjektiven Leistungsrechten unterschieden werden. Gerade was die letzte Alternative angeht - originäre subjektive Leistungsrechte - besteht weiterhin eine intensive Auseinandersetzung, die sich schon lange nicht mehr auf die juristische Ebene beschränkt, sondern zu immer stärkeren Konflikten zwischen Gesetzgeber und Rechtsprechung, vor allem aber zwischen der Judikative und der Verwaltung führt. Gerade wegen den mangelnden Mitteln und den entsprechenden Leistungsdefiziten, die vor allem im Bereich des Gesundheitswesens, Erziehung, Wohnung und Sozialhilfe immer akuter werden, sind die Gerichte in Südamerika immer öfter mit derartigen Klagen beschäftigt, wo es im Prinzip darum geht, dem Einzelnen, bei fehlender oder mangelnder gesetzlicher Regelung, die in der Verfassung versprochenen Leistungen zu gewährleisten. Da man, abgesehen von einer verfassungsrechtlichen Positivierung, - im Falle eines Rechtes auf Gesundheit - schon immer von dem Recht auf ein menschenwürdiges Leben sprechen könnte, welches Mindestleistungen im Gesundheitsbereich zwangsmässig umfasst70, muss eben die Entscheidung getroffen werden, ob nicht doch, wenigstens in Extremfällen, zumindest was das Recht auf Gesundheit und andere existenzrelevante soziale Grundrechtspositionen betrifft - der Einzelne ein subjektives Recht hat. Natürlich liegt es in diesem Zusammenhang auf der Hand, dass wegen der finanziell-wirtschaftlichen Relevanz der sozialen Leistungsrechte (wo es sich um konkrete sozialstaatliche Leistungen handelt), die üblichen, schon klassischen Einwände eines Vorbehalts des Möglichen und der fehlenden Kompetenz (demokratische Legitimation) der Rechtsprechung zur Festlegung des Leistungsgegenstandes und demzufolgen, zur Entscheidung im Bereich der Anwendung öffentlicher Mittel, nicht zu übersehen sind und oft auch von den Gerichten als Grund einer Abweisung der Klage gebraucht werden. 71 Die, in Deutschland im wesentlichen auf einem Minimalstandart basierten, Lösungen (wie z.B. die Vorschläge Breuer und Starck72) haben in dieser Hinsicht - wie es

69 Im brasilianischen Verfassungsrecht vgl. Barroso, O Direito Constitucional e a Efetividade de suas normas, S. 100 ff., obwohl ihm die Terminologie Rechte auf Schutz (und staatliche Schutzpflichten) , anscheinend nicht bekannt ist. 70 Was das Recht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum betrifft vgl. in Brasilien vor allem Ricardo Lobo Torres, “O Mínimo Existencial e os Direitos Fundamentais”, in: Revista de Direito Administrativo, Nr. 177 (1989), S. 20-49 und Ana Paula de Barcellos. A Eficácia dos Princípios Constitucionais, Rio de Janeiro: renovar, 2002. Aus der südamerikanischen Literatur vgl. Hauptsächlich Rodolfo Arango und Julieta Lemaitre (Dir), Jurisprudência constitucional sobre el derecho al mínimo vital , Bogotá: Ediciones Uniandes, 2003. 71 Zu diesen Einwänden und ihrer Disskussion vgl., in Brasilien (mit Berufung auf die deutsche Lehre) mein A Eficácia dos Direitos Fundamentais , S. 256 ff, und in jüngster Zeit auch Marcos Maselli Gouvêa, O controle judicial das omissões administrativas, Rio de Janeiro: Forense, 2003, wo verschiedene Beispiele aus der Rechtsprechung enthalten sind. 72 Vgl. Rüdiger Breuer, Grundrechte als Anspruchsnormen , in: FS für das BverwG, C.H. München, 1978, S. 91 ff., und Christian Starck. Staatliche Organisation und staatliche Finanzierung als Hilfen zur Grundrechtsverwirklichungen? In: BverfG und GG, Bd. II, München, 1976, S. 21 ff. (obwohl der Ausnahmecharakter von subjektiven Leistungsrechten hier noch stärker betont wird).

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Alexy gut dargestellt hat - weiterhin den Nachteil, dass auch im Bereich eines minimalen Leistungsniveaus, immer noch dem Staat die entsprechenden Mittel fehlen können,73 was sich allerdings im Fall Südamerikas (wie bei den meisten Entwicklungsländern) leicht zeigen lässt. Auch eine gesetzliche Regelung schliesst natürlich von sich selbst die Möglichkeit einer Knappheit bzw einer Nichtvorhandenheit der Mittel zur Erfüllung der beanspruchten sozialen Leistung nicht aus, verdrängt jedoch zumindest die weiteren Einwände einer notwendigen Entscheidung des demokratisch-legitimierten Gesetzgebers in diesem Bereich. Deshalb - trotz aller erheblichen Gegenargumente - scheint die von Alexy vorgeschlagene "Abwägungslösung" eine interessante und vor allem - für Brasilien und die weiteren südamerikanischen Länder - eine Richtlinie für eine verfassungskonforme und rationale Alternative zu bieten74, so dass im konkreten Fall zwischen der exis tentiellen Notwendigkeit einer bestimmten sozialen grundrechtlich-verbürgten Leistung und den kollidierenden Verfassungsgrundsätzen des Parlamentsvorbehalts, des Gewaltenteilungsprinzips und des Vorbehalts des Möglichen eine - im Sinne Hesses - sogenannte "praktische Konkordanz" hergestellt werden sollte75. Mit anderen Worten, immer wenn ein bestimmtes soziales Grundrecht auf soziale Leistungen als subjetives Recht zur Erhaltung des Lebens, der Menschenwürde und anderen relevanten Verfassungsgütern zwingend notwendig ist, da es ansonsten zur Opferung (oder zumindest einer endgültigen und gravierenden Gefährdung) des vom sozialen Grundrecht gedeckten Verfassungsgut führt, sollte das subjektive Recht des Einzelnen - wenn auch nicht im gewünschten Masse - auch ohne, oder im Falle einer mangelnden, gesetzlichen Regelung, anerkannt werden, natürlich nie ohne entsprechende Berücksichtigung der Anforderungen des Verhältnismässigkeitsgrundsatzes. Darüber hinaus sollte auch nicht vergessen werden - wie es das Bundesverfassungsgericht schon in der bekannten "numerus clausus"-Entscheidung angedeutet hat - dass die, im konkreten Fall durchzuführende Verhältnismässigkeitsprüfung die Frage berücksichtigen muss, was eigentlich der Einzelne vernünftigerweise vom Staat a n Leistungen zu erwarten hat.76 Was die südamerikanischen Verfassungsordnungen und Verfassungspraxis betrifft erlangt die Problematik der Verwirklichung der sozialen Grundrechte - insbesondere bezüglich des Rechtes auf Gesundheit (auch die Sozialhilfe als Recht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum könnte hier erwähnt werden) eine besonders dramatische Dimension. Kurz und klar gesagt, kann die Verweigerung einer gewissen sozialen Leistung durch den Richter durchaus einem Todesurteil gleichgestellt werden. Wenn nicht einmal - wenigstens nicht nach dem im südamerikanischen Raums herrschenden Verbot einer Todesstrafe (es bestehen Ausnahmen im Falle eines Krieges oder des Verrates) - ein Massenmörder zum Tode verurteilt werden kann, wie soll man - auch bei angeblich fehlenden finanziellen Mitteln (da üblicherweise die staatlichen

73 Vgl. Robert Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 466. 74 Natürlich können auch Alexys Argumentationsstrukturen nicht unmittelbar übernommen werden, da die sozialen, wirtschaftlichen aber auch rechtlichen Umstände in Brasilien und Südamerika zum grossen Teil anders sind, schon deshalb weil der Haushalt kürzer, die Bedürfnisse grösser sind. Hierzu vgl. u.a. Andreas J. Krell, Direitos Sociais e Controle Judicial no Brasil e na Alemanha, Porto Alegre: Sérgio Fabris, 2002. 75 Vgl. Robert Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 465 ff. Im brasilianischen Schrifttum vgl. im Sinne einer "Abwägungslösung" (obwohl nicht auf die sozialen Grundrechte reduziert) Juarez Freitas, Tendências Atuais e Perspectivas da Interpretação Constitucional, in: AJURIS Nr. 76 (2000), S. 397 ff. 76 Vgl. BVerfGE 33, 303 (333).

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Behörden im Rahmen der Klageerwiderung den Einwand nicht entsprechend belegen) - jemandem, dessen einzige Straftat die Armut ist - das Recht auf Leben und eine menschenwürdige Existenz (wenigstens aber das Recht auf eine Existenz) verweigern?!

Obwohl die letzten Ausführungen übertrieben scheinen mögen, gehört es leider immer mehr zur täglichen Ordnung in Brasilien und in vielen südamerikanischen Ländern ebenso, dass trotz einer im Allgeme inen bestehenden ausführlichen gesetzlichen Regelung immer öfter solche Fälle (nicht nur bezüglich eines Rechts auf Gesundheit) vor Gericht gebracht werden, so dass - zumindest seitens der Verwaltung - auch der Einwand gegenüber einer wachsenden Politisierung der Justiz immer stärker vorgetragen wird, Problematik auf die hier jedoch nicht näher eingegangen werden kann.

Da hier keine ausfürliche Darstellung und Bewertung der verschiedenen Argumente und Positionen im Bereich der Lehre und Rechtsprechung stattfinden soll, werden zumindest einige Beispiele genannt, wo es zu einer gerichtlichen Verwirklichung der leistungsrechtlichen Dimension sozialer Rechte gekommen ist.

In Brasilien sind hier hauptsächlich Entscheidungen hinsichtlich der Sicherung einer staalichen Leistung im Rahmen des Gesundheitswesens ausfindig zu machen. Nach einer ersten Fase vorwiegender Zurückhaltung (insbesondere seitens der obersten Bundesgerichte) hat sich der Gedanke durchgesetzt, dass jeder ein individuelles subjektives Recht auf notwendige Gesundheitsleistungen hat, vor allem in den Fällen, wo es um die Gefährdung des Lebens und der Menschenwürde geht. In dieser Richtung hat sogar der oberste brasilianische Gerichtshof entschieden und darauf hingewiesen, dass das Recht auf Gesundheit prinzipiell nicht nur als Programmsatz oder Staatszielbestimmung betrachtet werden kann77.

Aus der Rechtssprechung anderer südamerikanischer Länder lassen sich auch verschiedene Entscheidungen entnehmen welche mehr oder weniger, eine Durchsetzung leistungsrechtlicher Ansprüche mit grundrechtlicher Qualität belegen und soziale Grundrechte nicht nur als Rechte betrachtet, welche auf progressive Weise von dem Gesetzgeber und von der Verwaltung verwirklicht werden.

In diesem Zusammenhang ist auch die Erfahrung von Kolumbien unbedingt nennenswert, da dort das Verfassungsgericht ein “ungeschriebenes” und autonomes Grundrecht auf ein Existenzminimum anerkannt hat, und dieses auch im Sinne eines positiven Rechts auf staatliche Leistungen. Im Rahmen dieses Grundrecht auf ein Existenzminimum werden sehr unterschiedliche konkrete Situationen von den kolumbianischen Gerichten behandelt und entschieden, wie zB. der Schutz schwangerer Frauen gegen die Folgen einer Kündigung des Arbeitsvertrages, der Schutz gegen die Verzögerung der Zahlung der Gehälter und Pensionen, vor allem aber, was die Sicherung von Leistungen im Rahmen des Rechts auf Gesundheit betrifft. Diese gerichtlich anerkannte Leistungen umfassen in der Regel die Lieferung von Medikamenten, aber auch jegliche ärtzliche Behandlung, insofern es um eine gravierende Gefährdung der Gesundheit

77 Vgl. beispielsweise die Entscheidung im Verfahren Nr. 267.612-RS (Recurso Extraordinário), Berichtersttatter Celso de Mello, wo das Oberste Gericht das Recht auf Gesundheit als ein subjektives Recht anerkannt hat, welches wegen seiner Relevanz für das menschliche Leben gegenüber dem sekundären finanziellen Interesse des Staates Vorrang gewinnen muss. Für den Richter (so dass Gericht) verbleibt im konkreten Fall und im Rahmen dieses Konfliktes wegen rechtlichen und ethischen Gründen nur eine Lösung: diejenige welche die Achtung des Lebens und der menschlichen Gesundheit privilegiert.

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oder bzw. sogar des Lebens geht78. Was die argentinische Erfahrung in diesem Bereich betrifft, zeigt sich ebenfalls eine Tendez in Richtung einer aktiven Stellung der Gerichte, vor allem im Rahmen eines Mindestandards und bezüglich der Durchsetzung von einem Recht auf Gesundheit79. In Chile – wenigstens nach den vorhandenen Unterlagen – scheint die Rechtsprechung wesentlich zurückhaltender zu sein, da die Entscheidungen sich meistens im Bereich der derivativen Leistungsrechte befinden und sich prinzipiell auf den Versuch beschränken, einen gleichen Zugang zu den bestehenden Leistungssystemen zu sichern oder eine verfassungskonforme Auslegung zugunsten des Rechts auf Gesundheit vorzunehmen, wie es beispielsweise bei der Ausgrenzung von verschiedenen Leistungen im Rahmen der privaten Gesundheitspläne der Fall ist.80

5 - Die Krise der sozialen Grundrechte und des Sozialstaats in Südamerika: einige Bemerkungen über die Kluft zwischen positivem Recht und sozialer Wirklichkeit Obwohl verschiedene Aspekte im letzten Abschnitt nicht, oder nur teilweise, berücksichtigt wurden, konnten die zentralen Punkte der Kontroverse um die Wirksamkeit und Verwirklichung der sozialen Grundrechte, vor allem im Rahmen der Problematik des Rechtsschutzes durch die Gerichte kurz dargestellt werden. Abgesehen von der ausdrücklichen Entscheidung des südamerikanischem Verfassungsgebers für die sozialen Grundrechte und für deren normative Kraft, und abgesehen von der Tendenz in Richtung der Anerkennung von subjektiven Leistungsgrundrechten des Einzelnen gegen die öffentliche Gewalt, sollte aber trotzdem nicht vergessen werden, dass eine positiv-rechtliche Gewährleistung von sozialen Grundrechten (und sozialer Sicherheit im allgemeinen) von sich allein nicht die Lösung für die sozialen Probleme bietet, da Wohlstand sicherlich auch "trotz und ausserhalb der Verfassung" 81 möglich ist. In dieser Hinsicht gilt weiterhin, das was Georg Brunner schon vor einiger Zeit formuliert hat, nämlich dass “der Realitätsgehalt der sozialen Grundrechtsidee hüben und drüben von dem Niveau der einfachen Sozialgesetzgebung und dem wirtschaftlich-gesellschaftlichen Entwicklungstand abhängt".82 Es erklärt sich deshalb sehr leicht, dass verschiedene Staaten, (und die südamerikanischen Länder sind sicherlich sehr gute Beispiele dafür) die in ihren Verfassungen einen umfangreichen Katalog sozialer Grundrechte enthalten, was die Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit angeht, oft weit hinter Ländern stehen, die - obwohl sie auf eine verfassungsrechtliche Positivierung sozialer Grundrechte verzichtet haben - 78 Eine umfangreiche Darstellung (einschliesslich der Rechtsprechung) findet sich in Rodolfo Arango und Julieta Lemaitre, Jurisprudencia Constitucional sobre el derecho al mínimo vital, Bogotá: Ediciones Uniandes, 2003. 79 Was die Durchsetzung von subjektiven Rechten auf soziale Leistungen betrifft (obwohl nicht nur auf Argentinien beschränkt) vgl. Victor Abramovich und Christian Courtis, Los Derechos Sociales como Derechos Exigibles, Madrid: Trotta, 2002, wo neben einer konsistenten theoretischen Begründung auch verschiedene interessante und aktuelle Beispiele aus der Rechtsprechung aufgezeichnet sind.. 80 Hierzu vgl. José Luis Cea Egaña, Derecho Constitucional Chileno, Bd. II, Santiago: Ediciones Universidad Católica de Chile, 2003, S. 300ff. 81 So zutreffend Jörg-Paul Müller, Soziale Grundrechte in der Verfassung?, 2.Aufl., Basel-Frankfurt am Main, 1981, S. 53. 82 Georg Brunner, Die Problematik der sozialen Grundrechte, S. 36.

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trotzdem eine aktive Sozialpolitik treiben und einen effektiven sozialen Rechtsstaat aufgebaut haben. 83 Was die südamerikanischen Länder betrifft, machen sich, die bereits angedeuteten, Wiedersprüche besonders bemerkbar und prägen das gesamte Staats-Rechts-und Sozialwesen. Vor allem hat sich seit Beginn der spanischen und portugiesischen Besetzung und Kolonialisierung des südamerikanischem Raumes im XVI Jahrhundert, die Kluft zwischen Armen und Reichen und die damit verbundenen sozialen und wirtschaftlichen Problemen, nicht wesentlich geändert, und dieses trotz der Unabhängigkeitsbewegungen und Bildung der verschiedenen Staaten im XIX Jahrhundert, vor allem aber nicht mit der Verbürgung sozialstaatlicher Anliegen und sozialer Rechte, obwohl diesbezüglich wichtige Fortschrite aufzuzeichnen sind, da wenigstens in einigen Ländern es doch schon zu einer besseren Lage gekommen ist, wie es vor allem der Fall von Chile ist, und seit einigen Jahren noch auch Argentinien und Uruguai. Natürlich gibt es in allen Ländern eine nicht sehr grosse, aber trotzdem nicht unbeachtliche Mittelschicht, welche (noch) nicht von dem effektiven Zugang zur sozialen Sicherheit und von der allgemeinen Ausübung ihrer Grundrechte ausgegrenzt wurde. Gerade unter dem Druck der wirtschaftlichen Globalisierung – welche weltweit schon seit einiger Zeit auf der Tagesordnung steht – leiden die staatlichen sozialen Sicherheitssysteme ganz besonders, da auch die Leistungsfähigkeit der Wirtschaft immer stärker gefährdet ist, worauf hier natürlich nicht weiter eingegangen werden kann. Das auch die gesamte Rechtsordnung davon betroffen wird – es sei hier nur auf die verschiedenen Verfassungs-und Gesetzesreformen im Rahmen der sozialen Sicherheit in ganz Südamerika hingewiesen – liegt schon seit langer Zeit auf der Hand.

Gerade deshalb scheint es doch wichtig, auch hier einige Anmerkungen bezüglich dieser Thematik zu liefern. Damit werden nur einige soziale, politische und wirtschaftliche Rahmenbedingungen für die, in diesem Beitrag vorgenommene Darstellung genannt werden, vor allem, wo es um die Effektivität der sozialen Sicherheit und der sozialen Grundrechte geht und insofern diese Effektivitätskrise (die offensichtlich nicht nur die sozialen Grundrechte trifft) die Kluft zwischen dem in den Verfassungsordnungen angestrebten Zustand und der sozialen Wirklichtkeit anscheinend eher vertieft und dazu führt, dass der soziale Rechtstaat nur für einen bescheidenen Anteil der Bevölkerung nicht nur ein leerer Begriff ist. Abgesehen von mehr oder weniger konkreten Einzelfalllösungen, zeigt sich mit der Zeit, dass auch eine sehr aktive Gerichtsbarkeit und ein umfangreicher Zugang zu den Gerichten diese Umstände nur sehr beschränkt bewältigen können.

Obwohl hier nur einige Informationen über die soziale und wirtschaftliche Wirklichkeit einiger südamerikanischer Länder vermittelt werden konnten, ermöglichen die nachstehend aufgezeichneten Daten einen einigermassen aktuellen Überblick auf die faktischen Grenzen der Verwirlichung, der in den Verfassungen verankerten sozialstaalichen Verbürgungen.

In diesem Zusammenhang, wird zunächst einmal die Stellung der hier vorwiegend behandelten Länder, was den me nschlichen Entwicklungsindex vom UNDP (Unidet Nations Develop Program) angeht, erwähnt. Hier zeigt sich, dass im Jahr 2003 Brasilien, Kolumbien und Venezuela die schlechtesten Bewertungen erreicht haben (jeweils die 65., 64. und 69. Stellung) wärend Chile und Argentinien wesentlich besser liegen (43 und 34. Stellung). Der Anteil der Bevölkerung, welcher unter der nationalen Armutsgrenze lebt, 83 So auch Georg Brunner, Die Problematik der sozialen Grundrechte, S. 37.

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beträgt, nach unterschiedlichen Quellen (deshalb auch die verschiedenen Jahre) jeweils 34 % der Bevölkerung in Brasilien (2000)84, 60,3 % in Kolumbien (2001)85, 47 % in Argentinien (2003)86, 48,1 % in Venezuela (2002)87 und 21 % in Chile (2000)88. Nach den gleichen Quellen leben von der eben erwähnten armen Bevölkerung in extrem armen Verhältnissen: Brasilien (14%), Kolumbie n (24%), Argentinien (20,5%), Venezuela (20,1%) und Chile (6%). Das durchschnittliche Mindestgehalt (in U$ Dollar) war – nach ofiziellen Angaben - im März 2004 etwa 82,00 (Brasilien), 133,86 (Kolumbien), 122,00 (Argentinien), 154,00 (Venezuela) und 166,00 (Chile). Was die Arbeitslosigkeit angeht, zeigte sich in den letzten Jahren im Durchschnitt eine wesentliche Erhöhung. Nach den Angaben der CEPAL (Comissão Econômica para a América Latina=Wirtschaftliche Komission für Lateinamerika), hatten Brasilien, Kolumbien, Argentinien, Venezuela und Chile eine Arbeitslosigkeitsrate von jeweils 6,2, 18,2, 17,4, 13,4 und 9,1 %, obwohl zu beachten ist, dass diese Angaben nicht die Arbeitslosigkeit auf dem Land umfasst. Die durchschnittliche Lebenserwartung für Männer ist in Brasilien (65,7), Kolumbien (67,5), Argentinien (70,8), Venezuela (71,0) und Chile (73,4) und für Frauen 72,3 in Brasilien, 76,3 in Kolumbien, 78,1 in Argentinien, 76,8 in Venezuela und 80,0 in Chile.

Was den Zugang zu Leistungen im Bereich der sozialen Sicherheit angeht, sollen auch noch einige Hinweise gegeben werden. So ist z.B die Anzahl von Analphabeten in allen fünf erwähnten Länder etwa um die Hälfte (zwischen 1980 und 2000) gesunken, so dass laut Informationen der CEPAL im Jahr 2000 Brasilien 14,7%, Kolumbien 8,2 %, Argentinien 3,1 %, Venezuela 7% und Chile etwa 4% Analphabeten hatten. Darüber hinaus haben sich auch weitere soziale Angaben gebessert, nicht nur bezüglich des Erziehungswesens (in den fünf behandelten Länder waren im Durchschnitt etwa 90% der Kinder im Schulalter in den Grundschulen matrikuliert) und der Anteil der Ausgaben mit Erziehung im staatlichen Haushalt ist gestiegen (so z.B. in Brasilien von 3,6 % in 1980 auf 5,1 % in 1997 und in Kolumbien von 1,9 % in 1980 auf 4,1 % in 199789). Im Bereich des Zugangs zu trinkbarem Wasser haben sich die Angaben durchschnittlich nicht geändert, so dass im Jahr 1997 (letzte ausfindig gemachte Statistik) in den fünf Ländern etwa 75% der Bevölkerung keinen direkten Zugang zu Trinkwasser hatte. Die oben angegebenen Informationen reichen völlig aus für die Feststellung, dass trotz einigen Unterschieden in Südamerika – hauptsächlich, wenn man die wachsende Armut, die Arbeitslosigkeit und den Wert des Mindesteinkommens (wohl gesagt, für diejenigen die Arbeit finden) - die negativen Auswirkungen der wirtschaftlichen Globalisierung und des sogenannten Neoliberalismus sehr stark bemerkbar sind. Dies führt zwangsmässig - neben einer wachsenden sozialen Ausgrenzung und sozialwirtschaftlichen Not - zu einer Schwächung des Staates, was sich wiederum in einer Reduzierung der Leistungsfähigkeit der öffentlichen Hand, insbesondere im Bereich der Sozialstaatlichkeit

84 Vgl. Die Angaben des IPEA (Instituto de Pesquisa Econômica Aplicada): www.ipea.gov.br 85 Vgl. www.fundacioncorona.org.co 86 Vgl. www.indec.gov.ar 87 Vgl. Instituto Nacional de Estadistica (www.ine.gov.ve) 88 Vgl. die Angaben der OCDE (www.oecd.org) 89 Laut Angaben der Weltbank.

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widerspiegelt.90 In diesem Zusammenhang hat Boaventura Santos, ein bekannter portugiesische Soziologe, auf die Bildung - vor allem in den Entwicklungsländern - eines sogenannten "sozialen Faschismus", der sich unter anderen Merkmalen, gerade wegen der starken sozialen Ausgrenzung, als eine Art sozialer "Apartheid" bezeichnen lässt, hingewiesen. 91 Dass diese Effektivitätskrise der sozialen Grundrechte direkten Einfluss auf die Ausübung der klassischen Abwehrrechte ausübt, lässt sich leicht darlegen, da die wachsende Armut und mangelnde soziale Sicherheit nicht nur reale Freiheit und Gleichheit (wenigstens im Sinne einer Chancengleichheit) gefährdet, sondern auch zu einer immer grösseren Kriminalität und sozialen Unruhe führt, welche wiederum weitere Agressionen gegen Leben, körperliche Unversehrtheit, Eigentum, Privatsphäre, u.s.w. mit sich bringt.

Deswegen scheint es nicht übertrieben, neben einer Krise der Sozialstaatlichkeit, von einer Krise der Grundrechte im Allgemeinen zu reden. Krise, die sich allerdings nicht auf die Verwirklichung begrenzt, sondern auch als eine Identitäts-und Vertrauenskrise bezeichnet werden kann, da die Polasierung der Gesellschaft immer mehr dafür sorgt, dass der bescheidene Anteil der Bevölkerung, der im vollen (oder wenigstens hinreichenden) Genuss seiner Rechte ist, als priviligiert betrachtet wird und sich – zum Teil wegen der wachsenden Kriminalität und Unsicherheit – gegen die wachsende Mehrheit der Ausgegrenzten verschliesst.92 Dass auch ein effektives Rechtschutzsystem, hinsichtlich der Sicherung eines menschenwürdiges Lebens für die Bevölkerung, diese Lage alleine nicht ändern kann, wurde schon mehrmals erwähnt. Dennoch ist die, von den Gerichten gespielte Rolle auch in diesem Zusammenhang nicht zu unterschätzen, da abgesehen von Lösungen im konkreten Fall, die Gerichte und die verschiedenen Rechtschutzorgane eine durchaus wichtige politische Aufgabe erfüllen, in dem sie zur Diskussion in der öffentlichen Sphäre beitragen aber auch einen gewissen Druck auf den Gesetzgeber und die Regierung ausüben, der nicht selten zu konkreten Massnahmen führt.

Deshalb sollen auch hinsichtlich des Zugangs zu den Gerichten einige wenige Angaben gemacht werden, da besonders in diesem Bereich wachsende Efeektivitätsdefizite aufzuzeichnen sind, vor allem infolge der ständigen Erhöhung der Verfahrenszahelen und einer demenstsprechenden Überforderung der Gerichtsorgane und auch der weiteren Einrichtungen im Rahmen der Rechtspflege. Unter den verschiedenen Informationen über das Justizsystems93, hatte Argentienen im Jahr 2000 etwa 5.280 Richter und 128.000 Anwälte (etwa 11, 39 Richter und 355,2 Anwälte für jede 100.000 Einwohner). Es wurden insgesamt 3.580.351 neue Verfahren eingereicht (etwa 9.935 für jede 100.000 Einwohner und 872 für jeden Richter). Die Verfahrensdauer in der ordentlichen Gerichtsbarkeit war im Jahr 2000 durchschnittlich von 2,20 Jahren und in der Bundesgerichtsbarkeit etwa 3,28 Jahren. Was Kolumbien betrifft, hat sich seinerseits die Verfahrensnummer im Bereich der

90 Vgl. hierzu José Eduardo Faria,”Democracia e Governabilidade: os Direitoss Humanos à Luz da Globalização Econômica”, in: J.E. Faria (Hsgb), Direito e Globalização Econômica: implicações e perspectivas, São Paulo, 1996, S. 127 ff. 91 Vgl. Boaventura Souza Santos, Reinventar a Democracia: entre o Pré-Contratualismo e o Pós-Contratualismo , Coimbra, 1998, S. 23 ff. 92 Zur Krise der Grundrechte in Brasilien vgl. Ingo Wolfgang Sarlet,“Os Direitos Fundamentais Sociais na Constituição de 1988”, in: I. W. Sarlet (Hsgb), Direito Público em Tempos de Crise, Porto Alegre, 1999, S. 131 ff. 93 Diese und weitere Informationen sind im Internet leicht erreichbar (vgl. www.justiciaargentina.gov.ar/estadisticas/datosconsolidados.htm).

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Zivilgerichtsbarkeit von etwa 800 Verfahren (1993) auf etwa 1.200 Verfahren (1999) für 100.000 Einwohner im Jahr 1993 erhöht, was sich natürlich auch im Rahmen der Verfahrensanzahl für jeden Richter widerspiegelte (etwa 450 Verfahren im Jahr 1993 und etwa 620 in 1999). Die durchschnittliche Verfahrensdauer eines Zivilverfahrens wurde im Jahr 1997 (letzte erhaltene Statistik) als etwa 800 Tage geschätzt und eines strafrechtlichen Verfahrens (1999) als etwa 900 Tage, obwohl die Verfahrensdauer sehr unterschiedlich ist und von der Art des Verfahrens und seines Gegenstandes an sich abhängt, wie allerdings auch in anderen Rechtsordnungen.

In Brasilien94 zeigt sich die Lage wesentlich schlechter, vor allem wenn man von der Anzahl der Verfahren ausgeht. Man braucht hier nur auf die Angaben für die Landesgerichtsbarkeit der ersten Instanz hinzuweisen, da im Jahr 1990 3.617.064 neue Verfahren eingereicht wurden (davon wurden 2.411.847 beendet), während 2003 diese Zahl auf 111.877.924 (davon wurden 8.137.231 beendet) gestiegen ist. Im Rahmen der ordentlichen Bundesgerichtsbarkeit 95 (erste Instanz) waren es im Jahr 1990 266.585 neue Verfahren (davon 172.068 beendet) und 2003 rund 946.000 neue Verfahren (davon 453.896 beendet). Die Lage der obersten Bundesgerichte ist in diesem Zusammenhang besonders schlecht, da nur beim obersten Gerichtshof – Supremo Tribunal Federal -, welcher auch die Verfassungsgerichtsbarkeit im Bundesbereich ausübt, die jährliche Verfahrensanzahl von 14.721 (1989) auf knapp 83.000 (2000) gestiegen ist und heute (2004) schon weit über 100.000 neue Verfahren im Jahr beträgt (2003 waren es 109.965 neue Verfahren). Obwohl trotz der gleichen Richterzahl seit Ende des XIX Jahrhunderts (11 Richter) die Anzahl der abgeschlossenen Verfahren auch sehr gestiegen ist (17.432 Urteile in 1989 und 83.097 Urteile in 2003), verlängert sich die Verfahrensdauer Jahr um Jahr. Ähnliches gilt auch für den Bundesgerichtshof (Superior Tribunal de Justiça), der 1989 insgesamt 6.103 neue Verfahren bekommen hat, Zahl die im Jahr 2003 auf 216.493 gestiegen ist (für etwa 35 Richter). Wenn man noch die Anzahl der Richter für die Bevölkerung (im Jahr 1999 hatte Brasilien etwa 12.019 Richter für etwa 160.000.000 Einwohner, so ist, was die effektive Besetzung der ersten Instanz im Rahmen der Landes-und Bundesgerichtsbarkeit, einschliesslich der Arbeitsgerichtsbarkeit betrifft), die schon erwähnte jährlich ansteigende Verfahrensnummer für jeden Richter und die durchschnittliche Verfahrensdauer dazurechnet, zeigt sich ohne Zweifel, wie dramatisch die Lage ist, ohne dass hier weitere wichtige Angaben berücksichtigt werden können (z.B., was die Ausstattung der Staatsanwaltschaft und der Rechtspflege für die ärmere Bevölkerung angeht) und vor allem, hinsichtlich der verschiedenen Gründe für diese Effektivitätskrise im Rahmen des Rechtschutzes, welche sehr unterschiedliche Aspekte umfasst, wie beispielsweise die strukturellen Probleme des Gerichtswesens an sich, aber auch die wirtschaftliche Not (die grösste Verfahrensdauer und Ineffektivität macht sich bei der Vollstreckung bemerkbar) und die Komplexität des Verfahrens, nur um einige der Faktoren zu nennen. Obwohl hier noch eine Fülle von Informationen geliefert werden könnte, was jedoch mit dem Umfang und Anliegen dieses Beitrags kaum zu vereinbaren wäre, ist es durchaus möglich und nützlich, in diesem Zusammenhang die Lehre von Dieter Grimm

94 Vgl. hierzu die Angaben aus dem BNDPJ (Banco Nacional de Dados do Poder Judiciário): www.stf.gov.br/bndpj/ 95 Die ordentliche Bundesgerichtsbarkeit ist für alle Verfahren in denen der Bund oder einer seiner Organe beteiligt sind, oder wo das Bundesinteresse betroffen ist, zuständig (die Arbeitsgerichte gehören zusammen mit der Wahlgerichtsbarkeit zu der besonderen Bundesgerichtsbarkeit).

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heranzuziehen, da er mit Recht (obwohl unter viel freundlicheren Umständen, als in Südamerika), darauf hingewiesen hat, dass, wo für die Grundrechtseffektivität (und dies nicht auf die sozialen Grundrechte beschränkt) eine Untätigkeit des Staates nicht ausreicht, sondern mehr oder weniger staatliche Aktivität erforderlich ist, der rechtliche Erfolg nicht mit der blossen Geltung der Norm eintreten kann, weshalb er zu dem Schluss kommt, dass das Effektivitätsproblem der Grundrechte sich nicht mehr ausschliesslich innerhalb des juristischen Systems lösen lässt, sondern zur Frage einer planvoll betriebenen Grundrechtspolitik wird.96 Wenn jedoch davon ausgegangen werden kann und sollte, dass auch die beste Verfassung (und die, in ihr positivierten sozialen Grundrechte und Staatszielbestimmungen) nicht in der Lage sind, alle Erwartungen des Einzelnen zu erfüllen97, darüber hinaus auch nicht als eine Art sozialstaaliche Lebensversicherung betrachtet werden kann,98 so bedeutet dieses wohl nicht, gerade was Verfassungsordnungen, wie die im Südamerika betrifft, dass die in der Verfassung verankerten sozialen Grundrechte und weiteren sozialstaaliche Programme und Staatsziele nicht ernst genommen werden sollen und können. In der Tat, trotz der unübersehbaren Kluft zwischen dem positiven Verfassungsrecht und der Verfassungswirklichkeit und abgesehen von den mangelnden Mitteln, üben die sozialen Grundrechte ein durchaus wichtige Funktion aus, so dass ihre (von manchen gewünschte) Beseitigung im Rahmen einer Verfassungsreform - zumindest in den meisten südamerikansichen Ländern - nicht nur gegen die sogenannten "Ewigkeitsklauseln" der Verfassung verstossen würde und deshalb verfassungswidrig wäre,99 darüber hinaus auch nicht notwendig und wünschenswert ist.

Es kann hier durchaus daran festgehalten werden, dass es nicht die sozialen Grundrechte und Staatsziele sind, welche ein Land (und die Südamerikanischen Staaten bilden keine Ausnahme) angeblich unregierbar machen, sondern die wachsende Armut und wirtschaftliche Abhängigkeit. Was die Verwirklichung der sozialen Versprechungen durch die Gerichte betrifft, handelt es sich in den meisten Fällen eher um ein Problem der adequaten und verhältnismässigen Anwendung dieser Grundrechte und der weiteren sozialstaatlichen Verbürgungen, insbesondere, da wo es um die Anerkennung eines subjektiven Rechts auf soziale Leistungen geht, aber natürlich auch, was die verfassungsgerichtliche Prüfung von Massnahmen des Gesetzgebers oder der Regierung im Rahmen der Sozialstaatlichkeit betrifft. Gerade wegen der wachsenden sozialen Ausgrenzung und Unsicherheit bilden die sozialen Grundrechte und ihre Verwirklichung, auch im Rahmen eines Mindeststandarts - vor allem was die Absicherung einer menschenwürdigen Existenz angeht - weiterhin ein vorrangiges Ziel für Staat und Gemeinschaft, und dieses bestimmt nicht nur was Brasilien und die anderen Entwicklungsländer angeht. Darüber hinaus sollte beachtet werden, dass die Grundrechte im Allgemeinen, neben ihrer rechtlich-normativen Bedeutung auch eine wichtige "utopische Dimension" aufweisen, da sie ein reales und konkretes

96 Vgl. Dieter Grimm, “Grundrechte und soziale Wirklichkeit”, in: W. Hassemer/W. Hoffmann-Riem/J. Limbach (Hsgb), Grundrechte und soziale Wirkleichkeit, Baden-Baden, 1982, S. 72, der sich widerum auf die Lehre von Peter Häberle (in: VVDStRL Nr. 30, S. 103 ff.) beruft. 97 Dies der auf die Lehre von Karl Loewenstein basierte Hinweis von Jörg-Paul Müller, Soziale Grundrechte in der Verfassung?, S. 53. 98 Vgl. Peter Häberle, Grundrechte im Leistungsstaat , in: VVDStRL Nr. 30 (1972), S. 110. 99 Vgl. Maurício Antonio Ribeiro Lopes, Poder Constituinte Reformador: limites e possibilidades da revisão constitucional brasileira , São Paulo, 1993, S. 183 ff.

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Emanzipierungsprojekt enthalten, ohne welches sie ihre Funktion als Legitimationskriterien eines demokratischen (und sozialen) Rechtsstaats einbüssen würden. 100 Letztendlich scheint es möglich zu behaupten, dass die sozialen Grundrechte nicht nur als Privilegien oder gar als Launen betrachtet werden sollten, sondern als eine dringende Notwendigkeit, da ihre Nichtbeachtung und fehlende (oder mangelnde) Erfüllung stark die grundlegenden Werte des Lebens, Freiheit und Gleichheit, vor allem aber ein menschenwürdiges Leben für Alle gefährden. Das der Zugang zu den Gerichten und der Rechtschutz im Allgemeinen nur eine der Möglichkeiten zur Durchsetzung dieses Anliegens ist, sollte auf jeden Fall kein Grund für dessen Vernachlässigung sein. Im Gegenteil zeigen gerade die positiven (obwohl längst nicht hinreichenden) Erfahrungen aus Südamerika – hier nur sehr kurz dargestellt -, dass dieser Weg weiterhin ernstzunehmen ist und noch viel zu leisten hat.

100 So die zutreffende Lehre von Antonio Enrique Pérez Luño, “Derechos Humanos y Constitucionalismo em la Actualidad”, in: A E. Pérez Luño (Hsgb), Derechos Humanos y Constitucionalismo ante el tercer Milenio, Madrid, 1996, S. 15.