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Vandenhoeck & Ruprecht Hans Jonas Organismus und Freiheit Ansätze zu einer philosophischen Biologie

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Vandenhoeck & Ruprecht

Hans Jonas

Organismus und FreiheitAnsätze zu einer philosophischen Biologie

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HANS JONAS

Organismus und Freiheit

Ansätze

zu einer philosophischen Biologie

Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen

ISBN Print: 9783525013113 — ISBN E-Book: 9783647013114© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen

HANS JONAS, Organismus und Freiheit

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SAMMLUNG VANDENHOECK

Aus dem Englischen übersetzt vom Verfasser und von K. Dockhorn

ISBN 3-525-01311-6

Umschlag: Jan Buchholz und Reni Hinsch © Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1973. - Printed in Germany. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, das Buch oder Teile daraus auf foto- oder akustomechanischem Wege zu vervielfältigen. - Satz und Druck: Guide-Druck, Tübingen. -

Bindearbeit: Hubert Sc Co., Göttingen

ISBN Print: 9783525013113 — ISBN E-Book: 9783647013114© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen

HANS JONAS, Organismus und Freiheit

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Vorwort

Auf die kürzeste Formel gebracht legt dieses Buch eine „on­tologische“ Auslegung biologischer Phänomene vor. Der zeit­genössische Existentialismus, wie manche Philosophie vor ihm gebannt auf den Menschen allein blickend, pflegt ihm als ein­zigartige Auszeichnung und Last vieles von dem zuzusprechen, was im organischen Dasein als solchen wurzelt: damit entzieht er dem Verständnis der organischen Welt die Einsichten, wel­che die menschliche Selbstwahrnehmung zu seiner Verfügung stellt, und verfehlt darüber auch die wirkliche Scheidelinie zwi­schen Tier und Mensch. Ihrerseits muß die wissenschafdiche Biologie, durch ihre Regeln an die äußeren, physischen Tat­sachen gebunden, die Dimension der Innerlichkeit ignorieren, die zum Leben gehört: damit bringt sie den Unterschied zwi­schen „beseelt“ und „unbeseelt“ zum Verschwinden und läßt zugleich das stofflich vollerklärte Leben nach seinem Sinne rät­selhafter, als das unerklärte war. Die beiden Standpunkte, seit Descartes in ihrer unnatürlichen Trennung festgestellt, sind logisch komplementär und spielen einander in die Hände — zur Befestigung ihrer selbst, aber zum Nachteil ihrer beidersei­tigen Gegenstände, die beide buchstäblich dabei „zu kurz“ kommen: Das Verständnis des Menschen leidet von der Tren­nung ebensosehr wie das des außermenschlichen Lebens. Eine erneute, philosophische Lesung des biologischen Textes mag die innere Dimension — das uns am besten Bekannte — für das Verstehen organischer Dinge zurückgewinnen und so der psy­chophysischen Einheit des Lebens den Platz im theoretischen Ganzen wiederverschaffen, den es durch die Scheidung des Mentalen und Stofflichen seit Descartes verloren hat. Der Ge­winn für das Verstehen des Organischen wird dann auch ein Gewinn für das Verstehen des Menschlichen sein.

Demgemäß bemühen sich die folgenden Untersuchungen, einerseits die anthropozentrischen Schranken idealistischer und existentialistischer Philosophie, anderseits die materialistischen Schranken der Naturwissenschaft zu durchbrechen. Im My­sterium des lebenden Leibes sind die beiden Pole tatsächlich vereint. Die großen Widersprüche, die der Mensch in sich selbst

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entdeckt — Freiheit und Notwendigkeit, Autonomie und Ab­hängigkeit, Ich und Welt, Beziehung und Vereinzelung, Schöp­fertum und Sterblichkeit — haben ihre keimhaften Vorbildun­gen schon in den primitivsten Formen des Lebens, deren jede die gefährliche Waage zwischen Sein und Nichtsein hält und im­mer schon einen inneren Horizont von „Transzendenz“ in sich birgt. Dieses allem Leben gemeinsame Thema werden wir in seiner Entwicklung durch die aufsteigende Ordnung organi­scher Vermögen und Funktionen verfolgen: durch Stoffwech­sel, Bewegung und Begehren, Fühlen und Wahrnehmen, Ein­bildung, Kunst und Begriff — eine fortschreitende Stufenleiter von Freiheit und Gefahr, gipfelnd im Menschen, der seine Ein­zigkeit vielleicht neu verstehen kann, wenn er sich nicht länger in metaphysischer Abgetrenntheit sieht.

Der Leser wird jedoch hier nichts von dem evolutionären Optimismus eines Teilhard de Chardin finden, mit dem gran­diosen und unaufhaltsamen Vormarsch des Lebens auf eine höchste Vollendung zu, noch von dem stets sich selbst erfüllen­den (daher immer gelingenden) Prinzip schöpferischer Neuheit, das A. N. Whitehead der endlosen Bewegung des Alls unter­legte. Er wird vielmehr das Leben als ein Experiment mit stei­genden Einsätzen und Risiken betrachtet sehen, das in der schicksalhaften Freiheit des Menschen ebensosehr zu Kata­strophe wie zu Erfolg führen kann. Der Unterschied dieser Sicht zu den genannten und anderen metaphysischen „success stories“ (fast jede überlieferte Metaphysik scheint es zu sein) wird, so hoffe ich, nicht bloß als Unterschied des Tempera­ments, sondern als Sache philosophischer Gerechtigkeit erschei­nen.

Obwohl meine Werkzeuge in der Hauptsache kritische Ana­lyse und phänomenologische Beschreibung sind, bin ich gegen das Ende doch nicht davor zurückgescheut, mich auf metaphy­sische Spekulation einzulassen, wenn Mutmaßung über letzte und unbeweisbare (aber darum keineswegs sinnlose) Dinge nötig zu sein schien. Diese Wende ist klar markiert und der mehr positivistisch gesinnte Leser ist frei, die Grenze zu zie­hen, die er nicht mit mir zu überschreiten willens ist. Während mir hier Tun oder Lassen freistand, liegt es am Gegenstand selber und nicht an meiner Willkür, daß mich seine Behand­lung in Seinstheorien von Platon bis Whitehead verwickelte

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und in Sachfragen, die sich von Physik und Biologie zu Er­kenntnistheorie und Ethik erstrecken. Das Phänomen des Le­bens selber verneint die Grenzen, die gewohnheitsmäßig un­sere Disziplinen und Arbeitsfelder trennen.

Die Kapitel dieses Buches erschienen ursprünglich als Einzel­untersuchungen zwischen 1950 und 1965, alle mit einer Aus­nahme zuerst auf englisch, manche dann auch auf deutsch, und wurden 1966 in entsprechender Bearbeitung, mit Zufügung von Anhängen und Überleitungen, zu dem Buch „The Phenom­enon of Life. Toward a Philosophical Biology“ (Harper & Row: New York 1966) vereinigt. Die hier vorgelegte, in man­chem veränderte deutsche Ausgabe wurde von Herrn Dr. Dock­horn und mir in geteilter Übersetzungarbeit besorgt, und zwar wie folgt: Herr Dr. Dockhorn übersetzte die Einleitung und Kapitel 3, 6, 7 und 8 (mit ihren jeweiligen Anhängen, außer im Falle von Kapitel 8); ich alles übrige. Bei dem be­sonderen Verhältnis, das der Autor zu seinem eigenen Werk hat, und dem Umstand, daß hier die Übersetzungssprache seine Muttersprache ist, in der er als Schriftsteller schon vor seiner englischen Laufbahn seinen eigenen Stil gebildet hatte, war es nur natürlich, daß ich die gewissenhafte Arbeit meines Vorübersetzers noch einmal stilistisch überarbeitete und mir dabei auch sachlich eine Freiheit gegenüber dem Original er­laubte, wie sie eben nur dem Verfasser zusteht. Auch bei den von mir allein übernommenen Teilen natürlich hatte „Über­setzen“ diesen Sinn. Das Sonderbare der Erfahrung, mich der­art selber aus der erworbenen in die ursprünglich eigene Spra­che „ zurück“ zu übertragen, kann wohl nur ein Emigranten­schriftsteller, der ähnliches versucht hat, nachfühlen.

Betreffs der im ganzen bestehenden Identität des deutschen mit dem englischen Buch sind (von verstreuten Änderungen und Erweiterungen abgesehen) folgende zwei Ausnahmen zu verzeichnen: Das 4. Kapitel, von vornherein deutsch geschrie­ben und zuerst (1957) im „Studium Generale“ veröffentlicht, befindet sich nicht in dem englischen Buch; dafür wurde der dortige (10.) Essay über Heidegger und die Theologie in das deutsche Buch nicht aufgenommen, da er schon anderweitig auf deutsch veröffentlicht ist (in: Heidegger und die Theologie, hrsg. v. G. Noller, 1967) und hier ohne Schaden für den Fort­gang des Arguments fortgelassen werden konnte. Nicht das

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gleiche galt für die Kapitel 9, 11 und 12, die zwar schon 1963 in der Kleinen Vandenhoeck-Reihe zusammen unter dem Titel „Zwischen Nichts und Ewigkeit“ auf deutsch erschienen sind, ohne die aber das vorliegende Buch einfach unvollständig wäre. — Der für die deutsche Ausgabe gewählte Titel sagt besser als der des englischen Originals, was ich als das zen­trale Thema des Buches ansehe: Organismus und Freiheit.

New Rochelle, York, 1972 Hans Jonas

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Inhaltsverzeichnis

Bibliographische Notiz 10

Einleitung. Über die Thematik einer Philosophie des Lebens 11

1. Kapitel. Das Problem des Lebens und des Leibes in der Lehre vom Sein 19

I. Panvitalismus und das Problem des Todes 19 II. Panmechanismus und das Problem des Lebens 22

III. Die historische Rolle des Dualismus 25 IV. Idealismus und Materialismus als Zerfallsprodukte des Dua­

lismus 31 V. Verschwinden des Lebens zwischen „Bewußtsein“ und „Außen­

welt“ 34 VI. Ontologische Zentralstellung des Leibes und das Kausalitäts­

problem 37 VII. Zusammenfassung 40

2. Kapitel Wahrnehmung, Kausalität und Teleologie . . . 42

I. Kausalität und Wahrnehmung 42 1. Humes und Kants Problem: Unzulänglichkeit seiner Lösun­

gen 42 2. Umkehrung des Problems: Wie ist neutrale Wahrnehmung

möglich? 46 3. Gewinn- und Verlust bei der Neutralisierung 50

IL Anthropomorphismus und Teleologie 53 1. Verneinung der Zweckursachen als Apriori neuzeitlicher

Wissenschaft 54 2. Verponung des Anthropomorphismus und ihre erkenntnis­

theoretischen Folgen 56 3. Die postdualistische Wiedereröffnung der Frage 58

3. Kapitel. Philosophische Aspekte des Darwinismus . . . 60

I. Ursprungsfragen im neuzeitlichen Naturdenken 60 IL Anwendung der modernen Ursprungsidee auf das Lebensreich 64

1. Widerstand der Lebensformen gegen das mechanistische Ent­stehunesmodell 64

2. Überwindung des Widerstands durch die moderne Entwick­lungslehre 66

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III. Revolutionierung des Lebensbegriffs durch den Entwicklungs­gedanken 68 1. Das Werden der Arten und das Ende des Piatonismus . . 69 2. Der Mensch ohne Wesen 71

IV. Kausale Notwendigkeit und essentiale Zufälligkeit 72

1. Die Kombination von Notwendigkeit und Kontingenz im modernen Naturbild 72

2. Anwendung auf das Lebensreich 73 3. Abweichung und Auslese: Entwicklung als „Pathologie“ . . 75 4. Der neue Dualismus: Keim — Soma 77

V. Triumph und Krise des Materialismus in der Entwicklungslehre 79 1. Vor- und Nachteile des Dualismus für die Naturwissenschaft 79 2. Die tierischen Automaten des Descartes 81 3. Sprengung der kartesischen Ontologie durch den Evolutio­

nismus 83

Anhang. Die Bedeutung des Kartesianismus für die Theorie des Lebens 85

4. Kapitel Harmonie, Gleichgewicht und Werden 92

5. Kapitel Ist Gott ein Mathematiker? Vom Sinn des Stoffwechsels 107

I. Die Fragestellung 107 IL Antiker und moderner Sinn einer Mathematik der Natur . . 109

III. Klassische und judäo-christliche Schöpfungslehre 113 IV. Die Ernte des Dualismus: Natur ohne Seele und Geist . . . 116 V. Der Mathematiker-Gott blickt auf den Organismus . . . . 119

VI. Das Gegenzeugnis des lebendigen Leibes 124

VII. Form und Stoff 125 1. Selbständigkeit und Abhängigkeit der Form 126 2. Das Problem der Identität 128

VIII. Dialektische Freiheit 130

1. Freiheit und Notwendigkeit 131 2. Selbst und Welt: Die Transzendenz der Bedürftigkeit . . . 133 3. Die Dimension der Innerlichkeit 134 4. Der Horizont der Zeit 135

IX. Der göttliche Mathematiker: Kritik seiner Sicht 137 1. Unsichtbarkeit des Lebens für die Analyse des Ausgedehnten 137 2. Versagen der dualistischen Ergänzung 140

X. Die Überlegenheit des leiblichen Erkenntnissubjekts 142

Anhang 1. Der griechische Gebrauch der Mathematik in der Deutung der Natur 144

Anhang 2. Bemerkungen zu Whiteheads Philosophie des Organismus 148

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6. Kapitel. Bewegung und Gefühl. Über die Tierseele . . . 151

7. Kapitel. Kybernetik und Zweck. Eine Kritik 164 Anhang. Materialismus, Determinismus und der Geist 187

8. Kapitel. Der Adel des Sehens. Eine Untersuchung zur Phänomenologie der Sinne 198

I. Die Simultaneität des Bildes, oder der Zeitaspekt des Sehens . 199 1. Das Gehör 200

2. Der lastsinn 203 3. Vergleich mit dem Sehen 206 4. Sehen und Zeit 208

IL Dynamische Neutralisierune 210 III. Räumliche Distanz 215

Anhang. Sehen und Bewegung 219

9. Kapitel. Homo Pictor: Von der Freiheit des Bildens . . . 226 I. Was ist ein Bild? 227

II. Die Wahrnehmung von Ähnlichkeit 235 III. Abstraktion und Bildlichkeit im visuellen Wahrnehmen . . . 238 IV. Eidetische Freiheit der Imagination und des Bildens 241 V. Die Allgemeinheit des Namens und des Bildes 244

VI. Ergebnis des heuristischen Experiments 245

Anhang. Vom Ursprung der Wahrheitserfahrung 247

Überleitung. Von der Philosophie des Organismus zur Philosophie des Menschen 258

10. Kapitel Vom praktischen Gebrauch der Theorie . . . . 264

11. Kapitel. Gnosis, Existentialismus und Nihilismus . . . 292 I. Die Einsamkeit des Menschen: Von Pascal zu Nietzsche . . . 294

IL Die gnostische Entzweiung von Mensch und Welt 298 III. Zusammenbruch der Lehre vom Teil und Ganzen 303 IV. Antiker und moderner Antinomismus 305 V. Zeitlichkeit ohne Gegenwart 310

VI. Die Indifferenz der Natur 315

12. Kapitel. Unsterblichkeit und heutige Existenz 317

Epilog. Natur und Ethik 340

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Bibliographische Notiz

betreffend frühere Einzelveröffentlichungen von Teilen dieses Buches. Die Nachweise werden, ohne Rücksicht auf ihre eigene Chronologie, im An­schluß an die jetzige Kapitelfolge gegeben. (Die hier vorliegenden Fassun­gen gehen vielfach über die der ursprünglichen Aufsätze hinaus.)

1. Kapitel. „Life, Death, and the Body in the Theory of Being“, Review of Metaphysics 19,1 (1965); „Das Problem des Lebens und des Leibes in der Lehre vom Sein“, Zeitschrift für Philoso­phische Forschung 19, 2 (1965).

2. Kapitel. (I). „Causality and Perception“, The Journal of Philosoph}/

47 (1950). 3. Kapitel. „Materialism and the Theory of Organism“, University of

Toronto Quarterly 21 (1951). Anhang. „Spinoza and the Theory of Organism“, Journal of the

History of Philosophy 3, 1 (1965); ebenfalls in The Philoso­phy of the Body, ed. St. F. Spicker, 1970. (Teilbenutzung hier.)

4. Kapitel. „Bemerkungen zum Systembegriff und seiner Anwendung auf Lebendiges“, Studium Generale 10, 2 (1957).

5. Kapitel. „Is God a Mathematician?“, Measure 2 (1951).

6. Kapitel. „Motility and Emotion“, Proceedings of the XIth Inter­national Congress of Philosophy (Brüssel 1953), vol. 7.

7. Kapitel. „A Critique of Cybernetics“, Social Research 20 (1953). 8. Kapitel. „The Nobility of Sight“, Philosophy and Phenomenological

Research 14 (1953/54); ebenfalls in The Philosophy of the Body, ed. St. F. Spicker, 1970.

9. Kapitel. „Homo pictor und die differentia des Menschen“, Zeitschrift für Philosophische Forschung 15, 2 (1961); Homo Pictor and the Differentia of Man“, Social Research 29 (1962); eben­falls deutsch in Zwischen Nichts und Ewigkeit, 1963.

Anhang. „The Anthropological Foundation of the Experience of Truth“, Memories del XIII Congresso Internacional de Filo­soüa (Mexico 1964), vol. 5.

10. Kapitel. „The Practical Uses of Theory“, Social Research 26 (1959); ebenfalls in Philosophy of the Social Sciences, ed. M. Natan­son, 1963.

11. Kapitel. „Gnosticism and Modern Nihilism“, Social Research 19 (1952); deutsch in Zwischen Nichts und Ewigkeit, 1963.

12. Kapitel. „Immortality and the Modern Temper (The Ingersoll Lecture, 1961)“, Harvard Theological Review 55 (1962); deutsch in Zwischen Nichts und Ewigkeit, 1963.

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E I N L E I T U N G

Über die Thematik einer Philosophie des Lebens

Eine Philosophie des Lebens umgreift in ihrem Gegenstand die Philosophie des Organismus und die Philosophie des Gei­stes. Dies ist selber bereits ein erster Satz der Philosophie des Lebens, in der Tat ihre vorgreifende Hypothese, die sie im Ver­lauf ihrer Durchführung wahrzumachen hat. Denn die Anzeige des äußeren Umfanges behauptet inhaltlich nicht weniger, als daß das Organische schon in seinen niedersten Gebilden das Geistige vorbildet, und daß der Geist noch in seiner höchsten Reichweite Teil des Organischen bleibt. Von den zwei Hälften dieser Behauptung ist nur die zweite, nicht die erste, im Ein­klang mit dem modernen Denken; und nur die erste Hälfte, nicht die zweite, war dem antiken Denken gemäß. Daß beide Behauptungen gültig und voneinander unabtrennbar sind, ist die Hypothese einer Philosophie, die ihren Stand jenseits der querelle des anciens et des modernes zu nehmen sucht.

Der Philosoph, der das Riesenpanorama des Lebens auf un­serm Planeten überblickt und sich selbst als einen Teil davon versteht, wird sich nicht mit der Antwort zufriedengeben (so brauchbar sie als Arbeitshypothese der Naturwissenschaft ist), daß dieser unaufhörliche und weitläufige Prozeß, der mit um­wegiger Folgerichtigkeit durch Äonen fortschreitet und sich in immer kühneren und subtileren Schöpfungen versucht, in dem Sinne „blind“ gewesen sein soll, daß sich seine Dynamik in der mechanischen Permutation indifferenter Elemente erschöpft, die ihre Zufallsergebnisse als Artformen längs des Weges ab­lagert und mit ihnen ebenso zufällig die Erscheinungen des Subjektiven veranlaßt, die jenen physischen Ergebnissen als rätselhaftes und überflüssiges Nebenprodukt anhaften. Viel­mehr, da die Materie nun einmal so von sich Kunde gab, näm­lich sich tatsächlich auf diese Art und mit diesen Ergebnissen organisierte, so sollte ihr das Denken ihr Recht widerfahren lassen und ihr die Möglichkeit zu dem, was sie tat, als in ihrem anfänglichen Wesen gelegen zuerkennen. Diese ursprüngliche Potenz müßte dann ebenso in den Begriff der physischen Sub-

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stanz einbezogen werden, wie die an ihren Aktualisierungen, den Geschöpfen, auftretende Zielstrebigkeit in den Begriff der physischen Kausalität. Der undogmatische Denker wird das Zeugnis des Lebens nicht unterdrücken; er wird sich heute da­von auffordern lassen, ein konventionelles, von der Natur­wissenschaft überkommenes Wirklichkeitsmodell zu überprü­fen, das vielleicht von eben dieser Naturwissenschaft schon überholt zu werden beginnt. (Daß eine solche Überprüfung keine Rückkehr zu Aristoteles zu bedeuten braucht, kann das Beispiel Whiteheads zeigen.)

Unabhängig von der Geschichte ihrer Genesis, unabhängig somit von den Befunden der Entwicklungsforschung, stellt sich die vorhandene, simultane Mannigfaltigkeit des Lebens, be­sonders des tierischen, als eine ansteigende Stufenfolge dar, ausgespannt zwischen „primitiv“ und „entwickelt“, auf deren Skala Komplizierung der Form und Differenzierung der Funk­tion, Empfindlichkeit der Sinne und Intensität der Triebe, Be­herrschung der Glieder und Vermögen des Handelns, Reflexion des Bewußtseins und Griff nach der Wahrheit ihren Platz ha­ben. Aristoteles las diese Hierarchie aus dem gegebenen Be­fund des organischen Lebens ab, ohne hierzu des Entwick­lungsgedankens zu bedürfen; seine Schrift „De anima“ ist die erste Abhandlung in philosophischer Biologie. Die theoreti­schen Bedingungen, unter denen sein großes Beispiel in un­serer Zeit wieder aufgenommen werden könnte, sind sehr ver­schieden von den seinen; aber die Idee eines Stufenbaus, einer progressiven Auflagerung von Schichten, mit Abhängigkeit jeder höheren von den niedrigeren und Beibehaltung aller niedrigeren in der jeweils höchsten, wird sich immer noch als unentbehrlich erweisen. Man kann diese Stufenfolge zwiefach deuten: nach Begriffen der Wahrnehmung und nach Begriffen des Handelns (also des „Wissens“ und der „Macht“) — d. h. einmal nach Weite und Deutlichkeit der Erfahrung, steigenden Graden sinnlicher Weltgegenwart, die durchs Tierreich hin­durch zu umfassendster und freiester Objektivierung des Seinsganzen im Menschen führen; und zum anderen, hiermit parallel laufend und gleichfalls im Menschen gipfelnd, nach Maß und Art der Einwirkung auf die Welt, also nach Graden progressiver Freiheit des Handelns. In Hinsicht auf organische Funktionen sind diese zwei Seiten durch Perzeption und Moti-

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lität vertreten. Die wechselseitige Beziehung und Durchdrin­gung beider Aspekte — des Wahrnehmens und des Handelns, der Mannigfaltigkeit und Genauigkeit des einen, der Reich­weite und Macht des andern — ist ein ständiges Thema für das einfühlende Studium tierischen Daseins.

Beide Stufenleitern gipfeln im Denken des Menschen und kommen dort unter die Frage: welche Seite ist für die andere da? die Betrachtung für das Handeln, oder das Handeln für die Betrachtung? Mit diesem Ansinnen einer Wahl geht die Biolo­gie in Ethik über. Was immer die Antwort sei (und die Ge­schichte der Ethik, als der Lehre vom bonum humanuni, weiß von mehr als einer) — ein Aspekt der ansteigenden Reihe ist unbestreitbar der, daß in ihren Stufen die sinnliche „Spiege­lung“ der Welt immer deutlicher und in sich lohnender wird, das „Wissen“ also zunimmt, anfangend mit dem dunkelsten Fühlen irgendwo auf den untersten Sprossen der Tierleiter, ja schon mit der elementarsten Reizung organischer Empfindlich­keit als solcher, in der irgendwie schon Andersheit, Welt und Objekt keimhaft „erfahren“, d. h. subjektiv gemacht und er­widert werden.

Zweimal in den vorangehenden Erörterungen erschien der Begriff „Freiheit“: in Verbindung mit dem Wahrnehmen und in Verbindung mit dem Handeln. Man erwartet, dem Begriff im Bereich des Geistes und des Willens zu begegnen, doch nicht vorher; und wenn irgendwo, dann in der Dimension des Tuns und nicht der Rezeptivität. Wenn aber „Geist“ von allem Anfang an im Organischen vorgebildet ist, dann auch Freiheit. Und unsere Behauptung ist in der Tat, daß schon der Stoff­wechsel, die Grundschicht aller organischen Existenz, Freiheit erkennen läßt — ja, daß er selber die erste Form der Freiheit ist. Für die meisten Leser müssen dies befremdliche Worte sein, und ich erwarte es nicht anders. Denn was könnte weniger mit Freiheit zu tun haben, was weiter entfernt sein von Wollen und Wählen, die jedes normale Verständnis mit dem Worte „Freiheit“ verbindet, als der blinde Automatismus chemischer Vorgänge im Innern unseres Körpers? Dennoch wird es das Anliegen eines Teils unserer Untersuchungen sein, zu zeigen, daß in den dunkeln Regungen urweltlicher organischer Sub­stanz zum ersten Mal ein Prinzip der Freiheit innerhalb der endlos ausgedehnten Zwangsläufigkeit des physischen Univer-

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sums aufleuchtet — ein Prinzip, das Sonnen, Planeten und Atomen fremd ist. Offensichtlich müssen dem Begriff, wenn er für ein so umfassendes Prinzip in Anspruch genommen wird, alle bewußt-mentalen Bedeutungsverbindungen ferngehalten werden: „Freiheit“ muß einen objektiv unterscheidbaren Seins­modus bezeichnen, d. h. eine Art zu existieren, die dem Orga­nischen per se zukommt und insofern von allen Mitgliedern, aber keinem Nichtmitglied, der Klasse „ Organismus“ geteilt wird: ein ontologisch beschreibender Begriff, der zunächst so­gar auf bloß körperliche Tatbestände bezogen sein kann. Selbst dann aber darf er nicht ohne Beziehung zu der Bedeutung sein, die der Begriff im menschlichen Bereich hat, von dem er ent­lehnt wurde — sonst wäre die Entlehnung und erweiterte An­wendung ein frivoles Spiel mit Worten. Bei aller physischen Objektivität bilden die von ihm auf dem primitiven Niveau beschriebenen Charaktere die ontologische Basis, und die an­deutende Vorwegnahme, jener höheren Phänomene, die den Namen der „Freiheit“ unmittelbarer verdienen und ihn offen­kundiger exemplifizieren: und auch die höchsten von ihnen bleiben an die unscheinbaren Anfänge in der organischen Grundschicht gebunden, als an die Bedingung ihrer Möglich­keit. So bedeutet das erste Erscheinen des Prinzips in seiner nackten und elementaren Objektgestalt den Durchbruch des Seins in den unbegrenzten Spielraum der Möglichkeiten, der sich bis in die entferntesten Weiten subjektiven Lebens er­streckt und als ganzer unter dem Zeichen der „Freiheit“ steht.

In diesem fundamentalen Sinn genommen kann uns der Be­griff der Freiheit in der Tat als Ariadnefaden für die Deutung dessen dienen, was wir „Leben“ nennen. Was das Geheimnis der Anfänge betrifft, so ist es uns verschlossen. Am über­zeugendsten für mich ist die Annahme, daß schon der Über­gang von unbelebter zu belebter Substanz, die erste Selbstor­ganisierung der Materie auf das Leben hin, von einer in der Tiefe des Seins arbeitenden Tendenz zu eben den Modi der Freiheit motiviert war, zu denen dieser Übergang das Tor öffnete. Eine solche Annahme berührt die Auffassung des ge­samten anorganischen Substrats, auf dem sich der Bau der Freiheit erhebt. Für unsere Zwecke brauchen wir uns nicht auf diese oder irgendeine andere Hypothese über die Ursprünge festzulegen, denn wo wir einsetzen, haben sich die „ersten

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Regungen“ längst begeben. Befinden wir uns aber erst einmal im Bereich des Lebens selbst, so sind wir — gleichgültig, was seine Ursache gewesen sein mag — nicht länger auf Hypothe­sen angewiesen: der Begriff der Freiheit ist hier von vornher­ein am Platze und in der ontologischen Beschreibung seiner elementarsten Dynamik benötigt. Und dieser Begriff der Frei­heit wird uns auf dem ganzen Wege aufwärts als ein Werk­zeug der Beschreibung und Interpretation begleiten.

Der Weg aufwärts aber ist keine bloße Geschichte des Er­folgs. Das Privileg der Freiheit ist belastet mit der Bürde der Notdurft und bedeutet Dasein in Gefahr. Denn die Grundbe­dingung für das Privileg liegt in der paradoxen Tatsache, daß die lebende Substanz durch einen Urakt der Absonderung sich aus der allgemeinen Integration der Dinge im Naturganzen gelöst, sich der Welt gegenüber gestellt und damit die Span­nung von „Sein oder Nichtsein“ in die indifferente Sicherheit des Daseinsbesitzes eingeführt hat. Die lebende Substanz tat dies, indem sie ein Verhältnis prekärer Unabhängigkeit gegen­über derselben Materie einnahm, die doch für ihr Dasein un­entbehrlich ist; indem sie ihre eigene Identität unterschied von der ihres zeitweiligen Stoffes, durch den sie doch ein Teil der gemeinsamen physikalischen Welt ist. So in der Schwebe zwi­schen Sein und Nichtsein besitzt der Organismus sein Sein nur auf Bedingung und auf Widerruf. Mit diesem Doppelaspekt des Stoffwechsels — seinem Vermögen und seiner Bedürftigkeit — trat das Nichtsein in die Welt als eine im Sein selbst enthal­tene Alternative; und hierdurch erst erhält „zu sein“ einen be­tonten Sinn: zuinnerst qualifiziert durch die Drohung seiner Negation muß Sein sich hier behaupten, und behauptetes Sein ist Dasein als Anliegen. So konstitutiv für das Leben ist die Möglichkeit des Nichtseins, daß sein Sein als solches wesentlich ein Schweben über diesem Abgrund ist, ein Streifen entlang seines Randes. So ist Sein selbst statt eines gegebenen Zustan­des eine ständig aufgegebene Möglichkeit geworden, stets von neuem abzugewinnen seinem stets anwesenden Gegenteil, dem Nichtsein, von dem es am Ende doch unvermeidlich verschlun­gen wird.

Das so in der Möglichkeit schwebende Sein ist durch und durch ein Faktum der Polarität, und das Leben manifestiert diese Polarität ständig in diesen grundlegenden Antithesen,

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zwischen denen seine Existenz sich spannt: der Antithese von Sein und Nichtsein, von Selbst und Welt, von Form und Stoff, von Freiheit und Notwendigkeit. All diese Zweiheiten sind, wie sich leicht erkennen läßt, Formen der Beziehung: Leben ist wesentlich Bezogenheit auf etwas; und Beziehung als solche impliziert „Transzendenz“, ein Über-Sich-Hinausweisen sei­tens dessen, das die Beziehung unterhält. Wenn es uns gelingt, die Anwesenheit einer solchen Transzendenz und der sie arti­kulierenden Polaritäten schon am Grunde des Lebens selbst aufzuweisen, wie rudimentär und vor-geistig ihre Form dort auch sei, so haben wir die Behauptung wahrgemacht, daß der Geist in der organischen Existenz als solcher präfiguriert ist.

Von all den genannten Polaritäten ist die von Sein und Nichtsein die fundamentalste. Ihr wird Identität abgerungen in einer höchsten, anhaltenden Bemühung des Aufschubs, deren Ende doch vorbestimmt ist. Denn das Nichtsein hat die Allge­meinheit, oder die Gleichheit aller Dinge, auf seiner Seite. Der Trotz, den ihm der Organismus bietet, muß zuletzt in der Un­terwerfung enden, in der die Selbstheit dahinschwindet und als diese einzige nie wiederkehrt. Daß das Leben sterblich ist, ist zwar sein Grundwiderspruch, aber gehört unabtrennbar zu sei­nem Wesen und ist nicht einmal von ihm wegzudenken. Das Leben ist sterblich nicht obwohl, sondern weil es Leben ist, seiner ursprünglichsten Konstitution nach, denn solcher wider­ruflicher, unverbürgter Art ist das Verhältnis von Form und Stoff, auf dem es beruht. Seine Wirklichkeit, paradox und ein ständiger Widerspruch zur mechanischen Natur, ist im Grunde fortgesetzte Krise, deren Bewältigung niemals sicher und jedes­mal nur ihre Fortsetzung (als Krise) ist. — Sich selbst überant­wortet und ganz auf die eigene Leistung gestellt, für ihre Voll­bringung aber auf Bedingungen angewiesen, deren sie nicht mächtig ist und die sich versagen können; abhängig daher von Gunst und Ungunst äußerer Realität; ausgesetzt der Welt, ge­gen die und durch die zugleich sie sich zu behaupten hat; ihrer Kausalität gegenüber verselbständigt und ihr doch unterwor­fen; aus der Identität mit dem Stoffe herausgetreten, doch sei­ner bedürftig; frei aber abhängig; vereinzelt aber in notwen­digem Kontakt; Kontakt suchend aber durch ihn zerstörbar; nicht weniger bedroht andrerseits durch seine Entbehrung: ge­fährdet also nach beiden Seiten, von Übermacht und Sprödig-

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keit der Welt, und auf dem scharfen Grate dazwischen ste­hend; in ihrem Prozeß, der nicht aussetzen darf, störbar; in ihrer organisierten Funktionsverteilung, die nur als Ganzheit wirksam ist, verletzlich; in ihrem Zentrum tödlich treffbar; in ihrer Zeitlichkeit jeden Augenblick endbar — so führt die le­bendige Form ihr vermessenes Sondersein in der Materie, pa­radox, labil, unsicher, gefährdet, endlich, und tief verschwistert dem Tode. Die Gewagheit dieser Existenz, voll Todesangst, stellt das ursprüngliche Wagnis der Freiheit, das die Substanz im Organischwerden unternahm, in grelles Licht.

Der gewaltige Preis der Angst, der von Anbeginn vom Le­ben zu zahlen war und sich parallel mit seiner Höherentwick­lung steigert, läßt die Frage nach dem Sinn dieses Wagnisses nicht zur Ruhe kommen. In dieser Frage des Menschen, vor­witzig wie die formversuchende Substanz im Dämmer des Le­bens, gewinnt nur die ursprüngliche Fragwürdigkeit des Le­bens an sich nach Jahrmillionen Sprache.

Von solchen Gegenständen muß eine Philosphie des Lebens handeln. Das heißt, sie muß vom Organismus als objektiver Form des Lebens handeln, aber auch von seiner Selbstdeutung in der Reflexion des Menschen: diese gehört selber zum Le­bensbefund, dem jede Fortführung der Reflexion ein weiteres Datum hinzufügt. Demgemäß handeln die hier vereinigten Studien einerseits von der Stufung natürlicher Vermögen, mit denen Organismen je nach ihrer Ausstattung dem Anspruch der Welt begegnen — Stoffwechsel, Empfindung, Bewegung, Affekt, Wahrnehmung, Einbildungskraft, Geist — und ander­seits von manchen der Vorstellungen, mit denen der Mensch im Lauf seiner Geschichte der Natur des Lebens und seiner selbst theoretisch gerecht zu werden versuchte. Das letztere Thema geht notwendig ins Moralische und zuletzt ins Meta­physische über. Die Analysen schreiten diese Gegenstände ab, bieten aber keine abgeschlossene Theorie derselben, wenn eine solche auch dem Verfasser als Ziel vorschwebte und die Kon­zeption der einzelnen Stadien leitete. Mit diesem Ziel vor Augen geschrieben und teilweise seit 1950 einzeln veröffent­licht, geben die verschiedenen Untersuchungen, wie ich glaube, einem gemeinsamen Standpunkt Ausdruck und repräsentieren verschiedene Facetten einer noch unfertigen Philosophie des Organismus und des Lebens. Deren systematische Vorlage

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traut sich der Verfasser noch nicht zu; aber die losere Darstel­lung in der Form von Abhandlungen, d. h. von Versuchen und umschriebenen Einzelanalysen, kann einen Begriff von ihrer werdenden Gestalt geben und hält zugleich einige der Schritte auf dem Wege fest, der schließlich zu ihr hinführen mag.

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E R S T E S K A P I T E L

Das Problem des Lebens und des Leibes in der Lehre vom Sein

I. Panvitalismus und das Problem des Todes

Für die Anfänge menschlicher Seinsdeutung war Leben über­all, und Sein war dasselbe wie Lebendsein. „Animismus“ ist die weitverbreitete Erscheinungsform dieser Stufe, „Hylozois­mus“ eine ihrer späteren reflektierten Begriffsformen. „Seele“ überschwemmte das Ganze der Wirklichkeit und begegnete sich selbst allerorten. „Bloße“, d. h. wirklich unbeseelte, „tote“ Materie war nicht entdeckt — wie denn ihre Annahme, uns heute so vertraut, alles andere als naheliegend ist. Im Gegen­teil, daß die Welt belebt ist, ist die allernatürlichste Annahme und zunächst weithin unterstützt vom Augenschein. Auf dem irdischen Schauplatz, von dem umschlossen Erfahrung sich bil­det, herrscht das Leben vor und erfüllt den ganzen Vorder­grund, der für die unmittelbare Sicht des Menschen offenliegt. Die Proportion von eindeutig leblosem Stoff, der in dieser pri­mären Sphäre begegnet, ist gering, da das Meiste von dem, was wir heute als unbeseelt erkennen, so innig mit der Dyna­mik des Lebens verwebt ist, daß es an seiner Natur teilzuneh­men scheint. Erde, Wind und Wasser — zeugend, wimmelnd, nährend, zerstörend — sind alles andere als Paradigmen „blo­ßen Stoffes“. So war der urzeitliche Panpsychismus, auch ab­gesehen davon, daß er mächtigen Bedürfnissen der Seele ent­sprach, weithin gerechtfertigt nach Normen des Schließens und Beweisens innerhalb des zugänglichen Erfahrungsbereichs und fand sich ständig bestätigt durch die tatsächliche Präponderanz des Lebens im Nah-Horizont seines irdischen Heims. In der Tat, erst als die kopernikanische Revolution den Horizont in die Fernen des Weltraums ausweitete, wurde der proportionale Platz des Lebens im Gesamtbild der Dinge winzig genug, um es in dem, was hinfort den Inhalt des Begriffes „Natur“ aus­machte, übergehen zu können. Dem frühen Menschen, auf sei­ner Erde stehend und von der Kuppel ihres Himmels über-

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wölbt, konnte es nicht einfallen, daß das Leben eine Ausnahme oder Nebensache im All sei und nicht seine herrschende Regel. Sein Panvitalismus war eine perspektivische Wahrheit, die erst eine Änderung der Perspektive entthronen konnte. Allem voran jedenfalls geht das überzeugendste Erlebnis allgegenwärtigen Lebens in allem, was ist.

In einer solchen Weltsicht ist der Tod das Rätsel, das dem Menschen ins Gesicht starrt, der Widerspruch zu dem Verstan­denen, sich selbst Erklärenden, Natürlichen, welches das allge­meine Leben ist. In dem Maße, in dem das Leben als primärer Zustand der Dinge gilt, ragt der Tod als das verstörende Ge­heimnis auf. Daher ist das Problem des Todes wahrscheinlich das erste, das diesen Namen in der Geschichte des Denkens verdient. Sein Auftreten als ausdrückliches Problem bezeichnet das Erwachen des fragenden Geistes, lange bevor ein begriff­liches Niveau der Theorie erreicht ist. Das natürliche Zurück­beben vor dem Tode schöpft Ermutigung aus dem „logischen“ Affront, den die Tatsache der Sterblichkeit der panvitalistischen Überzeugung antut. So ringt alles frühmenschliche Nachdenken mit dem Rätsel des Todes und versucht, in Mythos, Kult und Religion eine Antwort darauf zu geben.

Daß der Tod, nicht das Leben, an erster Stelle eine Erklärung verlangt, spiegelt eine theoretische Situation wider, die lange in der Geschichte der Gattung andauerte. Bevor die Verwun­derung über das Wunder des Lebens begann, wunderte man sich über den Tod und was er bedeuten möchte. Wenn das Le­ben das Natürliche, die Regel und das Verständliche ist, so ist der Tod, als seine anscheinende Verneinung, das Unnatürliche und Unverständliche, das nicht eigentlich wahr sein kann. Die Erklärung, die er verlangt, mußte in Begriffen des Lebens als des allein Verständlichen sein: irgendwie mußte der Tod dem Leben assimiliert werden. Daher ist die Frage, die er eingibt, nach rückwärts und nach vorwärts gerichtet, in die Vergangen­heit und in die Zukunft: Wie und warum ist der Tod in die Welt gekommen, der er widerspricht, da ihr Wesen Lebendig­keit ist? Und wo führt er hin im Zusammenhang des totalen Lebens, wozu ist er der Übergang, da doch alles, was ist, Leben ist und so auch er letztlich nichts anderes sein kann? Frühe Metaphysik versucht ihre Antwort auf diese Fragen; oder sie verzweifelt an ihnen und bäumt sich antwortlos gegen das un-

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begreifliche Gesetz auf. Es ist die Frage des Gilgamesch — die Antwort des Totenkultes. Wie in den Steinwerkzeugen das ur­menschliche Können verkörpert ist, so das urmenschliche Nach­denken in den Gräbern, die den Tod zugleich bekennen und verneinen. Aus ihnen stieg die Metaphysik in Gestalt des Mythos und der Religion. Den Grundwiderspruch, daß Alles Leben ist und daß alles Leben sterblich ist, sucht sie zu lösen. Sie stellt sich der radikalen Herausforderung, und um die Ganzheit der Dinge zu retten, verneint sie den Tod.

Jedes Problem ist wesentlich die Kollision zwischen einer umfassenden Anschauung (sei sie Hypothese oder Glaube) und einer partikularen Tatsadie, die sich ihr nicht fügt. Der primi­tive Panvitalismus ist die allgemeine Anschauung, der jeweils sich ereignende Tod die spezielle Tatsache: da er die Grund­wahrheit zu verneinen scheint, muß er selber verneint werden. Den Tod deuten wollen heißt hier, seine Fremdheit in der Welt bekennen; ihn verstehen heißt — auf dieser Stufe des univer­salen Lebensglaubens — ihn verneinen, ihn zum Formwandel des Lebens machen. Der Glaube an ein Fortleben nach dem Tode, der sich in den urzeitlichen Bestattungsbräuchen aus­drückt, ist eine solche Verneinung. Totenkult und Unsterblich­keitsglaube überhaupt und die Spekulationen, worin sie sich weiterentwickeln, sind die fortlaufende Auseinandersetzung des Lebensstandpunkts mit dem Tode — eine Auseinanderset­zung, die sich auch gegen den verteidigten Standpunkt selber wenden und ihn schließlich zersetzen kann. Die Aufhebung des Widerspruches, die Lösung des Rätsels, konnte zuerst nur zu­gunsten des Lebens erfolgen; oder das Rätsel blieb, ein Auf­schrei ohne Antwort; oder der ursprüngliche Standpunkt wurde aufgegeben und damit eine neue Stufe des Denkens er­reicht. In beiden ersten Alternativen aber bezeugt sich die ur­sprüngliche ontologische Dominanz des Lebens. Dies ist das Paradox: Gerade die Bedeutung des Gräberkultes in den An­fängen der Menschheit, der Mächtigkeit des Todesmotivs in den Anfängen menschlichen Nachdenkens, bezeugt den mäch­tigeren Hintergrund des universalen Lebensmotivs: Sein ist nur verständlich, nur wirklich als Leben; und die geahnte Konstanz des Seins kann nur als Konstanz des Lebens — über den Tod hinaus — verstanden werden.

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II. Panmechanismus und das Problem des Lebens

Neuzeitliches Denken, das mit der Renaissance begann, be­findet sich in der genau umgekehrten theoretischen Lage: das Natürliche und Verständliche ist der Tod, problematisch ist das Leben. Von den Naturwissenschaften her ist für die Er­kenntnis der gesamten Wirklichkeit eine Ontologie zur Herr­schaft gelangt, deren Substrat die aller Lebenszüge entkleidete pure Materie ist. Was auf der Stufe des Animismus nicht ein­mal entdeckt war, hat inzwischen das Ganze der Wirklichkeit überschwemmt und für nichts anderes mehr Raum gelassen. Das ungeheuer vergrößerte Universum der modernen Kosmo­logie ist ein Feld unbeseelter Massen und zielloser Kräfte, de­ren Prozesse gemäß ihrer quantitativen Verteilung im Raume nach Konstanzgesetzen ablaufen. Dies nackte Substrat aller Wirklichkeit konnte nur dadurch gewonnen werden, daß alle vitalen Charaktere zunehmend aus dem physikalischen Befund entfernt und jede Projektion unserer selbstgefühlten Leben­digkeit in sein Bild streng untersagt wurden. Im Fortschritt dieses Prozesses dehnte sich das Verbot des Anthropomorphis­mus auf Zoomorphismus im allgemeinen aus. Was blieb, ist das Residuum einer Reduktion auf die bloßen Eigenschaften des Ausgedehnten, die der Messung und so der Mathematik unterliegen. Sie allein genügen noch den Anforderungen des­sen, was jetzt exakte Erkenntnis heißt: sie repräsentieren das Wißbare an der Natur. Und als das einzig Wißbare kommen sie durch eine verführerische Substitution dazu, auch als das Wesentliche an ihr zu gelten: und wenn dies, dann auch als das allein Wirkliche an der Wirklichkeit. Der Wissensbegriff bestimmt den Naturbegriff. Das bedeutet aber, daß das Leblose das Wißbare par excellence, der Erklärungsgrund von allem geworden ist und damit auch zum anerkannten Seinsgrund von allem wurde. Es ist der „natürliche“ sowohl wie der ur­sprüngliche Zustand der Dinge. Nicht nur in Hinsicht auf re­lative Quantität, sondern auch in Hinsicht auf ontologische Wahrheit ist Nicht-Leben die Regel, Leben die rätselhafte Aus­nahme im physischen Sein.

Infolgedessen ist es jetzt die Existenz des Lebens in einem mechanischen Universum, die eine Erklärung verlangt, und die Erklärung muß in Begriffen des Leblosen sein. Als ein übrig-

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gebliebener Grenzfall im homogenen physikalischen Weltbild muß das Leben Rechnung von sich geben nach der Vorschrift dieses Bildes. Quantitativ ein Nichts in der Unermeßlichkeit kosmischer Materie, qualitativ eine Ausnahme von der Regel ihrer Eigenschaften, erkenntnismäßig das Unerklärte in der allgemeinen Erklärbarkeit physischer Natur, ist das „Leben“ zum Stein des Anstoßes für die Theorie geworden. Daß es Le­ben gibt, und wie so etwas in einer Welt bloßer Materie mög­lich ist, das ist jetzt das Problem, das dem Denken aufgegeben ist. Die Tatsache selbst, daß wir uns heute mit dem theoreti­schen Problem des Lebens statt des Todes auseinandersetzen müssen, bezeugt den Status des Todes als des natürlichen und sich selbst erklärenden Zustandes.

Auch hier ist das Problem die Kollision zwischen einer um­fassenden Anschauung und einer partikularen Tatsache: Wie vordem der Panvitalismus, ist jetzt der Panmechanismus die umfassende Hypothese; der seltene Fall des Lebens aber, ver­wirklicht unter den einmaligen Ausnahmebedingungen unseres Planeten, ist die unwahrscheinliche Einzeltatsache, die sich dem Grundgesetz zu entziehen scheint und daher in ihrer Eigen­ständigkeit verleugnet, d. h. in das allgemeine Gesetz integriert werden muß. Das Leben als Problem nehmen heißt hier, seine Fremdheit in der mechanischen Welt, die die Welt ist, beken­nen; es erklären heißt — auf dieser Stufe der universalen To­desontologie — es verneinen, es zu einer Variante der Möglich­keiten des Leblosen machen. Die mechanistische Theorie des Organismus ist eine solche Verneinung, wie der Grabeskult und sein Glauben an das Fortleben eine Verneinung des Todes war. „L'homme machine“ bezeichnet symbolisch im modernen Schema, was der „Hylozoismus“ im antiken bezeichnete: die Usurpation des einen, verleugneten Bezirks durch den anderen, der ein ontologisches Monopol genießt. Der vitalistische Monismus ist durch den mechanistischen abgelöst, in des­sen Evidenzregeln die Norm des Lebens mit der des To­des vertauscht ist. Auch in dem neuen Monismus ist ei­ne Form der Frage nach rückwärts gerichtet: nicht mehr, wie ist der Tod, sondern wie ist das Leben in die Welt, die leblose, gekommen? Sein Ort in der Welt ist nun reduziert auf den Organismus — eine problematische Sonderform und -Ordnung der ausgedehnten Substanz. In ihm allein treffen

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sich res cogitans und rex externa, „denkendes“ und „ausge­dehntes“ Sein, nachdem sie erst in zwei ontologische Sphären auseinandergerissen wurden, von denen nur die zweite „Welt“ ist und die erste nicht einmal zur Welt gehört. Ihr Sich-Treffen im Organismus wird so zum unlösbaren Rätsel. Da aber der Organismus als Körperding ein Fall des Ausgedehnten, also ein Stück „Welt“ ist, so kann er nichts wesentlich anderes sein als die übrige Welt, d. h. als das allgemeine Sein der Welt. Dies Argument hat an sich Kraft nach beiden Seiten: Wenn Gleichartigkeit sein soll, dann kann entweder das Allgemeine im Bilde des (ja nächst erfahrenen) Besonderen, oder das Be­sondere im Bilde des Allgemeinen gedeutet werden — d. h. die Weltnatur im Bilde des Organismus, oder der Organismus im Bilde der Weltnatur. Aber es steht ja schon fest, was das allge­meine Sein der Welt ist: bloße Materie im Raum. Demnach, da der Organismus das „Leben“ in der Welt repräsentiert, lau­tet die das Leben betreffende Frage jetzt: wie steht der Orga­nismus im Zusammenhang des so schon definierten Seins, wie ist diese Sonderform und -funktion desselben reduzierbar auf sein allgemeines Gesetz — kurz, wie ist Leben reduzierbar auf das Leblose?

Leben auf das Leblose reduzieren ist nichts anderes, als das Besondere in das Allgemeine, das Zusammengesetzte in das Einfache und die anscheinende Ausnahme in die beglaubigte Regel aufzulösen. Eben dies ist die Aufgabe, die der neuzeit­lichen Lebenswissenschaft, der Biologie, durch das Ziel der „Wissenschaft“ als solcher gesetzt ist. Der Grad ihrer An­näherung an dies Ziel ist ein Maßstab ihres Gelingens; und der jeweils dabei verbleibende unbewältigte Rest ist ihre vorläu­fige, immer weiter zurückzudrängende Grenze. Vordem hieß es, das scheinbar Leblose im Bilde des Lebens zu deuten und Leben in den scheinbaren Tod zu verlängern. Damals war es der Leichnam, dieser Primärfall „toten“ Stoffes, der die Grenze alles Verstehens war und daher das Erste, was nicht auf Augenschein akzeptiert wurde. Heute hat der lebende, füh­lende, strebende Organismus diese Rolle übernommen und wird als ein ludibrium materiae entlarvt, ein subtiles Blend­werk des Stoffes. Demnach ist heute der Leichnam der am ehe­sten verständliche unter den Zuständen des Körpers. Erst im Tode wird der Leib rätsellos: in ihm kehrt er von dem rätsel-

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haften und unorthodoxen Benehmen der Lebendigkeit zu dem eindeutigen und „vertrauten“ Zustand eines Körpers innerhalb der gesamten Körperwelt zurück, deren allgemeine Gesetze der Kanon aller Begreifbarkeit sind. Die des organischen Körpers diesem Kanon anzunähern, also in diesem Sinne die Grenzen zwischen Leben und Tod zu verwischen; vom Tode, vom Zu­stand des Leichnams her den Wesensunterschied aufzuheben, ist die Richtung modernen Nachdenkens über das Leben als weltlichen Tatbestand. Unser Denken heute steht unter der ontologischen Dominanz des Todes.

Es mag hier beanstandet werden, daß wir vom „Tode“ spre­chen, wo wir die Indifferenz der bloßen Materie meinen, die ein neutraler Charakter ist, während „Tod“ einen antitheti­schen Sinn hat und nur auf das beziehbar ist, was lebend ist oder sein kann oder war. Aber in der Tat war der Kosmos ein­mal lebend in der menschlichen Ansicht von ihm, und sein neueres lebloses Bild wurde aufgebaut (oder abgetragen) in einem stetigen Prozeß kritischer Subtraktion von seinem vol­leren ursprünglichen Gehalt: mindestens in diesem historischen Sinn enthält auch die mechanistische Konzeption des Univer­sums ein antithetisches Moment und ist nicht einfach neutral. Überdies war es nicht der kritische Verstand, der jene „Sub­traktion“ in Bewegung setzte und für lange in Gang hielt, sondern die dualistische Metaphysik, die nachweisliche Wur­zeln in der Erfahrung der Sterblichkeit und dem Protest gegen sie hat. Dualismus ist das Bindeglied, das historisch zwischen den beiden Extremen vermittelte, die wir bisher unhistorisch einander gegenübergestellt haben: er war in der Tat das Ve­hikel für die Bewegung, die den menschlichen Geist vom vita­listischen Monismus der Vorzeit zum materialistischen Monis­mus der Jetztzeit, als zu ihrem unvorsätzlichen, ja paradoxen Ergebnis, führte; und es ist schwer zu sehen, wie der eine von dem andern her hätte anders als auf diesem gewaltigen Um­weg erreicht werden können.

III. Die historische Rolle des Dualismus

In mehr als einer Hinsicht gehört der Aufstieg und die lange Vorherrschaft des Dualismus zu den entscheidenden Ereignis-

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