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# 19/2012 # 1/2012 # 1/2012 # 135/2012 # 01/2012 Abschiebung ISSN 1863-1134 Von Baden-Württemberg, Bayern, Berlin, Brandenburg, Bremen, Hamburg, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Saarland, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen und dem Arbeitskreis Asyl Rheinland-Pfalz.

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Page 1: ISSN 1863-1134 Abschiebung - Hinterland Magazin · 2016-12-16 · Ben Dala und sein Freund Miftah Saeid nach Berlin. Im Aufstand hatten sie gegen Gaddafi gekämpft, Waf-fen geschmuggelt

# 19/2012 # 1/2012 # 1/2012 # 135/2012 # 01/2012

Abschiebung

ISSN

1863-1

134

Von Baden-Württemberg, Bayern, Berlin, Brandenburg, Bremen, Hamburg, Hessen,Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Nord rhein-Westfalen, Saarland,Sachsen, Sachsen-An halt, Thüringen und dem Arbeitskreis Asyl Rheinland-Pfalz.

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Page 2: ISSN 1863-1134 Abschiebung - Hinterland Magazin · 2016-12-16 · Ben Dala und sein Freund Miftah Saeid nach Berlin. Im Aufstand hatten sie gegen Gaddafi gekämpft, Waf-fen geschmuggelt

Heft der Flüchtlingsräte 2012

IMPRESSUM

Das Heft der Flüchtlingsräte erscheint bundesweiteinmal im Jahr und wird diesmal herausgegebenvon den Flüchtlingsräten von Baden-Württem-berg, Bayern, Berlin, Brandenburg, Bremen, Ham-burg, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Nieder-sachsen, Nord rhein-Westfalen, Saarland, Sachsen,Sachsen-An halt, Thüringen und dem ArbeitskreisAsyl Rheinland-Pfalz.

Das Heft der Flüchtlingsräte erscheint gleichzeitigals gemeinsame Sonderausgabe der folgendenZeitschriften: Hinterland (#19/12) Bayern, Gegen-wehr (#1/12) Hessen, Human Places (#1/12) Mek-klenburg-Vorpommern, Flüchtlingsrat (#135/1/12)Niedersachsen, Rundbrief (#1/12) Baden-Württem-berg.

Titel: Matthias Weinzierl 2012Redaktionsadresse:

Bayerischer FlüchtlingsratHinterland Redaktion Augsburgerstraße 13 80337 München

Tel: 089/ 762 234Fax: 089/ 762 236

Verantwortlich: Matthias WeinzierlRedaktion: Andrea Böttcher, Friedrich C. Burschel, Dorothee Chlumsky, Markus Geisel,Sara Hilliger, Florian Feichtmeier, Angelika vonLoeper, Christoph Merk, Marc Millies, TillSchmidt, Timmo Scherenberg, Tunay Önder,Nikolai Schreiter, Sarah Stoll

Namentlich gekennzeichnete Beiträge müssen nichtunbedingt die Meinung der Redaktion wiedergeben.

Kontakt: [email protected]: Matthias WeinzierlDruck: ulenspiegel druck gmbH, Birkenstraße 3, 82346 AndechsAuflage: 6.000 Stück

www.hinterland-magazin.de

Das Heft der Flüchtlingsräte wird gefördert durch:

Europäischer Flüchtlingsfonds (EFF)UNO-Flüchtlingshilfe Pro Asyl

Eigentumsvorbehalt:Diese Zeitschrift ist solange Eigentum des Absenders, bissie dem Gefangenen persönlich ausgehändigt worden ist.Zur-Habe-Nahme ist keine persönliche Aushändigung imSinne des Vorbehalts. Wird die Zeitschrift dem Gefange-nen nicht ausgehändigt, so ist sie dem Absender mit demGrund der Nichtaushändigung in Form eines rechtsmit-telfähigen Bescheides zurückzusenden.

egzonbjörn bicker

eine produktion des bayerischen rundfunks 2011redaktion hörspiel und medienkunst

komponistin: pollyestersprecher & sprecherinnen: julia jentsch (egzon), stefan merki (pilot), wiebke puls (sachbearbeiterin), walter hess (anwalt), sabine kastius (beobachterin),peter weiß (anonym), caroline ebner (lehrerin) oliver mallison (arzt)realisation: björn bickeraufnahmeleitung: stefanie ramb (ass.)toningenieur/assistenz: marcus huber/ daniela röderredakteurin: katarina agathos

Noch vor ein paar Wochen ging Egzon in Deutschlandzur Schule. Seine Schwester Elvira war frisch verliebt. Jetztwohnen sie auf einer Müllkippe im Kosovo. Sie sind alsRoma in Deutschland aufgewachsen und wurden in dieFremde abgeschoben. Egzon spricht nicht mehr, seit ermit vier Jahren während des Krieges in einer brennendenSiedlung zurückgelassen wurde. Und doch ist er es, dervon dem neuen Leben im Kosovo erzählt. Und dann sindda die Stimmen derer, die zurückbleiben: der Anwalt, dieSachbearbeiterin von der Ausländerbehörde, der Arzt, dieLehrerin, die Abschiebebeobachterin. Alle versuchen zuverstehen, zu erklären, zu rechtfertigen. Das Hörspiel ver-arbeitet Interviews und Dokumente, Fiktion und Realitätzu einem vielstimmigen Mix. So wird das Thema Abschie-bung zu einem Zerrspiegel privater wie politischer Moral:Es geht um Verantwortung, Schuld und Mitgefühl.

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zitiert & kommentiert

Von Hubert Heinhold

5

Editorial

z u r ü c k g e n o m m e n

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Win-Win nach Gaddafis Mustern

Über die europäisch-libyschen Kompensations-

geschäfte zur Migrationsabwehr

Von Christian Jakob

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Return to sender

Rückübernahmeabkommen regeln den legalen

Menschenhandel zwischen EU-Europa und

dem Rest der Welt

Von Anke Schwarzer

17

Hauruck mit der AG Rück

Passbeschaffung mit Profit

Von Dirk Burczyk

21

Auf Teufel komm raus

Ausweisungen nach Syrien noch immer nicht

gestoppt

Von Johanna Strecker

23

Frontex-Reisen all inclusive

Von der Grenzschutzagentur zum Zwangsrei-

severanstalter

Von Uli Sextro

abgeschoben

28

Hildesheimer Rassenkunde

Abgründe deutscher Ausländerpolitik

Von Kai Weber

31

Bittere Pille danach

Was passiert nach der unfreiwilligen Rückkehr

ins Herkunftsland?

Von Stephan Dünnwald

34

Last Minute Protest

Ein Netzwerk am Frankfurter Flughafen macht

vor, wie man Zwangsausreise verhindern kann

Von Eva Lilith Seidlmayer

38

Vogelfrei in Vorpommern

Von der Skrupellosigkeit der

Demminer Ausländerbehörde

Von Anke Lübbert

41

Egzon – Fliegen ist freiwillig.

wer nicht will, kommt nicht mit.

Interview zum Hörspiel von Björn Bicker

Interview von Matthias Weinzierl

43

Abschiebung in Zahlen

Ein statistischer Überblick

Von Timmo Scherenberg

47

Abschiebe-Bescheid beim Boarding

Die Dublin II-Regelungen müssen angesichts

inakzeptabler Rechtslücken in der politischen

Debatte gehalten werden

Von Stephan Kessler

50

It´s Jus Wildfangiatus, Baby!

Ein mittelalterliches Gegenkonzept

zu heutigen Ausweisungen

Von Caspar Schmidt

51

„Ich habe meinen Pass, aber keine Ruhe.“

Die Flucht-Odyssee des iranischen

Flüchtlings Ali H.

Ein Interview im Taxi von Till Schmidt

und Matthias Weinzierl

54

Morgengrauen im Gewahrsamsraum

Verdeckte Abschiebehaft

an deutschen Flughäfen

Von Frank Gockel

bet reu t & versorg t

57

Bremen bleibt hart

Hanseatische Ausländerbehörde setzt

medizinische Rückführungsspezialistinnen

und -spezialisten ein

Von Christian Jakob

60

Willige Helfer in weißen Kitteln

Begleitende Ärzte missachten den

hippokratischen Eid

Von Winfried Eisenberg

gecampt

63

Charter der Schande

Das diesjährige Nobordercamp findet aus

aktuellem Anlass im Raum Düsseldorf statt

Von Hagen Kopp

66

Keine Gleichheit der Waffen

Abschiebehäftlinge ohne Anwalt

Von Dieter Müller

68

Zukunftsfähige Ungerechtigkeit

Warum Abschiebehaft nicht von alleine

verschwinden wird

Von Tim Landauer

71

DIY der Haftvermeidung

Juristische Ersthilfe und praktische

Solidarität für „Ausreisepflichtige“

Von Frank Gockel

78

Knast bleibt Knast

Immer noch leiden Flüchtlinge im Berliner

Abschiebegefängnis

Von der IGGA Berlin

81

Von Eins auf Neunhundert

Über das neue Internierungslager auf dem Ber-

lin-Brandenburger Großflughafen Schönefeld

Von Beate Selders

ge lesen

84

Mutter, wie weit ist Vietnam?

Eine schwierige Kindheit in der DDR

Von Angelika Nguyen

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Das Leben hält für uns Menschen nicht nurKrankheiten als Bedrängnisse bereit. Der Ver-lust der „neuen Heimat“ durch eine

Abschiebungsandrohung nach einem vergeblichenAsylantrag oder einer Ablehnung der Verlängerungeines Aufenthaltstitels oder nach einer Ausweisunggehört sicherlich auch dazu. Droht dann nochAbschiebehaft, wird man wohl von „Zeiten besonderer(...) seelischer Belastungen“ sprechen können.

Das Europäische Parlament und der Rat haben demmit der sogenannten Rückführungs-Richtlinie (Art. 17 Ider Richtlinie 2008/115/EG) Rechnung getragen, wennes dort heißt, dass bei unbegleiteten Minderjährigenund „Familien mit Minderjährigen (...) Haft nur imäußersten Falle“ eingesetzt wird. Nach Absatz 2müssen deshalb bis zur Abschiebung in Haftgenommene Familien eine gesonderte Unterbringungerhalten, die ein angemessenes Maß an Privatsphäregewährleistet.

Die deutsche Verwaltung scheint ein anderes Verständ-nis als das Europaparlament und das Bundesverfas-sungsgericht vom „verfassungsrechtlichen Schutz, derder ehelichen Lebensgemeinschaft gemäß Art. 6 I GGzukommt“ zu haben. Anders ist es nicht zu erklären,dass die deutsche Praxis glaubt, die europäische Vor-

gabe, Familien nur im äußersten Fall in Abschiebungs -haft nehmen zu dürfen, durch eine Trennung der Fam-ilie erfüllen zu können. Auf den Punkt gebracht hatdies das Bayerische Staatsministerium der Justiz undfür Verbraucherschutz in einer Antwort auf eineSchriftliche Anfrage vom 10.11.11 (Drs. 16/10339): „Beider Aufenthaltsbeendigung von Familien sind die bay-erischen Ausländerbehörden aufgrund (...) § 62a I 2und 3 AufenthG (...) gehalten, nur einen Ehepartner inAbschiebungshaft zu nehmen. Bei Familien mit min-derjährigen Kindern entspricht dies der ständigen Voll -zugspraxis, wonach nur der Familienvater, nicht aberdie Ehefrau und die minderjährigen Kinder inhaftiertwerden sollen.“ Dass die scheinbare Fürsorglichkeit,Frauen und minderjährige Kinder nicht zu inhaftieren,sondern nur die Männer, vor allem der Tatsachegeschuldet ist, dass es (nicht nur) in Bayern keine Ein-richtungen gibt, in denen Familien gemeinsamuntergebracht werden können, ist die eine Sache, dassdas verfassungsrechtliche Beistandsgebot, das dasBundesverfassungsgericht (nicht nur) bei Abschiebun-gen hervorgehoben hat, missachtet wird, die andere.

Wo ist der Verfassungsschutz, der uns vor denBeamtinnen und Beamten und vor den Richterinnenund Richtern, die für die Trennung der Familien undeine solche Haftpraxis verantwortlich sind, schützt?<

z i t i e r t & k o m m e n t i e r t

Hubert Heinhold ist Rechtsanwalt

und im Vorstand

des Fördervereins

Bayerischer Flücht-

lingsrat e.V. und bei

Pro Asyl.

4

„§ 1353 I 2 BGB hält die Ehegatten an, fürein ander

Verantwortung zu tragen. Diese Pflicht beinhaltet

wechselseitigen Beistand in Zeiten der Bedrängnis

und insbesondere in Zeiten besonderer körperlicher

und seelischer Belastungen.“

(BVerfG vom 17.05.11, 2 BvR 1367/10)

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in Ihren Händen halten Sie das „Heft der Flücht -lings räte 2012“, ein Kooperationsprojekt der Flücht-lingsräte von Baden-Württemberg, Bayern, Berlin,Brandenburg, Bremen, Hamburg, Hessen, Meck -lenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Saarland, Sachsen, Sachsen-Anhalt,Thüringen und des Arbeitskreises Asyl Rheinland-Pfalz. Wie schon bei der 2010 erschienenengemeinsamen Ausgabe mit dem Themenschwer-punkt Antiziganismus, sind wir, die Hinterland-Redaktion, vertrauensvoll mit der Federführung fürdas Heft betraut worden.

Die Artikel unseres Heftes widmen sich dem ThemaAbschiebung – dem Prozedere an sich, aber auchden an der Durchführung beteiligten Intitutionenund Personen, seien es Ärztinnen und Ärzte oderBeamte und Beamtinnen in den Ausländerbehör-den. Oder Delegationen aus den vermeintlichenHerkunftsstaaten der „Ausreisepflichtigen“, die, oft-mals eigens dazu nach Deutschland eingereist,durch sogenannte Sammelanhörungen auf höchstfragwürdige Weise Identitäten klären und Passer-satzpapiere ausstellen sollen.

Wo von Abschiebung die Rede ist, kann über Fron-tex und Dublin II natürlich nicht geschwiegen wer-den. Wenn es darum geht, unerwünschte Men-schen loszuwerden, greift die BundesrepublikDeutschland aber auch auf sogenannte Rücküber-nahmeabkommen zurück. Solche Abschiebeverträ-ge hat die BRD im Moment mit über 30 europäi-schen und außereuropäischen Staaten geschlossen– 2008 übrigens auch einen mit Syrien.

Seit 2006 küren die „Jugendlichen ohne Grenzen“jedes Jahr anlässlich der Innenministerkonferenzden „Abschiebeminister des Jahres“. Wenn Sie, liebeLeserinnen und Leser, erfahren möchten, wie esetwa um Pferdestärke und Kragenweite der bisheri-gen Preisträger bestellt ist, empfehlen wir unserAbschiebeminister-Quartett. Vielen Dank an dieserStelle an „Schall und Rauch“, der die Begleittextedazu verfasste.

Einen Überblick darüber, in welche Staaten dieBRD im Jahr 2010 in welchem Ausmaß abgescho-ben hat, gibt unsere Welt- und Europakarte in der

Heftmitte; insgesamt wurden 22.378 Menschenabgeschoben oder ihnen wurde die Einreise verwei-gert. Darüberhinaus finden Sie als Heftbeilage dieHörspiel-CD „Egzon“ des Autoren Björn Bicker, dasdas Schicksal einer aus Deutschland in den Kosovoabgeschobenen Roma-Familie thematisiert. BjörnBicker wie auch Egzon, der inzwischen 18-jährigeProtagonist des Hörspiels, kommen in unseremHeft zu Wort.

Eine echte Perle im Heft ist übrigens auch dieGeschichte von Angelika Nguyen, die wir demSammelband „Kaltland“ des Rotbuch-Verlages ent-nehmen durften.

Ein anregendes Hören und Lesen wünschtIhre/Eure Hinterland-Redaktion

PS: An dieser Stelle wollen wir auch den kleinen Matthias,

Sohn unserer Redaktionskollegin Doro & ihrem Jan, ganz

herzlich auf der Welt willkommen heißen, die er am Tag

unserer letzten Redaktionssitzung endlich erreicht hat.

e d i t o r i a l

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Liebe Leserinnen und Leser,

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Win-Win nach Gaddafis Mustern

Unter Muammar al-Gaddafi ging man auf dem libyschen Festland und auf See rigoros gegen Migrantinnen und Migrantenvor. Auch nach dem Sturz Gaddafis wird Libyen der EU als Türsteher zur Verfügung stehen. Von Christian Jakob

Bunga BorderGuten Freunden gibt man ein Grenzchen

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Für Europa hat der libysche Rebell MuhamadBen Dala großes Verständnis. „Der Westen warschlau. Er hat sich immer die Sieger als Verbün-

dete ausgesucht, weil er eben seine Interessenschützen muss. Das können wir ihm nicht vorwer-fen“, sagt der Chirurg. Im Februar kamen MuhamadBen Dala und sein Freund Miftah Saeid nach Berlin.Im Aufstand hatten sie gegen Gaddafi gekämpft, Waf-fen geschmuggelt und in Lazaretten Verwundete ver-sorgt. Jetzt stellten sie „Win or die“ vor, einen Filmüber ihre Revolution, die den Diktator Muammar al-Gaddafi im Vorjahr weggefegt hatte. Für subsa-harische Flüchtlinge haben Ben Dala und Saeidweniger Verständnis. Auf die Frage, inwieweit dasLibyen ohne Gaddafi auch mehr Freiheit für Transit-migrantinnen und -migranten bedeuten könnte, hat-ten sie eine klare Antwort: Auch das neue Regimewerde der EU als Türsteher zur Verfügung stehen.Der Unterschied sei, dass nun das ganze libyscheVolk von der Zusammenarbeit profitieren solle: „Waswir jetzt wollen, das ist eine Win-Win-Situation – fürganz Libyen und den Westen. Vorher hat nur Gaddafigewonnen, wenn es Abkommen mit dem Westengab.“

„Enge Kooperation“ zwischen Italien und dem libyschen Übergangsrat

Am 12. April, der Bürgerkrieg war da gerade achtWochen alt, der Diktator sollte noch fast ein halbesJahr im Amt bleiben, trafen sich in Brüssel die EU-Außenminister. Es war die Zeit, in der Gaddafi ausRache am Westen den Zugang zum Mittelmeer freigegeben hatte. Immer wieder stachen, vor allem ausder Region um die Hafenstadt Misrata, meist vollbesetzte Boote mit Papierlosen in See. Sie versuchtendie Strände Maltas oder Italiens zu erreichen, diePreise für die Passage sanken auf einen Bruchteil derTarife, die die Fluchthelferinnen und -helfer verlangthatten, als Gaddafi die Küste noch dicht zu haltenversuchte. Über 1.500 Menschen sind Schätzungenzufolge mindestens bei den Überfahrten gestorben,wahrscheinlich waren es noch deutlich mehr. Die EU-Außenminister verabschiedeten eine Erklärung.„Angesichts der wachsenden Zahl von Flüchtlingen,die an ihren südlichen Küsten ankommen, ist die EUbereit, ihre Solidarität mit den Mitgliedstaaten, dievon dieser Entwicklung am unmittelbarsten betroffensind, konkret zum Ausdruckzu bringen“, heißt es darin.Schon Wochen zuvor hattenItalien und die EU-Gren-zschutzagentur Frontex imzentralen Mittelmeerraum die

gemeinsame Operation „Hermes 2011“ gestartet, umItalien dabei zu „unterstützen, die gegenwärtigen undmögliche künftige Migrationsströme aus Nordafrika zubewältigen“. 14 Mitgliedstaaten stellten Personal odertechnische Ausrüstung zur Verfügung. Doch dieErfolge reichten der EU nicht. Es gelang einigenTausend Papierlosen, Lampedusa zu erreichen.

Für die Grenzschützerinnen und Grenzschützer warklar, dass eine derart effektive Abschottung, wie sieihnen vorschwebte, nur möglich sein würde, wenndie Rebellen fortsetzten, was Gaddafi für die EU seitJahren geleistet hatte: den Zugang zu den libyschenKüsten zu verschließen. Am 14. April, nur zwei Tagenach dem Ministertreffen, eröffnete EU-Außenkom-missarin Catherine Ashton in Bengasi das ersteVerbindungsbüro der EU. Die diplomatischeAnnäherung blieb nicht ohne Wirkung. Zwei Monatespäter, am 17. Juni, unterzeichneten der Vorsitzendedes Nationalen Übergangsrats der Rebellen in Ben-gasi, Mahmud Dschibril, und der italienische Außen-minister Franco Frattini in Neapel ein Abkommen zur„gegenseitigen Hilfe beim Flüchtlingsproblem“. Diesersah einen „Informationsaustausch über illegale Migra-tion und Schleuserbanden“ sowie die „Zusammenar-beit bei der Rückführung von Flüchtlingen“ vor. DieÜbereinkunft zeige, „wie eng die Kooperation zwis-chen Italien und dem Übergangsrat sei“, sagte Fratti-ni.

Berlusconi: „Weniger Flüchtlinge, mehr Öl“

Italien war seit langem der Brückenkopf für die Kol-laboration zwischen dem europäischen Grenzregimeund Libyen. Die Bremer Ethnologin Silja Klepp hatdie Geschichte dieser Kooperation erforscht. Siereicht zurück in die Zeit, als Libyen noch offiziell als„Schurkenstaat“ galt. Damals war das Land politischisoliert. Dennoch nahm die italienische Regierung inden späten 1990er Jahren erste informelle Gesprächemit Gaddafi auf. Im Dezember 2000 konnte in Romdas erste Abkommen unterzeichnet werden; nebenTerrorismus- und Kriminalitätsbekämpfung ging esum die „Eindämmung irregulärer Migration“. In denfolgenden Jahren trafen italienische und libyscheSpitzenpolitiker häufig zusammen, Rom bereitete soder Rehabilitation Gaddafis langsam den Weg. 2003schließlich hob die UNO ihre Sanktionen gegen

Libyen auf, 2004 zog die EUnach. Die Zusammenarbeitkam in Fahrt: „Abschiebeflügevon Migranten aus Libyen,Haftzentren für Migranten,technische Unterstützung zur

z u r ü c k g e n o m m e n

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Auf dem Höhepunkt der italienisch-libyschen Kooperation flog Italien über

4.000 Migrantinnen und Migrantendirekt von der Insel Lampedusa nach

Libyen zurück

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besseren Überwachung der libyschen Grenzen undAusbildungshilfen für Sicherheitsbeamte wurden mititalienischen Geldern in Libyen finanziert,“ schreibtKlepp. Ein Höhepunkt der Kooperation sei 2004/2005erreicht worden: Damals flog Italien über 4.000Migrantinnen undMigranten direkt von derInsel Lampedusa nachLibyen zurück.

Auf See ging man rigorosgegen die Migrantinnenund Migranten vor. Dersüdafrikanische PolitologeRichard Pithouse beschreibtdie Praktiken so: „Wenn die italienische Marine sieabfängt, werden sie oft mit Knüppeln und Elek-troschock-Schlagstöcken aus den Booten geprügelt.Man bringt sie erst in Gefängnisse in Tripolis, vondort dann in Haftanstalten wie jene in dem Wüsten-dorf Al Qatran, nahe der Grenze zu Tschad. DreiTage sind die Migranten in Lastwagen dorthin unter-wegs. Dort sind mehr als fünfzig Personen in einenRaum gesperrt. Sie schlafen auf dem Boden, es gibtSchläge, Vergewaltigungen und Erpressung. Selbst-morde sind häufig.“ Italiens Innenminister RobertoMaroni nannte die Zusammenarbeit mit Libyen hinge-gen einen „historischen Erfolg“.

Der Druck zwang die Migrantinnen und Migranten,unter immer gefährlicheren Bedingungenaufzubrechen. Zwischen 2006 und 2008 stieg die Zahlder dokumentierten Ertrunkenen zwischen Italien undLibyen von 302 auf 642 im Jahr. „Die Dunkelzifferübersteigt diese Zahl um ein vielfaches“, schreibtKlepp. Für Silvio Berlusconi war dies kein Grund, dieZusammenarbeit nicht noch weiter zu treiben. ImMärz 2009 traf er im libyschen Syrte mit Gaddafizusammen, um die Ratifizierungsurkunden für ein„Freundschaftsabkommen“ auszutauschen. DasAbkommen hatte es in sich: Angeblich als „Entschädi-gung für koloniales Unrecht“ sollen in den Jahren bis2025 fünf Milliarden Dollar aus Italien nach Libyenfließen, größtenteils für Infrastrukturprojekte. Berlus-coni fasste das Ziel so zusammen: „WenigerFlüchtlinge, mehr Öl.“

Flüchtlingsabwehr um jeden Preis

Rom trägt mitnichten allein die Schuld an dieserTragödie. „Italien hat nur versucht, den schwarzenPeter weiter zu reichen“, schreibt der Jura-ProfessorGregor Noll von der Universität Lund. „Das verwer-fliche Geschacher zwischen Berlusconi und Gaddafi

ist nichts weiter als die logische Folge des verwer-flichen Dublin II-Abkommens.“ Diese EU-Richtlinielegt fest, dass innerhalb des Schengen-Raums immerdas Land für ein Asylverfahren zuständig ist, daseinen illegalen Grenzübertritt nicht verhindert hat.

Dennoch ist die Praxis derdirekten Zurückschiebung, dieItalien seither vielfach praktizierthat, ein Verstoß gegen die Gen-fer Flüchtlingskonvention. Am23. Februar dieses Jahresverurteilte der EuropäischeGerichtshof für MenschenrechteItalien wegen der direktenZurückschiebung ohne Asylver-

fahren von 24 afrikanischen Bootsflüchtlingen nachLibyen. Das Land muss den Somalis und Eritreerinnenund Eritreern je 15.000 Euro Schmerzensgeld zahlen –viele von ihnen sind allerdings in der Zwischenzeitbei dem Versuch, erneut nach Europa zu gelangen,ertrunken. Das Gericht verwies darauf, dass Flüchtlin-gen in Libyen „unmenschliche Behandlung“ undFolter drohe. Dies habe auch Italien wissen müssen.Es hätte hierzu in der Tat genügt, einen Blick inoffizielle Dokumente der EU zu werfen. In einemBericht der EU-Kommission vom Dezember 2004stand etwa, dass Migrantinnen und Migranten„willkürlich“ festgenommen und in Internierungslagergesperrt, Kinder von ihren Eltern getrennt, Frauennicht vor Vergewaltigung geschützt würden.

Gestört hat das niemand. Im September 2006 schobder EU-Kommissar für Justiz und Inneres, FrancoFrattini, die ersten drei Millionen Euro als Beihilfe zurGrenzsicherung nach Tripolis. Bald darauf trat diedamals noch junge EU-Grenzschutzagentur Frontexauf den Plan. In einem von der Ethnologin Kleppzitierten Brief bat der stellvertretende Direktor vonFrontex, Gil Arias, um Erlaubnis, in libyschenGewässern zu patrouillieren und auf dem Wasseraufgegriffene Migrantinnen und Migranten zurück-zuschicken. Bis heute ist dies nur italienischen Ein-heiten gestattet. Arias’ Bitte wurde abgewiesen.

Der geplatzte Deal zwischen der EU und Gaddafi

Offenbar um Tripolis gnädig zu stimmen, setzte Fron-tex 2007 einen Bericht an die EU auf. „Dieser Berichtmachte klar, dass Libyen nicht die Absicht hatte, dieGenfer Flüchtlingskonvention zu unterzeichnen. Undanders als in früheren EU-Papieren finden sich auchkeine Bemerkungen zur Menschenrechtssituation inLibyen oder inakzeptablen Haftbedingungen fürMigranten darin“, schreibt Klepp. Dafür legte Frontex

Im September 2006 schob der EU-Kommissar für Justiz und Inneresdie ersten drei Millionen Euro als Bei -

hilfe zur Grenzsicherung nach Tripolis.Bald darauf trat die damals noch junge

EU-Grenzschutzagentur Frontex auf den Plan.

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einen Wunschzettel Gaddafis bei: Zur Grenzsicherungforderte er aus Brüssel unter anderem zehn Schiffe,zwölf Aufklärungsflugzeuge, 18 Hubschrauber, 22 vollausgerüstete Kommandozentralen, 28 Patrouillen-boote, 80 Pick-ups, 86 Lastwagen, 100 Schnellbooteund 240 Geländewagen. In Brüssel entschied man,diese Ansprüche nicht zurückzuweisen, sondern inein Gesamtpaket einfließen zu lassen. 2008 nahmman Verhandlungen über ein sogenanntes „Rah-menabkommen“ auf. Das sollte nicht nur die politi -schen Beziehungen, sondernauch Fragen der Energiepoli-tik und des Handels regeln –mittelfristig stand die Errich-tung einer Freihandelszoneals Ziel im Raum. Vor allemaber ging es umFlüchtlingsabwehr. Im Sep-tember 2009 stellte der stell -vertretende Direktor des EU-Kommissars für Auswär-tige Angelegenheiten, Hugues Mingarelli, einem Aus -schuss des EU-Parlaments erstmals den Stand der Ver-handlungen vor – unter Ausschluss der Öffentlichkeit.Die grüne Europa-Abgeordnete Franziska Brantnerwar entsetzt: „Die Kommission wollte mit Gaddafi einRücknahmeabkommen abschließen, um unerwünsch -te Flüchtlinge aus ganz Afrika nach Libyenabschieben zu können.“ Auf Jahre hinweg hätte sichdie EU so das Recht erkauft, massenhaft Flüchtlingedirekt in die finsteren libyschen Internierungslagerabschieben zu können. Schon beim EU-Afrika-Gipfelim November 2010 sollte der Deal unterschriftsreifsein. Doch offenbar pokerte Gaddafi zu hoch: NebenZahlungen in Milliardenhöhe verlangte eranscheinend auch Visafreiheit für die eigenen Lands -leute. Die Verhandlungen jedenfalls kamen zu keinemAbschluss.

50 Millionen für das libysche „Migrationsmanagement“

Noch am 15. Februar 2011 empfing die EU-Kommis-sion Gaddafis engsten Vertrauten, den damaligenlibyschen Innenminister Abdul Fatah Younis in Brüs-sel. Die Aufstände in Libyen hatten da bereitsbegonnen, doch es war noch längst nicht absehbar,wer sich am Ende würde durchsetzen können. Undso sahen die politischen Beamten offenbar keinenAnlass, Younis anders als in den Jahren zuvor zubehandeln: Als hohen Gesandten eines wichtigenBündnispartners. Man wollte die letzten Details einesProjekts klären, das Libyen und die Kommission imJuni 2010 verabschiedet hatten. In einem „Memoran-dum of Understanding“ bot die EU Tripolis „techni -

sche Hilfe und Zusammenarbeit“ für die Zeit von2011 bis 2013 an. Schwerpunkt dieser Zusammenarbeitsollte die „gemeinsame Verantwortung für die Heraus-forderung des Migrationsmanagements“ sein. Das hieß:Gaddafi bekommt 50 Millionen Euro aus Brüssel, damiter seine Grenzen für afrikanische Migrantinnen undMigranten noch weiter dichtmacht. Unmittelbar zuvorhatte Gaddafi den UN-Flüchtlingskommissar UNHCRaus dem Land geworfen, weil der sich zunehmend kri-tisch über die haarsträubenden Zustände in den

libyschen Abschiebelagerngeäußert hatte. Weil Libyen inderselben Woche auch noch18 Migrantinnen undMigranten aus Nigeria undTschad hinrichten ließ, hattedas EU-Parlament Gaddafi ineiner weiteren Resolutionscharf kritisiert: Bei dem

„aggressiven“ Regime in Libyen seien in Sachen „Men-schenrechte, Grundfreiheiten und Demokratie keineFortschritte zu verzeichnen“. Die Kommission störtedas nicht: Das „Memorandum of Understanding“ wurdeunterzeichnet.

Trickreiche EU-Kommission

Vier Monate später, im Oktober 2010 reisten die EU-Innenkommissarin Cecilia Malmström und der EU-Kommissar für Erweiterung und europäische Nach-barschaftspolitik, Stefan Füle, nach Tripolis. DieBeziehungen zu Gaddafi hätten sich in den letztendrei Jahren „gut entwickelt, wir haben gemeinsameInteressen“, lobte Füle damals. „Eine partner-schaftliche Zusammenarbeit mit Libyen in allen Fra-gen der Migration hat hohe Priorität für die EU”,ergänzte Malmström. Die beiden wollten klären, wiesich die Zuwendungen an Gaddafi am besten dekla -rieren ließen, ohne zuviel Kritik zu provozieren. DieLösung: Die Bediensteten in den libyschenAbschiebelagern sollten „Menschenrechtstrainings“bekommen und in der Registrierung der Flüchtlingegeschult werden – und somit genau die Aufgabeerledigen, die bis zum Sommer der UNHCR übernom-men hatte. Damit das EU-Parlament die Pläne derKommission nicht verhindern konnte, hatte sie die fürGaddafi bestimmte Summe auf drei Haushaltspostenaufgeteilt und damit die Veto-Schwelle für die EU-Abgeordneten unterschritten. Was bei dem Treffenmit Innenminister Younis herauskam, ist unklar. Dochals die Nachrichten über die Kämpfe in dem Wüsten-staat in den Tagen nach seiner Visite immer dramati -scher wurden, fror Außenkommissarin Ashton dasGeld ein.

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Anfang 2011 hatte Gaddafi den UN-Flüchtlingskommissar aus dem Land

geworfen. In derselben Woche ließ er 18Migrantinnen und Migranten aus

Nigeria und Tschad hinrichten.

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Eine „Win-Win-Situation“

Das dürfte nun an die Rebellen fließen. Und diestellen sich rührig an. Im Dezember 2011 etwa ver-breiteten die sogenannten Revolutionstruppen stolzdie Nachricht, rund 3.000 „illegale Einwanderer“ ausAsien und afrikanischen Staaten festgesetzt zuhaben. Ein Sprecher der Einheit sagte einemlibyschen Reporter, die Ausländerinnen und Auslän-der hätten einer Menschenschmugglerbande jeweilsrund 1.600 US-Dollar gegeben. Dafür sollten sie bisan die libysche Küste gebracht werden. Das Fernzieldieser „illegalen Einwandererinnen und Einwander-er“, die vom Tschad und vom Sudan aus nachLibyen kamen, sei Europa gewesen. Ende des Jahreswurde auch bekannt, dass die EU ein Projekt wiederaufnehmen will, um die libysche Grenzsicherungzum Niger mittels Satelliten aufzurüsten: Innerhalbdes Programms „AENEAS“ zur „Bekämpfung derUrsachen der Migration in den Ursprungsländern“1

hatte die Kommission seit 2009 das Projekt „Vernet-

zung der nigrischen Grenzposten im Satellitennetz“gefördert, das Vorhaben jedoch annulliert. Nun er -klärte der Generaldirektor für Inneres der Europäis-chen Kommission, Stefano Manservisi, er habe nichtsgegen eine Fortsetzung dieser Zusammenarbeit mitLibyen einzuwenden.

Acht Wochen später, Mitte Februar versprach derChef der libyschen Übergangsregierung, Minister-präsident Abdelrahim al-Kib, dem belgischen Außen-minister Didier Reynders ganz offiziell, „illegale Ein-wandererinnen und Einwanderer“ aus Afrika daranzu hindern, über das Mittelmeer nach Europa zugelangen. Reynders sagte, Belgien sei bereit, Libyenin Sicherheitsfragen zu unterstützen. Sein Landkönne bei der Ausbildung von Sicherheitskräftenhelfen und das Einsammeln der Waffen aus demKrieg gegen die Gaddafi-Truppen unterstützen. „Wir wollen unsere Freunde und Partner im Nordenschützen, indem wir die illegale Einwanderungbekämpfen“, entgegnete al-Kib.<

Christian Jakob ist Redakteur der

„Tageszeitung“ und

lebt in Berlin

1 http://eur-lex.euro-

pa.eu/LexUriServ/Lex

UriServ.do?uri=OJ:L:

2008:071:1263:1264

:DE:PDF

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Die UnerwünschtenDas Bild ist demFilm, „die Uner-wünschten“ entnom-men, der sich mitdem Alltag in einemAbschiebegefängnisbeschäftigt.

Er ist erhältlichunter:

INDI FILM GmbHTalstraße 4170188 Stuttgart

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Return to sender

Die BRD hat im Moment mit über 30 europäischen und außereuropäischen Staaten Abschiebeverträgegeschlossen. Auch die EU forciert Rückübernahmeabkommen. In den Verhandlungen können beide ihremachtvolle Position in die Waagschale werfen. Von Anke Schwarzer

Foto: Indi Film

Tägliche Grüße vom Schreibtisch Zurück auf Los, „zum Wohle aller“

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Das Bild ist abgegriffen. Es vermag auch inseiner altbackenen Symbolik das hochtech-nisierte Migrationsregime mit seinen filigranen

Zugangsschleusen und breiten Ausgängen nicht mehrausreichend abzubilden. Aber sie steht noch: die Fes-tung Europa. Sie hat hohe Mauern gezogen, Gräbenausgehoben und Türen verschlossen. Aus denScharten wird scharf geschossen1. Die Festung istrobust. Gleichwohl finden Menschen, die dasgefährliche Wasser vor der Burg überqueren oder mitdem Flugzeug im Innern landen, offene Luken.Durch sie können sie in die Festung gelangen, sei esfür kurze Zeit, sei es dauerhaft. Manche Öffnungenhaben Migrantinnen und Migranten entdeckt underweitert, andere wiederum haben die Staaten derEuropäischen Union (EU)selbst eingebaut, etwa fürHochqualifizierte, fürkleinere Flüchtlingskontin-gente und Fachkräfte. DieFestung Europa hat dasGlacis vor ihrer Mauer, alsodas abschüssige und keineDeckung zulassende Schuss-feld, auf tausende Kilometer verlängert. Es reicht bisweit nach Russland, zieht sich über den Balkan, hin-ter die Türkei bis weit nach Asien und Afrika. Diemodernen Ritterinnen und Ritter der Menschenab-wehr und -selektion entsenden Frontex-Schiffe, span-nen diktatorische Regimes für ihre Kontrolldiensteund Ausreiseverbote ein, finanzieren Polizeiausrüs-tung, beobachten Migrationsrouten, errichten Lager,Bewegungsmelder und Mauern.

Zu dieser langgestreckten Glacis jenseits der EUgehört auch ein Geflecht staatlicher Abkommen unddiplomatischer Absprachen, die sich um Migra-tionskontrolle, Abschiebungserleichterungen, Entwick-lungsgelder, Rückkehrprojekte, Visaregelungen undBeitritte zur EU drehen. Um ungebetene Gäste oderherbei gelockte Menschen nach einiger Zeit wiederloszuwerden, benutzen Deutschland und andere Län-der schon seit vielen Jahren das Instrument der Rück-übernahmeabkommen – auch bekannt als Rück-führungsabkommen oder Rücknahmeabkommen. Einsolcher völkerrechtlicher Vertrag zwischen zwei odermehreren Ländern regelt die Abschiebung oderAusweisung von Menschen, die keinen gültigenAufenthaltsstatus (mehr) haben.

Die Durchsetzung der „Ausreisepflicht“

Die Bundesrepublik Deutschland hat mit über 30europäischen und außereuropäischen StaatenAbschiebeverträge geschlossen. Ziel dieser Abkom-men sei die „Vereinfachung des Rückübernahmever-fahrens“ – und damit die „effektive Durchsetzung derAusreisepflicht“, so das Bundesinnenministerium.Nach der Auffassung des Ministeriums müsse grund-sätzlich jeder Staat seine Staatsangehörigenaufnehmen; dies sei durch das Völkerrecht legitimiert.

Doch im Alltag der Abschiebebehörden läuft nichtalles reibungslos: Es fehlen Papiere, es mangelt anTransitregelungen und Verfahren zur Feststellung der

Staatsangehörigkeit. Manchmalzeigen sich einige Staatenschlicht nicht bereit, willfährigdie Abschiebung eigener Bür -gerinnen und Bürger aus denreichen Ländern zu unter-stützen. Dies ist zum Beispielder Fall, wenn Geldüber-weisungen der Ausgewan-

derten an die Familien großes Gewicht haben oderMigrantinnen und Migranten innenpolitisch einestarke Lobby darstellen, etwa vor Wahlen.

Was deutsche Innenminister besorgt, sieht man etwain einem Schreiben des niedersächsischen Innenmin-isteriums an die Bezirksregierungen vom Juli 2001.Informiert wurde darüber, dass Abschiebungen in diedamalige Bundesrepublik Jugoslawien nach demKrieg wieder durchgeführt werden sollten und dassüber ein neues Rückübernahmeabkommen verhandeltwerde. „Erhebliche Probleme werden sich voraus-sichtlich bei der Rückführung in Deutschlandgeborener und bei den jugoslawischen Behörden bis-lang nicht registrierter Kinder ergeben. Nach Auskunftdes jugoslawischen Generalkonsulats in Hamburg(Konsul Stevanovic) müssen diese Kinder vor derAusstellung von Rückreisepapieren registriert werden.Dafür sei zwangsläufig die Vorsprache der Eltern imJugoslawischen Generalkonsulat erforderlich.“Vorzulegen sei eine internationale Geburtsurkundesowie pro Kind drei Fotos und eine Gebühr von ins-gesamt 278 DM. „Da nicht zu erwarten ist, dass Per-sonen, die zwangsweise zurückgeführt werden sollen,zur Erfüllung dieser Voraussetzungen im Jugosla -wischen Generalkonsulat vorsprechen werden, er -scheint es wenig aussichtsreich, in diesen Fällen dieRückführung einzuleiten.“ Man habe das Bundesin-nenministerium bereits auf die zu erwartenden Prob-leme hingewiesen und gebeten, „bei den Verhandlun-

Die Festung ist robust.

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gen über ein neues Rückübernahmeabkommendarauf hinzuwirken, dass in diesen Fällen dieÜbersendung einer internationalen Geburtsurkundeund der Passbilder durch die Ausländerbehörde fürdie Rückübernahme ausreichend ist.“

Die in den letzten Jahren geschlossenen Abkommenenthalten Vereinbarungen zur beschleunigten Ausstel-lung von Dokumenten, Fristen zur Beantwortung ver-schiedener Anträge, Datenschutz, zuständige Behör-den, die Verpflichtung zur Aufnahme von Drittstaats -angehörigen und Staatenlosen unter bestimmtenVoraussetzungen. Außerdem regeln sie den Länder-transit von Menschen, die abgeschoben werden oderim Rahmen von sogenannter freiwilliger Rückkehrreisen.

Deutschland setzt auf EU-Rückübernahmeabkommen

Auch die EU handelt Rücknahmeabkommen aus.2002 hat der Rat der EU ein „Rückführungsaktion-sprogramm“ verabschiedet, das die Zusammenarbeitder EU-Mitgliedstaaten bei „freiwilliger Rückkehr“ undAbschiebungen verbessern soll. Zeitgleich erteilte erder Kommission Mandate für EU-Rückübernahme-abkommen mit rund 20 Staaten. Viele sind heute inKraft, etwa mit Russland, Pakistan, Albanien, Serbien,Georgien, mit der Ukraine und Moldawien, mit SriLanka, Hongkong und Macau. Die Verträge habenVorrang vor bilateralen Abkommen. Die zwischen-staatlichen Vereinbarungen gelten aber fort, soweit sienicht im Widerspruch zu den Abkommen der EU ste-hen und Regelungslücken in diesen vorhanden sind.

Laut einer Sprecherin des Bundesinnenministeriumsverhandelt die Bundesregierung derzeit über keinbilaterales Abkommen und wird dies auch in abse-hbarer Zeit nicht tun. Über die EU strebe Deutsch-land ebenfalls keine neuen Vereinbarungen an, son-dern würde es lieber sehen, wenn die bereits erteil-ten Verhandlungsmandate der EU-Kommission mitArmenien, Aserbaidschan, Kap Verde, Marokko,Türkei und der Volksrepublik China vorangetriebenwürden, so die Sprecherin.

Zwänge, Köder und Abhängigkeiten

Die Vertragstexte der Abkommen sind der Öffent -lichkeit in aller Regel zugänglich. Die Protokolle derVerhandlungen, die Köder, die Gegenleistungen undNotlagen, die Zwickmühlen, Sachzwänge oder derdiplomatische Druck werden aber nur selten bekannt.Offenkundig ist aber, dass die Abkommen den Staat-

en rund um Europa nur wenige Vorteile bringen undsie normalerweise eine Gegenleistung für denAbschluss eines Rückübernahmeabkommens verlan-gen. Die Verhandlungen mit Russland und mit der

Ukraine kamen beispielsweise erst dann richtig inGang, als die EU Visa-Erleichterungen in Aussichtstellte. Der Mangel an Anreizen ist auch der Grund,warum es der EU bisher nicht gelungen ist, Verhand-lungen mit Algerien oder China aufzunehmen. DieTürkei fordert von der EU bislang erfolglos Visafrei-heit für ihre Staatsangehörigen – nicht zuletzt deshalbliegt das Abkommen seit über einem Jahr auf Eis.Zwar gibt es auch Rückübernahmeabkommen, diezeitgleich mit Vereinbarungen zur Visaerleichterung inKraft traten, etwa mit Georgien, Serbien und Russ-land. Gleichwohl haben die Gegenleistungen nichtimmer etwas mit Migrationsfragen zu tun. Es gehtauch um sogenannte Aufbauhilfe, Ausstattungstaatlicher Stellen, Entwicklungsprojekte oder Unter-stützung auf internationalem Parkett.

Wie die EU setzt auch Deutschland seine Macht undsein Geld für die Migrationsabwehr und Men-schenselektion ein. Beim Abkommen Deutschlandsmit dem Kosovo etwa ging es zwar auch um dieLockerung der Visabestimmungen, aber auch um denDruck, sich „erkenntlich zeigen“ zu müssen, dennDeutschland hatte den neuen Staat zügig anerkannt.Zudem setzte man im Kosovo darauf, dass Deutsch-land auf internationalem Parkett für einen souveränenStaat wirbt. In einem Interview mit der ZDF-Sendung„Mona Lisa“ vom Januar 2010 erklärte der koso-varische Sozialminister Nenad Rasic, dass die Wieder-aufnahme geduldeter Flüchtlinge aus Deutschlandeine Voraussetzung für Verhandlungen zu verschiede-nen Aspekten der Zusammenarbeit gewesen sei –obwohl der Kosovo gar nicht in der Lage sei, dieAbgeschobenen angemessen zu unterstützen. NachEinschätzung des Grünen-Politikers Josef Winklerhabe man dem Kosovo zusätzliche Lasten aufge-bürdet. „Nach allem, was wir gehört haben, fühltensich die Vertreter des Kosovo dort regelrecht erpresst.Ein Land von der Wirtschaftskraft der BundesrepublikDeutschland sollte sich wirklich dafür schämen, ein

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Rücknahme im Tausch für Entwick lungsprojekte oder Unterstützung

auf internationalem Parkett.

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so armes Land unter Druck zu setzen“, sagte Winklerim April 2010 der Deutschen Welle.

Abschiebestopp für Syrien?

Franziska Vilmar, Asylreferentin bei Amnesty Interna-tional, sieht im Abschluss von Rückübernahmeab -kommen durch Deutschland „an sich kein Pro blem“.Die Frage für ihre Organisation sei, ob jemand inseinen Menschenrechten verletzt werde. „DurchAbschiebungen infolge eines Rückübernahmeabkom-mens kommt es nicht per se zu Menschenrechtsver-letzungen“, so Vilmar. In der Vergangenheit habe esallerdings Fälle gegeben, in denen Amnesty Interna-tional einen Abschiebestopp auf der Grundlage vonRückübernahmeabkommen gefordert habe, zumBeispiel für Algerien zur Zeit des Bürgerkriegs oderfür den Irak nach der US-Invasion.

Derzeit setzt sich Amnesty International für einenformellen Abschiebestopp für Syrien ein. „Amnestyhält eine eindeutige Stellungnahme seitens der Bun-desregierung für dringend geboten, da Ausländerbe-hörden nach wie vor abgelehnte syrische Asyl-suchende auffordern, die syrische Botschaft zwecksAusstellung von Pässen oder Passersatzpapierenaufzusuchen“, sagt Vilmar. In Einzelfällen hätten Aus-länderbehörden noch im November 2011 unterAndrohung von Sanktionen Zwangsvorführungensyrischer Staatsangehöriger bei der syrischenBotschaft in Berlin angeordnet.

Eine Sprecherin des Bundesinnenministeriums ver-weist darauf, dass Rückübernahmeabkommen wederdie für Abschiebungen zuständigen Bundesländer zurDurchführung von Abschiebungen verpflichteten,noch sie daran hinderten, Abschiebungen inGefährdungssituationen auszusetzen. Untersagt seienAbschiebungen, wenn die betreffende Person im Ziel-staat erheblichen persönlichen Gefahren ausgesetztwäre – auch bei Fehlen eines Abschiebungsstopps.Das Ministerium habe zudem im April 2011 den Län-dern empfohlen, „vorläufig bis zur Klärung der Ver-hältnisse in Syrien“ nicht abzuschieben.

Abschiebungen mit oder ohne Abkommen

„De facto kommt es – mit oder ohne Abkommen –auf die Praxis an“, betont Bernd Mesovic von ProAsyl. Insofern sei es auch schwierig, von besondersproblematischen Rückübernahmeabkommen zusprechen. Man könne ebenso gut und schlicht vonAbschiebepraxis sprechen, denn auch Übernahme-bereitschaft für Staatenlose und Drittstaatsangehörigehabe es bereits gegeben, bevor dies in Rückübernah-meabkommen verbrieft worden sei. Gleichwohl ste-hen die Abkommen BRD-Syrien und EU-Pakistanbesonders in der Kritik Ein Skandal sei die Idee, mitDiktaturen oder Staaten, die wichtige Konventionenetwa zu Menschenrechten oder Flüchtlingen nichtunterzeichnet haben, Rückübernahmeabkommen zuschließen. „Solche Regime als Vertragspartner im Kon-text bestimmter Abkommen als Partner zu akzep-tieren ist aber abseits der Rückübernahme-Frage einGrundsatzproblem“, sagt Mesovic. Besonders pro -blematisch seien auch die Abkommen Deutschlandsmit Serbien und dem Kosovo, so Lorenz Krämer, Ref-erent der Europa-Abgeordneten Cornelia Ernst vonder Partei Die Linke. Dort seien weder Menschen-rechte noch soziale Rechte für die Abgeschobenengarantiert. „Das liegt auch daran, dass in diesenFällen viele der Betroffenen mehr als zehn Jahre inDeutschland gelebt haben, zum Teil sogar hiergeboren wurden und kein Wort albanisch sprechen“,so Krämer.

EU-Kommission fordert mehr Effizienz

Mit einem Abkommen ist normalerweise auch einAnstieg von Abschiebungen zu verzeichnen. Dieswurde zuletzt im Falle des Kosovo und Serbiensdeutlich, wohin vor allem Roma abgeschoben oderzur „freiwilligen Ausreise“ genötigt werden. GenaueZahlen dafür, insbesondere für die EU-Abkommen,sind allerdings schwer zu bekommen. Vor einigenJahren zog die International Organisation of Migration(IOM) sogar in Zweifel, dass die Zahl derAbschiebungen mit der Zahl der Vereinbarungensteige.

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Abschiebeab -kommen der EU:Mit Albanien,

Bosnien u. Herze-

gowina, Georgien,

Hongkong, Kasach-

stan, Macau (Son-

derverwaltungsre-

gion der VR China),

Mazedonien, Repub-

lik Moldau, Mon-

tenegro, Pakistan,

Russische Födera-

tion, Serbien, Sri

Lanka, Ukraine,

Türkei.

Abschiebeab -kommen der BRD:Mit Albanien, Alge-

rien, Armenien,

Benelux, Bosnien u.

Herzegowina, Bul-

garien, Dänemark,

Estland, Frankreich,

Geor gien, Hongkong,

Kasachstan, Kroat-

ien, Kosovo, Lett-

land, Litauen,

Marokko, Maze-

donien (EJRM), Nor-

wegen, Österreich,

Polen, Rumänien,

Rumänien, Schwe-

den, Schweiz, Serbi-

en, Slowakei, Südko-

rea, Syrien,

Tschechien, Ungarn,

Vietnam.

(Stand März 2012)

Die Europäische Kommission will Rückübernahme -verpflichtungen zum festen Bestandteil ihrer Abkommen

mit Drittländern machen.

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Auch die EU-Kommission hat die Rückübernahme-abkommen und die laufenden Verhandlungenevaluiert und stellte im vergangenen Jahr ihrenBericht2 vor. Darin werden die unvollständigen unduneinheitlichen Daten bemängelt. So wurden nachden Angaben des Statistischen Amts der EuropäischenUnion für 2009 über 4.300 russische Staatsangehörigeaus der EU nach Russland abgeschoben, wohingegendie Zahl nach Angaben der einzelnen Mitgliedstaateninsgesamt bei nur rund 500 lag. Obgleich die Datenunvollständig seien, könnten dennoch einigeSchlussfolgerungen gezogen werden: „Die Rücküber-nahmeabkommen sind eindeutig ein wichtiges Instru-ment zur Kontrolle der irregulären Zuwanderung“, soder Bericht. Er führt an, dass „in großem Umfang“Rückübernahmeanträge gestellt worden seien, wovonje nach Land zwischen 50 und 90 Prozent etwa vonder Ukraine, Moldawien und der ehemaligenjugoslawische Republik Mazedonien bewilligt wordenseien. Zudem kämen die 2009 in der EU aufgegriff -enen Nicht-EU-Bürgerinnen und -Bürger nur noch zu20 Prozent aus Ländern, mit denen die EU ein Rück-übernahmeabkommen geschlossen habe. Dies seieine „spürbare Verbesserung“ gegenüber 2007, alsdieser Anteil bei fast 27 Prozent gelegen habe.

Der Bericht kritisiert, dass sich die Verhandlungsrun-den, außer bei Georgien, Moldawien und den südost -europäischen Staaten, sehr in die Länge zögen:Obwohl es bereits 2000 das Verhandlungsmandat mitMarokko gab, dauerte es weitere drei Jahre bis dieerste Verhandlungsrunde stattfand. Nach über 15 Run-den zeichnet sich noch kein Abschluss in naherZukunft ab. Trotz Verhandlungsmandat gelang es derEU weder China noch Algerien an den Verhand-lungstisch zu bringen. Die Hauptgründe sieht derBericht in einem Mangel an Anreizen und in derunzureichenden Flexibilität der Mitgliedstaaten beieinigen technischen Fragen.

„Was wir brauchen, ist ein grundlegendes Umdenkenbei den EU-Rückübernahmeabkommen, insbesonderewas die Anreize anbelangt“, heißt es in dem Bericht.Die EU sollte Rückübernahmeverpflichtungen zumfesten Bestandteil ihrer Rahmenabkommen mit Drit-tländern machen. Dabei sollte die Rückübernahmeeigener Staatsangehöriger grundsätzlich zur Pflichtgemacht und die von Drittstaatsangehörigen mit wei -teren Anreizen, etwa visapolitischen Instrumenten,finanzielle Unterstützung und legale Einwanderungs -optionen, verbunden werden. „Erfüllt ein Partnerlandseine Rückübernahmepflicht nicht, zeigt es sich alsobei den Bemühungen, die irreguläre Zuwanderung zuverhindern, nicht sehr kooperativ, dann sollten (…)

Sanktionen gegen das Land verhängt werden“, so dieEmpfehlung der Kommission. Außerdem regt sie an,die „Rückübernahmepolitik“ stärker auf wichtigeHerkunftsländer statt auf die Transitländer auszuricht-en, beispielsweise auf afrikanische Staaten südlich derSahara und auf asiatische Staaten.

IOM: „Migration zum Wohle aller“

Ziel ist es stets, mehr Kontrolle über „irreguläre“ wieauch „legale“ Migantinnen und Migranten zu erlan-gen, nach nationalstaatlichen oder EU-weiten Er -fordernissen Fachkräfte anzuziehen, sie aber gege -benenfalls auch wieder loszuwerden oder nach Gut-

Anke Schwarzer ist Journalistin und

lebt in Hamburg.

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Günther BecksteinEigentlich ein ganz knuddeliger kleiner Kerl mit Teletubbie-Charme und Diaspora-Erfahrung als Evangele in Bayern.Gelobt sei, was hart macht, so war er dann auch. Nein,seine Promotion hieß nicht „Der Gewissenstäter in der Poli-tik“, sondern „...im Strafrecht und im Strafprozessrecht“.Zum Strafmaß eher eigenwillige Vorstellungen, Zitat: „Beidiesem Bier kann man zwei trinken und noch Auto fah-ren!“ Nicht gerade ein Lob des bayerischen Bieres und derengagierten Wirkungstrinker des Freistaates. Das gibt imFestzelt eine Strafmaß, vor allem, weil er sich anschließendals reuiger Abstinenzler gab. Ministrable Vorgänger hattendemgegenüber ihren Worten Taten folgen lassen und sindbesoffen Auto gefahren – mit durchschlagender Wirkung.Internierung von Topgefährdern hat dem bayerischenHinterland nach der Einbürgerung des Luchses weitereAufmerksamkeit verschafft. „Schilys schwarzer Zwilling“machte neben diesem gelegentlich den weniger fanatischenEindruck. Was nach bayerischen Abschiebungswellen nochan Härtefällen übrig gelassen wurde, klärte Beckstein beigelungener Unterwerfungsgeste von Bittstellern im Stile bay-erischer Monarchen.

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dünken bereits gewährte Reisefreiheiten plötzlicheinzuschränken, wie dies die EU derzeit im Falle Ser-biens anstrebt. Bei den Abschiebeabkommen geht esnicht nur um Menschenrechtsverletzungen und denmassiven Eingriff in das Leben von Erwachsenen undKindern. Aufgrund ihrer militärischen und ökono -mischen Stärke innerhalb der Staatenkonkurrenz hatdie EU die Macht, ihre Interessen gegenüber schwä -cheren, abhängigen Staaten durchzusetzen und dieKoordinaten einer globalen Strukturpolitik festzule-gen. Genauso wenig wie in der Weltwirtschaft eben-bürtige Staaten in Austausch treten, handelt es sichauch bei den Verhandlungen über Abschiebeabkom-men um ein buntes Treiben gleichberechtigter Part-ner. Allerdings suchen die Schwächeren manchmalauch ihre – hier im wörtlichen Sinne – eigenenWege. Die Frage bleibt weiterhin, auf welchen Bedro-hungsszenarien diese Migrationsabwehr eigentlichfußt und warum – frei nach Franz Fanon – diesesEuropa niemals aufgehört hat, vom Menschen undden „unteilbaren und universellen Werten der Würdedes Menschen, der Freiheit, der Gleichheit und derSolidarität“3 zu reden und zu verkünden, es sei nurum den Menschen besorgt.<

1 Nach Recherchen

des italienischen

Journalisten Gabrie-le del Grande star-

ben seit 1988 ent-

lang der europäi-

schen Grenzen min-

destens 17.738 Men-

schen, davon sind

8.145 im Mittelmeer

verschollen. Minde-

stens 287 Migrantin-

nen und Migranten

sind von der Grenz-

polizei erschossen

worden. (http://fort-

resseurope.blogspot.c

om/2006/01/festung-

europa.html)

2 Mitteilung der

Kommission an das

Europäische Parla-

ment und den Rat:

Evaluierung der EU-

Rückübernahmeab-

kommen. Brüssel,

23.2.2011

(http://eur-lex.euro-

pa.eu/LexUriServ/site

/de/com/2011/com20

11_0076de01.pdf)

3 Präambel der EU-

Grundrechtecharta

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Trying for England Sans-Papiers an der französischen Ärmelkanalküste

Broschüre zu Transitmigration zwischenFrankreich und Großbritannien

Auf 36 Seiten werden in drei zentralen Kapi-teln Hintergründe aufbereitet, die Situationin Calais als Hot-Spot der Transitmigrationerklärt und es wird ein Blick auf die migran-tische Nutzung des Umlands von Calaisgeworfen. Schließlich stellen die AutorInnenzentrale Infomationen zusammen und ent-wickeln Forderungen für adäquate Bedin-gungen für Menschen auf der Durchreise!

Die Broschüre könnt ihr als Print unter [email protected]

oder auf calaismigrantsolidarity.blogsport.de herunterladen!

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g e s a m m e l t a b g e s c h o b e n

Schon seit vielen Jahren ärgern sich dieAbschiebebehörden in Deutschland über einProblem, das ihnen bei der „konsequenten

Durchsetzung der Ausreisepflicht“ regelmäßig dieSuppe versalzt: Die Betroffenen verfügen über keinePasspapiere, nicht selten ist noch nicht einmal ihreIdentität und Staatsangehörigkeit sicher belegt. Dievermeintlichen Herkunftsländer zeigten sich in derVergangenheit wenig kooperativ bei der Rücknahme„ihrer“ Staatsangehörigen, erst recht jener ohne

gültige Papiere (was die Bundesrepublik imumgekehrten Fall sicherlich auch so halten würde).Das veranlasste die Bund-Länder-Arbeitsgruppe„Rückführung“ im Mai 2000 zu dem Vorschlag,zukünftig sollte die Kooperation bei Abschiebungenzum Maßstab der außenpolitischen Beziehungengemacht werden. Ein ganzes Sammelsurium anmöglichen Sanktionen wurde genannt, die bis zurStreichung von Entwicklungshilfegeldern reichten.

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Hauruck mit der „AG Rück“Um „ausreisepflichtige“ Ausländerinnen und Ausländer, die keine gültigen Papiere haben, abschieben zukönnen, lässt die Bundesrepublik Deutschland sogenannte Abschiebeanhörungen durchführen. Wieüblich bei der Deckung der Kosten für die Abschiebung, werden die Betroffenen auch für die Maßnahmenzur Identitätsfeststellung und Passbeschaffung zur Kasse gebeten. Nach einem Gerichtsurteil aus dem Jahr2008 fallen Bundesligaspiele und größere Mengen Holsten Pilsener allerdings nicht in den Leistungskata-log. Von Dirk Burczyk

Foto: Archiv

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Auch wenn sich die „AG Rück“ damals nicht durch-setzen konnte, ist in den letzten Jahren offensichtlichBewegung in die Sache gekommen. Seit einigenJahren leistet die Bundespolizei Amtshilfe für dieAusländerbehörden ausgerechnet im Falle jener Staat-en, die von der „AG Rück“ als besonders problema-tisch angesehen wurden: Benin, Burundi, Gambia,Guinea Bissau, Liberia, Mali, Mauretanien, Nigeria,Senegal, Sierra Leone, Sudan, Togo, Uganda und –als einziger nicht-afrikanischer Staat – Vietnam. DieAmtshilfe besteht in der Vorführung mutmaßlicherStaatsangehöriger vor Delegierte ihrer vermeintlichenHerkunftsstaaten. Damit alsDelegierte nicht nur Botschaft-sangehörige, sondern auch dieaus den Herkunftsstaateneigens zur Identifizierunggeschickten Vertreterinnen undVertreter gelten, wurde 2007eigens eine Neuregelung imAufenthaltsgesetz geschaffen.

Die „Mitwirkungspflichten“ von „Ausreisepflichtigen“

„Ausreisepflichtige“ Ausländerinnen und Ausländersind nach dem Aufenthaltsgesetz verpflichtet, an ihrerIdentitätsfeststellung und der Passbeschaffung mitzu -wirken und damit ihre Abschiebung zu ermöglichen(Mitwirkungspflicht, § 82 AufenthG). Im Rahmenihrer „Mitwirkungspflichten“ müssen die Betroffenenalso Angaben zu ihrer Identität machen und sich beider Auslandsvertretung ihres Herkunftsstaates inDeutschland Pass- oder Passersatzpapiere beschaffen.Oft genug ist die Nicht-Mitwirkung bei der Pass-beschaffung die einzige Möglichkeit für die Betroffe-nen, einer Abschiebung zu entgehen, nachdem siedurch die Maschen des deutschen Asylsystems gefall-en sind. Daher haben sich die deutschen Behördeneinen Kniff überlegt: Personen mit ungeklärter Staats -angehörigkeit können im Rahmen der „Mitwirkungs -pflicht“ gezwungen werden, sich bei „ihrer“ Aus-landsvertretung vorführen zu lassen, oder es findenVorführungen vor Delegationen des vermeintlichenHerkunftsstaates in den für die Identitätsfeststellungund Passbeschaffung geschaffenen Zentralen Auslän-derbehörden statt. Um die Ausreisepflichtigen zurTeilnahme an diesen Sammelanhörungen zu bringen,kann zum Beispiel das Taschengeld nach dem Asyl-bewerberleistungsgesetz (40 Euro pro Monat) gekürztwerden. Auch steht der Weg in Härtefall- und Altfall-Regelungen bei fehlender Mitwirkung nicht mehroffen.

Quoten positiver Identitätsfeststellungen unterscheiden sich je nach „Herkunftsstaaten“

Da die ohnehin behördlicherseits als renitenteingestuften Betroffenen oft sowieso schon mitsolchen Restriktionen zu leben haben, geht dieserMechanismus allerdings ins Leere. Daraus resultierteine durchschnittlich bis zu fünfzigprozentige Nicht-Erscheinensquote der Vorgeladenen. Die Quoten pos-itiver Identitätsfeststellungen variieren stark nach„Herkunftsstaaten“. Dafür können wohl unter-schiedliche Faktoren verantwortlich gemacht werden:

die Betroffenen gehen zwarzur Anhörung, um ihrer„Mitwirkungspflicht“ formalzu genügen, machen dortjedoch keinerlei Angaben;die Delegierten der aus-ländischen Staaten haben inden Gebühren für die

Anhörungen und die an die Delegationen gezahltenTagegelder eine Einnahmequelle, die noch bessersprudelt, wenn es mehrfache Vorführungen einer Per-son gibt; und schließlich Fälle, in denen sich dieStaatsangehörigkeit schlicht nicht klären lässt. Nur einDrittel der zu den Anhörungen Geladenen bekommtam Ende auch ein Passersatzpapier in Form eines„Emergency Travel Certificate“ (ETC), das eineAbschiebung ermöglicht. Die Papiere haben unter-schiedlich lange Geltungsdauern. Ist eine Abschie -bung innerhalb dieser Dauer nicht möglich, musserneut ein ETC ausgestellt werden. Ob Rückübernah-meabkommen mit den beteiligten Staaten bestehenoder nicht, spielt für die Durchführung der Samme-lanhörungen wohl keine Rolle. Während zum Bei -spiel mit Vietnam schon seit Beginn der 1990er einsolches Abkommen besteht, hat Nigeria ein solchesnicht unterzeichnet, führt aber dennoch mehrere hun-dert Anhörungen pro Jahr durch.

Eine „vertrauensbildende Maßnahme“: Holsten und HSV

In den öffentlichen Fokus gerieten die Vorführungenvor solche Delegationen in erster Linie wegen einigerSkandale rund um eine Delegation aus Guinea imJahr 2006. Die Botschaft Guineas leugnete die Kennt-nis dieser Delegation des guineischen Außenministeri-ums. Der Leiter der Delegation, N´Faly Keita, gerietschnell in den Fokus der Kritik. Einzelne Vorgeladenemeinten ihn als Mitglied eines Schleppernetzwerkswiedererkannt zu haben, andere berichteten, er habeihnen im Rahmen der Anhörung angeboten, für einebestimmte Summe ihre Identität nicht preiszugeben.

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Um ihre eigene Abschiebung zuermöglichen, können „Ausreisepflichtige“

gezwungen werden, sich bei„ihrer“ Auslandsvertretung

vorführen zu lassen.

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Die Staatsanwaltschaft Düs-seldorf sah sich jedenfallsveranlasst, gegen den Mannein Ermittlungsverfahrenwegen des Verdachts desMenschenhandels und vonUrkunds- und Schleusungs-delikten einzuleiten, dasschließlich eingestellt wurde.Unbeeindruckt von diesenVorwürfen stellte damals der Leiter der Zentralen Aus-länderbehörde Dortmund klar, dass im Raum derAnhörungen das Recht Guineas gelte, es sei „quasiexterritoriales Gebiet“. Diese Formulierung ist zuge-spitzt; tatsächlich aber handeln die Delegationen ineigener Souveränität, wenn sie Passpapiere ausstellen.Ihre Entscheidungen können vor deutschen Gerichtennicht angefochten werden.

Ein anderer Fall stammt aus dem Jahr 2008. Die Bun-despolizei hatte mutmaßliche Staatsangehörige ausSierra Leone in Amtshilfe für einige Ausländerbehör-den einer Delegation aus Sierra Leone vorgeführt. Diedaraus entstandenen Kosten legte sie auf die betei -ligten Ausländerbehörden um – einschließlich derAuslagen für eine „vertrauensbildende Maßnahme“, inderen Rahmen ein Bundesligaspiel des HSV besuchtund größere Mengen Holsten Pilsener konsumiertwurden. Ein Gericht entschied schließlich, dasssolche Kosten von den Ausländerbehörden den Vor -geführten nicht in Rechnung gestellt werden dürfen –im Gegensatz zu den regulären Maßnahmen zur Iden-titätsfeststellung und Passbeschaffung, für die die„Ausreisepflichtigen“, wie für alle Kosten der Ab -schiebung, selbst bezahlen müssen.

Willkürlich festgelegte Gebühren für Passersatzpapiere

Bei einigen – aber nicht allen – Auslandsvertretungenfallen Gebühren für die Durchführung einerAbschiebeanhörung an. Diese reichen von 50 Eurobei der Botschaft Guinea-Bissaus über 100 Euro beiden Botschaften des Sudan, des Senegals, Palästinasund Liberias bis hin zu 250 Euro bei der ghanaischenBotschaft. Den Spitzenwert mit 300 Euro verzeichnetBenin. Bei den Gebühren für die „Emergency TravelCertificates“ (ETC) gibt es ebenfalls keinerlei System-atik, was den Schluss zulässt, dass die Gebührenjedenfalls mehr mit Willkür als mit den tatsächlichentstandenen Verwaltungskosten zu tun habendürften. Der Senegal bildet hier mit knapp fünf Eurodas Schlusslicht vor Indien mit sechs Euro. Dieabsolute Spitze ist Armenien mit 360 Euro. Die

restlichen Staaten, zu denenDaten vorliegen, bewegen sichirgendwo dazwischen, einigenehmen auch für dasAusstellen von ETC keineGebühren (Alle Daten für2011; Quelle: Bundestags-drucksache 17/8042). Für dieDelegationen aus Benin, Gam-bia, Liberia, Mali, Sierra Leone

und Vietnam fielen im Jahr 2010 190.000 Euro fürUnterkunft, Verpflegung, Reisekosten, Dolmetscher -dienste und Verwaltungskosten an, 2011 waren es199.000 Euro. Darin enthalten sind auch dieTagegelder von jeweils 23.000 Euro, was einemTagegeldsatz von 208 Euro entspricht. Davon bekom-men die Delegationsmitglieder allerdings nur einenTeil ausbezahlt, denn die deutschen Behörden behal-ten die Kosten für die Unterkunft gleich ein.

EU: Abschiebeanhörungen sind förderungsfähig

Auch den Ausländerbehörden und der Bundespolizeiist klar, dass sie von den Vorgeführten keinen Cent zuerwarten haben. Auf der Suche nach einemFinanzierungspartner sind sie allerdings fündiggeworden. Die Europäische Union stellt mit dem„Europäischen Rückkehrfond“ ein Finanzierungsin-strument auch für solche Dinge zur Verfügung. Imgroßen und ganzen geht es beim Rückkehrfond eherum Maßnahmen, die die Integration von Abgeschobe-nen in ihren Herkunftsstaaten erleichtern sollen,indem sie dort eine Ausbildung machen oder sich einkleines Business aufbauen können. Als förderungs-fähig stuft die Brüsseler Bürokratie aber offensichtlichauch Projekte mit Titeln wie „Intensivierung undVerbesserung der Zusammenarbeit mit Nigeria aufdem Gebiet der Beschaffung von Heimreisedoku-menten sowie der Durchführung von Rückführungs-maßnahmen“ ein, das 2009 13.000 Euro Förderungerhielt. 2011 wurde „Nigeria“ durch „Staaten des west-lichen Afrika“ ersetzt, die Fördersumme stieg auf65.000 Euro.

Gefälligkeiten für die deutsche Abschiebebürokratie

Das Verwaltungsgericht Magdeburg und auch andereVerwaltungsgerichte haben wegen der Tagegeld -zahlungen und erhobener Gebühren schon mehrfachVorführungen vor Delegationen gestoppt. Das VGMagdeburg brachte in einer seiner Entscheidungenzum Ausdruck, dass es „gegen derartige Vorführung -en Bedenken hat, weil es Hinweise darauf gibt, dass

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Für die Delegationen aus Benin, Gambia, Liberia, Mali, Sierra Leone und

Vietnam fielen im Jahr 2011 199.000Euro für Unterkunft, Verpflegung,

Reisekosten, Dolmetscherdienste undVerwaltungskosten an.

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die Vertreter afrikanischer Staaten gegen Bezahlungtätig werden und möglicherweise Gefälligkeits-bescheinigungen ausstellen“ (Beschluss vom 14.Oktober 2011, Az. 5 B 301/11 MD). Doch es geht beiden Sammelanhörungen auch um Gefälligkeiten derbetroffenen Staaten, die sich auf Kosten (auch) ihrerBürgerinnen und Bürger mit einflussreichen EU-Staat-en wie der Bundesrepublik gut stellen wollen. DieKooperation auf den Gebieten Migrationskontrolleund Sicherheit, das haben die west-afrikanischenStaaten und andere am Beispiels Gaddafis lernenkönnen, öffnet auch in vielen anderen Bereichen dieTür zu einer besseren Zusammenarbeit. Nigeriabeispielsweise ist nicht nur (nach Vietnam, das dieStatistik deutlich anführt) Spitzenreiter bei der Zahlvon Vorführungen – etwa 400 in den letzten dreiJahren nach 1.600 im Jahr 2008 –, zu Beginn desJahres hat die Präsidentin der nigerianischen Einwan-

derungsbehörde, stellvertretend auch für Polizei unddie „Nationale Agentur zur Bekämpfung des Men-schenhandels“, ein Kooperationsabkommen mit dereuropäischen Grenzschutzagentur Frontex ge -schlossen. Frontex stellt eigene Expertise auf demFeld der „Grenzsicherung“ zur Verfügung und nigeri-anische Beamte dürfen an Frontex-Operationen undan Grenzübertrittspunkten der EU als Beobachter -innen und Beobachter teilnehmen. Umgekehrt sichertsich Frontex Zugriff auf das Wissen Nigerias um dasMigrationsgeschehen in Westafrika, um die eigenen„Risikoanalysen“ über drohende „Migrationsströme“nach Europa zu verbessern, damit die EU-Staatenrechtzeitig reagieren können – und nicht erst, wenndie westafrikanischen Migrantinnen und Migrantenerst einmal hier und nur noch schwer wieder loszu -werden sind.<

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Dirk Burczyk ist Historiker und

wissenschaftlicher

Mitarbeiter im Büro

von Ulla Jelpke, der

innenpolitischen

Sprecherin der

Bundestagsfraktion

der Linkspartei.

Uwe SchünemannAuf dem Weg zum Lionel Messi der Abschiebeminister. Erhätte maximal Hundertschaftsführer bei der Polizei werdendürfen, schaffte es jedoch zu deren Chef. Immerhin will erbei Terrorgefahr nur Frachtflugzeuge abschießen. Es hätteschlimmer kommen können. Aber falls Al Kaida künftig soetwas benutzt… Hingegen haben seine Drohnen bereitsden Inlandseinsatz hinter sich. Ministerpräsident McAllisterwird den Begriff der Putativnotwehr neu interpretierenmüssen. Er wird keine Chance haben, sich ins Bellevuewegloben zu lassen. Der Begriff Härtefall ist in Niedersach-sen eigentlich durch Schünemann verbraucht.

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Anfang November 2011 forderte die Ausländerbe-hörde Magdeburg mehrere syrische Staatsangehörigezur Vorsprache in der syrischen Botschaft Berlin auf.Dies ist im Hinblick auf die zugespitzte Lage in Syrienund die Gefahr, die von einer Botschaftsvorführungfür die Betroffenen und deren Familien ausgeht, nichtnachvollziehbar.

Botschaftsvorführungen sind Teil des Maßnahmen -katalogs der Ausländerbehörden, um die Identität derhier lebenden Flüchtlinge ohne Passpapierefestzustellen und darauf folgend die Abschiebungdurchzuführen. Hierfür müssen sich die betroffenenFlüchtlinge auf das Hoheitsgebiet des Staates

begeben, vor welchem sie wegen politischer Verfol-gung und der drohenden Gefahr für Leib und Leben,geflohen sind.

Amnesty International veröffentlichte Anfang Oktober2011 einen Bericht, der die Lage der syrischen Staats -angehörigen im europäischen Exil thematisiert. Der Bericht bestätigt, dass in der BundesrepublikDeutschland systematische Überwachungen undBelästigungen von Exil-Syrerinnen und -Syrern durchBotschaftsbeamte und andere Personen, die „offenbarim Auftrag der syrischen Regierung handeln“, statt -finden (Pressemitteilung Amnesty International, Okto-ber 2011). Für in Syrien lebende Familienangehörige

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Auf Teufel komm raus

Mehr als 6.000 Menschen sind dem brutalen Vorgehen der syrischen Staatsmacht zum Opfer gefallen. DieBundesrepublik Deutschland bekundet währenddessen immer wieder ihre Solidarität mit der syrischenBevölkerung – ein bundesweit geltender Beschluss für einen Abschiebestopp bleibt indes aus. Auch derUmgang der Behörden mit in Deutschland lebenden syrischen Flüchtlingen straft die Solidaritätsbekun-dungen lügen. Ein Beispiel aus Sachsen-Anhalt. Von Johanna Strecker.

Foto: Archiv

Schöner Wohnen in SyrienBesenrein ala Assad

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von vermuteten Oppositionellen im Exil, so betontAmnesty, besteht latent die Gefahr der Inhaftierungund Folter. Steht für die syrische Staatsmacht einexilpolitisches Engagement fest, welches, wieFlüchtlingsorganisationen wie Pro Asyl e.V.annehmen, auch nur in der Tatsache der illegalenAusreise und der Stellung eines Asylantrages beste-hen kann, steigert sich die Gefahr politischer Verfol-gung in besonderem Maße. Unverständlicherweiseschafft es die Bundesregierung nicht, angemessen aufdie verheerende politische Situation zu reagieren,einen bundesweiten Abschiebestopp zu erlassen undden Betroffenen dadurch Rechtssicherheit zu geben.Stattdessen werden syrische Flüchtlinge zur Teil-nahme an Botschaftsvorführungen aufgefordert, umihre Abschiebung durchzusetzen.

Syrische Flüchtlinge wehren sich

Ungeachtet der katastrophalen Lage in Syrien wurdeim November 2011 ein Exil-Syrer aus Magdeburg zueiner Botschaftsvorführung vorgeladen. Der betrof-fene Flüchtling stellte einen Eilantrag an die zuständi-ge Ausländerbehörde, in dem er darum bat, von dervorgesehenen Botschaftsvorführung aufgrund derderzeitigen politischen Lage in Syrien abzusehen. Inseinem Schreiben wies er auf persönliche Ängste imUmgang mit der syrischen Auslandsvertretung hinund bekundete seine Sorge um Familienangehörige inSyrien: „Ich habe Angst vor den syrischen Staats-beamten und ich fürchte um meine in Syrien leben-den Freunde und Familienangehörigen, sobald diesyrischen Botschaftsbeamten meine Personalienaufnehmen“.

Magdeburger Ausländerbehörde bleibt uneinsichtig

Doch trotz aller schriftlichen Darstellungen bezüglichder persönlichen Befürchtungen und den Verweis aufden Umgang der syrischen Behörden mit Exil-Syrerin-nen und -Syrern, sah die Ausländerbehörde Magde-burg von einem persönlichen Vorsprechen in derBotschaft nicht ab. „Die politische Situation in Syrienist gegenwärtig nicht ausschlaggebend für die Ausset-zung der geplanten Botschaftsvorführung“, hieß esseitens der Ausländerbehörde, die zudem noch aufihr Recht der zwangsweisen Durchsetzung derBotschaftsvorführung durch Verwaltungsvollzugs-beamte verwies: „Sollten Sie diesen Termin nichtwahrnehmen, wird dies als ein Grund gewertet, derdie Annahme rechtfertigt, dass Sie sich derAbschiebung in ihr Heimatland entziehen wollen.

Dies berechtigt die Ausländerbehörde MagdeburgZwangsgeld bzw. Zwangsmittel anzuwenden (...) DieVerwaltungsvollzugsbeamten sind berechtigt, zurDurchsetzung ihrer Anordnungen unmittelbarenZwang anzuwenden“.

Erst die Eilanträge an das Verwaltungsgericht Magde-burg und die darauf folgende richterliche Entschei-dung konnten die Botschaftsvorführungen vorerstaussetzen und die Betroffenen aufatmen lassen.Syrischen Staatsangehörigen ist die Vorsprache in dersyrischen Botschaft aus den oben genannten Gründennicht zuzumuten. Dies hätte auch den Ausländerbe-hörden klar sein müssen. Schließlich hatte das Minis-terium des Inneren Sachsen-Anhalt bereits im Mai2011 darum gebeten, von Abschiebungen nach Syrienabzusehen. Am 16. Februar 2012 erhielten die Auslän-derbehörden Sachsen-Anhalts nun die längst überfäl-lige aber erfreuliche Handlungsanweisung, vonBotschaftsvorführungen auf syrischem HoheitsgebietAbstand zu nehmen.<

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Johanna Streckerarbeitet im Flücht-

lingsrat Sachsen-

Anhalt e.V.

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Dass mehrere Staaten gemeinsam abschiebenist kein Phänomen der jüngeren europäischenEntwicklung. Bereits zwischen 1995 und 1997

fanden verschiedene, gemeinsam durchgeführteAbschiebungsflüge statt, organisiert von den Nieder-landen, Frankreich und Deutschland. Dabei über-nahm der jeweils organisierende Staat auch die Ver-antwortung für den Flug und gab die Regeln vor,nach denen die abzuschie benden Personen behandeltwerden sollten. Dieses Prinzip hat bis heute grund -sätzlich seine Gültigkeit behalten.

Die sehr unterschiedlichen nationalen Vorge-hensweisen stellten sich als problematisch für denAusbau der Zusammenarbeit dar. Deswegen suchtendie Mitgliedstaaten nach Möglichkeiten, sich aufeinan-der abzustimmen. Eine Arbeitsbesprechung im Jahr2001 zwischen den Benelux-Staaten und der Bun-desrepublik Deutschland führte zur Erarbeitung einersogenannten „Checkliste zur Planung und Durch-führung von Chartermaßnahmen“, gewissermaßendem Grundstein gemeinsamer Abschiebungs -regelungen. In den Folgejahren gab es immer wieder

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FRONTEXAuf dem Weg zur „all inclusive“-Abschiebung

Gemeinsame Sammelabschiebungen europäischer Staaten – sogenannte Eurocharter – sind ein Bausteinder Europäischen Abschottungspolitik. Zusammen mit dem Ausbau der Abwehr von Flüchtlingen an denAußengrenzen und der immer restriktiver werdenden Flüchtlings- und Migrationspolitik innerhalb derEuropäischen Union dienen diese Eurocharter dazu, ein gemeinsam vereinbartes Grenz- und Ab -wehrregime mit großem finanziellen Aufwand durchzusetzen. Von Uli Sextro

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…von führenden EU-Kommissarinnen und -Kommissaren empfohlen

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Initiativen und Vorstöße, die eine Vereinheitlichungder Vollzugspraxis zum Ziel hatten. Alle Vereinbarun-gen waren jedoch allgemein und unverbindlich.

Von der Grenzschutzagentur zur Agentur für Zwangsreisen

Im April 2004 beschloss der Europäische Rat dieOrganisation von Sammelflügen zur Abschiebung„illegal aufhältiger Drittstaatenangehöriger“. Mit demAufbau der europäischen „Grenzschutzagentur“FRONTEX im selben Jahr nahm die Entwicklunggemeinsamer europäischer Abschiebungsmaßnahmendann rasant zu.

Im Jahr 2006 führten EU-Mitgliedstaaten insgesamtvier1 gemeinsame Chartermaßnahmen durch, die allevon FRONTEX unterstützt wurden. Am ersten Charterim April – ein Flug nach Georgien und Armenien –nahmen neben Österreich, das die Abschiebunganleitete, Polen und Frankreich teil. Drei weitereCharters sollten folgen, zwei davon aus Deutschland.Im gleichen Jahr nahm auch ICONet als eine ArtFlugbörse seine Arbeit auf. ICONet bietet ein web-basiertes Informations- und Koordinierungsnetz fürdie Migrationsbehörden der Mitgliedstaaten. Die Mit-gliedstaaten informieren FRONTEX über bevorste-hende Flüge und freie Kapazitäten. Diese Informatio-nen verteilt FRONTEX dann via ICONet an die Mit-gliedstaaten unter Nennung der Destination, ohnejedoch für die Abwicklung der Maßnahmen verant-wortlich zu sein. Die Agentur hatte zu diesem Zeit-punkt der Entwicklung nur einen Beobachterstatusbei den Sammelabschiebungen!

2007 wurde die Zahl der gemeinsamen Abschiebun-gen auf zehn Flüge gesteigert: dabei wurden insge-samt 387 Personen nach Westafrika (Kamerun,Ghana, Togo, Nigeria, Benin), Südamerika (Ecuador,Kolumbien) und die Balkanregion (Kosovo, Albanien)abgeschoben. Organisiert wurden diese Flüge vonDeutschland (3), Italien, Spanien, Niederlande (je 2),Großbritannien und Österreich (je 1). Erstmalsbeteiligte sich die Europäische Union mit finanziellenMitteln aus dem sogenannten RETURN-Programm.Durch die Kofinanzierung der gemeinsamen Charter-abschiebungen wollte die EU die Bildung einerGruppe von Kernländern erreichen, die überErfahrungen in der Organisation gemeinsamer odergroßangelegter Maßnahmen verfügt. Sie sollte, zusam-men mit FRONTEX, eine leitende Rolle bei zukünfti-gen, europäischen Maßnahmen einnehmen. Erstmalswurde ein Jahresplan für geplante nationale undgemeinsame Rückführungsaktionen erstellt. So wuchs

FRONTEX in seine koordinierende Rolle bei derAbwicklung der Eurocharter hinein.

2008 wurden insgesamt 15 Sammelabschiebungendurchgeführt, bei denen rund 800 Personen2 abge-schoben wurden. Das ist eine Verdoppelung im Ver-gleich zum Vorjahr. Bis 2007 deckte FRONTEX 70%der ausgewiesenen Kosten; danach übernahm dieGrenzschutzagentur 100% der Kosten.3 Diese Entwik-klung lässt sich auch an den Zahlen von FRONTEXim Rückführungsbereich ablesen: betrug das Budgetim Jahr 2007 noch 600.000 Euro, so stieg es 2008 auf2.560.000 Euro. 2009 erhielt FRONTEX ein Budgetvon 5.250.000 Euro. Das stellt eine Budget-Steigerunginnerhalb von drei Jahren um 875% dar.4

Der Abschiebungsveranstalter

2009 verdoppelte sich die Anzahl der Charterab-schiebungen und die Anzahl der abgeschobenen Per-sonen erneut. In 32 Sammelabschiebungen wurdeninsgesamt 1.622 Menschen aus Europa rückgeführt.Durchschnittlich 50 Personen pro Flug. DieAbschiebungen gingen wie schon die Jahre zuvornach Westafrika, Südamerika, in die Balkan- und dieKaukasusregion. Protagonist der gemeinsamen Char-terabschiebungen war nicht wie sonst Deutschland,das nur eine gemeinsame Abschiebung verantwortete,nicht die Niederlande oder Frankreich mit jeweilszwei Charterabschiebungen, sondern Österreich, dasbei elf organisierten Eurochartern die Federführungübernahm.

Diese Tendenz setzte sich auch im Folgejahr fort:2010 fanden 38 Eurocharter-Abschiebungen statt. Dassind mehr als drei Sammelabschiebungen pro Monat.Davon wurden zwölf Eurocharters von Österreich ausorganisiert. „Schließlich darf jedes Land, das den Sam-melflug organisiert, die Hälfte der Sitzplätze belegen,ohne dafür auch nur einen Cent zu bezahlen. Ma -schine, Pilot, Start- und Landegebühren – Frontexzahlt alles. Nur die Gehälter der Begleitbeamtenbelasten das [nationale] Budget.“5 In diesen Kostensind nicht enthalten: kleine Starthilfen für die Ab -zuschiebenden für die ersten Tage nach der Ankunftoder gar Reintegrationshilfen.

Am 28.09.2010 führte FRONTEX gemeinsam mitPolen erstmalig einen eigenen Charter durch. „Fürdiese Rückführungsaktion wurde erstmals einFlugzeug eingesetzt, das nach einem umfassendenAusschreibungsverfahren direkt von FRONTEXgechartert worden war.“6

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Der nächste Schritt war getan, von der Reiseagenturzum verantwortlichen Reiseveranstalter. Laut FRON-TEX beliefen sich die Kosten 2010 auf insgesamt8.525.782 Euro. Alleine die drei umstrittenen Charter-abschiebungen in den Irak, die alle von Schwedenorganisiert wurden, kosteten knapp eine MillionEuro.7

Super Service für die Mitgliedstaaten

Neben der Koordination und Organisation von Flü-gen engagiert sich FRONTEX auch bei der Identi-fizierung von „ausreisepflichtigen Drittstaatenange-hörigen“ und unterstützt die Mitgliedstaaten bei derPassersatzpapierbeschaffung. Beispielhaft sei hier dasFRONTEX Projekt „Mekong“8 genannt. 2008 wurdenGespräche mit der Volksrepublik Vietnam aufgenom-men, um die bislang sehr komplizierte Abschiebungvon vietnamesischen Staatsangehörigen zu opti-mieren. Dafür wurde eine Delegation der vietname-sischen Regierung eingeladen, der in Deutschlandund Polen Personen zur Befragung vorgeführt wer-den konnten. Nach diesen Interviews undentsprechender Identifizierung stellte Vietnam Passer-satzpapiere aus. Am 08.06.2009 flog ein gemeinsamerdeutsch-polnischer Charter, unterstützt von FRONTEX,112 identifizierte Personen nach Vietnam aus. Weiterefolgten.

Im Januar 2012 schloss FRONTEX mit den nigeria -nischen Einreisebehörden ein Abkommen ab. Zieldieses Abkommens ist die Verbesserung des Informa-tionsaustausches, Auf- und Ausbau von Kooperatio-nen zwischen FRONTEX und den nigerianischenBehörden sowie die Initialisierung von gemeinsamenPilotprojekten. Nigerianische Stellen sollen künftigverstärkt in die Planung von Eurochartern eingebun-den werden. Behördenvertreter aus Nigeria könnensowohl eingeladen werden, an FRONTEX-Einsätzenals Beobachter teilzunehmen, als auch dieMöglichkeit nutzen, Vertreter ihrer nationalen Grenz -polizei zu FRONTEX-Stützpunkten an den EU Außen-grenzen zu schicken.9

Die beiden Beispiele zeigen exemplarisch, wasFRONTEX noch bieten kann. Es ist vorstellbar, dassFRONTEX in nicht allzu ferner Zukunft ein „all inclu-sive“-Packet für die Mitgliedstaaten anbietet, angefan-gen von der Unterstützung bei der Passersatzpa-pierbeschaffung über Flugplanung und -abwicklungbis hin zur Übergabe an die zuständigen Stellen inden Herkunftsländern.

Abschiebung „all inclusive“

Die rasante Entwicklung von FRONTEX im Bereichder Eurocharter hat für die beteiligten Staaten einennicht zu unterschätzenden Mehrwert:Insbesondere die kleineren Staaten werden von derrecht komplizierten und kostspieligen Organisationder Abschiebungen befreit. Über ICONet wirdgebucht, den Rest organisiert der „Reiseveranstalter“,der zudem das Ganze dann auch noch bezahlt.

Durch die sukzessive Übertragung von Kompetenzenan FRONTEX wird auch die Verantwortung delegiert.Derzeit gibt es in der Regel noch einen federführen-den Staat. Es ist jedoch zu erwarten, dass FRONTEXmehr Aufgaben übernimmt und damit an Präsenzgewinnt. Die Handlungen der abschiebenden Staatenselbst treten dann immer mehr in den Hintergrund.

Der größte Nutzen für die Mitgliedstaaten ergibt sichaber durch den Verhandlungsdruck, der sich in derGemeinschaft gegenüber „problematic third countries“ausüben lässt. Viele, gerade afrikanische Länder,haben sich lange geweigert, eigene Staatsangehörigein größeren Kontingenten wieder aufzunehmen.Gemeinsam mit einer immer effektiver arbeitendenAbschiebungsagentur haben die EU Staaten das poli-tische und wirtschaftliche Gewicht auch Sammelab-schiebungen durchzusetzen, die über Jahre hinwegunmöglich schienen, wie es das Beispiel derAbschiebungen in die Demokratische RepublikKongo eindrücklich zeigt.

Zwangsreisende ohne Schutz

Arbeitspensum und Einfluss der vor gut sieben Jahrenins Leben gerufenen Grenzagentur nimmt auch imBereich der gemeinschaftlichen Charterabschiebungenkontinuierlich zu. Wie kann aber sichergestellt wer-den, dass die Menschenrechte der Abzuschiebendengewahrt bleiben, wenn die Abschiebungsflüge unterimmer größerem Einfluss von oder ausschließlichdurch FRONTEX verantwortet werden? Wie sieht esmit der Transparenz der Maßnahmen aus? SpielenMenschenrechtsschulungen in der Ausbildung derBegleitbeamten eine Rolle und werden sie bezüglichetwaiger eskalierender Situationen während derAbschiebungen geschult? Auch bei den einzelnen Mit-gliedstaaten besteht in diesem Bereich ein gewaltigerHandlungsbedarf, wie nicht zuletzt die beiden Todes-fälle in der Schweiz im Februar 2010 und in Großbri-tannien im Oktober 2010 zeigen.

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Der Todesfall in Großbritannien ist unter anderemdeshalb so schockierend, weil die abzuschiebendePerson am sogenannten PA-Syndrom, das heißt amTod durch Erstickung, gestorben ist. Dieses Syndromist seit über 15 Jahren bekannt. Die Gefahren desSyndroms sollten als Standardausbildungsinhalt fürPersonen, die Abschiebungen vollziehen, längst obli -gatorisch sein. Die Kenntnis darüber war bei den fürdie Abschiebung eingesetzten Mitarbeitern eines pri-vaten Sicherheitsdienstes offenbar nicht vorhanden.

Wenn gemeinsam abgeschoben wird, dann sollte esauch gemeinsame und vor allen Dingen verbindlicheStandards und Schutzmechanismen geben. Es mussgemeinsame Ausbildungsvorgaben geben undgemeinsame Vorgaben, was an unmittelbarem Zwangund Zwangsmitteln erlaubt ist und vor allen Dingen,was eben nicht. Damit haben sich die beteiligtenStaaten aber über viele Jahre hinweg sehr schwergetan und haben eigene Vorgaben und Vorge-hensweise – auch bei gemeinsamen Chartermaßnah-men – beibehalten. Ein solches Vorgehen beiminnereuropäischen Tiertransport wäre wohlundenkbar!

Wohin geht diese Entwicklung?

In den letzten zwei bis drei Jahren haben sich auchpositive Entwicklungen gezeigt, die nicht zuletzt mitder Weiterentwicklung der Grundlagen für dieArbeit von FRONTEX zusammenhängen. Zu nennensind beispielsweise die „Best Practices“10

von FRONTEX aus dem November 2009, die Rück-führungsrichtlinie, die sich mit Abschiebungenauseinandersetzt, die überarbeiteten FRONTEX-Verordnungen11 und der „Code of Conduct“12. Hier „finden sich unter anderem Regelungen zurWahrung der Menschenwürde sowie Verhaltensstan-dards, welche für die teilnehmenden Mitgliedstaatenverbindlich sind.“13

Wie wird die Durchsetzung dieser durchaus positivenVorgaben und Verhaltensweisen sichergestellt? Inallen Dokumenten wird von einem „effective forced-return monitoring system“ gesprochen, so wie es inArt. 8 Abs. 6 der Rückführungsrichtlinie gefordertwird. Was aber darunter zu verstehen ist, bleibt wei -ter nebulös. Innovative Ansätze einer beispielsweiseunabhängigen Beobachtung, so wie sie seit überzehn Jahren in Deutschland praktiziert wird, wird ge -rade durch die Deutsche Regierung auf EuropäischerEbene behindert. Auf bundesdeutscher Ebene habendie Regierungsfraktionen im Bundestag verhindert,dass das bisher praktizierte Modell als Implemen-

tierung des Art. 8 Abs. 6 Rückführungsrichtlinie inter-pretiert werden kann.14

Dabei wird eine unabhängige Beobachtung vonunterschiedlichen Seiten durchaus befürwortet. DerEuroparat beschrieb in seinen „20 Guidelines“ von2005 ein unabhängiges Überwachungssystem. DieKommission sprach sich in der Diskussion um dieUmsetzung der Rückführungsrichtlinie für ein unab-hängiges Beobachtungssystem aus und nannte dieAbschiebungsbeobachtung in Deutschland als gutesBeispiel dafür. Im Rahmen der Verhandlungen zurVeränderung der FRONTEX-Verordnung forderte dasEuropäische Parlament unabhängige Beobach-tungsstrukturen einzuführen. Selbst innerhalb vonFRONTEX stand man einem unabhängigen Monitor-ing positiv gegenüber. Durchgesetzt haben sichderzeit leider aber wieder jene, die Transparenz unddamit effektiven Menschenrechtsschutz offensichtlichfürchten und ihn mit vorsätzlichem Verhindern vonAbschiebungsmaßnahmen gleichsetzen. Dass es hierdarum überhaupt nicht geht und gehen kann – dasist den Verantwortlichen auf Brüsseler und bundes-deutscher Regierungsebene bislang noch nicht klar.<

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Uli Sextro ist Politologe und

Abschiebungs-

beobachter

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1 Alle Zahlenangaben,

soweit nicht anders

angegeben, stützen

sich auf offizielle

Angaben von FRON-

TEX, siehe FRONTEX

Website und FRON-

TEX Jahresberichte.

2 David Cronin: „Zahl

der Abschiebungen

nimmt zu – EU-

Grenzbehörde in der

Kritik“. Aus: www.ips-

news.de, Beitrag vom

25.01.2010.

3 Vgl. BT Drucksache

17/7089.

4 Activities of Frontex

in the field of return.

GDISC Returns Con-

ference, Hungary, 28-

30 October 2009,

Powerpoint Presenta-

tion, Budget 2005 –

2010.

5 Zeit online, 19.

August 2010, „Dreh-

kreuz der Hoffnungs-

losigkeit“.

6 FRONTEX Jahresbe-

richt 2010, S. 27.

7 Zwischen Januar

und September 2011

erfolgten 24 Euro -

charter. Hauptdesti-

nation war Nigeria

mit 11 Abschiebungs-

flügen. Der FRONTEX

Jahresbericht 2011

erscheint im April

2012.

8 Activities of Frontex

in the field of return.

GDISC Returns Con-

ference, Hungary, 28-

30 October 2009,

Powerpoint Presenta-

tion, Sharing of third

countries delegations

(“Task Forces”).

9 Vgl. Presseerklärung:

FRONTEX signs Wor-

king Arrangement

with Nigeria, vom

19.01.2012.

10 Best Practices for

the Removal of Illegal-

ly Present Third-

country Nationals by

Air. Warsaw, Novem-

ber 2009.

11 Regulations (EU) No

1168/2011 of the Euro-

pean Parliament and

the Council of 25

October 2011 amen-

ding Council Regula-

tion (EC) No

2007/2004 establishing

a European Agency for

the Management of

Operarional Coopera-

tion at the External

Borders of the Member

States oft the European

Union.

12 Code of Conduct for

all persons participa-

ting in Fontexx Acti-

vities.

13 BT Drucksache

17/7089, Deutsche

Beteiligung an FRON-

TEX Abschiebungen,

Antwort zu Frage 12.

14 Einen guten Über-

blick über den derzei-

tigen Stand der

Diskussion bietet der

Artikel von Nele Allen-

berg und Eva Kübl-

beck, ZAR 9/2011, S.

304 – 310.

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Die Familien Salame und Siala gehören derMinderheit der Mhallami an. Viele Angehörigedieser ursprünglich aus der Türkei stam-

menden arabischen Minderheit flohen ab 1920 vorder aggressiven Türkisierungspolitik unter Atatürk inden Libanon. Im Zuge der Eskalation des libanesisch -en Bürgerkriegs suchten in den 1980er Jahren vieleMhallami-Familien erneut ihr Heil in der Flucht. Auchden Familien Salame und Siala gelang es Mitte der80er Jahre, der „Hölle von Beirut“ zu entkommen. Als„staatenlose Kurden“ erhielten beide Familien hier imRahmen der niedersächsischen Bleiberechtsregelungvon 1990 ein Aufenthaltsrecht.

Gazale Salame und Ahmed Siala waren zum Zeit-punkt ihrer Flucht sechs und sieben Jahre alt. Sieabsolvierten in Deutschland die Schule, lernten sichkennen und lieben und gründeten eine Familie.Wahrscheinlich wären sie längst eingebürgert, wennder Landkreis Hildesheim ihnen – wie andere Auslän-derbehörden in vergleichbaren Fällen – ihr Auf -enthalts recht weiter verlängert hätte. Der LandkreisHildesheim jedoch witterte Betrug: In den Jahren2000 und 2001 präsentierte er Auszüge aus demtürkischen Personenstandsregister der 70er Jahre, diebelegen sollten, dass die Väter beziehungsweiseGroßväter von Ahmed Siala und Gazale Salame in derTürkei registriert worden sind und daher (auch) dietürkische Staatsangehörigkeit besäßen. Unter Bezug-nahme auf diese Unterlagen verweigerte der Land-

kreis Hildesheim die Verlängerung der Aufenthaltser-laubnis und drohte beiden Bürgerkriegsflüchtlingensamt ihren Kindern die Abschiebung an.

Ausländerbehörde reißt die Familie auseinander

Am 10. Februar 2005 ließ die Ausländerbehörde diezu diesem Zeitpunkt 24 Jahre alte Gazale Salame indie Türkei abschieben. Die Polizei überraschte dieschwangere Frau in ihrer Wohnung, während ihr Ehe-mann gerade die Töchter Nura, 6 Jahre, und Amina, 7Jahre, zur Schule brachte. Gazale kam zunächst beientfernten Bekannten der Eltern in Izmir unter. Untererbärmlichen Umständen brachte sie am 31. August2005 ihren Sohn Gazi zur Welt.

Ahmed Siala, der in Deutschland mit großen Begrif -fen wie Demokratie und Rechtsstaat aufgewachsenist, entschloss sich, nicht klein beizugeben und fürseine Rechte und die seiner Familie zu kämpfen. Am21. Juni 2006 entschied das Verwaltungsgericht Han-nover zu seinen Gunsten: „Das ist sehr dünn“, urteilteder vorsitzende Richter über die vom Landkreisangege benen Gründe für den Entzug der Aufenthalts -erlaubnis und verwies darauf, dass die Familie Sialaaufgrund der vorgelegten Dokumente seit Anfang der1950er Jahre im Libanon gelebt hatte.

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Hildesheimer Rassenkunde

Darf Bürgerkriegsflüchtlingen aus dem Libanon, die 17 und 26 Jahre in der Bundesrepublik Deutschlandleben und hier eine Familie gegründet haben, unter Hinweis auf angebliche türkische Vorfahren dasAufenthalts recht entzogen werden? Der Fall der Familie Siala-Salame aus Schellerten bei Hildesheim bieteteinen tiefen Einblick in die Abgründe deutscher Ausländerpolitik. Von Kai Weber

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Kinder haften für ihre Eltern

Am 2. Oktober 2007 hob das niedersächsischeOberverwaltungsgericht diese Entscheidung jedochwieder auf und erklärte die Verweigerung einer Auf -enthaltserlaubnis für Ahmed Siala mit der Begründungfür rechtmäßig, Ahmed Siala habe türkische Vorfahrenund ihm sei diese Tatsache bekannt gewesen. Daherhabe er entweder versucht die Ausländerbehörde inBezug auf seine Herkunft zu täuschen oder er müssesich eben für die entsprechenden Handlungen seinerEltern verantworten. Das Bundesverwaltungsgerichtkorrigierte am 27.1.2009 die Entscheidung des nieder-sächsischen Oberverwaltungsgerichts und wies denFall unter Bezugnahme auf die Europäische Menschen-rechtskonvention zum Schutz des Privatlebens Artikel 8zur erneuten Beratung an das Oberverwaltungsgerichtzurück. In der mündlichen Verhandlung drängteGerichtspräsidentin Eckertz-Höfer darauf, Ahmed Sialanach den Vorgaben der Europäischen Menschenrecht-skonvention Art. 8 und der Rechtsprechung desEuropäischen Gerichtshofs für Menschenrechte dieerstrebte Aufenthaltserlaubnis zu erteilen, um weiterejahrelange Rechtsstreitigkeiten zu vermeiden.

Härtefallkommission entscheidet gegen Familienzusammenführung

Um das nun schon acht Jahre dauernde Verfahrenabzukürzen und endlich eine Entscheidung her-beizuführen, die Gazale Salame eine Rück-kehrmöglichkeit verschaffen würde, entschloss sich dieFamilie, einem mit dem Innenministerium ausgehan-delten Kompromiss zur Ermöglichung einer politischenLösung über die niedersächsische Härtefallkommissionzuzustimmen. Sollte diese eine Annahme empfehlen,würde der niedersächsische Innenminister sich derErteilung einer Aufenthaltserlaubnis nicht widersetzen.Der Versuch, die Tragödie der Familie durch diesenpolitischen Deal endlich zu beenden, endete jedoch ineinem Fiasko: Von den sieben anwesenden Mitgliedernder Härtefallkommission stimmten in der entscheiden-den Sitzung im Frühsommer 2011 vier für eineAnnahme des Falls, zwei stimmten dagegen, ein Mit-glied enthielt sich der Stimme. Das erforderliche posi-tive Quorum von mindestens zwei Drittel der anwe-senden Mitglieder war damit knapp verfehlt.

Nicht im Bild:Gazale Salame...

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Fotos: Flüchtlingsrat Niedersachsen

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Kai Weber arbeitet für den

Flüchtlingsrat

Niedersachsen

Neue Kampagne für Gazale Salame

Da weder beim Landkreis Hildesheim noch beimniedersächsischen Innenministerium die Bereitschaftzu erkennen war, in dem Fall eine politische Lösungdoch noch zu erreichen, wurde 2011 eine neue Kam-pagne zur öffentlichen Skandalisierung dieses fürAußenstehende absurd anmutenden Falls gestartet.Dabei ging das Unterstützungsgremium in seinerArgumentation zurück auf die Ausgangsfragen derAuseinandersetzung:

> Was haben die in Beirut geborenen, im Alter vonsechs und sieben Jahren mit ihren Familien nachDeutschland geflohenen Flüchtlinge Ahmed Siala undGazale Salame mit der Türkei zu tun?

> Werden der verfassungsmäßige Grundsatz der Ver-hältnismäßigkeit und die Europäische Men schen -rechts konvention beachtet, wenn hier aufgewachseneKinder nach jahrzehntelangem Aufenthalt in Deutsch-land für angebliche Fehler ihrer Eltern bestraft und inein ihnen unbekanntes Exil – die Türkei –abgeschoben werden?

> Warum spielt das Wohl der Kinder von Ahmed Sialaund Gazale Salame für das behördliche Handelnkeine Rolle?

Familienstammbäume oder die völkischen Methoden der Ausländerbehörde

Der Entzug des Aufenthaltsrechts für die hieraufgewachsenen, jahrzehntelang in Deutschland

lebenden Bürgerkriegsflüchtlinge unter Bezugnahmeauf das angebliche Herkunftsland ihrer Großelternträgt völkisch-rassistische Züge. Für die zuständigeAusländerbehörde spielt es keine Rolle, wo dieBetroffenen sich zu Hause fühlen und ihren Lebens-mittelpunkt haben, entscheidend soll vielmehr sein,ob alte Registerauszüge die Abstammung von Staats -angehörigen eines anderen Landes belegen. ZurDurchsetzung dieser Politik wurde die Familie durchAbschiebung getrennt, Gazale Salame in die Türkeiverbannt, die Kinder traumatisiert und um ihr Rechtauf Erziehung und Fürsorge durch beide Elterngebracht.

Die Tragödie Siala-Salame – ein Schrecken ohne Ende?

Die Verantwortlichen im Landkreis Hildesheim, diedie Abschiebung von Gazale Salame im Jahr 2005angeordnet haben, sind bis heute in ihren Funktio-nen. Sie werden vom Landrat und dem niedersächs -ischen Innenministerium politisch gedeckt und führenein Rückzugsgefecht um jeden Meter. Aber es gibtseit sieben Jahren auch einen bemerkenswertenWiderstand und ein nicht nachlassendes öffentlichesInteresse an dem Fall. Rund 1.500 Menschen,darunter Prominente von Herta Däubler-Gmelin überGünter Grass, Lothar Krappmann, Prof. Dr. KlausBade, Wilhelm Schmidt und viele andere, habeneinen neuen, von Heiko Kauffmann von Pro Asyl ini-tiierten Aufruf unterschrieben. Dieser klagt die offen-sichtliche Verletzung der Kinderrechtskonventionsowie der Europäischen Menschenrechtskonventionim Fall der Familie Siala-Salame an und fordert, Gaza-le Salame die Rückkehr zu ihrer Familie zuermöglichen.

Es gibt Hoffnung, dass die schreckliche Tragödie derFamilie bald ein Ende findet. Die älteste TochterAmira wird im April 15 Jahre alt und kann dann einAufenthaltsrecht nach § 25a AufenthG beanspruchen.Möglicherweise wird dann endlich auch GazaleSalame die Rückkehr zu ihrer Familie erlaubt. Ob dievon der Schünemann’schen Politik zu verantwor-tenden Verletzungen an Leib und Seele sich je wiederverheilen lassen, ist zu hoffen. Die Geschichte derFamilie wird uns in jedem Fall erhalten bleiben – alsexemplarisches Beispiel dafür, wie viel Unmen-schlichkeit unser Rechtssystem zuzulassen bereit ist.<

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Fotos: Flüchtlingsrat Niedersachsen

Mit drittem Kind in der Türkei: Wo Gazale vorher nie war und nie hin wollte.

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Vater und Kinder werden morgens um vier ausden Betten geholt und gewaltsam in einenTransporter gedrängt. Die Mutter, nach einem

Suizidversuch wegen Abschiebedruck in stationärerBehandlung, holt ein weiteres Polizeiteam aus derPsychiatrie und verfrachtet sie in einen zweitenTransporter. Am Flughafen erleidet sie einen Zusam-menbruch, als Beamte der Landespolizei sie zumFlugzeug schleifen wollen. Vater und Kinder müssen

dies vom verschlossenen Transporter aus mit anse-hen. Die Fluggesellschaft verweigert den Transport.Die Familie wird zurückgefahren in RichtungUnterkunft. Unterwegs wird umdisponiert. Die zen-trale Rückführungsstelle beschließt einen weiterenAbschiebeversuch. Die Behörden chartern dafür extraeine Privatmaschine. Am Nachmittag wird die Familieeinem Amtsrichter vorgeführt. Die Zeit drängt, dieAbschiebefrist muss verlängert werden. Gegen Abendzerren Beamte die Familie in den Charterjet. UnterBewachung und Begleitung durch einen Arzt wird sienach Ljubljana geflogen und dort nachts den Behör-den und einem Flughafenarzt übergeben.

So geschehen mit Familie Avdija und geschildert inder Geburtsnummer des Hinterland Magazins. DerBayerische Flüchtlingsrat reiste der Familie hinterher,sprach mit den Eltern und den Kindern, organisierteund unterstützte die Betreuung der Familie vor Ort,und blieb eine Weile weiter in Kontakt.

Dies ist eine Ausnahme. Die Abschiebung bedeutetemeist, dass der Kontakt zu Abgeschobenen abriss,dass sich Unterstützende anderen, dringenden Fällenzuwandten. Die Verhinderung von Abschiebungenwurde vielleicht auch mit solch verzweifelter Energieangegangen, weil mit der Abschiebung meist einendgültiger Schnitt vollzogen war: nicht nur warendie Abgeschobenen gewaltsam ihrer mühselig aufge-bauten Normalität entrissen und in einem anderenLand abgeladen worden; auch für Unterstützende wardies ein meist endgültiger Schnitt. Familienangehörigewaren nicht bekannt, Mobiltelefonnummern funktion-ierten nicht, oft führte eine Inhaftierung derAbgeschobenen im Herkunftsland zum endgültigenVerlust der wenigen mitgenommenen Habe und zumVerschwinden des Menschen aus dem westlichenBlickfeld. Eine Rückkehr war unmöglich. Selbst inFällen, wonach die Unrechtmäßigkeit einerAbschiebung gerichtlich festgestellt wurde, stellten

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Bittere Pille danach

Nach der Abschiebung verloren lokale Flüchtlingsorganisationen in der Regel die Spur zu den Betroffenen.Abgeschobene standen vor dem „Nichts“. Doch Flüchtlingsorganisationen holen auf – wenn auch mit Ver-spätung. Ein Beitrag zur Globalisierung der Auseinandersetzung und für ein entschlossenes Nachfassen.Von Stephan Dünnwald.

Fotos: Stephan Dünnwald

Happy End?Der harte Kampf der Familie Avdija

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sich Behörden so lange quer, bis die Kräfte derer, diesich um eine Rückkehr bemühten, erlahmt waren.Die Energie, die manche Behörden in Abschiebe-prozeduren entfalteten, auch über die Grenzen derLegalität und der legitimen Gewaltanwendung hinaus,vermittelte bisweilen den Eindruck, dass eine vollzo-gene Abschiebung neben der behördlichen Prozedurauch eine starke Note persönlicher Befriedigungenthält.

Global Games

So sehr sich Abschiebeapparat und Abschiebegegner-schaft auf nationalem Terrain unversöhnlichgegenüberstehen, Abschiebeprozeduren überschreitenlängst das Gebiet des Nationalstaats, haben sicheuropäisiert bzw. transnationalisiert. Es wurdenzahlreiche Instrumente eingeführt, die ein heutegrenz überschreitendes Migrationsregime installierten.Mindeststandards zum Schutz von Migrantinnen undMigranten vor Behörden blieben dagegen unter -entwickelt. Im Verlauf der letzten Jahre haben dieEuropäische Union und einzelne Mitgliedstaatenzahlreiche Abkommen mit Anrainerstaaten in Osteu-ropa und im südlichen Mittelmeerraum getroffen, diediese Staaten in die Abwehr von Einwandernden ein-beziehen, und im Gegenzug für Arrestation undInternierung von Europa Ausrüstung und Entwick-lungshilfegelder bekommen. Vereinbarungen, die dieRückübernahme von Abgeschobenen auch aus soge-nannten Drittländern festschreiben, gehören in -zwischen zum festen Repertoire aller EU-Verträge mitTransit- oder Herkunftsstaaten. Sogenannte Interna-tionale Verbindungsbeamte sind nicht nur in denAnrainerstaaten der EU stationiert, um Migra-tionswege und -strategien auszukundschaften, son-dern auch in entfernteren Transitstaaten wie zumBeispiel Senegal oder Mali.

Eine ähnliche Ausdehnung in Richtung Herkunftslandhaben indessen auch, mit einer gewissen Verzögerung,soziale und politische Initiativen aus dem Feld derZivilgesellschaft unternommen. Dazu trugen erste Pro-jekte bei, die vor allem in die östlichen Nachbarländerführten. Die „Forschungsgesellschaft Flucht und Migra-tion“, besser bekannt als FFM, unternahm Reisen nachPolen oder Tschechien, wo sie das Verhalten deutscherGrenzbeamter von außen betrachtete und auch dieBemühungen der Nachbarländer, durch rigide Migra-tionskontrolle die europäischen Wünsche an Nachbarnund Beitrittskandidaten zu erfüllen. Exzellente Berichte„Vor den Toren der Festung Europa“, die anfangs nochleicht exotisch wirkten, waren die Resultate1.Auf dem Weg zum Deportation Monitor

In den späten 1990er Jahren gab es verschiedeneVorstöße von Pro Asyl und ECRE, dem „EuropäischenFlüchtlingsrat“, Kontakte in die künftigen Beitrittslän-der aufzubauen und Netzwerke zu schaffen. DieseAnsätze führten nicht zu stabilen Beziehungen, aberdoch zu Kontakten, die in dringenden Fällen aktiviertwerden konnten. Vor allem aber erweiterten sie denHorizont. Flüchtlingsarbeit war praktisch noch kaumgrenzüberschreitend, aber man begann sich so etwasvorstellen zu können. Ist eine Reise nach Sri Lankaoder Jemen auch eine Frage der Finanzen, so sindgerade bei Dublin II-Abschiebungen die Wege oftkurz. Ein Nachtzug nach Ljubljana, ein Flug nachPrag, Prishtina oder Athen, eine Couch bei Freundin-nen und Freunden oder Partnerorganisationenermöglichen Recherchen und erweiterten das prak -tische Wissen um Zustände in den europäischen Mit-gliedstaaten. So ist es heute üblich, über Lager anden Rändern Europas, Ukraine, Türkei oderGriechenland, umgehend informiert zu werden. Wennauch das Gros der Mailinglisten und Internetseitensich eher dem Her als dem Hin widmet, so sindAbschiebungen und Situation der Abgeschobenendoch auch Gegenstand. Das Roma Ashkali Documen-tation Centre in Prishtina unternahm Recherchen undBerichterstattung über Abgeschobene im Kosovo undSerbien, Pro Asyl oder Medico International fördernOrganisationen von Menschenrechtlerinnen und Men-schenrechtlern und Abgeschobenen in Westafrika. Esist mittlerweile möglich, auf das Wissen von Netz -werken zugreifen zu können, die sich bis nach Ost-und Südosteuropa erstrecken oder bis ins subsa-harische Afrika.

Mit dem Tod ist alles aus …

… auch der Tod? Diese Frage Tucholskys mal beiseitegelassen: Die Abschiebung beendete in aller Regelnicht nur den Aufenthalt, sondern auch das Wissenum das Danach. Was während und nach derAbschiebung passiert, entzog sich lange Zeit derWahrnehmung von Flüchtlingsunterstützern und Men-schenrechtsinitiativen. Mit der Abschiebung ver-schwand eine Person aus dem Gesichtsfeld derZurückbleibenden, ein sozialer Tod.

Im Dunkeln blieben aber auch die Abschiebeprak-tiken, die Gewalt und manchmal Brutalität, die häufigmit der Abschiebung einhergehen; der Schrecken, dieOhnmachtsgefühle, das Nicht-Begreifen-Können derBetroffenen. Noch bevor es um die sozialen oderökonomischen Folgen einer Abschiebung geht, wirdjemand, der Abgeschobenen hinterher reist, mit Fas-sungslosigkeit, manchmal auch mit Wut, immer auch

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1 Vgl. http://www.ffm-

berlin.de/publchron.ht

ml

2 Vgl. Hinterland# 5, Seite 6-11 und

# 13, Seite 86.

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mit Verzweiflung über das Geschehene konfrontiert.Es ist nicht einfach auszuhalten und auch in Worte zufassen, was mit Abgeschobenen passiert. DieSchilderungen bezeugen Traumata, zugefügt vonBehörden, die sich hinter legalistischen Prozedurenverstecken. Reist man Abgeschobenen hinterher, sostößt man immer wieder auf die Namen vonbehördlichen Personen, die sich durch besondereRücksichtslosigkeit auszuzeichnen, polizeilichenGreiftrupps, die Großaufgebote, Fesselungen undSchläge als geeignete Mittel zur Überwältigung vonSuizidgefährdeten zu betrachten scheinen.

Nicht nur haben Abgeschobene, oft nach Jahren imAusland, nach ihrer zwangsweisen Rückkehr kaumeine Perspektive. Die wenigen Aussichten, die sievielleicht haben, verstellen sich ihnen durch dieTrauer um das zurückgelassene Leben, die Verzweif -lung, den Schrecken, durch die Sehnsucht und denTraum an eine Rückkehr. Die Ohnmacht, erfahrendurch die Abschiebung, können viele jahrelang nichtabschütteln. Viele sind krank und erholen sich nichtmehr. Kinder müssen Elternrollen übernehmen, sinddabei selber isoliert und von ihrer Umgebung ange-feindet, werden von den Verwandten als überzähligeEsser gesehen, die nichts mitgebracht haben nachHause.

Zumutungen und Teilhabe

Die Beschäftigung mit der Abschiebung und demDanach hat auch dazu geführt, die jeweiligen Verhält-nisse genauer zu betrachten. „Abschiebung insNichts“, noch immer eine gerne verwendeteRedewendung bei kritischen Abschiebungen, fülltsich mit Inhalten. Das „Nichts“ muss genauer benanntwerden, es ist eine schwierige, manchmal aus weg -lose, manchmal gefährliche Situation, in welche Men-schen abgeschoben werden. Staatliche Stellen, wiezum Beispiel das URA-Projekt im Kosovo, sindbemüht die Abschiebung und die Situation danach alssolide Normalität darzustellen, bieten sogar Reintegra-tionshilfen. Hier eröffnen sich neue diskursive Felder,Auseinandersetzungen mit Behörden werden nunnicht nur vor, sondern auch nach den Abschiebungengeführt. Es geht um Rechte, um Unterstützung, umMöglichkeiten des Überlebens. Zahlreiche Berichteund Recherchen setzen sich so mit diesen Situationenauseinander, evaluieren Lebenssituationen und Chan-cen von Abgeschobenen, melden dies zurück an dieAbschiebegesellschaft. Die Grundlage dieserBerichterstattungen sind universelle Rechte, und hieroffenbart sich eine der grundlegenden Schwierigkeit-en. Universelle Rechte sind im Zweifel weit weg,

ebenso weit wie die Abgeschobenen. Was den hierund dort Lebenden zugemutet werden kann, wirdnicht mit dem gleichen Maß gemessen.

Der Kontext im westlichen Industrieland und der inden Herkunftsländern von Migrantinnen undMigranten ist offenbar ein anderer. Zum Beispiel wer-den die Standards bezüglich der Zugänglichkeit zuden Bereichen Gesundheit oder Schule gern „nicht soeng“ gesehen. Schließlich sind die Herkunftsländervon Flüchtlingen häufig „Entwicklungsländer“, dakönnen nicht „deutsche Maßstäbe“ angelegt werden.Juristische Auswüchse, etwa, Verfolgung als „lan-desüblich“ zu folklorisieren, scheinen seltener gewor-den zu sein; hingegen gibt man sich hierzulande nurzu gern damit zufrieden, wenn zum Beispiel derZugang zu Wohnung, zur Gesundheitsversorgungoder zur Schule auf dem Papier garantiert wird. DieFamilie Ibrahimi, inzwischen seit Jahren vom Bay-erischen Flüchtlingsrat begleitet, schaffte es trotz pro-fessioneller Unterstützung im Kosovo und Hilfen vonDeutschland erst nach fast zwei Jahren, die Zulassungder drei Kinder zur kosovarischen Schule durchzuset-zen. Zwei Jahre ohne Schule, weil die Schulleitung anden Übersetzungen von Zeugnissen und den dürfti-gen Albanischkenntnissen der Kinder herummäkelte.

Nachgefasst: die Familie Avdija

Familie Avdija, mit deren Abschiebung dieser Beitragbegann, haben wir inzwischen aus den Augen ver-loren. Noch einmal besuchten wir sie 2007, zweiJahre nach der Abschiebung.2 Da waren sie insDachgeschoss eines Häuschens am Stadtrand gezo-gen. Asylantrag schien aussichtslos, trotz viel ehre-namtlicher Unterstützung sogar durch einen ehemali-gen Verfassungsrichter. Die Familie unterlag einemArbeitsverbot, konnte sich aber durch illegaleBeschäftigungen über Wasser halten. Doch nochimmer drohte die erneute Abschiebung in den Koso-vo. Erst 2010 erhielten wir von unseren Freunden inLjubljana die Nachricht, dass die Familie über-raschend doch eine Anerkennung und einen Aufent -halt bekommen hatte.<

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Stephan Dünnwaldist Ethnologe, freier

Journalist und

forscht derzeit in

Mali.

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Es ist Dienstag, sieben Uhr im Abschiebegefängnisim Transitbereich des Flughafens Frankfurt liegtein junger Mann aus Äthiopien wach und wartet

auf seine Abschiebung. Gleichzeitig sind die S-BahnenRichtung Flughafen überfüllt. Die Menschen stehen aufden Gängen, dicht gedrängt auf dem Weg zur Arbeit.Andere haben Gepäck dabei und fahren zum

Flughafen, um von dort wegzufliegen, in den Urlauboder beruflich. Es sind auch einige Aktivistinnen undAktivisten unterwegs. Sie sind gekommen, um denÄthiopier bei der Verhinderung seiner Abschiebung zuunterstützen. Sie gehören zur „Vernetzungsgruppegegen Abschiebung“, die sich in den letzten eineinhalbJahren rund um den Flughafen Frankfurt etabliert hat.

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Last Minute Protest

Ende 2010 gründete sich in Frankfurt am Main die „Vernetzungsgruppe gegen Abschiebung“. Eva LilithSeidlmayer gewährt Einblicke in die Arbeit des lose organisierten Netzwerks, das sich zum Ziel gesetzthat, am Frankfurter Flughafen Abschiebungen zu verhindern und langfristig eine kritische Öffentlichkeitherzustellen. Von Eva-Lilith Seidlmayer

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Ungefähr zehn pro Tag: das ist die erschreckendeZahl von Abschiebungen, die in Frankfurt täglichdurchgesetzt werden. Zehn am Tag; das waren imJahr 2010 3.098 Abschiebungen in Frankfurt und6.907 in der BRD. Jede dieser Abschiebungen istdabei nur der Endpunkt einer viel längeren, manch-mal jahre- oder sogar jahrzehntelangen Geschichte.Jede dieser Abschiebungen ist gewaltsam, denn siegeschieht gegen den Willen der betroffenen Person.Der fehlende oder falsche Pass liefert den Grund fürdie Abschiebung; jede Abschiebung ist damit tätigerRassismus.

Die Verantwortung des Flugkapitäns

Für die Behörden gibt es verschiedene Möglichkeiten,die Abschiebungen per Flugzeug durchzusetzen. ZumTeil werden eigens Flugzeuge für ganze Gruppen vonAbzuschiebenden gebucht, in seltenen Fällen werdenauch für einzelne Menschen Flugzeuge gechartert.Die größte Zahl von Abschiebungen geschieht jedochin normalen Linienflügen, im selben Flugzeug mitUrlaubs- und Geschäftsreisenden. Meist hinten aufder letzten Bank, manchmal abgeschirmt durch einenVorhang und oft begleitet durch Polizeibeamte, dierechts und links neben dem oder der Abzuschieben-den sitzen.

Bis vor einigen Jahren waren hier noch schlimmeGewaltanwendungen gegen die unfreiwillig Aus-reisenden möglich. Seit dem Tod von Aamir Ageeb1999, der bei seiner Abschiebung durch Bundesgrenz -schutzbeamte mit einem Motorradhelm ersticktwurde, sind die Befugnisse zur Durchsetzung derAusreise eingeschränkt. Integralhelme, Klebeband anKopf und Hals, atmungsverhindernde Abpolsterungenund Knebel sind seitdem nicht mehr zulässig. Auchist spätestens seit dem Gerichtsprozess zu denUmständen unter denen Amir Ageeb erstickte klar,dass der Pilot oder die Pilotin letztendlich die volleVerantwortung für die Sicherheit der Passagiere unddamit auch für den Menschen, der abgeschoben wer-den soll, trägt. Mit dem Schließen der Flugzeugtürenerlischt das Hoheitsrecht der Polizei und geht auf denFlugzeugkapitän über. Diese Verantwortung desFlugkapitäns für die Sicherheit aller Passagiere undsein oder ihr Recht, Passagiere, die nicht freiwilligfliegen, aus dem Flugzeug zu schicken, ist einwichtiger Ansatzpunkt für die Unterstützung vonMenschen, die sich entschlossen haben, ihreAbschiebung selbst zu verhindern.

Wer nicht fliegen will, muss auch nicht fliegen!

Da sich der junge Äthiopier entschieden hat, sichnicht einfach so wieder wegbringen zu lassen,bedeutet das für ihn, dass er im Flugzeug ausdrückenmuss, dass er nicht freiwillig fliegt. Er wird sich hin-stellen, den Gurt nicht schließen und den Sitz nichthochstellen, sondern stehenbleiben und vielleichtschreien oder rufen. Die Leute, die ihn gleichzeitig imGebäude des Flughafens unterstützen, werden ihnunterdessen gar nicht zu Gesicht bekommen. Nur sel-ten können sich Aktivistinnen und Aktivisten selbstein Flugticket kaufen, zu kurzfristig und plötzlich sinddie Abschiebungen meist angesetzt. Wenn es dochgelingt, bleiben sie im Flugzeug neben demAbzuschiebenden stehen und fordern, dass wer nichtfliegen will, auch nicht fliegen muss und Freiheit fürdie Wahl des Lebensortes gelten soll.

Genau dieser Protest und die Zivilcourage zur aktivenVerhinderung der Abschiebung durch die anderenPassagiere im Flugzeug ist es, wozu das Netzwerk„Vernetzung gegen Abschiebung“ durch seine Aktio-nen auffordern will und über dessen Möglichkeitenund Potentiale es aufklärt. Das Ansprechen von Pas-sagieren vor dem Flug, die Kontaktaufnahme mit derPilotin oder dem Piloten mittels des „Flight Manage-ments“ (Neusprech für „Flughafenaufsicht“) amFlughafen und auch Protestanrufe und -Faxe an dieFluggesellschaft und die zuständigen Behörden imVorfeld und zeitgleich zu den Aktionen, sind Aktions-formen der „Vernetzung gegen Abschiebung“.

Per Emailvernetzung zur Unterstützung des Widerstands

Die „Vernetzung gegen Abschiebung“ entstand Ende2010 in Frankfurt am Main. Im Grunde ist sie einloses Netzwerk, das per Email-Liste funktioniert –ohne reguläre Treffen und Grundsatzerklärungen. DerAnspruch ist möglichst niedrigschwellig Menschen,die Abschiebungen als Unrecht empfinden amFlughafen zusammenzubringen und zu vernetzen.Dieser simple Grundkonsens führt dazu, dass sichreal tatsächlich Menschen aus den unterschiedlichstenLebensbereichen, Altern und Berufen über dieseEmail-Liste und eine ergänzende Telefonkette koor-dinieren.

Die Ausgangsinformation, auf die reagiert wird,kommt meist von Unterstützergruppen oder Betroffe-nen selbst und gelangt durch einen Email an dieGruppe. Besonders die Information, ob die betroffene

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Person sich wehren wird und ob sie dabei Unter-stützung erhalten möchte, ist dabei von zentralerBedeutung. Es kann gute Gründe für jemandengeben, sich nicht wehren zu wollen oder zu können.Auch eine solche Abschiebung ist nicht freiwillig.Wenn die Betroffenen selbst sich allerdings nichtwehren, ist eine Abschiebung „last minute“ kaum zuverhindern. Die Entscheidung der betroffenen Personsich zu wehren ist daher für den Einsatz der „Vernet-zung gegen Abschiebung“ maßgeblich. Die Gruppekann lediglich Unterstützung anbieten; die eigentlicheAktion, die die Abschiebung schließlich gegebenen-falls verhindert, geht dabei aber immer von der oderdem Betroffenen selbst aus. Nicht die Aktiven, nichtdie „Vernetzung gegen Abschiebung“ verhindert eineAbschiebung, sondern sie unterstützen den Wider-stand, den der betroffene Mensch selbst leistet.

Aktionsformen gegen Abschiebung

Mit den gegebenen Informationen kann dann inAnbetracht der meist sehr kurzen Zeit, die bleibt, dieweitere Aktion vorbereitet werden. Häufig sind es nurein, zwei Tage, manchmal nur wenige Stunden.Wichtig ist einen Flyer zu schreiben für den konkretenFall, die Umstände der Abschiebung und über dasLand, in das abgeschoben werden soll. In den Flyernwird außerdem darüber informiert, wie die Passagiereim Flugzeug beispielsweise durch das Gespräch mitder Crew, durch die Dokumentation mit Handyka -meras oder mit dem Wissen um die zulässigen Ge -walt anwendungen durch begleitende Polizeibeamteselbst zu Unterstützenden werden können. Die Flyereignen sich auch als Vorlagen für Faxe, Emails undAnrufe bei der Fluggesellschaft, in denen dieEmpörung ausgedrückt wird. Wenn schon im VorfeldProtestnoten eingehen, entsteht Druck auf die Flugge-sellschaften, die auf ihr Bild in der Öffentlichkeit undihr Image Acht geben. Über Telefon- und Emailaktio-nen können sich auch Menschen, die weiter entferntwohnen oder aus anderen Gründen nicht zumFlughafen kommen können, einbringen.

Am Flughafen geht es dann darum, den regulärenAblauf durch die Konfrontation der beteiligten Men-schen, der Passagiere, aber auch der Angestellten derFluggesellschaft, zu durchbrechen. Während eineGruppe Aktivistinnen und Aktivisten Reisende amSchalter oder am Zugang zum Gate anspricht, fragensich zwei, drei Andere zum „Flight Management“durch. Die wichtige und neue Information für das„Flight Management“ ist, dass sich die abzuschie -bende Person wehren wird und dass sie, und ins-besondere dann die Pilotin oder der Pilot, die volle

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Tatort Frankfurter Flughafen die Kontinuität der Proteste am Abschiebeairport Nr. 1

Der Abschiebeairport Nr. 1 in Frankfurt am Main ist seit

vielen Jahren Ansatzpunkt und Aktionsraum für kontinu-

ierlichen politischen Protest, vielfältige kreative Aktionen

und auch militante Sabotage. Neben den Aktionen gegen

das Internierungslager, das nach und mit der de facto

-Abschaffung des Asylrechts 1993 eingerichtet und ausge-

baut wurde, und 2002 einen Neubau fernab der Öffent-

lichkeit bekam, kam es immer wieder auch in den Termi-

nals zu Aktionen gegen Abschiebungen und die Menschen-

rechtsverletzungen auf dem Flughafen Frankfurt.

Mal kleiner, mal größer, offen beworben oder heimlich

mobilisiert, nur schwach beachtet oder aber auch mit

Repression überzogen: auszeichnend waren der lange Atem

der Aktiven und die Vielfalt der Aktionsformen. Die Palette

reichte von Demonstrationen, Konzerten, Theateraktionen,

Go-ins, Besetzungen, Transparentaktionen, Hearings zu

Abschiebung und Internierung bis hin zu einer Online

-Demonstration, mit der die Deportation Class von Lufthan-

sa thematisiert wurde. Angelehnt daran gab es in den

zurückliegenden Jahren immer wieder unterschiedliche

Proteste bei diversen Fluggesellschaften, die am Abschiebe-

geschäft mitverdienen, wie Tarom, JAT oder Aeroflight.

Waren 1994 der Tod von Kola Bankole oder 1999 der Tod

von Amir Ageeb die Anlässe, die zu öffentlichen Mobilisie-

rungen führten, kam es in den Jahren dazwischen gleich

drei Mal zu gezielten Sabotageaktionen gegen die Kommu-

nikationsinfrastruktur des Flughafens. Mehrmals war auch

die Zugstrecke von und um den Flughafen unterbrochen

worden. Zudem kam es an den An- und Abflugrouten zu

Ballonaktionen, die neben den Abschiebungen auch Krieg

und den Flughafenausbau thematisierten. Antirassistische

Höhepunkte waren sicherlich das Grenzcamp 2001 mit der

bislang größten Demo gegen Abschiebung vor den Termi-

nals, im selben Jahr die Dachbesetzung von Tor 3, das sich

damals noch in Sichtweite des Internierungslagers befand,

die Auseinandersetzung um die Anbringung einer Gedenk-

tafel für die Getöteten bei Abschiebungen und Internierung

und die jahrelange gerichtliche Auseinandersetzung um

die Hausverbote der Fraport AG. Diese führte im Januar

2011 zum großen gerichtlichen Erfolg für das Demonstra-

tionsrecht im öffentlichen Raum und ermöglicht nun

– nachdem jahrelang die Terminals abgeriegelt wurden –

neue Mobilisierungen direkt im Flughafengebäude. Das

erste größere Come-back der Abschiebegegnerinnen und

-gegner fand im Juni 2011 statt, als am Vorabend der

Innenministerkonferenz 500 Demonstrierende durch das

Terminal zogen.<

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rechtliche Verantwortung für die Sicherheit des Flugsund auch jedes einzelnen Fluggasts, also auch derabzuschiebenden Person, tragen.

Das Schaffen von Öffentlichkeit

Die hohe Zahl von Abschiebungen hat Routine amFlughafen einkehren lassen, wenn auch die Pas-sagiere in der Regel völlig unvorbereitet mit dieserchaotischen Situation eines Protests im Flugzeug kon-frontiert werden. Klar macht es Angst und schafftVerunsicherung, wenn an einem Ort, an dem sonstjeder Ablauf genau durchgeplant ist, plötzlichUnvorhergesehenes passiert. Und es ist schon viel,den Menschen und der Crew durch die Konfrontationdie Gelegenheit zu geben, überlegt in die Situation zugehen, um sich dann zu entscheiden, was sich dieEinzelnen selbst zutrauen. Neben dem vordringlichenZiel diese konkrete Abschiebung zu verhindern, wirddurch die Flyeraktionen und das Gespräch mit denanderen Passagieren also auch angestrebt,Öffentlichkeit sowie die Ermächtigung der Menschenzu erreichen, die damit, nicht mehr passiv und inUnwissenheit gehalten, selbst Stellung beziehenmüssen.

Die Aktionen der „Vernetzung gegen Abschiebung“sind also zum einen kurzfristig auf die Unterstützungdes Abbruchs einer konkreten Abschiebung angelegtund zielen in der langfristigen Perspektive auf dasSchaffen von Öffentlichkeit. Für die Einzelnen, dievon Abschiebung bedroht sind, ist aber mit dem ein-maligen Abbruch der Abschiebung die Gefahr nichtvorbei. Oftmals gibt es mehrere Versuche dieAbschiebung durchzusetzen, bis sich etwas an derrechtlichen Situation der oder des Abzuschiebendengeändert hat.

Gerade für Abschiebungen, die im Rahmen vonDublin II angesetzt sind, kann es sich dabei lohnen,eine Abschiebung hinauszuzögern. Denn hier bestehteine sechsmonatige Überstellungsfrist in die Länder,in denen Fingerabdrücke abgegeben wurden oderanderweitig eine „Zuständigkeit“ für das Asylver-fahren bestimmt wurde. Da sich die Bedingungen fürAsylverfahren und Aufnahmebedingungen vonFlüchtlingen in den verschiedenen EU-Ländern zumTeil massiv unterscheiden, kann es für die oder denBetroffenen eine Chance sein, den Asylantrag inDeutschland und nicht etwa in Malta oder Italienstellen zu können. Durch die Verhinderung derAbschiebung kann es gelingen, diese Überstellungs-frist zu knacken.

Mögliche Ausweitung der Aktivitäten

Nach eineinhalb Jahren kann ein recht positives Fazitgegeben werden. Schon zweimal gelang es durch dieVerhinderung der Abschiebung die Überstellungsfristinnerhalb des Dublin II-Verfahrens zu überschreitenund schon viele Male konnte den Betroffenen dasklare Signal der Unterstützung und der Solidaritätgegeben werden. Dies wurde von Abgeschobenen,zu denen nach der Aktion noch Kontakt bestand, soausgedrückt.

Knapp einhundert Menschen sind derzeit auf derMailingliste eingetragen. Und es gelingt in der Regelproblemlos, sich innerhalb weniger Stunden mit übereinem Dutzend Aktivistinnen und Aktivisten amFlughafen spontan zu versammeln und aktiv zu wer-den. Leider bringt dies auch mit sich, dass einigeLeute oft die gleichen und wesentlichen Aufgabenerfüllen. In Anbetracht der Bedeutung und des Zeit-drucks, beispielsweise für die Erstellung von Flyern,trauen sich Neue häufig nicht, diese Aufgabe selbst-ständig zu übernehmen. Und obwohl sich immermehr Menschen auch schwierige Aufgaben zutrauen,stellt dies natürlich ein Problem für den explizitenAnspruch der Vernetzungsgruppe als nicht hierar-chisch und auch nach innen ermächtigend dar. Zu -sätzlich wird immer wieder geäußert, dass eineSupervisionsstruktur fehlt, die die Aktivistinnen undAktivisten nach der Abschiebung von Menschen, mitderen Schicksal sie sich ja häufig intensiv beschäftigthaben, auffängt. Eine andere Perspektive, die derzeitin der „Vernetzung gegen Abschiebung“ diskutiertwird, ist der weitere Kontakt mit den Abgeschobenennach der Abschiebung und der Aufbau von Unter-stützerstrukturen vor Ort in den Zielländern.

All diese Kritik und Überlegungen zeigen das Bedürf-nis nach einer veränderten, noch intensiverengemeinsamen Struktur und nach gemeinsamen Plena.Ob die lose Struktur ein Problem oder aber das Er -folgsrezept ist, wird die nächste Zeit zeigen. Vorallem aber stehen die Diskussionen für das großeBedürfnis, am Frankfurter Flughafen auch weiterhingegen Abschiebung zu kämpfen.<

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Schreibt an:abschiebungverhin-

[email protected].

net, wenn ihr von

einer Abschiebung

über den Flughafen

in Frankfurt erfahrt,

bei der sich die

betroffene Person

wehren wird oder

wenn ihr auf den

internen Verteiler

aufgenommen wer-

den wollt.

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Seit dem 11. Mai ist das Leben von MariamPachlavuni* nicht mehr wie vorher. Kurz nachMitternacht klingelt es an der Tür. Draußen ste-

hen Polizisten und Polizistinnen und ein Mitarbeiterder Demminer Ausländerbehörde. Die Pachlavunismüssen in der Dunkelheit ihre beiden schlafendenKinder wecken, dann haben sie etwa eine StundeZeit, um ihre Sachen zu packen. „Ich kann jetzt nichtlos, ich habe doch so viel geübt“, weint die 12-jährigeTochter, die am nächsten Morgen ein Flötenvorspielin der Schule hat.

Seit ihrer Ankunft in Deutschland 2002 hat MariamPachlavuni Angst davor, wieder in ihre Heimatzurückgeschickt zu werden. Weil sie an einer post-traumatischen Belastungsstörung und anderen psy-chischen Krankheiten leidet, war sie in den vergan-genen Jahren immer wieder in therapeutischerBehandlung. Um der selbstmordgefährdeten Frau dieAngst vor der Abschiebung zu nehmen, hatte ihrAnwalt eine Vereinbarung mit der Demminer Auslän-derbehörde getroffen: Die Reisefähigkeit der 39-jähri-gen Armenierin soll vor einer möglichen Abschiebung

amtsärztlich überprüft werden. Die Vereinbarung liegtschriftlich vor. Bis zum 11. Mai hat es keine Unter-suchung gegeben.

Für Mariam Pachlavuni sind die folgenden Stundenein Alptraum. „Ich habe gesagt, dass ich nicht aus-reisen kann, dass ich krank bin“, sagt sie. Der Mitar-beiter der Ausländerbehörde habe nur gelacht. Daden Pachlavunis noch in der Wohnung die Handysabgenommen wurden, können sie ihren Anwalt nichtinformieren. Auf dem Weg zum Flughafen in Frank-furt am Main bitten sie immer wieder darum, kurztelefonieren zu dürfen. Die Polizisten und Polizistin-nen schütteln die Köpfe. Erst am Flughafen, einehalbe Stunde vor dem geplanten Abflug, bekommensie endlich ihre Telefone ausgehändigt. „Ich glaube,die haben nicht damit gerechnet, dass wir nun nocheine Chance haben“, sagt Mariam Pachlavuni. Aber esgelingt ihnen, den Anwalt zu informieren, der in sein-er Mittagspause Rechtsschutz beim Greifswalder Ver-waltungsgericht ersucht. Gerade noch rechtzeitig vordem Abflug kommt der Bescheid: Die Bundespolizeimuss die Abschiebung abbrechen. Familie Pachlavuni

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*der Name wurde

auf Wunsch der

Familie geändert

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Vogelfrei in Vorpommern

Wiederholt handelt die Demminer Ausländerbehörde (Mecklenburg-Vorpommern) ohne Augenmaß undden nötigen Respekt vor den Rechten von Asylbewerbern und Asylbewerberinnen. Im Mai endete einAbschiebeversuch an einer armenischen Familie vorzeitig am Frankfurter Flughafen – die Behörde hattesich über die Prüfung von Abschiebehindernissen hinweggesetzt. Von Anke Lübbert

Foto: Archiv

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kann vorerst in Deutschland bleiben. In der Urteilsbe-gründung steht: „Wegen derzeitig fehlender weiter-führender sachverständiger ärztlicher Feststellungenkann eine Reisefähigkeit nicht angenommen werden.“Eine erzwungene Rückkehr könne fatale Folgen fürMariam Pachlavuni haben, heißt es weiter.

Für den Rostocker Anwalt der Familie, ThomasWanie, ist der Vorfall „ein absoluter Skandal“. Wanieverweist auf die Abmachung mit der Ausländerbe-hörde, ein ärztliches Gutachten abzuwarten – und aufein anderes Verfahren: Im Februar 2010 hatte dieDemminer Ausländerbehörde eine Hausdurchsuchungbei der Familie durchgeführt, um Personalpapiereaufzufinden. Die Hausdurchsuchung wurde vomLandgericht Neubrandenburg anschließend alsrechtswidrig beurteilt. Es handle sich um einen unver-hältnismäßigen Eingriff in die grundgesetzlichgeschützte Lebenssphäre der Geschädigten, heißt esin der Begründung des Landgerichts.

Im Anschluss an den gescheiterten Abschiebeversuchhat der Flüchtlingsrat Mecklenburg-Vorpommern per-sonelle Konsequenzen in der Demminer Ausländerbe-hörde gefordert. „Wiederholt haben Mitarbeiter undMitarbeiterinnen dieser Behörde gezeigt, dass sienicht nur ohne Augenmaß, sondern auch außerhalbder rechtlichen Rahmenbedingungen handeln“, soDoreen Klamann-Senz vom SchwerinerFlüchtlingsrat. In einer ersten Stellungnahme am 6.Juni hatte der Landrat des Landkreises SiegfriedKonieczny (Linke) die Anschuldigungen zurück-gewiesen und angekündigt, er wolle die umfang -reiche Aktenlage weiter prüfen. Die Familie seimündlich von der Ausländerbehörde gebeten wor-den, beim Gesundheitsamt vorstellig zu werden,so Konieczny. Für den Schweriner Flüchtlingsratändert das die Lage nicht: Mündliche Aufforderungenseien irrelevant, weil nicht nachprüfbar. Die Behördehätte Mariam Pachlavuni schriftlich zu einem Terminverpflichten müssen, so Klamann-Senz.

Nicht zum ersten Mal gerät die Demminer Behördemit fragwürdigen Aktionen in die öffentliche Kritik.Bereits 2007 hatte sie für Aufsehen gesorgt, alsbekannt wurde, dass Mitarbeiter und Mitarbeiterinnender Behörde angeblich zur Selbstverteidigung Gaspis-tolen in den Diensträumen herumliegen ließen.Zudem wurde der Leiter des Demminer Ord-nungsamtes, Rainer Plötz, im Oktober 2008 wegenNötigung eines Asylbewerbers zu einer Geldstrafevon 5.400 Euro verurteilt. Im Berufungsverfahrenwurde das Urteil jedoch wieder aufgehoben.

Sicherlich ist die Arbeit in einer Ausländerbehördegrundsätzlich eine schwierige Aufgabe. Die Mitarbeit-er und Mitarbeiterinnen müssen täglich das Schicksalvon Menschen verwalten, die sich in emotionalenAusnahmesituationen befinden. Humane Entscheidun-gen zu treffen, ist schon aufgrund der Gesetzeslageoft kaum möglich. Anja Matz arbeitet im Psy-chosozialen Zentrum für Migranten in Vorpommern.Dass die Arbeit in einer Ausländerbehörde jedochtrotzdem mit dem nötigen Respekt und derWertschätzung vor den Rechten der Asylbewerberund Asylbewerberinnen getan werden kann, erlebtAnja Matz in der Zusammenarbeit mit vielen Behör-den in Vorpommern. „Im Vergleich mit anderen Land-kreisen schneidet die Demminer Behörde sehrschlecht ab“, so Matz. Das gelte für viele alltäglicheSituationen, werde an dem gescheiterten Abschiebe -versuch aber besonders deutlich. „Unsere Psychologinhat jahrelang an einer Stabilisierung der KlientinPachlavuni gearbeitet. Durch diese Aktion ist miteinem Schlag ihre ganze Arbeit zunichte gemachtworden.“

Der Weg vom Frankfurter Flughafen zurück nachMecklenburg-Vorpommern dauert zehn Stunden. Elf-mal muss die vierköpfige Familie umsteigen. FürMariam Pachlavuni ist die Rückkehr einerseits eineErlösung, andererseits will sie unter keinen Umstän-den zurück in den Landkreis Demmin. „Ich habegroße Angst“, sagt sie, „ich habe das Gefühl, für unsgelten keine Rechte und Gesetze.“ Da Asylbewerberund Asylbewerberinnen nicht selbst über ihrenAufenthaltsort entscheiden können, muss sie trotzdemvorerst wieder zurück. Bis heute kann sie nachtskaum schlafen. Um wenigstens den Kindern ein StückSicherheit zurückzugeben, übernachten die 12-jährigeTochter und der 9-jährige Sohn wann immer es gehtbei Freunden und Freundinnen. Thomas Wanie, derRechtsanwalt, will für die Familie eine so genannte„Umverteilung“ erwirken. Damit könnten diePachlavunis in den Einzugsbereich einer anderenBehörde ziehen. „Die weitere Abhängigkeit von derDemminer Behörde ist für die Familie nicht zumut-bar“, so Wanie, „da ist jegliches Vertrauensverhältniszerstört.“<

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Anke Lübbertist Journalistin und

lebt in Greifswald.

Ihr Text erschien

bereits in der

Kirchenzeitung.

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Foto: Isabel Machado Rios

Deportation CastUraufführung am Staatsschauspiel in Hannover mitElisabeth Hoppe als Elvira, Lehrerin und Sachbearbeiterin

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Wie ist es zu dem Hörspielprojekt„Egzon“ überhaupt gekommen?

Ich bin in den letzten Jahrenimmer wieder mit dem ThemaAbschiebung in Berührung gekom-men. Nicht zuletzt durch dieArbeit an dem Theatertext „Illegal“.Nachdem ich mit einer Gruppejunger Sinti aus Hildesheim einStück für das StaatsschauspielHannover entwickelt hatte, gab eseinen neuen Auftrag und derRegisseur und ich haben vorge-schlagen, ein Stück über Abschie-bung zu machen. Dann habenwir angefangen zu recherchierenund schnell war klar, dass dasTheaterstück mit Roma zu tunhaben muss, weil das im Momentund in diesem Zusammenhangdas absolut aktuellste Thema ist,weil so viele Roma in Niedersach-sen leben und von Abschiebungbedroht sind und permanent auchabgeschoben werden. Ich habedann weiter recherchiert und binüber den Bayerischen Flüchtlings-rat an verschiedene, sehr spannen-de Materialien gekommen. Ichhabe mich vor Ort mit dem Flücht-lingsrat Niedersachsen getroffen,mit den Leuten von „Alle bleiben!“.Und so ging das weiter. Zu derGeschichte von Egzon ist es gekom-men wegen dieses Films über dieFamilie Ibrahimi, den der Bayeri-sche Flüchtlingsrat gemacht hat,

„Row Hard“. In dem Film gibt eseinen Jungen, der nach seinerAbschiebung in den Kosovo nichtmehr gesprochen hat und seineSchwester hat immer für ihn über-setzt. Das Motiv dieses Jungen, derdie Sprache des Landes nichtspricht, in das er abgeschobenwurde und der gleichzeitig auchdie andere Sprache, die er gelernthat, verweigert, das hat mich sehrbewegt.

Wie bist du dann vorgegangen? Wiehast du den Stoff dann entwickelt?

Ich bin wie bei einer journalisti-schen Recherche vorgegangen,habe mich mit Leuten getroffenund sehr viele Informationengesammelt. Ich habe zu demThema auch schon im Rahmenanderer Projekte Interviewsgeführt, aber es war überhauptnicht klar, was daraus einmalwerden sollte. Klar war nur, dasssich Thema und Stoff sowohl fürdas Theater als auch fürs Hörspieleignen. Die beiden Versionenunterscheiden sich allerdings sehr.Deshalb heißt das Theaterstückauch „Deportation Cast“ und dasHörspiel „Egzon“.

Im Hörspiel treten neben den unter-schiedlichen Beteiligten derAbschiebung und der betroffenenRoma-Familie auch die Familie des

Piloten der Abschiebe-Maschine auf.Warum eigentlich?

Der Sohn des Piloten, Bruno, warin seine Klassenkameradin Elvira,die Tochter der Roma-Familie, ver-liebt und beide wurden durch dieAbschiebung getrennt. DieseGeschichte wird eben auch erzählt.

Bei der Roma-Familie diente dieGeschichte der Familie Ibrahimi alsVorlage. Gab es bei der Pilotenfami-lie auch eine Familie, an die du beimSchreiben gedacht hast?

Nein. „Egzon“ ist eine Kombina-tion aus dokumentarischem underfundenem Material. Das ist einbewusstes Spiel mit der Verunkla-rung. Das, was uns vielleicht amrealsten erscheint, ist erfunden:Die Familie des Piloten. Die Innen-welt einer Lehrerin ist mir einfachnäher, als die eines Jugendlichen,der aus dem Kosovo stammt unddahin abgeschoben wird. Vielleichtliegt es daran.

Wie viel ist dokumentarisch und wie viel ist Fiktion an „Egzon“?

Also diese Unterscheidung würdeich gar nicht mehr machen, dennab dem Moment, wo der Stoff zueinem Text wird, wird es sowiesoFiktion. Es geht in dem Hörspielnicht darum, ob das wirklich so

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Kein Pilot muss Menschen transportieren, die nicht freiwillig im Flugzeug sitzen

Der Münchner Autor Björn Bicker hat das Hörspiel „Egzon“ über das Schicksal einer aus Deutschlandabgeschobenen Roma-Familie geschrieben. Es liegt in einer Einspielung des Bayerischen Rundfunks dieser Aus-gabe bei. Mit Björn Bicker hat sich Matthias Weinzierl über das Stück und seine Hintergründe unterhalten.

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Björn Bicker arbeitete von 2001

bis 2009 als Drama-

turg an den Münch-

ner Kammerspielen.

Seither ist er freier

Autor und schreibt

Hörspiele, Theater-

stücke, Prosa und

Essays. Immer wie-

der hat er sich mit

den Themen Flucht,

Migration und Ras-

sismus, auch staatli-

chem Rassismus,

beschäftigt, z.B. in

„Illegal“ (2008) und

„Deportation Cast“

(2011)

Egzon Ibrahimiwurde 2007 in den

Kosovo abgeschoben

und geht heute in

Pristina auf eine

albanische Schule

und möchte gerne in

Deutschland eine

Lehre machen.

war. Aber dass es so hätte seinkönnen – das ist die entscheidendeFrage. Deswegen kommen diesevielen verschiedenen Personenund ihre Perspektiven vor: derAnwalt, eine Abschiebebeobachte-rin, eine Beamtin von der Auslän-derbehörde, eine Lehrerin, einAbschiebearzt - alle haben mit derAbschiebung zu tun und vertretenihre Positionen. Ich kann allePositionen irgendwie nachvollzie-hen. Ich kann sogar für jeden vonihnen, egal ob ich sie jetzt sympa-thisch finde oder nicht, Verständ-nis aufbringen. Du sprichst mitjemandem von der Ausländerbe-hörde und danach denkst du: Jaklar, ich kann die Perspektive die-ses Menschen total nachvollziehen.Gerade wenn es persönlich wird,warum der da arbeitet, warum derdas macht. Ist mir sogar sympa-thisch, dieser Mensch. Es ist aberso, dass ich danach rausgehe undtrotzdem zu mir sage: Ich bin den-noch gegen Abschiebung. Obwohlich jede Perspektive nachvollziehenkann, muss ich als Bürger eineHaltung zum Thema Abschiebungeinnehmen. Darum geht es bei derWahl und Darstellung der ver-schiedenen Perspektiven.

Wer trägt eigentlich die Verantwor-tung für eine Abschiebung? Gibt eseigentlich während des ganzenAbschiebeprozesses einen, der dafürverantwortlich ist?

Wir leben in einer Demokratieund wenn man das ernst nimmt,dann tragen wir alle dafür dieVerantwortung. Wir, die wir alsdas Volk der Souverän sind, diewir diese Regierung mitwählen, diesolche Gesetze erlässt, die solcheDinge zulässt. Wenn wir wollen,dass das nicht mehr passiert, dannmüssen wir uns dementsprechendeinsetzen, dass das nicht mehrpassiert. Zudem trägt jede undjeder Einzelne der Beteiligten,jeder Polizist, jeder Arzt, jeder

Anwalt, jeder, der zustimmt, dermitmacht, dafür die Verantwor-tung. Wir leben nicht in einer Dik-tatur, in der man die Verantwor-tung einfach abgeben kann, in derjeder sagen kann: „Ich habe vonnichts gewusst! Ich musste dasmachen!“ – Scheiß drauf: dukannst auch Nein sagen! Auch alsPolizist kannst du sagen: Nein, andieser Schicht nehme ich nicht teil.Ich möchte bei diesem Kommandonicht arbeiten. Teilt mich woan-ders ein. Kein Arzt muss anAbschiebungen teilnehmen. KeinPilot muss Menschen transportie-ren, die nicht freiwillig im Flug-zeug sitzen. Aber letztlich ist diePolitik dafür verantwortlich. Wenndie Entscheidungsträger sagen: Esgibt keine Abschiebungen – danngibt es keine Abschiebungen. Die Realität ist aber leider so:Grüne und SPD aus Baden-Würt-temberg reisen in den Kosovo, umsich von irgendwelchen Organisa-

tionen zeigen zu lassen, wie gutdort alles läuft. Auch von der koso-varischen Regierung, die natürlichInteresse daran hat, dass sie nichtin Verruf gerät. Aber unsere Politi-ker treffen keine Roma-Organisa-tion vor Ort und sagen das Treffenmit „Alle bleiben!“ ab. Dann fah-ren sie nach Hause und sagen: Ja,man kann abschieben! Läuftsuper.

Hat „Egzon“ in dieser Hinsicht eine Kernaussage?

Es geht darum, eine Haltung zuentwickeln. Es geht um die Frage:Möchte ich, dass Menschen aus derBundesrepublik Deutschland abge-schoben werden? Möchte ich alsDeutscher mit unserer Geschichte,dass Roma in einen Staat wie denKosovo abgeschoben werden? Willich das? Dazu muss ich als Einzel-ner eine Haltung entwickeln. Ichpersönlich bin gegen Abschiebun-

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„Soo fremd…“

Mail von Egzon Ibrahimi, der 2007 mit seiner Familie vom bayerischen BadKissingen in den Kosovo abgeschoben wurde. Seine Geschichte ist auchThema des Hörspiels „Egzon“ von Björn Bicker.

> Hallo, mein Name ist Egzon Ibrahimi.

Ich bin am 10. Oktober 1993 geboren. Mit sechs bis sieben Jahren binich mit meiner Familie nach Deutschland geflüchtet. Vor dem Kriegund anderen Problemen hier im Kosovo…

In Deutschland fühlten wir uns alle wohl. Wir hatten keine Angst vorÜberfällen – vor nichts. Ich lernte die Sprache schnell. Ich fühlte michdeutsch. Ich fühlte mich nicht als Roma, Ashkali oder Albaner – ichfühlte mich deutsch…

Meine Familie suchte nach Arbeit und fand sie. Doch man hat unsverarscht. Wir sollten die Pässe im Ausländeramt abgeben, damit wirdie Arbeitserlaubnis bekommen und gleich nach einer Woche wurdenwir abgeschoben. In den Kosovo. Als wir hier ankamen, war mir allessoo fremd. Ich konnte die Sprache nicht und ich kann sie immer nochnicht.

Ich vermisste meine Freunde, die Schule. Erst nach fünf Jahren bin ichwieder in die Schule gegangen. Ich wurde ausgelacht. Ich konnte dieSprache nicht und die Lehrer sind hier soo streng, man wird geschla-gen. Jetzt bin ich 18. Eine Zukunft kann ich mir im Kosovo immernoch nicht vorstellen.<

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gen, aber das ist nicht die Aussagemeines Stückes. Ich glaube aber,wenn man sich dem ThemaAbschiebung wirklich aussetzt,dann kann man vielleicht garkeine andere Haltung mehr ein-nehmen.

Im Hörspiel nähert sich eine zwie-lichtige Männerfigur EgzonsSchwester Elvira. Was hat das zubedeuten?

Darauf werde ich immer wiederangesprochen. Es gibt diesenMann, der den Kindern Elviraund Egzon im Kosovo seine Hilfeanbietet. Er sagt: Ich habe etwasÄhnliches erlebt. Er schenktihnen Cola, sie dürfen zu ihmnach Hause, sein Internet nut-zen – einmal rettet er sie sogarvor einem Übergriff von albani-schen Jugendlichen. Schließlichverschafft er Elvira einen Job ineinem Hotel, in dem deutscheGeschäftsleute absteigen. Jedeund jeder denkt sofort: Na klar,das ist ein Zuhälter, der bringtdas Mädchen zur Prostitution. Esgibt aber in dem ganzen Textkeinen einzigen Hinweis darauf,

dass das so ist. Mein ersterGedanke war auch: Na klar, ausder wird eine Prostituierte. Spä-ter dachte ich mir: Wie kommeich denn eigentlich auf so einekranke Idee? Klar, das ist meinpersönlicher Rassismus, weil ichdenke, ein Roma-Mädchen ohneGeld, die muss auf den Strichgehen. Das ist total grotesk. Wokommt das her? Das ist etwas,das in mir als Bild steckt, wasaber mit der Realität wahr-scheinlich nichts zu tun hat. Esgeht darum, uns selbst mit unse-ren Klischees zu überführen.

Das heißt aber auch, wenn ich soein Bild im Kopf habe, dann darf ichdas auch behalten, es wird mir janicht genommen.

Die Gefahr ist enorm, dass dasdurchgeht. Und vielleicht sogaraffirmativ funktioniert. Wäreschade.

Und der enttäuschte JugendlicheBruno am Ende des Hörspiels? Istdas so eine Art Hilferuf, ein Appell,endlich Reaktion zu zeigen?

Mich interessiert dieser Jugendli-che, weil er die „Erwachsenen-scheiße“ nicht mehr erträgt.Diese Erklärungen für alles. SeinVater hat als Pilot auch schoneinmal einen Abschiebefluggeflogen und rechtfertigt sich:„Mein Gott Junge, ich kann mirdas doch nicht aussuchen. Vondem Geld, das ich verdiene,gehst du in die Schule, davonkaufst du dir Klamotten.“ Alsowenn ich mich heute mit denAugen von damals, als ich selbst17 war, betrachten würde, dannwürde ich mir vielleicht denken:Was ist das denn für ein ange-passtes Arschloch? Mit den Jah-ren geht so viel an Radikalitätverloren. Weil man sich mitallem arrangiert. Man führt seinangepasstes Leben und versuchtsogar ein guter Mensch zu sein.Aber diese Wut, diese Rigorosität,die man mit 17 hat, die gehtmeistens flöten. Ich frage michoft, ob das gut oder schlechtist!?<

.

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Christoph AhlhausNur zwei Jahre im Amt - und schon der Titel des Abschie-beministers. Da müssen andere lange Anlauf nehmen. Aberer schaffte ja auch anderes in Kürze: Die Neuanschaffungeiner polizeilichen Reiterstaffel z.B. – gelebte Tierliebe plusdauerhaft hohe Betriebskosten, weil die neue Regierung sichnicht traut, die Staffel wieder zu verwursten. 1,2 Mio. Eurofür Sicherheitsmaßnahmen an seinen Privatwohnungen,obwohl Ahlhaus so unauffällig war, dass nicht einmal Ter-roristen ihn als Charaktermaske tituliert hätten. Eine kleineDienstwagen-Affäre und die Bestrebung, das Polizeiorche-ster aus dem notleidenden Kulturetat zu finanzieren,machen aus einem milchigen Blässling noch keinanschlagsrelevantes Ziel. Staubt jetzt im titelfeindlichenHamburg vermutlich die einzig verbliebene Trophäe ab:den "Abschiebungsminister". Oder rührt die Triangel imPolizeiorchester. Abschieben macht einsam.

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Abschiebung in Zahlen

Ein statistischer Überblick von Timmo Scherenberg

Im Jahr 2011 wurden aus Deutschland insgesamt 7.917

Personen abgeschoben, davon 7.188 auf dem Luftweg.

Damit sind die Zahlen zwar gegenüber 2010 wieder

leicht angestiegen, sind aber, betrachtet man die letzten

20 Jahre, weiterhin auf relativ niedrigem Niveau – zum

Vergleich: im Jahr 2000 waren es noch 35.444 Ab -

schiebungen. Der stetige Rückgang hat verschiedene

Gründe: Erstens erhielten durch die EU-Osterweiterun-

gen 2004 und 2007 Bürgerinnen und Bürger dieser

Staaten das Recht auf Freizügigkeit und werden nur

noch in Ausnahmefällen abgeschoben. Des Weiteren

sind die Flüchtlingszahlen zwar in den letzten Jahren

wieder gestiegen, liegen aber immer noch bei weniger

als der Hälfte der Asylantragszahlen der 1990er Jahre.

Als dritten wichtigen Faktor kann man wohl die

Bleiberechtsregelungen für langjährig geduldete

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Abschiebungen in Zielstaaten 2010

Illustration: Matthias Weinzierl

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Flüchtlinge nennen, über die etwa 60.000 Personen, die

vorher von Abschiebung bedroht waren, eine Aufen-

thaltserlaubnis erhielten.

Abgelehnte Asylsuchende machen nur einen Teil der

gesamten Abschiebungen aus: Nach Angaben aus dem

Hessischen Innenministerium sank der Anteil der

abgelehnten Asylsuchenden an den Abgeschobenen von

etwa 33% im Jahr 2005 auf 20% im Jahr 2010. Andere

große Gruppen sind Personen, die direkt aus der

Strafhaft abgeschoben werden oder, die nach Ablauf der

Aufenthaltserlaubnis oder des Visums nicht ausgereist

sind.

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Die wichtigsten Zielländer waren Serbien (890), Italien

(605, wahrscheinlich größtenteils Dublin II-Abschiebun-

gen), die Türkei (513), Kosovo (468), Mazedonien (455)

und Vietnam (366), in die zusammen etwa 40% aller

Abschiebungen aus Deutschland stattfanden. Es gab

jedoch auch eine ganze Reihe von Abschiebungen in

Kriegs- und Krisengebiete wie zum Beispiel Afghanistan

(12), Irak (16) oder Syrien (18), einzig nach Somalia sind

Abschiebungen derzeit nicht möglich.

Gescheitert sind 2010 insgesamt 230 Abschiebungen

(also immerhin jede 30. Abschiebung), wobei in dieser

Statistik nur die Fälle erfasst werden, in denen die

Abschiebung schon eingeleitet wurde. 122 Abschiebun-

gen scheiterten aufgrund von Widerstandshandlungen

der Betroffenen – dies ist beispielsweise der Fall, wenn

Menschen, die ohne Begleitung abgeschoben werden

sollen, sich weigern das Flugzeug zu besteigen. 56 wur-

den aus medizinischen Gründen abgebrochen und in 39

Fällen weigerte sich der Flugkapitän, die Abzuschieben-

den mitzunehmen. In 13 Fällen verweigerte der Zielstaat

die Einreise.

384 Abschiebungen erfolgten durch EU-organisierte Sam-

melcharter, insgesamt beteiligte sich Deutschland an 19

Sammelchartern. Neun davon wurden von Deutschland

organisiert (und Plätze anderen EU-Staaten angeboten),

allesamt nach Kosovo oder Serbien. In zehn Fällen

beteiligte sich Deutschland an Charterabschiebungen, die

von einem anderen EU-Staat organisiert worden waren,

alle gingen nach Nigeria, D.R. Kongo und Gambia.

Neben den Abschiebungen wurden 2010 allerdings auch

noch 5.281 Menschen zurückgeschoben, 3.378 zurück-

gewiesen, so dass die Gesamtzahl an Abschiebungen

und Einreiseverweigerungen bei 16.576 lag. 2.902 Asyl-

suchende wurden im Rahmen des Dublin-II Verfahrens

in andere EU-Mitgliedstaaten überstellt, darunter 380

Minderjährige. Hauptzielländer der Überstellungen waren

Italien (635), Polen (357), Frankreich (278) und Schwe-

den (270). Nach Angaben der Bundesregierung sind

diese Zahlen jedoch schon in den Abschiebungen und

Zurückschiebungen enthalten. Als Zurückschiebungen

werden in der Statistik Abschiebungen bezeichnet, die

im Zusammenhang mit dem Grenzübertritt oder auf-

grund eines zwischenstaatlichen Rückübernahmeabkom-

mens mit anderen EU-Staaten stattgefunden haben. Auf-

grund statistischer Ungenauigkeiten kann es hier aber

auch zu Überschneidungen mit Abschiebezahlen kom-

men, so dass Personen in einer ähnlichen Situation das

eine Mal als Abschiebung, das andere Mal als

Zurückschiebung gezählt werden.

ls Zurückweisung wird die direkte Einreiseverweigerung

an der Grenze bezeichnet. Dies betrifft sowohl Asyl-

suchende, die nach dem negativen Ausgang eines

Flughafenverfahrens abgeschoben werden als auch zum

Beispiel Urlaubs- oder Geschäftsreisende, die kein

gültiges Visum für die Einreise ins Bundesgebiet haben

und denen deshalb die Einreise verweigert wird. Durch

den Wegfall der Grenzkontrollen an den Landgrenzen

finden Zurückweisungen nur noch an Flughäfen (und in

geringer Anzahl an Seehäfen) statt.

Neben den schwerwiegenden Konsequenzen, die eine

Abschiebung oft für das Leben der Betroffnen hat,

kommt es durch Abschiebungen beziehungsweise

Abschiebungsversuche auch immer wieder zu Verletzten

bis hin zu Toten: Nach Angaben der Antirassistischen

Initiative Berlin töteten sich 2010 (Zahlen für 2011 liegen

noch nicht vor) 4 Menschen selbst angesichts ihrer dro-

henden Abschiebung oder starben beim Versuch, vor der

Abschiebung zu fliehen, davon befanden sich drei Perso-

nen in Abschiebehaft. Mindestens 46 Flüchtlinge ver letz -

ten sich selbst oder versuchten sich umzubringen und

überlebten zum Teil schwer verletzt, davon befanden

sich 21 Menschen in Abschiebehaft. 11 Flüchtlinge wur-

den durch Zwangsmaßnahmen oder Misshandlungen

während der Abschiebung verletzt.<

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Dublin II Abschiebungen 2010

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Europa ist bekanntlich nicht gleich Europa. DerEuroparat umfasst 47 Mitgliedstaaten, ein-schließlich Russland und Türkei. Zu seinen

Organen zählt der Europäische Gerichtshof für Men-schenrechte (EGMR) in Straßburg, der die Europä -ische Menschenrechtskonvention verbindlich auslegt.Hiervon zu unterscheiden ist die Europäische Union(EU) mit ihren 27 Mitgliedstaaten. Deren oberstesGericht, der Gerichtshof der Europäischen Union(EuGH) in Luxemburg, interpretiert verbindlichUnionsrecht, einschließlich der Grundrechtecharta.

Der EGMR hat am 21. Januar 2011 ein viel beachtetesUrteil gefällt, bei dem es um die Abschiebung nachder Dublin II-Verordnung von Belgien nach Griechen-land ging.1 Zufälligerweise genau elf Monate später,am 21. Dezember 2011, fällte der EuGH ebenfalls einUrteil, das Fragen der Vereinbarkeit von Dublin-Abschiebungen nach Griechenland mit dem Union-srecht behandelte.2 In beiden Fällen spielte also dieSituation in Griechenland eine besondere Rolle.3

Menschenrechtliche Mindeststandards

Beide Gerichtshöfe nehmen die europäische Politikbeim Wort: Seit Jahren ist vereinbart, dass spätestens2012 in der EU ein „Gemeinsames Europäisches Asyl-system“ bestehen soll. Dessen Grundlagen sind nebender Dublin II-Verordnung vor allem Richtlinien, dieeinen gemeinsamen Flüchtlingsbegriff herbeiführenund die Aufnahmebedingungen für Asylsuchende undEinzelheiten der Asylverfahren regeln sollen. Zusam-men bilden diese Rechtsakte ein System von Mindest-standards, die zumindest nicht systematisch unddauerhaft unterschritten werden dürfen.

Vor dem Hintergrund, dass, wie der EGMR feststellt,Asylsuchende aufgrund ihrer spezifischen Situation imAufnahmeland eine besonders verletzbare Gruppedarstellen, ziehen die Gerichtshöfe die folgende Kon-sequenz: Werden einer/einem Asylsuchenden dauer-haft Rechte aus diesem System der Mindeststandardsvorenthalten, kann dies eine schwerwiegende Verletz -

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Abschiebe-Bescheid beim Boarding

Seit 2003 gilt die Dublin II-Verordnung für die EU-Mitgliedstaaten, Norwegen und Island, seit 2008 auch fürdie Schweiz. Sie legt fest, welcher Staat für die Durchführung eines Asylverfahrens zuständig ist und unterwelchen Voraussetzungen gegebenenfalls eine Abschiebung in einen anderen Staat erfolgen kann. Durchdiese Regelung werden Menschen wie Apfelsinenkisten hin- und hergeschoben. Im Jahr 2011 haben zweihöchste europäische Gerichtshöfe wichtige Urteile zur Anwendung der Dublin II-Verordnung gefällt. Wassind die Konsequenzen dieser Entscheidungen? Von Stefan Keßler

Foto: Archiv

Hello & Goodbye … immer wieder Dublin II

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ung der Europäischen Menschenrechtskonvention(Artikel 3) und der Europäischen Grundrechtecharta(Artikel 4) bedeuten. Diese beiden – gleichlautenden– Bestimmungen bilden somit die menschenrechtliche„Messlatte“. Es darf demnach niemand „der Folteroder unmenschlicher oder erniedriegender Strafe oderBehandlung unterworfen werden“.

Die Regelvermutung: Eine neue Hürde

Für den Staat, der eine/n Asylsuchende/n im Dublin-Verfahren in einen anderen Staat abschieben möchte,ergibt sich daraus, dass das „Blinde-Kuh-Spiel“ vorbeiist: Er darf nicht einfach darauf vertrauen, dass imZielstaat der Abschiebung schon alles in Ordnung ist.Stattdessen muss er einem möglichen Vorbringendes/der Asylsuchenden und/oder Berichten über dieLage im Zielstaat nachgehen. Gegebenenfalls muss erdie Abschiebung aussetzen, wenn sie bedeutenwürde, die/den Asyluchende/n der Gefahr von Men-schenrechtsverletzungen auszusetzen. In der Termi-nologie des EuGH: Es gilt die Regelvermutung, dassalle Mitgliedstaaten Asylsuchende „ordentlich“ behan-deln. Diese Regelvermutung ist allerdings im und fürden Einzelfall widerlegbar.

Für das deutsche Recht bedeutet das: Aus der vomBundesverfassungsgericht 1996 erfundenen „normativ-en Vergewisserung“, die jede Berücksichtigung einesindividuellen Vortrags weitgehend ausschloss, wirddie widerlegbare Regelvermutung. Die widerlegbareRegelvermutung bedeutet allerdings eine Hürde, dienicht einfach zu nehmen ist: Die/der Asylsuchendemuss detailliert und möglichst mit Berichten vonNichtregierungsorganisationen, des UNHCR oderanderer Stellen gestützt vortragen, dass ihr/ihm –gleich sam ausnahmsweise – im Zielstaat der Dublin-Abschiebung eine Behandlung droht, die einer Men-schenrechtsverletzung gleichkommt. Das war (undist) im Fall Griechenlands relativ einfach, weil dortdas Chaos inzwischen gut dokumentiert ist. Beianderen Ländern, zu denen weniger Informationenvorliegen, wird es schwieriger. Allerdings ist zumind-est der EGMR bereit, auch selbst die Situation ineinem Land zu prüfen: Der Straßburger Gerichtshofforderte im Januar 2012 Österreich auf, einen somali -schen Asylsuchenden vorläufig nicht nach Ungarnabzuschieben. Denn Berichte deuten darauf hin, dasser dort keinen Zugang zu einem fairen Verfahrenerhalten würde. Der Gerichtshof will diesen Informa-tionen nachgehen.

„Systemische“ Probleme versus Einzelfälle

Hinzu kommt ein Element aus der Entscheidung desEuGH, das nicht einfach zu interpretieren ist: NachAnsicht des Luxemburger Gerichts soll nicht jedeeinzelne Verletzung eines Anspruchs aus einer Richt -linie schon eine Dublin-Abschiebung verhindern. Nur„systemische“ Probleme, etwa im Asylverfahren oderin den Aufnahmebedingungen, würden dies nötigmachen. Es reicht danach nicht aus, Einzelfälle zuzitieren, sondern man muss nachweisen, dass einschwerwiegendes Problem generell besteht.

Dem steht jedoch die Rechtsprechung des EGMRetwas entgegen, die immer den Einzelfall im Blick hatund die Situation in einem Land daraufhin untersucht,welche Auswirkungen sie auf die/den Asyl-suchende/n hätte.

Eine mögliche Auslegung, die beide Tendenzenzusammenführt, könnte darin bestehen, dass eineDublin-Abschiebung dann auszusetzen ist, wenn inden Aufnahmebedingungen oder dem Asylverfahren„systemische“ Mängel herrschen, auf die sich die/derAsylsuchende beruft, ohne dass sie/er schon individu-ell davon betroffen war. Ein Beispiel: Eine Asyl-suchende hielt sich nur kurzzeitig in Italien auf, bevorsie nach Belgien weiterreiste, sodass sie von den inItalien herrschenden Problemen nicht schwerwiegendbetroffen war. Gegenüber den belgischen Behördenkönnte sie sich nur dann gegen eine Abschiebungnach Italien wehren, wenn sie aufzeigen könnte, dassdie Probleme dort „systemisch“ sind. Die Problememüssten alle (oder zumindest nahezu alle) Asyl-suchenden dort treffen und damit mit hoherWahrscheinlichkeit auch sie, wenn sie dorthin zurück-kehrt. Demgegenüber könnten Asylsuchende, dieschon von den Problemen betroffen waren oderderen individuelle Umstände dazu führen, dass eineDublin-Abschiebung zu einer Menschenrechtsverlet-zung würde, sich hierauf berufen, ohne den „sys-temischen“ Charakter der Probleme darlegen zumüssen. Ein Asylsuchender, der belegen könnte, dassseine Krankheit in Bulgarien nicht behandelt würde,könnte sich mit diesem Argument gegen eine Dublin-Abschiebung dorthin wehren, auch wenn der Mangelnur ihn trifft und nicht alle Asylsuchenden.

Deutsche Unsitten

Die wichtigste Konsequenz aus den europäischenEntscheidungen für die deutsche Praxis ist aber, dassder Ausschluss des (Eil-)Rechtsschutzes in Dublin-Ver-fahren europarechtswidrig ist. Zwar hat sich der

a b g e s c h o b e n

1 Europäischer

Gerichtshof für Men-

schenrechte, Große

Kammer, Urteil vom

21.1.2011, 30696/09,

M.S.S. gegen Belgien

und Griechenland.

Deutscher Wortlaut

unter anderem auf

www.asyl.net.

2 Gerichtshof der

Europäischen Union,

Urteil vom

21.12.2011, C-411/10

u. C-493/10, N.S.

gegen Vereinigtes

Königreich sowie M.E.

u.a. gegen Irland.

Deutscher Wortlaut

ebenfalls auf

www.asyl.net.

3 Beide Gerichtsent-

scheidungen nehmen

vor allem Bezug auf

die folgenden drei

europarechtlichen

Bestimmungen: a)

Artikel 3 der Europäi-

schen Menschen-

rechtskonvention

(EMRK): „Niemand

darf der Folter oder

unmenschlicher oder

erniedrigender Strafe

oder Behandlung

unterworfen werden.“

b) Artikel 13 EMRK:

„Sind die in der vor-

liegenden Konvention

festgelegten Rechte

und Freiheiten ver-

letzt worden, so hat

der Verletzte das

Recht, eine wirksame

Beschwerde bei einer

nationalen Instanz

einzulegen, selbst

wenn die Verletzung

von Personen began-

gen worden ist, die in

amtlicher Eigenschaft

gehandelt haben.“ c)

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EuGH in seiner Entscheidung zu dieser Frage nichtexplizit geäußert; er hat aber zustimmend die Ent -scheidung des EGMR zitiert. Dort wird klar und deut-lich ausgedrückt, dass ein Ausschluss von einemwirksamen Rechtsschutz gegen eine Dublin-Entschei-dung den Anspruch auf ein wirksames Rechtsmittelaus Artikel 13 der Europäischen Menschenrechtskon-vention verletzt. Insbesondere § 34a Abs. 2 des deut -schen Asylverfahrensgesetzes ist somit mit europäis-chem Recht nicht vereinbar und daher nicht anzu -wenden. Stattdessen muss zumindest gelten, dassein/e Asylsuchende/r gegen eine Dublin-AbschiebungKlage erheben und einen Antrag auf einstweiligenRechtsschutz stellen kann und das Gericht befugt ist,den einstweiligen Rechtsschutz zu gewähren. Darausfolgt aber auch, dass die Praxis bei der Aushändigungvon Abschiebe-Bescheiden geändert werden muss:Die Unsitte, einen solchen Bescheid den Betroffenenkurz vor der Gangway zum wartenden Flugzeug indie Hand zu drücken, muss beendet werden. Asyl-suchende müssen, damit ihre europarechtlichen An -sprüche verwirklicht werden, ihren Abschiebe-Be -scheid so rechtzeitig erhalten, dass sie Anwälte ein-schalten und ein Gericht anrufen können.

Dublin II – kein Ende in Sicht

In der Europäischen Union wird derzeit über einenVorschlag der Kommission zu einer Neufassung derDublin II-Verordnung diskutiert. Momentan liegt dasPapier im Rat der EU, der Vertretung der Mitglied-staaten. Die Meinungsbildung dort ist alles andere alserfreulich. Auf Druck vieler Regierungen, auch derdeutschen Bundesregierung, ist inzwischen die Ideevom Tisch, in die Verordnung einen Mechanismuseinzubauen, der bei Überlastung eines Mitgliedstaatesmit Asylantragszahlen ein Aussetzen von Dublin-Abschiebungen dorthin bewirkt hätte. Stattdessenwird man sich wohl eher auf ein Monitoring-Systemverständigen, das die Situation in jedem Mitgliedstaatin den Blick nehmen und auf Überlastungserschein-ungen mit finanziellen und personellen Hilfenreagieren soll. Das Dublin-System als Ganzes sollaber auf keinen Fall in Frage gestellt werden. Auchhofft man – zumindest offiziell –, dass die Hilfestel-lungen durch das neu eingerichtete Europäische Asy-lunterstützungsbüro (European Asylum Support Office–EASO) mangelnde nationale Kapazitäten ausgleichenwerden. Entgegen den Forderungen von Nichtregie -rungs organisationen wird die Perspektive der betrof-fenen Asylsuchenden vollkommen ignoriert. Men-schen werden weiterhin wie Apfelsinenkisten hin-und hergeschoben werden.

Was tun?

Wer Asylsuchende im Dublin-Verfahren betreut, solltesich ermutigt fühlen, gegen drohende Abschiebungenin ein Land, in dem der/dem Betroffenen unzumut-bare Umstände drohen, gerichtlich vorzugehen. Spä -testens seit der EuGH-Entscheidung vom vergangenenDezember dürften die meisten Verwaltungsgerichtebereit sein, Anträge auf einstweiligen Rechtsschutzinhaltlich zu prüfen. Wann ein solcher Eilantrag ge -nau bei Gericht gestellt werden sollte, ist allerdingsweiterhin schwierig zu bestimmen, da das Bundesamtfür Migration und Flüchtlinge seine Praxis, Abschiebe-Bescheide beim Boarding auszuhändigen, bislangnicht geändert hat.

Zur Begründung von Eilanträgen braucht man aller -dings Informationen über die Lage im Zielstaat derDublin-Abschiebung, die auf den konkreten Einzelfallpassen. Solche Materialien zu beschaffen, erweist sichjedoch immer wieder als schwierig. Der Informations -verbund Asyl mit seinen beiden Webseitenwww.asyl.net und www.ecoi.net ist ein hilfreicherPartner. Aber auch dort kann man nicht zaubern. Essind also noch alternative Wege zur Informations-beschaffung zu entwickeln.

Zugleich gilt es, das Thema „Dublin II“ in der poli -tischen Debatte zu halten. Vor allem mit konkretenEinzelfällen, an denen die vielen Mängel des Systemsdeutlich werden, lässt sich gut argumentieren. DieFlüchtlingsräte und -organisationen könnten auchüberlegen, ob sie nicht gerade jetzt verstärkt „ihre“lokalen oder regionalen Mitglieder des EuropäischenParlaments ansprechen und darauf drängen, dass dieDublin II-Verordnung zumindest geändert werdenmuss. Auch die lokalen Bundestagsabgeordneten soll-ten darauf hingewiesen werden, dass Änderungendes nationalen Rechts dringend erforderlich sind. Vorallem müssen § 34a Abs. 2 des deutschen Asylver-fahrensgesetzes und verwandte Vorschriften, dieeinen wirksamen (Eil-)Rechtsschutz gegen Dublin-Entscheidungen verunmöglichen, gestrichen werden.Ein erster Antrag von den Grünen dazu liegt bereitsdem Bundestag vor.4<

Stefan Keßler ist Referent beim

Jesuiten-Flüchtlingsdienst Europa

in Brüssel.

a b g e s c h o b e n

Artikel 4 der Europäi-

schen Grundrechtech-

arta: „Niemand darf

der Folter oder

unmenschlicher oder

erniedrigender Strafe

oder Behandlung

unterworfen werden.“

4 Bundestagsdrucksa-

che 17/8460,

25.01.2012

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Mit der Herausbildung der Nationalstaatensowie dem damit einhergehendenHomogenisierungsfuror in Richtung neues

„Innen“ entstand das, was heute mit Abschiebungbeschrieben wird. Dennoch fanden damit verwandteVorgänge auch schon vor der Entstehung modernerNationalstaaten statt, allerdings unter anderem Namenund mit anderen Hintergründen. Geächtete im Mittel -alter beispielsweise durften sich bestimmten betroffe-nen Regionen nicht mehr annähern und mussten ihrLeben fortan als „Waldgänger“ fristen. Eine mildereForm der Acht, die auch den kompletten Rechtsver-lust, die Vogelfreiheit, bedeutete, war die Verban-nung. Die Verurteilten konnten entweder niemalsoder nur nach einer bestimmten Zeit in die Regionzurückkehren, eine eigens dafür gesetzte Brandmarkeam Körper verriet die Dauer des verordneten Fern-bleibens. Voraussetzung war allerdings, dass denGeächteten ein Vergehen – zumeist anscheinendmoralischer Natur – angelastet werden konnte. Einder heutigen Abschiebung nahezu entgegengesetzterVorgang war indes der sogenannte Wildfang, der aufdem Wildfangrecht (ausbuchstabiert: das „Recht desherkommenden Mannes“) basierte:

„Das Wildfangrecht meint das zuerst den Pfalzgrafenam Rhein, dann allen Provinziallandgrafen, nament-lich dem Pfalzgrafen in Baiern zustehende Recht,Wildfänge, das heißt alle unehelichen Kinder, welchein den Gegenden geboren wurden, wo das Wildfang-recht galt, dann alle in jenen Gegenden sich freiwilligniederlassenden und ein Jahr dort verweilenden, kei-nen nachfolgenden Herren habenden, das heißt voneinem vorherigen Leibherren nicht reklamierten Per-sonen, endlich auch die Hagestolzen,1 für Leibeigenezu erklären und als solche zu behandeln.“ (Pierer’s Universal-Lexikon).

Vom Kolbenkerl zum kessen Mädchen

Nun brachte das Wildfangrecht nicht nur Vorteile fürdie just vereinnahmten sogenannten Wildlinge.Mobili sierte der Kurfürst zum Krieg, sah man sich alsWildling schnell als Kolbenkerl (nur mit einem Kol-ben, nicht etwa mit einer Lanze bewaffnet) im Kriegs-getümmel. Der Büttel war zwar in der Pflicht, alsQuasi-Eigentum des Kurfürsten genoss er zeitgleichaber auch einen besonderen Schutz. Außerdem wares möglich, sich von den spezifischen Wildlings-pflichten freizukaufen. Die Kurfürsten nahmen dasvom Kaiser an sie übertragene Wildfangrecht weitüber die Landesgrenzen hinaus in Anspruch. So kames beispielsweise, dass alle Bewohner Friesenheimsals Wildlinge unter dem Schutz des Kurfürsten derPfalz standen – und von ihm besteuert wurden –,obwohl Friesenheim nicht zur Kurpfalz gehörte. Der-erlei Beispiele sind in den Chroniken deutscher,französischer und holländischer Dörfer viele zu find-en. Kurbaiern übte dieses Recht auch in Speyerschenund Wormsschen Territorien aus, was für allerhandZündstoff sorgte.

Leibeigenschaft ist kein Kindergeburtstag und derBüttel war ungut angeschrieben, dennoch zeugt dasWildfangrecht von einem deutlich anderen Blick aufZugereiste als das heutige Ausländerrecht; die Recht-sprechung drehte sich um die schnellstmögliche Ver -einnahmung von Ankömmlingen, nicht um Fernhal-ten und Abschieben. Interessant ist auch, wie sich derBegriff „Wildfang“ nach dem Wegfall des fürstlichenAnrechts Ende des 17. Jahrhunderts wandelte. Wurdedas Wort im 17. Jahrhundert noch als Synonym fürZugereiste verwendet, transformiert es darauf zurBezeichnung für gedankenlose und lebhafte Men-schen, die die Gesetze des Anstands leichtfertigübertreten. Im 20. Jahrhundert bezeichnete es dannvor allem junge Mädchen, die sich aus Sicht derBetrachtenden (zu) burschikos verhielten. Wildfangist damit seit Jahrhunderten eine Auszeichnung fürstilvolle Grenzüberschreitung. Es gibt nicht vieleWorte, denen vergleichbar Positives nachzusagen ist.<

Caspar Schmidtist freier Journalist

und Intellektueller

aus München

1 Wikipedia: Ein

Hagestolz ist ein

älterer Junggeselle.

In der Umgangsspra-

che wird der Begriff

darüber hinaus in

der Bedeutung

„Junggeselle aus

Überzeugung“ oder

Sonderling – ein

Mann, der die Ehe

verabscheut –

gebraucht (Anm. des

Autors: weshalb der

Hagebaumarkt auch

der Etymologie ver-

pflichtet Hagebau-

markt und nicht

Honeymoon-Bau-

markt heißt)

50

It’s Jus Wildfangiatus, Baby!

Alle reden über Abschiebung, niemand über Wildfang. Das ist nachvollziehbar, weil das Recht der ehema-ligen Kurfürsten, Zugereiste unter ihre Fuchtel zu nehmen, schon seit über 300 Jahren nicht mehr gilt. Den-noch verdient es eine kritische Würdigung. Von Caspar Schmidt

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Ali, du hast 1995 in Hessen, in derNähe von Frankfurt am Main, deinen

Asylantrag gestellt. Wie kamst dunach Erlangen?

Zuerst wurde ich nach Chemnitzverteilt, zusammen mit zwei ande-ren Iranern. Das war nicht so gut,kurz nach der Wende, in der ehe-maligen DDR. Bevor ich nachErlangen kam, war ich noch einJahr in Plauen, das ist in der säch-sischen Provinz. Schließlich hat

mein Bruder, der schon längereZeit in Erlangen lebte, einenAntrag gestellt, in dem er unteranderem versicherte, die ganzenKosten für meinen Umzug nachErlangen zu übernehmen. Sobegann die Geschichte hier inErlangen. Ich warte – ich schwörebei Gott, ich schwöre bei Jesus –auf den Tag, an dem ich ausErlangen weggehen kann. Der ein-zige Grund, warum ich noch hierbin, ist meine 77-jährige Adoptiv-

mutter. Ich muss mich um siekümmern. Der Tag, an dem ichaus Erlangen weggehe, das wirdmein bester Tag. Glaubt mir, dannwerde ich wiedergeboren. Haupt-sache weg. Seit fast 17 Jahren binich hier, aber Ruhe habe ich über-haupt nicht. Jede Sekunde habeich Angst vor der Polizei – ohnedass ich irgendetwas gemachthätte. Ich werde andauernd kon-trolliert. Das ist Schikane.

51

„Ich habe meinen Pass, aber keine Ruhe“

Mitte der 90er Jahre floh Ali H. aus dem Iran nach Deutschland. Seine Asylanträge lehnte das Bundesamt für Migration undFlüchtlinge über mehrere Jahre hinweg immer wieder ab. 2007 ließ ihn die Erlanger Ausländerbehörde plötzlich nach Teheranabschieben, dort wurde er sofort verhaftet und gefoltert. Nachdem Ali H. ein weiteres Mal nach Deutschland einreisen konnte,wurde er 2009 endlich als Flüchtling anerkannt. Seitdem lebt der 45-Jährige wieder in Erlangen und arbeitet dort als selbst-ständiger Taxifahrer. Matthias Weinzierl und Till Schmidt setzten sich am Erlanger Hauptbahnhof in H.s Taxi und sprachen mitihm über seine Abschiebung, die Wiedereinreise nach Deutschland und umtriebige Angestellte der Ausländerbehörde.

Foto: Archiv

Taxidriver Weil Ali H. sich mittlerweile in der Erlanger Öffentlichkeitunwohl fühlt, führten wir das Gespräch auf der Rückbankseines Taxis.

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Was ist hier in Erlangen passiert?

Mein Asylantrag wurde mehrmalsabgelehnt. Ich versuchte es aberimmer wieder, vielleicht hätte es jairgendwann geklappt. An einemFreitag im Sommer 2007 bin ichdann zur AusländerbehördeErlangen, um mir eineReisegenehmigung ausstellen zulassen. Die brauchte ich, um fürmeinen Asylfolgeantrag legal nachChemnitz, zum Bundesamt fürMigration und Flüchtlinge, fahrenzu können. A.M., der zuständigeBeamte, hat sich allerdingsgeweigert, mir eine solcheGenehmigung auszustellen. Erwies mich an, am darauffolgen-den Montag wiederzukommen. AmSonntag hat es um zwei Uhrnachts plötzlich an meiner Woh-nungstür geklopft. Ich dachtezuerst, das wäre meine Freundin.Aber sie hat eigentlich einen eige-nen Schlüssel, deshalb habe ichmich gewundert. Es hat geklopftund geklopft. Und geklingelt. Daswar Wahnsinn. Dann hab ich dieTür aufgemacht, und sofort habensie mich gepackt, wie einen Ver-brecher. Ich sagte: „Was machtihr?“ Ich wusste ja nicht, worum esging. Ich sagte: „Lassen Sie michdas Gesicht waschen.“ „Nein!“,war die Antwort, „Kommen Sieraus!“ Dann wurde ich in Unter-hose und mit angelegten Hand-schellen aus meiner Wohnungrausgezogen.

Durftest du anschließend persönliche Sachen mitnehmen?

Ich schwöre bei Gott, bei allenHeiligen, gar nichts! Die Händewaren mit Handschellen gefesseltund sie haben mir einen Zettel vormeine Augen gehalten. Daraufstand etwas mit Abschiebung, eswar ein Fax, eine Anweisung vonder Erlanger Ausländerbehörde.Ich bat sie, mir mein Handy auseiner Tasche herauszuholen, die

auf einem Tisch im Flur lag. Darinhat einer von ihnen gekramt, die850 Euro, die darin waren, ent-deckt, und davon 650 Euro fürdas Abschiebeflugticketbeschlagnahmt. Es hat gedauert,bis wir zum Polizeirevier in Erlan-gen kamen, es war viertel nachzwei oder halb drei. Ich war dortin einer Zelle im Keller. Es wardunkel, ich konnte überhauptnichts sehen.

Und du warst immer nochin der Unterhose?

Ja, wirklich, glaubt mir. Das Wass-er stand mir bis zum Hals. Ichhabe mehrmals um eine Deckegebeten, aber es gab nur eine Plas-tikmatratze. Ich bin dort gesessen,ohne Schuhe, ohne alles, nur inUnterhose. Gegen halb neun etwahaben sie mir mein Handygegeben. Ich habe dann meinenBruder angerufen, und andereKontakte aus Erlangen. MeinBruder hat mir dann Schuhe undKlamotten gebracht. In den Klam-otten bin ich zum Amtsgericht,dann nach Nürnberg und dort insGefängnis, wo ich vier Tage war.An meinem Geburtstag, am 17.August, bin ich in einem mitEinzelzellen ausgestattetenGefängnisbus nach Aschaffenburggebracht worden. Die ganze Fahrtmusste ich stehen. Von Frankfurtam Main aus bin ich dannabgeschoben worden. Auch amFlughafen saß ich in einerGefängniszelle. Ich habe die ganzeZeit geweint, ich war total sauer.Irgendwann kamen auch die Leutevom Flughafen-Sozialdienst. Siesagten, sie kämen, um mich zutrösten. Ich sagte ihnen: „Wenn Siemir nicht helfen können, bitte ver-schwinden Sie, ich will keinenTrost, ich werde baldabgeschoben.“ Zwei Polizistenbegleiteten mich ins Flugzeug. Mirwurden Handschellen angelegt.Die Beamten hatten einen Zettel

dabei, auf dem stand, ich wäre„extrem gefährlich“ und müssedeshalb von mehreren Polizisteneskortiert werden. Dabei war ichüberhaupt nicht aggressiv! Insge-samt sind vier Beamte mit nachMoskau geflogen. Sie haben denVorgang mit mir abgesprochen,ich bin ganz cool geblieben. ImGegensatz zu einem älteren Herrn,der auch abgeschoben worden ist.

Und wie ging es weiter?

Nach einer Nacht in Moskauwurde ich nach Aserbaidschangeflogen. Dort habe ich meineSachen, meinen Pass und so,bekommen. Im Flugzeug von Aser-baidschan nach Teheran war ichohne Begleitung. Am TeheranerFlughafen wurde ich gleich wiederinhaftiert. Sie haben mich in einBüro mitgenommen. Die Beamtenschlugen mich, ohne Vorwarnung,mehrmals mit der geballten Faustauf den Hinterkopf. Nach zweiWochen in Teheran haben siemich in eine Stadt im Süden, amPersischen Golf, gebracht. Da warich dann insgesamt sechseinhalbMonate. Mein Bruder hat michmehrmals besucht und immerwieder Sätze gesagt, wie „in drei,vier Tagen scheint die Sonne, duwirst deine Ruhe haben.“ (Ali H.sStimme wird brüchig und erbeginnt zu weinen.) Ich habe ihnnicht verstanden, denn es warWinter. Aber das war der Code fürmeine anstehende Befreiung. Aufdem Weg vom Gefängnis zumGericht haben er und seine Helferdann einen Unfall inszeniert undmich in ein bereitgestelltesFluchtauto gesetzt. Mit dem wurdeich direkt zum Persischen Golfgefahren, von wo ich, unterge-bracht im Kellerraum einesSchiffes, nach Bahrain gelangte.Die Flucht hatte meinen Bruder25.000 Euro gekostet. Es war allesvorbereitet. In Bahrain gab mirder Schlepper einen Anzug und

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Schuhe. Das war alles ganz neu,ganz elegant. Ich habe die Sachennoch. Das sind meine besten, diezieh ich nie mehr an. VonBahrain bin ich Anfang März2008 direkt nach Frankfurt amMain geflogen.

Wie war die Situation in Frankfurt,am Flughafen?

Nachdem ich mich bei der Polizeiam Frankfurter Flughafengemeldet hatte, beantragte A.M.,der Beamte von der Erlanger Aus-länderbehörde, umgehend meineerneute Abschiebung. Mein Ein-reiseantrag wurde zunächstabgelehnt – die zuständige Sach-bearbeiterin sagte, ich könnemeine Geschichte meiner Muttererzählen. Dagegen habe ich Ein-spruch eingelegt. Zum Glückwurde mir anschließend eine Ein-reiseerlaubnis erteilt. Der BeamteM. hat wiederum gegen diese Ein-reiseerlaubnis Einspruch eingelegt,er wollte mich sofort wiederabschieben lassen. Als die Polizeiihm die Einreiseerlaubnis gefaxthat, muss er sich sofort hingesetzthaben und ein Schreiben aufge -setzt haben. Glaubt mir, ich hattedamals immer eine Rasierklingedabei. Zwei andere Iraner sinddamals wieder abgeschoben wor-den. Wenn sie mich abgeschobenhätten, dann hätte ich mich wirk-lich… – Gott ist mein Zeuge. Ichlüge nicht und will nichtübertreiben, aber ich hatte dieKlinge immer dabei.

Für das Verfahren haben michdann wieder drei, vier Polizistenabgeholt und vom Transitbereichdes Flughafens zum Amtsgerichtgebracht. Im Korridor vor demGerichtssaal haben sie mir dieHandschellen abgenommen. Dasalles war wirklich Wahnsinn. Ichhatte die ganze Zeit große Angstvor M. Ich hatte meinen Anwaltnoch nie gesehen. Neben mir

stand ein Mann. Wir unterhieltenuns und er beruhigte mich. Ichbedankte mich und sagte, dass ichhoffe, dass alles gut werde, mitseiner Unterstützung. Darauf sagteer, ich bin nicht Ihr Anwalt, ichbin der Richter. Ich bekam einenSchreck. Die Verhandlung lief abererfolgreich. Später, im November2008, hat das VerwaltungsgerichtFrankfurt meine Asylberechtigungzuerkannt und seit Januar 2009bin ich laut Bescheid anerkannterFlüchtling. A. M. von der ErlangerAusländerbehörde hat mein Lebenzerstört. Ich habe inzwischenmeinen Pass, aber keine Ruhe.Glaubt mir, ich schwöre bei mein-er Mutter, ich warte auf den Tag,an dem ich aus Erlangen wegge-hen kann. Das ist Angst, ver-dammt.

Kürzlich bekamst Du noch einmal Post von M.

Ja, das war die Rechnung fürmeine Abschiebung. Sie beträgt5.157,80 Euro. Eine Frage habeich an ihn, obwohl ich ihneigentlich überhaupt nicht sehenwill. Warum hat er die Rechnungerst jetzt ausgestellt? Das war wohlein Racheakt für die Pressekon-ferenz vom November 2011, aufder ich meine Geschichte erzählthabe und so einige Entscheidun-gen von Herrn M. öffentlich skan-dalisiert worden sind. Wenn esrechtlich so geregelt ist, dass ichdie Summe zahlen muss, dannkann ich nichts machen. Aberwarum habe ich die Rechnung erstjetzt, im Januar 2012, bekommen?Er hätte zehn Monate Zeit gehabt,sie mir zu schicken. Das reichtdoch eigentlich! Ich hoffe, ichkann Erlangen bald verlassen. Dasversuchen die meisten Flüchtlinge,die ich hier kenne.<

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Anmerkung:

Das Interview führten wir am 7.Februar 2012. Mitte Februarwurde bekannt, dass A.M. dieErlanger Ausländerbehörde ver-lassen und „in absehbarer Zeitneue Aufgaben in einem anderenAmt übernehmen“ wird. Wegen„Ermessensent scheidungen amäußersten rechten Rand“, diekategorisch zu Ungunsten derbetroffenen Flüchtlinge ausfie-len, taufte der BayerischeFlüchtlingsrat den Beamten„Sheriff Gnadenlos“. Gegen diese„Diffamierung“ ging A.M.gerichtlich vor. Zu einer Eini-gung kam es im Januar diesesJahres: Der BayerischeFlüchtlingsrat wird es in Zu -kunft unterlassen, den Beamtenmit vollständigem Namen zunennen, darf im Gegenzugseine harsche Kritik an demBeamten aber weiterhinöffentlich äußern. In einemGespräch mit den ErlangerNachrichten Ende Januarberichtete der Leiter der Auslän-derbehörde, dass A.M. selbst,während seiner Dienstzeit imErlanger Rathaus, mehrmals einT-Shirt mit der Aufschrift „SheriffGnadenlos“ getragen habe.Allerdings nicht bei Kontakt mitFlüchtlingen, wie ein Presse -sprecher der Stadt in einer Stel-lungnahme betonte. M.bestätigte beide Aussagen.<

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Rechtliche Grundlagen

Die Freiheit ist ein so wichtiges Grundrecht, dass sichdas Grundgesetz (GG) gleich an zwei Stellen mit derEntziehung der selbigen auseinandersetzt. In Artikel 2Abs. 2 GG ist festgehalten, dass die Freiheit der Per-son unverletzlich ist und nur auf Grund eines Geset-zes in dieses Recht eingegriffen werden darf. Artikel104 Abs. 2 GG fordert, dass über die Zulässigkeit derHaft ein Richter oder eine Richterin zu entscheidenhat.

In diesem Bereich gibt es keinen Ermessensspielraumder Behörden oder des Gesetzgebers. Dies gilt ins-besondere in den Fällen, in denen die Freiheits ent -ziehung geplant ist. Hier muss noch vor der Fest-nahme ein richterlicher Beschluss herbeigeführt undder oder die Betroffene unverzüglich einemHaftrichter oder einer Haftrichterin vorgeführt wer-den.

Dass sich die abzuschiebende Person planmäßig füreine gewisse Zeit im Flughafen aufhalten muss, ergibtsich aus einer Dienstanweisung der Bundespolizei,der „Best. Rück Luft“1. Hier heißt es: „Die Übergabedes Rückzuführenden von der veranlassendenBehörde an die BGS-Flughafendienststelle soll zweiStunden vor Abflug des Luftfahrzeugs erfolgen.“

Zwei Stunden sind sicherlich eine kurze Zeit. Dochnicht selten sind Ausländerbehörden viel früher amFlughafen. Dass zur Bewertung einer Freiheitsent -ziehung deren Dauer jedoch keine Rolle spielt, stellte

das Bundesverfassungsgericht bereits 2008 in einemUrteil2 fest: „Weiter verkennt das Amtsgericht Art. 104Abs. II GG, indem es die Rechtswidrigkeit derpolizeilichen Freiheitsentziehung unter Berufung aufderen kurze Dauer verneint. Es scheint damit – ohnedieses auch nur ansatzweise zu begründen – aus derKürze der Freiheitsentziehung die Unerheblichkeitdes Grundrechtsbegriffs ableiten zu wollen undbegrenzt damit den Richtervorbehalt des Art. 104 Abs.II GG in einer Weise, die sich weder aus dem Wort-laut der Vorschrift noch auch ihrem Sinn und Zweckbegründen lässt.“ Somit unterliegen auch noch sokurze Freiheitsentziehungen dem Richtervorbehalt.

Freiheitsentziehung am Flughafen?

Um nun festzustellen, ob eine freiheitsentziehendeMaßnahme am Flughafen vorliegt, muss im nächstenSchritt untersucht werden, ob und wie dieAbzuschiebenden dort inhaftiert werden. Eine Frei -heits entziehung liegt vor, wenn eine Person gegenihren Willen in einem nach allen Seiten hinumschlossenen Raum festgehalten wird. Dabei spielt eskeine Rolle, ob dieser Raum durch Mauern, Zäuneoder durch andere Menschen „umschlossen“ wird.Sollte also eine Person daran gehindert werden, denBereich der Bundespolizei am Flughafen zu verlassen,egal, ob sie dazu in einer Zelle eingeschlossen wirdoder ein Bundespolizist sie am Weggehen hindert,erfolgt eine Freiheitsentziehung.

Leider liegen über die Unterbringung vonAbzuschiebenden am Flughafen nur sehr wenige

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Es ist mitten in der Nacht, als zehn Mitarbeiter der Ausländerbehörde und der Polizei an der Tür von Familie H. klingeln. Der Vater öffnet die

Tür. Die ungebetenen nächtlichen Besucher teilen der Familie mit, dass sie abgeschoben wird. Zwei Stunden haben die Familienmitglieder Zeit

ihre Sachen zu packen, dann werden sie zum Flughafen gebracht. Sie werden durchsucht und müssen warten – stundenlang, bevor die

Bundespolizei sie zum Flugzeug bringt, mit dem sie abgeschoben werden. Sie wollen nicht zurück, nicht zurück in den Folterstaat, aus dem sie

einst kamen, das beteuern sie die ganze Zeit.

Morgengrauen im GewahrsamsraumErschreckend und dennoch alltäglich: fast jede Person, die sich mit dem Thema Flüchtlinge beschäftigt,hat schon von solchen oder ähnlichen Vorfällen gehört. Dieser Artikel wird nur einen kleinen Teil deroben genannten Geschichte, nämlich das Warten im Flughafen, untersuchen und der Frage nachgehen,ob dabei alles nach Recht und Gesetz geschieht. Von Frank Gockel

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Informationen vor. Trotz vieler Anfragen von Journa -listinnen und Journalisten gab es bisher nur wenigemediale Beiträge. In der Regel erhält die Presse keinenZugang zu den Räumen der Bundespolizei. Dem Autorist lediglich ein Filmbeitrag des WDR bekannt, der Ein-blicke ins Innere des „Abschiebeterminals“ am Düssel-dorfer Flughafen gewährt3. Dort spricht der interviewteBundespolizist von „Zellen“ und „Gewahrsamsord-nung“, die Abschiebebeobachterin Julia Gossman von„Gewahrsamsraum“ und der Reporter berichtet, dassdie Bundespolizei zur Not fesseln müsse. Allerdingsgeht aus dem Bericht nicht klar hervor, ob diese Maß-nahmen auch bei Menschen angewandt werden, dievorher nicht in Haft waren. Die Männer, die in demFilm abgeschoben werden, befanden sich vorab inAbschiebehaft, es lag also ein gültiger Haftbeschlussvor.

Deutlicher wird die Frage, ob Abzuschiebende denFlughafen verlassen dürfen, in einem Artikel vonKlaus Melchior behandelt. Er schrieb bereits 2000 inder Zeitung für Ausländerrecht und Ausländerpolitiküber seine Beobachtungen am DüsseldorferFlughafen4: „Hinzu kommt, dass nach den Beobach-tungen des Verfassers die betroffenen Ausländereinige Stunden (erwünscht sind zwei Stunden) vordem gebuchten Abflug von der Ausländerbehörde derFlughafendienststelle des Bundesgrenzschutzes zumZwecke der Rückführung überstellt werden und vondort nach Überprüfung und Durchsuchung vom BGSin der Regel bis zum Abflug im Gewahrsamsbereich(Einzelzelle oder Mehrpersonenzelle) untergebrachtoder auf andere Weise festgehalten werden.“

Sehr deutlich berichtet auch das Forum Flughäfen inNRW (FFiNW) über die Unterbringung ebenfalls amDüsseldorfer Flughafen5: „Zwei Stunden vor Abflugdes Linienfluges und bis zu drei Stunden vor Abflugdes Charterfluges (zur Sammelabschiebung) wirddie/der Abzuschiebende von der Ausländerbehörde,der Landespolizei oder der Bundespolizei an dieBeamten der Bundespolizei-Dienststelle am FlughafenDüsseldorf übergeben. Nach der Übergabe erfolgt diePersonenkontrolle, die Gepäckkontrolle und die Kon-trolle der Reisedokumente. In der Regel sind die ver-schiedenen Kontrollen nach 15 bis 30 Minutenerledigt. Die/der Abzuschiebende wird dann in einerZelle (Gewahrsamsraum) eingeschlossen“.

Zumindest am Düsseldorfer Flughafen sprechen dieIndizien also dafür, dass die Abzuschiebendeneingeschlossen werden und den Abschiebeterminalnicht verlassen können. Es ist davon auszugehen,dass auch an anderen Flughäfen gesetzeswidrige Frei-

heitsentziehungen durchgeführt werden, dennHaftbeschlüsse für die Unterbringung am Flughafenexistieren nicht. Allein dass noch kein Flüchtling denFlughafen beim Warten auf das Flugzeug wieder ver-lassen hat, spricht angesichts der Tatsache, wieverzweifelt einige Menschen bei der Abschiebungsind, Bände.

Stumme Beobachter

Licht ins Dunkle könnten die Abschiebebeobachterin-nen an den Flughäfen in Düsseldorf, Frankfurt undHamburg bringen. Sie sind vor Ort, wenn dieBundes polizei Menschen aus dem Land bringt. AlsBeispiel sei hier das Forum Flughäfen in Nordrhein-Westfalen vorgestellt.

Das Forum setzt sich aus den folgenden zwölfAkteuren zusammen6: Evangelische Kirche im Rhein-land - Landeskirchenamt Düsseldorf, KatholischesBüro NW - Kommissariat der Bischöfe in NRW,Diakonie RWL e. V., Amnesty International -Deutsche Sektion, UNHCR, Arbeitsgemeinschaft derSpitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege NRW,Flüchtlingsrat NRW e.V., BundesarbeitsgemeinschaftPro Asyl, Bundespolizeiinspektion Flughafen Düssel-dorf, Ministerium für Inneres und Kommunales,Bezirksregierung Düsseldorf als Zentralstelle des Lan-des NRW für Flugabschiebung, Zentrale Ausländerbe-hörden Bielefeld, Dortmund und Köln. Für dasForum beobachtet Julia Grossman die Abschiebungenan den Flughäfen in NRW. Sie hat Zugang zu allenBereichen der Abschiebung von der Übergabe derAbzuschiebenden durch die Ausländerbehörde an dieBundespolizei bis zur Flugzeugtür. Allerdings kannsie selber mit ihren Beobachtungen nicht an dieÖffentlichkeit gehen. Sie berichtet dem Forum,welches gegenüber Dritten Stillschweigen vereinbarthat.7 Lediglich mit von allen Beteiligten abgestimmtenInformationen geht das Forum normalerweise einmaljährlich an die Öffentlichkeit. So haben die Kirchenund die Nichtregierungsorganisationen zwar ein Augeauf die Geschehnisse am Flughafen, müssen aberschweigen.

Bisher ist dem Autor kein Bericht von einer der dreiAbschiebungsbeobachtungsstellen bekannt, die sichmit der Frage der Freiheitsentziehung an Flughäfenauseinandergesetzt hat. Dieses dürfte auch ein höchstkritischer Punkt in der Zusammenarbeit zwischenNichtregierungsorganisationen und Kirchen auf dereinen und staatlichen Stellen auf der anderen Seitesein. Sollten die Kirchen und Nichtregierungsorgani-sationen öffentlich kritisieren, dass Menschen im

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Abschiebeprozess unrechtmäßig inhaftiert werden,könnte dieses die Zusammenarbeit gefährden und dieAbschiebungsbeobachtung müsste unter Umständeneingestellt werden. Auf der anderen Seite nehmenKirchen und Nichtregierungsorganisationen unterUmständen wissentlich in Kauf, dass Menschen entge-gen geltendem Recht festgehalten werden und sieden Behörden hierfür das Feigenblatt liefern.

Mission impossible

Die Frage, ob Abschiebungen unter diesen Umstän-den überhaupt noch möglich sind, ist leicht zu beant-worten: Natürlich sind sie noch möglich. Auch ohneeine Gesetzesänderung könnte die am Anfanggeschilderte Familie weiterhin abgeschoben werden.Die bereits jetzt im § 62 Aufenthaltsgesetz vorgese-hene kurze Sicherungshaft würde den Behördenermöglichen, die Betroffenen für wenige Stunden zuinhaftieren.

Allerdings müsste das Verfahren wesentlich transpar-enter gestaltet werden. So wäre vor der Inhaftierungeine Haftrichterin oder ein Haftrichter einzuschaltenund alle Familienmitglieder müssten für eineAnhörung einer Richterin oder einem Richter vorge-führt werden. Die Ausländerbehörden müsstenbegründen, warum sie die Abschiebung nichtangekündigt haben und warum als milderes Mittelnicht auch eine freiwillige Ausreise in Frage kommt.Diese Punkte wären dann auch durch die Instanzenüberprüfbar.

Auch müsste dann zu der Anhörung beim Gericht dieAnwältin oder der Anwalt der Familie geladen wer-den. Nicht selten soll es Anwältinnen und Anwältenauch kurzfristig gelungen sein, durch Eilanträge beimVerwaltungsgericht Abschiebungen zu verhindern.Ferner hätten die Betroffenen die Möglichkeit, jeweils

eine Person des Vertrauens an dem Verfahren zubeteiligen. Dieses führt zu einer Transparenz undeiner weiteren Beobachtung der Behörden. Wennletzt endlich das Festhalten der Flüchtlinge amFlughafen als Abschiebehaft anerkannt ist, schreibtdie Rückführungsrichtlinie der EU vor, dass Hilfsor-ganisationen ein Zugang einzurichten ist. Dies würdedie dauerhafte Arbeit der Abschiebebeobachtungenan den Flughäfen ermöglichen, ohne dass diese inAbhängigkeiten stehen. Die Ausländerämter müsstenihre Maßnahmen so begründen, dass sie auch vorden Gerichten standhalten. Sieht man sich in denletz ten Jahren die Rechtsprechung des Bundes -gerichts hofs zur Abschiebehaft an, fällt auf, dassihnen dieses häufig nicht gelingt. Die Bundespolizeimüsste damit rechnen, dass sie Anwältinnen undAnwälte und Verfahrensbeteiligte am Flughafenbesuchen und sie müsste ihre Arbeit darauf ein-stellen.

Handeln für Glaubwürdigkeit

„Ein bisschen Freiheitsberaubung ist schon nicht soschlimm“, sagte mal ein Mitglied des ForumsFlughäfen in NRW, welches von einerNichtregierungs organisation entsandt wurde. WennMenschen vor ihrer Abschiebung am Flughafeneingesperrt werden und es gibt zahlreiche Hinweisedarauf, dann würde diesen Personen nicht nur dieFreiheit geraubt, sondern auch eine Möglichkeit, sichgegen ihre Abschiebung zu wehren. Bei einemsolchen Eingriff in die Grundrechte dürfenNichtregierungsorganisationen nicht schweigen, son-dern müssen handeln, alles andere wäre unglaub-würdig.<

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Frank Gockelberät seit 1996

Flüchtlinge in der

Abschiebehaftanstalt

Büren und arbeitet

als Flüchtlingsbera-

ter in Bielefeld und

im Kreis Lippe.

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1 Bestimmungen über die

Rückführung ausländischer

Staatsangehöriger auf dem

Luftweg (Best. – Rück Luft)

vom 2.5.2005. Da dieses

Papier als „Nur für den

Dienstgebrauch“ gekenn-

zeichnet ist, ist dem Autor

nicht bekannt, ob eine

aktuellere Ausgabe existiert.

2 BVerfG v. 1.4.2008 – 2

BvR 1925/04

3 „und Du bist

raus…“,WDR,

9.11.2011,18:05 Uhr,

http://www.wdr.de/tv/huh/se

ndungsbeitrae-

ge/2011/11/09.jsp?pbild=1

4 Melchior, Klaus, Richter am

OLG Düsseldorf, Eingriff in

die Freiheit der Person durch

den Bundesgrenzschutz im

Flughafenbereich bei der Ein-

reise und bei Rückführungen,

ZAR 2000, 110ff

5 Stellungnahme des Forums

Flughäfen in NRW (FFiNW)

vom 2.4.2008 an den Verein

Hilfe für Menschen in

Abschiebehaft Büren e.V.,

einzusehen unter

http://www.hfmia.de/BGS/FF

iNW.pdf

6 Stand: August 2009

7 Flüchtlingsrat NRW e.V.,

http://emhosting.de/emad-

min/html/index.php?idsi-

te=3208&id_master=5&style

=1&preview=1 (12.2.2012)

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Die rot-grüne Bremer Regierung war 2007 ausdrück-lich mit dem Anspruch angetreten, die Linie des vonihr abgelösten CDU-Innensenators zu beenden. Siesprach sich gegen Kettenduldungen aus und ver-sprach eine liberale Ausländer- und Flüchtlingspolitik.Die Bilanz der rot-grünen Koalition ist allerdings dankder Bremer Ausländerbehörde eher skandalös alserfreulich. Von Christian Jakob

Es kommt selten vor, dass ein Minister in allerÖffentlichkeit seine eigene Behörde herunter-putzt. Doch als Bremens Innensenator Ulrich

Mäurer (SPD) im Dezember 2010 wegen einesAbschiebeskandals im Parlament Rede und Antwortstehen musste, kam das Stadtamt nicht gut weg. „Vorsechs Monaten stand ich hier wegen eines ähnlichenFalls“, schimpfte Mäurer, „und damals habe ichgesagt: ‘Das darf sich nicht wiederholen’.“

Es wiederholte sich aber. Erneut hatte die BremerAusländerbehörde, die zum Stadtamt gehört, ver-sucht, an warnenden Ärztinnen und Ärzten vorbeieinen kranken Ausländer abzuschieben. Obwohl Kar-diologinnen und Kardiologen eine Operation fürnötig hielten, war der junge Inder Baldev Mukhotimit einem schweren Herzfehler monatelang imAbschiebegewahrsam im Polizeipräsidium geblieben.Er litt an einer schweren Aortenklappeninsuffizienz,seine Herzklappe schloss nicht richtig. Trotzdem hieltdie Ausländerbehörde an ihren Abschiebeplänen fest– selbst dann noch, als ein kardiologisches Gutachtendie Wahrscheinlichkeit, dass Mukhoti eine Flugreisenicht überlebt, bei eins zu fünf ansiedelte. MukhotisAnwältin hatte, nachdem die Ausländerbehörde Hin-weise auf seinen Gesundheitszustand übergangenhatte, dafür gesorgt, dass ein Herzspezialist Mukhotimit eigenem Gerät im Polizeigewahrsam untersuchte.Das Ergebnis: Eine Operation sei „dringlich“ geboten.Ein Langstreckenflug berge ein zwanzigprozentiges

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Reisefähigkeit leicht gemacht

Bremer Ausländerbehörde bei der Beschaffung medizinischer Gutachten höchst produktiv

Foto: Archiv

Etwas besseres als den Tod, findest Du überall…Das Leitmotto der Bremer Stadtmusikanten,wird in Bremen umgesetzt…

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Risiko für eine „lebensbedrohliche Verschlechterung“.Der kardiologische Gesprächskreis der BremerÄrztekammer teilte die Diagnose. Doch die Auslän-derbehörde verwies auf die Stellungnahme desPolizeiarztes, der Mukhoti als haft- und reisefähig ein-stufte. Es bestehe „keine Veranlassung“ ihn zweckseiner Operation zu entlassen, schrieb die Behörde andie Anwältin. Der Polizeiarzt äußerte später, dasGutachten des Kardiologen gar nicht gekannt zuhaben. Das von Mukhotis Anwältin angerufene Amts-gericht entschied schließlich, dass der Inder freige-lassen und operiert werden müsse.

2.299 Euro Honorar für die Begleitung einerAbschiebung

Erst sieben Monate zuvor war bekannt geworden,dass die Bremer Ausländerbehörde mehrfach versuchthatte, abgelehnte Asylsuchende abzuschieben,obwohl diese von Ärztinnen und Ärzten – darunterAmtsärztinnen und -ärzte – als psychisch krank undnicht reisefähig eingestuft worden waren. Dazu hattedie Behörde in mindestens drei Fällen Aufträge anÄrztinnen und Ärzte aus Hessen, dem Saarland undder Türkei vergeben. Sie sollten die Reisefähigkeit derKranken unmittelbar vor den bereits gebuchten Rück-flügen in den Räumen der Bundespolizei am Ham-burger Flughafen feststellen. Ein anderer Arzt solltedie Rückflüge begleiten, ein dritter die Kranken inder Türkei in Empfang nehmen. Dabei handelte essich teils um Ärztinnen und Ärzte aus der Suchtmedi-zin oder der Notfallversorgung, die für die von ihnenzu untersuchenden psychischen Krankheiten gar nichtqualifiziert waren. Diese sollten Honorare von teil-weise mehreren tausend Euro erhalten. In Akten -auszügen finden sich Briefwechsel zwischenAngestellten der Ausländerbehörde und der Bundes -polizei. Darin schreibt beispielsweise ein Sachbear-beiter zum Fall des Türken Fetullah D., dass es lautdes Bremer Gesundheitsamts wegen einer schwerenpsychischen Erkrankung „auf Dauer ausgeschlossen“sei, ihn abzuschieben. Trotzdem gehe man davonaus, dass eine eigens aus Hessen bestellte externeGutachterin „entgegen aller vorliegenden Atteste dieReisefähigkeit feststellen werde“. Und das, obwohlerst am Flughafen „der erste persönliche Kontakt“stattfinden werde und es sich bei der Ärztin um eineNotärztin und keine Psychiaterin handelt. DieBundes polizei möge deshalb den Rückflug buchen.Die Abschiebung scheiterte trotzdem, weil derGeduldete rechtzeitig untertauchte.

Bei den Ärztinnen und Ärzten handelt es sich unteranderem um die Notärztin Tatjana Mockwitz ausKron berg im Taunus und den Suchtmediziner OliverEngel aus dem saarländischen Marpingen. In einemSchreiben hatten die beiden der Ausländerbehördeihre Dienste angeboten: Sie seien „spezialisiert auf dieRückführung“ von Ausländerinnen und Ausländernweltweit, könnten „sämtliche medizinischen Gutach -ten“ erstellen und „Gewahrsamsfähigkeit bescheini-gen“, ebenso wie Flugreisetauglichkeit. Zu ihremPortfolio gehöre die „Begleitung von Einzel- undSammelabschiebungen“, wozu sie auch „organi -satorisch und medizinisch vorab beraten“. Da sich diebeiden „ausschließlich auf diese Leistungen spezial-isiert hätten“, könnten sie ihre „Zeit flexibel gestaltenund sehr kurzfristig Aufträge übernehmen“. Man„freue sich“ über Interesse. Die Ausländerbehördegriff gerne zu. Einer Rechnung zufolge strich Engeletwa für die Begleitung einer Abschiebung nachIstanbul im Januar insgesamt 2.299 Euro ein. Dazukam er auf Kosten der Ausländerbehörde extra ausdem Saarland nach Bremen. Auch Mockwitz wurdeaus Hessen geholt und in einem Hotel untergebracht– um unter anderem Fetullah D. am HamburgerFlughafen zu „untersuchen“. Engel spricht, trotz dervon ihm ausgestellten Rechnung und des von ihmunterschriebenen Briefes von einem „Aprilscherz“ unddrohte für den Fall weiterer Nachfragen mitrechtlichen Schritten.

Personelle Konsequenzen Ausländerbehörde

Die rot-grüne Bremer Regierung war 2007 ausdrück-lich mit dem Anspruch angetreten, die Linie des vonihr abgelösten CDU-Innensenators ThomasRöwekamp zu beenden. Keine Kettenduldungen undeine liberale Ausländer- und Flüchtlingspolitik, dasversprachen vor allem die Grünen. Dabei dürften sieihre Rechnung ohne die Ausländerbehörde gemachthaben. Nach dem zweiten Abschiebeskandal imDezember 2010 sprach Innensenator Mäurer von„gravierenden Bearbeitungsfehlern“ und „Missach-tung“ seiner „Anweisungen“. Als er von den zweifel-haften Gutachten erfahren habe, habe er „extra eineVerordnung erlassen“, derzufolge geplante Abschie -bungen von Kranken vom Innenressort höchstpersön-lich überprüft werden müssen. Doch die Ausländer-behörde hielt sich nicht daran. Nun zog Mäurer per-sonelle Konsequenzen. Der Leiter des Stadtamteswurde seiner Aufgaben vorerst entbunden. GegenSven W., den Leiter des „Teams 5“ der Ausländerbe-hörde – zuständig für „Duldung und Rückführung“ –wurde ein Disziplinarverfahren eingeleitet. „Es istüberfällig, dass es hier Konsequenzen gegeben hat“,

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sagt Britta Ratsch-Menke vom Bremer Flüchtlingsrat.W. habe es immer wieder darauf angelegt „gesund-heitliche Abschiebehindernisse zu bagatellisieren“,sagt sie. Wenn Ärztinnen und Ärzte Atteste vorlegten,habe W. sie als „nicht ausreichend“ zurückgewiesen.

Doch der Protest ebbte nicht ab. Der Flüchtlingsrat,Linke und Asylgruppen forderten weitergehende Kon-sequenzen. Im Januar 2011 erklärte dann die neueLeiterin des Stadtamtes, Marita Wessel-Niepel, das für„Rückführung und Duldung“ zuständige „Team 5“ derAusländerbehörde aufzulösen. Auch sie gab derBehörde die Schuld an den ruchbar gewordenenSkandalen: „Wir haben kein Vorgabenproblem, son-dern ein Umsetzungsproblem“, sagte sie. „Die Vor-gaben sind eindeutig: Wir wollen weg von Kettendul-dungen, medizinische Abschiebehindernisse sind derBehördenleitung vorzulegen.“ Doch habe man„mehrfach feststellen müssen“, dass diese Vorgabennicht von allen Angestellten eingehalten wordenseien. „Wir werden jetzt die Strukturen undArbeitsabläufe in der Behörde ändern.“

Ein Jahr später sieht es nicht danach aus. Viele Fami-lien mit jungen Kindern fürchten in Bremen um ihrBleiberecht. Unter ihnen ist auch die Familie vonAgron und Surwana Selimi. Seit 1998 leben die Romain Deutschland, sind geduldet. Ihre fünf jüngstenKinder gehen in Bremen zur Schule, der Bleiberechts-Erlass der Bundesregierung war für sie die Hoffnung,hier endlich eine dauerhafte Perspektive zu bekom-men. Vor einem Jahr haben sie ihren Antrag gestellt,die Antwort steht noch aus. Die Ausländerbehördehabe auch nach der Antragstellung noch auf die „frei-willige Ausreise“ gedrängt. „Die ständige Angst, insKosovo zurückgeschickt zu werden, hat meine Fraukrank gemacht“, sagt Selimi. Früher sei sie „nie krankgewesen“, nun musste sie sich mehreren Herzopera-tionen in Hannover unterziehen. „Die Familien hän-gen total in der Luft“, sagt Gundula Oertner von derFlüchtlingsinitiative Bremen.

„Rot-grüne Eigenleistung“

Hinzu kommt, dass die Innenbehörde festgelegt hat,dass Geduldeten eine Aufenthaltserlaubnis nichterteilt werden soll, wenn „Familienangehörige inerheblichem Maße strafrechtlich in Erscheinunggetreten sind“. Als „erheblich“ gelten in der RegelStrafen von mehr als fünfzig Tagessätzen. „Hier wer-den Migrantinnen und Migranten für Rechtsverstößeihrer Angehörigen in Sippenhaft genommen“, sagtKristina Vogt, die Fraktionsvorsitzende der Linksparteiin der Bremer Bürgerschaft „Bremen verschärft das

Bundesrecht und überholt es rechts“, sagt dieFlüchtlingsinitiativen-Sprecherin Oertner. „DieseRegelung ist eine rot-grüne Eigenleistung.“

Über 1.900 Menschen leben in Bremen als„Geduldete“. In ihrem ersten Koalitionsvertrag hattenSPD und Grüne sich 2007 vorgenommen, die Ketten-duldungen „auf ein Minimum“ zu reduzieren. Zwarhat sich die Zahl der Geduldeten im Land Bremenseither um über 40 Prozent verringert, über 1.000Aufenthaltserlaubnisse wurden erteilt. Doch nicht alledurften bleiben: Zwischen 2007 und 2009 schob Bre-men 104 Menschen ab. „Es ist zu begrüßen, dass dieGeduldetenzahl zurückgeht“, sagt Britta Menke vomBremer Flüchtlingsrat. „Die Möglichkeiten für human-itären Aufenthalt werden aber nicht immer aus-geschöpft.“ Dies sei „eklatant“ bei den Roma der Fall:„Für die greift die Altfallregelung oft nicht. Dann gehtdie Maschinerie weiter, sie bleiben geduldet undbekommen Ausreiseaufforderungen.“ Ähnliches geltefür minderjährige Flüchtlinge. „Auch bei denen wärees häufig möglich, eine Aufenthaltserlaubnis zuerteilen, wenn keine Abschiebung möglich ist“, sagtRatsch-Menke. Das sieht auch Gundula Oerter vonder Flüchtlingsinitiative so. Die „sehröffentlichkeitswirksam eingeführten“ Regelungen zurAufenthaltsgewährung bei „gut integriertenJugendlichen“ griffen viel zu wenig: „Da ist nicht vielpassiert“, sagt Oerter. Ein weiteres Problem ist, dassdie Altfallregelungen auf Erwerbsarbeit abzielen.Menschen, die im Rentenalter oder nicht erwerbsfähigseien oder die eine Qualifikationsmaßnahmeabsolvieren, könnten nicht von diesen Regelung prof-itieren. „Da könnte Bremen nachbessern“, sagtMenke.

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Christian Jakob ist Redakteur der

„Tageszeitung“ und

lebt in Berlin

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„Meine Verordnungen werde ich treffen zu Nutzund Frommen der Kranken, nach bestem Vermö-gen und Urteil; ich werde sie bewahren vorSchaden und willkürlichem Unrecht“.

(Eid des Hippokrates, um 400 v. Chr.)

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Willige Helfer in weißen Kitteln

Abschiebeärzte verleugnen den Hippokratischen Eid. Anmerkungen zu speziellen Angeboten von Kollegen und speziellen Reaktionen. Von Dr. med. Winfrid Eisenberg

Foto: Archiv

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„Bei meiner Aufnahme in den ärztlichen Berufs-stand gelobe ich feierlich, mein Leben in den Dienstder Menschlichkeit zu stellen. … Die Erhaltungund Wiederherstellung der Gesundheit meinerPatienten soll oberstes Gebot meines Handelns sein.“

(Genfer Gelöbnis, Weltärztebund 1948)

„Ärztinnen und Ärzte dienen der Gesundheit deseinzelnen Menschen und der Bevölkerung. […]Aufgabe der Ärztinnen und Ärzte ist es, das Lebenzu erhalten, die Gesundheit zu schützen undwiederherzustellen, Leiden zu lindern, SterbendenBeistand zu leisten und an der Erhaltung dernatürlichen Lebensgrundlagen im Hinblick aufihre Bedeutung für die Gesundheit der Menschenmitzuwirken. [... ] Ärztinnen und Ärzte dürfenhinsichtlich ihrer ärztlichen Entscheidungen keineWeisungen von Nichtärzten entgegennehmen.“

(Berufsordnung für die deutschen Ärztinnen und Ärzte,Bundesärztekammer, Stand 2011)

Leider hält sich nicht die gesamte Ärzteschaft an dieseedlen Berufspflichten. Vor einigen Jahren bot ein Kol-lege den Ausländerbehörden seine besonderen Dien-ste an, unter anderem: „Notärztliche Begleitung vonZugriffen und Transporten zum Flughafen, medi-zinische Begutachtung beim Zugriff, Ausstellungvon fit-to-fly-Bescheinigungen (= Flugreise-fähigkeitsbescheinigungen).“ Zudem wies er auf dieVorzüge seiner ärztlichen Leistungen hin: „Erlei ch -terung der Planung und bessere Steuerung dermedizinischen Fälle, Arbeitserleichterung undRisikominderung, mehr und schneller zumAbschluss gebrachte Fälle.“

Sein Angebot endete mit einer säuberlichen Listeseiner Honorarvorstellungen:

„Arztvermittlung für Zugriff incl. Begleitung bisFlughafen oder für Untersuchung vor Ort, incl. bis400 km PKW Arztwohnung-Einsatzort(e), bis 12Std. v. Treffen Behörde bis Freiwerden Ziel: 470,00€

Arztvermittlung für Einzelflugbegleitungen, incl.Honorar und An- und Abreisezeiten, ggf. incl.vorherigem Zugriff: erster Kalendertag: 470,00 €

weitere Kalendertage: je 400,00 €“

Hauptsache ordentlich abgerechnet

Als wir im Arbeitskreis Flüchtlinge/Asyl der IPPNWvon diesen speziellen ärztlichen „Angeboten“ Kennt-nis bekamen, fragten wir umgehend bei der zuständi-gen Ärztekammer Nordrhein nach, ob derartige Leis-tungen denn mit der Berufsordnung und den ein-schlägigen Ärztetagsbeschlüssen vereinbar seien. Der102. Deutsche Ärztetag von 1999 hatte nämlich fest-gestellt: „Abschiebehilfe durch Ärzte in Form vonFlugbegleitung, zwangsweiser Verabreichung vonPsychopharmaka oder Ausstellung einer ‘Reise-fähigkeitsbescheinigung’ unter Missachtungfachärztlich festgestellter Abschiebehindernisse […]sind mit den in der ärztlichen Berufsordnung ver-ankerten ethischen Grundsätzen nicht vereinbar.“Zudem hatte der 107. Deutsche Ärztetag (2004)beschlossen: „[…] ist die Beschränkung einer medi-zinischen Begutachtung auf die bloße ‘Reise-fähigkeit’ eindeutig abzulehnen, da sie nicht mitden ethischen Grundsätzen ärztlichen Handelnsvereinbar ist.“

Erst ein halbes Jahr später erreichte uns dasAntwortschreiben mit folgender überraschenden Pas-sage: „Grundsätzlich ist gegen das Angebot desArztes gegenüber Ausländerbehörden bei Rück-führungsmaßnahmen von Flüchtlingen, derenAsyl anträge bestandskräftig abschlägig beschiedenwurden, nichts einzuwenden.“

Die Ärztekammer ermahnte den betreffenden Kolle-gen jedoch, sich bei seinen Liquidationen doch bittezukünftig an die Gebührenordnung für Ärzte (GOÄ)zu halten, nach der Pauschalbeträge nicht zulässigseien. Sein unärztliches Verhalten gegenüberFlüchtlingsfamilien wurde ihm mit keinem Wortangekreidet. Die Ärztekammer blieb auch nach lan-gen weiteren Briefwechseln bei ihrem formalistischenAnsatz. Immerhin, so ließ uns die Kammer schließlichwissen, stelle der betreffende Arzt seine Rechnungenjetzt nach der GOÄ! Großartig, dass die Ärztekammerin dieser so wichtigen Frage für Ordnung sorgte.

AG Rück – ohne Glück

Zum Glück gibt es nicht viele dieser „speziellen“Kolleginnen und Kollegen. Deshalb versucht dieBund-Länder-Arbeitsgruppe Rückführung („AGRück“) seit 2008, einen „Pool“ aus willigen Ärztinnenund Ärzten zu bilden. Die daran Beteiligten sollenim Bedarfsfall von weither anreisen und ohne vieleFragen ein schlichtes „fit-to-fly“- Formular ausfüllen.Wie wir heute wissen, waren die Bemühungen der

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AG Rück nicht erfolgreich.

2004 hat eine Arbeitsgruppe der Bundesärztekammerund der Länder einen „Informations- und Kriterien -katalog“ zu Fragen der ärztlichen Mitwirkung beiRückführungen erstellt. Darin wird unter anderembetont, dass begutachtende Ärztinnen oder Ärzte beiVorliegen einer psychischen Erkrankung (PTBS,Depression, Angststörung) zu klären haben, ob beiBetroffenen im Fall der Abschiebung das Risiko einerEigengefährdung (Suizidalität) oder die Gefahr einerRetraumatisierung mit erheblicher Verschlechterungdes Gesundheitszustandes besteht. Um derartige Fra-gen fachkundig beurteilen zu können, sollten nurbesonders qualifizierte und geschulte Ärztinnen undÄrzte die Reisetauglichkeit begutachten. Die„Flugmedizin“ ist dazu eher ungeeignet.

Als einziges Bundesland hat NRW diesen Katalog alsErlass übernommen. Das heißt aber leider nicht, dassdie einschlägigen Gutachten in NRW die Belangekranker Flüchtlinge durchgängig besser als anderswoberücksichtigen würden.

Mit bestem Gewissen

Der 111. Ärztetag (2008) stellte fest: „Wenn ziel-staatsbezogene Abschiebungshindernisse (z.B. einebestimmte Krankheit kann im Rückführungslandnicht behandelt werden) oder inlandsbezogeneVollstreckungshindernisse (z.B. das Vorliegen einerposttraumatischen Belastungsstörung führt zuSuizidgefahr) vorliegen, müssen diese in dieBeurteilung einfließen. Die Frage, ob der Abzu -schiebende im engsten Sinn flugtauglich ist, greiftzu kurz“.

Es bleibt festzustellen: Die Mehrheit der Gutachterin-nen und Gutachter ist gar nicht darauf aus, mit derNot nicht anerkannter Flüchtlinge Geld zu verdienen.Aber auch gutwillige Kollegen schreiben oft merk-würdige Empfehlungen in ihre Beurteilungen.Beispielsweise schlagen sie ärztliche Flugbegleitungvor, wenn sie nicht ganz sicher sind, obAbzuschiebende sich vielleicht doch etwas antunkönnten. Die Begleitung wird der Behörde angeraten,um das eigene Gewissen zu entlasten.

Aus meiner Sicht ist die auf den ersten Blick harmlosoder sogar fürsorglich wirkende Begleitempfehlung inWahrheit das Eingeständnis, mit der Begutachtungüberfordert zu sein. Wenn auch nur geringer Verdachtauf Suizidalität besteht, darf die Reisetauglichkeiteben nicht bescheinigt werden. Kolleginnen und Kol-

legen, die sich stattdessen für einen ärztlich beglei -teten Flug entscheiden, gehen den Weg des gerin-geren Widerstandes und machen sich damit zum Büt-tel der Behörden. Ärztinnen und Ärzte dürfen sichauf keinen Fall gegen ihr besseres Wissen undGewissen in ordnungs- und polizeirechtliche Maßnah-men einbinden lassen.

Immer kritisch und wachsam

Kritikloses Befolgen staatlicher Vorgaben, ja in vielenFällen „vorauseilender Gehorsam“ medizinischerGesellschaften, das Funktionieren der meisten Ärztin-nen und Ärzte als kleine Rädchen im großenGetriebe: Das hat vor drei Generationen zur größtenVerirrung der deutschen Medizin geführt, zur Teil-nahme der Ärzteschaft an staatlich verordnetemRassenwahn, an Euthanasie und Menschenversuchen.

Ich hoffe, dass wir aus der Geschichte gelernt haben:Wir müssen uns im ärztlichen Denken und Handelnklar und selbstbewusst an den eingangs zitiertenBerufsregeln orientieren, dabei manchmal mutig, aberimmer kritisch und wachsam sein.<

b e t r e u t & v e r s o r g t

Winfrid Eisenberg,ist Kinderarzt, Mit-

glied der IPPNW-

Arbeitskreise

Flüchtlinge/Asyl und

Atomenergie.

IPPNW-Delegierter

in der Bundesar-

beitsgemeinschaft

Pro Asyl.

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Vor nun fast 15 Jahren fand bei Görlitz an derdamaligen EU-Außengrenze nach Polen daserste vom Netzwerk kein mensch ist illegal

initiierte Grenzcamp statt. Die Wahl der Orte fürNobordercamps quer durch Europa folgt seitdemsicherlich keinem eindeutigen Plan. Doch es ist undwar auch kein Zufall, dass – um zwei zeitnaheBeispiele zu nennen - 2009 das Nobordercamp aufder griechischen Insel Lesbos stattfand und im ver-gangenen Jahr in Bulgarien nahe der türkischenGrenze. Aktuelle oder zu erwartende Brennpunkteder Migrationskontrolle an den Außengrenzen der EUzu Orten des Protests und Widerstandes zu machen,ist Teil einer kontinuierlichen antirassistischen Praxis.Doch genauso nötig und berechtigt ist es, immerwieder gegen die inneren Grenzen der EU aktiv zuwerden, und Flughäfen stellen ja quasi die Außen-grenzen im Innern dar.

Tatort Flughafen

Ein erstes Grenzcamp an einem Flughafen fand 2001in Frankfurt statt, im Jahr der G8-Genua-Protestekonn te mit aufsehenerregenden Aktionen eine starkeÖffentlichkeit gegen diesen „Tatort der Ausgrenzungund Internierung“ hergestellt werden. 2008 – im Rah-men eines gemeinsamen Antira- und Klima-Camps –wurde der Terminal des Hamburger Airports in eineProtestzone verwandelt, als „Streik von außen“angekündigt und als „Fluten 3.0“ umgesetzt. Ob undwie das Nobordercamp 2012, das aus logistischenGründen nahe Köln seine Zelte aufschlagen wird, mitöffentlichkeitswirksamen Aktionen am DüsseldorferFlughafen daran anknüpfen kann, ist noch nichtabsehbar. Die einleitend erwähnte regelmäßigeNutzung zur Abschiebung von Roma wird dort zumThema werden. Ein Vorschlag ist, in Form einerDauermahnwache und mittels einer Fotoausstellung

im Terminal das Schicksal und die Lebensbedingun-gen von abgeschobenen Roma im Kosovo sichtbar zumachen.

Seit eine Mitstreiterin des Aktionsbündnisses gegenAbschiebung Rhein-Main im Januar 2011 mit einembemerkenswerten Urteil des Karlsruher Bundesverfas-sungsgerichts das Demonstrationsrecht in Flughäfenund quasi-öffentlichen Orten durchgesetzt hat, kannauch in den Düsseldorfer Flughafen mit offiziellerAnmeldung zum Protest aufgerufen werden. Antiras-sistische Gruppen aus Nordrhein-Westfalen mobi -lisieren seit letztem Jahr regelmäßig in den Airport,wenn Sammelabschiebungen im Gange sind. Daraufaufbauend soll das Camp im Juli zu möglichst spek-takulären Protesten führen, und das hängt nicht zu -letzt davon ab, ob gelingt, was die an der bun-desweiten Vorbereitung beteiligten Gruppen an -visieren: einen starken Bündelungspunkt der antiras-sistischen Bewegung zu schaffen.

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Charter der SchandeSelbst in den härtesten Winterwochen kannten die Abschiebe-Behörden keine Gnade. Während aus ganzOsteuropa Kältetote gemeldet wurden, startete am 7. Februar 2012 vom Düsseldorfer Flughafen eine vonFrontex finanzierte Sammelabschiebung in den Kosovo, eine Woche später vom gleichen Ort die nächstenach Serbien. An Bord jeweils vor allem Roma-Familien, die mit aller Gewalt außer Landes geschafft wer-den sollen. Bereits 2011 war Düsseldorf der deutsche Flughafen mit den meisten „Chartern der Schande“,und nicht zuletzt vor diesem Hintergrund wurde Ende letzten Jahres beschlossen, im Raum Düsseldorf einNobordercamp 2012 auszurichten. Von kein mensch ist illegal/Hanau

Foto: Timmo Scherenberg

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Rassistische Staatsgewalt

„Stop Deportation Class“ startete im Jahr 2000 alsAnti-Abschiebungskampagne des kein mensch istillegal –Netzwerks und kann als gleichermaßenerfolg reich und nachhaltig bilanziert werden. Bisheute werden an deutschen Flughäfen immer wiederAbschiebungen in Linienmaschinen abgebrochen,wenn sich die Betroffenen erkennbar wehren, zumalwenn mitreisende Passagiere oder Unterstützerinnenund Unterstützer ebenfalls protestieren. Die Ein-führung und Ausweitung von Sammel- oder Charter-abschiebungen muss als unmittelbare Reaktion nichtzuletzt gerade auf diesen Widerstand gesehen wer-den, wie das folgende Zitat aus einer Ausschreibungdes Bundesinnenministeriums vom Sommer 2010erneut bestätigte: „Auf Chartermaschinen werden Per-sonen rückgeführt, die voraussichtlich körperlichenWiderstand gegen ihre Rückführung leisten unddaher nicht mit Linienflügen zurückgeführt werdenkönnen und deren Anzahl den Einsatz eines gechar-terten Luftfahrzeugs rechtfertigt. Diese Flüge werdenimmer von Polizeivollzugsbeamten der Bundespolizeiund gegebenenfalls durch Sicherheitskräfte andererEU-Staaten zur Aufrechterhaltung der Sicherheit undOrdnung des Luftverkehrs begleitet. Die Flugzielesind europäische, afrikanische und asiatische Staaten.“

Was hier kurz in technisch-organisatorischer Spracheabgehandelt wird, ist häufig ein Akt brutalster rassis-tischer Staatsgewalt. Unter Ausschluss aller Öffent -lichkeit werden zwischen 10 und 100 Menschen, diezuvor frühmorgens festgenommen wurden oderschon in Abschiebehaft saßen, an einem Flughafenzusammengekarrt. Sie werden in Handschellen undsogar nicht selten mit Fußfesseln sowie unterAnwendung aller „notwendigen“ Zwangsmittel anBord gebracht, eine Übermacht an Begleitpolizeisorgt – wie zitiert - für „Sicherheit und Ordnung“. Inder Regel ist ein kollaborierender Arzt dabei, der letzte Reisefähigkeitsbescheinigungen ausstellt und fürden Fall mitfliegt, dass eine Person im Flugzeugzusammenbricht oder sich selbst verletzt. Mit dieser„ärztlichen Betreuung“ soll sogar die Abschiebungkranker Menschen legitimiert werden.

Ankuft am Frachtflughafen

Frontex, die europäische Grenzschutzagentur,beteiligt sich seit 2006 koordinierend und finanziellan den sogenannten „Joint Return Operations “(gemeinsame Rückführungsmaßnahmen). Ein EU-Land übernimmt die Initiative, von dort startet dasFlugzeug und sammelt auf weiteren Flughäfen die

abzuschiebenden „deportees“ ein. Wie die Betroffe-nen regelrecht in die Flugzeuge geprügelt und dann– in diesem Falle in Lagos – am dortigen Fracht-flughafen (!) auf einer Landebahn ausgesetzt werden,hatte ein „freiwillig“ Mitfliegender bei einer Sammel -abschiebung von London über Dublin und Madrid imFebruar 2010 dokumentiert. In anderen Fällen werdendie Betroffenen aus den jeweiligen EU-Ländern aneinem Flughafen zusammengebracht, um sie dann alsGruppe abzuschieben. Die Zahl der von Frontexunterstützten Charterabschiebungen stieg von 428Personen (in 12 Flügen) im Jahr 2007 auf ca. 2000Abgeschobene (in über 35 Flügen) im Jahr 2010. Derentsprechende Posten im Frontex-Budget wurde inden letzten Jahren massiv erhöht, über 10 MillionenEuro sind für 2012 einkalkuliert. Mit diesem Etatübernimmt Frontex die Kosten der Sammelab-schiebungen zu 100 %, die nationalen Behörden wer-den insofern auch finanziell ermutigt mitzuwirkenund selbst initiativ zu werden, um „ihre unerwünsch -ten Flüchtlinge und Migrantinnen und Migranten“loszuwerden.

Come to Camp!

Aus Deutschland wurden Sammelabschiebungen inden vergangenen Jahren vor allem ins ehemaligeJugoslawien durchgeführt. Regelmäßig einmal imMonat startete 2011 zumindest ein Flieger entwederaus Baden-Baden, aus Stuttgart oder zumeist aus Düsseldorf in Richtung Kosovo oder Serbien. AnBord dieser Frontex-finanzierten Maschinen, diezumeist von Air Berlin gechartert wurden, befindensich zwischen 20 und 30 Abzuschiebende. In derMehrzahl sind es Roma-Familien, deren Widerstandmit der vermeintlichen Unabwendbarkeit der Samme-labschiebungen gebrochen werden soll. In diesemKontext wird am Samstag, 21. Juli, die großeAbschlussaktion des Grenzcamps 2012 am Düsseldor-fer Flughafen stattfinden. Doch für die Woche ab dem13.7. sind zwischen Köln und Düsseldorf vielfältigeAktivitäten in Planung: von der Unterstützung vonFlüchtlingen in Anti-Lagerkämpfen über antifaschis -tische Aktionen bis zu Protesten gegen an Landraubbeteiligte Banken. Außerdem wird es innerhalb wieaußerhalb des Camps Workshops und Veranstaltun-gen geben, ein umfangreiches Programm ist in Vor-bereitung. Inhaltlich wie praktisch sollte also dieWoche im Juli am Rhein lohnen, in diesem Sinne:Come to Camp 2012!<

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Kontaktfür das Noborder-

camp Köln/Düssel-

dorf 2012:

[email protected]

noborder.antira.info/de

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Keine Gleichheit der WaffenAbschiebungshäftlinge stehen Richterinnen und Richter Behörden oft ohne Anwalt oder Anwältingegenüber. Durch Rechtshilfefonds versuchen Hilfsorganisationen und Kirchen, diesem Mangelabzuhelfen. Die Resultate sind zwar quantitativ bescheiden, in der Qualität von Rechtsprechung undBehördenverhalten hat sich aber schon einiges geändert. Von Dieter Müller SJ

Abschiebungshäftlinge sind weder aufgrundeiner Straftat noch zur Untersuchung einersolchen im Gefängnis. Diese simple Feststel-

lung würden viele Bürgerinnen und Bürger inDeutschland wohl nicht ohne weiteres unter-schreiben. Vielmehr würden sie einwenden: Irgendet-was haben die aber doch sicherlich angestellt… Undauch bei der Anzahl der jährlich Betroffenen würdensie sich vermutlich irren: Einige hundert vielleicht…?Tatsächlich waren im vergangenen Jahr nachSchätzungen von Hilfsorganisationen und Kirchen7.000 bis 8.000 Personen in Abschiebungshaft.Offizielle bundesweite Zahlen liegen nicht vor, son-dern werden lediglich auf parlamentarische Anfragemehr oder weniger genau erhoben. Letztmalig hat dieBundestagsfraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN imJahre 2008 eine solche Anfrage gestellt. Die in derAntwort (Drucksache 16/11384) enthaltenen - aller -dings nicht vollständigen - Zahlen beziehen sich aufdie Jahre 2005-2007. Nimmt man für diese Zeit nuneine Größenordnung von jährlich 10.000 bis 11.000Betroffenen an, so lässt sich ein Rückgang von rund30 Prozent in den letzten fünf Jahren feststellen. FürMai dieses Jahres werden nun neue Zahlen aufgrundeiner Großen Anfrage der Bundestagsfraktion DIELINKE erwartet.

„Warum bin ich eigentlich hier eingesperrt?“fragen Abschiebungshäftlinge

Bei Abschiebungshaft handelt es sich um eine reineVerwaltungsmaßnahme. Sie dient einzig derbehördlichen Vorbereitung und Sicherstellung derAusreise. Dennoch kann sie bis zu sechs Monate, imExtremfall sogar bis zu eineinhalb Jahre dauern.Erschwerend kommt hinzu, dass Abschiebungshaft invielen Bundesländern noch immer in Justizvoll -zugsanstalten, in denen generell striktere Vollzugs -regelungen gelten als in speziellen Hafteinrichtungen,vollzogen wird (s. hierzu den Überblick über die Situ-ation in Deutschlands Abschiebungshaftanstalten aufden Webseiten von Pro Asyl). Und das, obwohl eineseit Dezember 2010 gültige EU-Richtlinie, die soge-nannte Rückführungsrichtlinie, unter Artikel 16 (1)vorschreibt, dass dies nur in Ausnahmefällengeschehen darf. Nämlich dann, wenn ein Mitglied-staat über keine speziellen Einrichtungen fürAbschiebungshäftlinge verfügt. Mit ihrer im November2011 deutlich verspäteten Umsetzung der Richtliniehat die Bundesregierung jedoch die Ausnahme zurRegel gemacht. Im neuen Paragraph 62a, Absatz 1Aufenthaltsgesetz heißt es: „Sind spezielle Hafteinrich-tungen im Land nicht vorhanden, kann sie [die

Foto: Dieter Müller

Ein ganz normaler Knast Die JVA Stadelheim in München, in der auchAbschiebehäftlinge untergebracht werden.

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Abschiebungshaft] in diesem Land in sonstigen Haft -anstalten vollzogen werden.“ Mitgliedstaaten werdenkurzerhand in Bundesländer uminterpretiert unddamit wird der Weg frei gemacht für weitereInhaftierungen in Justizvollzugsanstalten.

Zu Recht fragen die Betroffenen also: „Warum bin icheigentlich hier eingesperrt? Ich habe doch nichts ver-brochen.“ Während nun aber Untersuchungshäftlinge,die möglicherweise nur eine Zelle weiter oder eineEtage über ihnen untergebracht sind, vom ersten Tagihrer Inhaftierung an einen Pflichtverteidiger haben,gibt es eine entsprechende Vorschrift fürAbschiebungshäftlinge nicht. Zwar bestellen Richterin-

nen und Richter in wenigen Fällen von sich aus eineVerfahrenspflegerin oder einen Verfahrenspfleger.Und für alle anderen Betroffenen gibt es die (theo-retische) Möglichkeit, selbst Verfahrenskostenhilfe zubeantragen. Diese ist jedoch an Erfolgsaussichtengebunden, was dazu führt, dass ein Anwalt oder eineAnwältin erst umfangreich tätig werden muss, bevordie Bezahlung geklärt ist. Es ist verständlich, dassAnwältinnen und Anwälte sich auf ein solchesProzedere nur selten einlassen können. Fazit: diemeisten Abschiebungshäftlinge stehen vor Gerichtund gegenüber den Behörden alleine da, es herrschtkeine „Gleichheit der Waffen“.

Der Zweck heiligt nicht die Mittel

Abschiebungshaft ist ein Eingriff in das Grundrechtauf Freiheit. Für sie gilt - besonders mit zunehmenderHaftdauer - das Verhältnismäßigkeitsgebot. Demnachist stets abzuwägen, ob die (weitere) Inhaftierungsich (noch) proportional zu dem Ziel derAbschiebungsvorbereitung verhält. Der Zweck heiligtnämlich keineswegs die Mittel. Wer kontrolliert aber,ob Behörden und Gerichte sich auch daran halten?Wer interveniert, wenn nötig? Abschiebungshäftlingeselbst sind dazu kaum in der Lage. Erstensbeherrschen sie meist nicht die Amtssprache Deutsch,zweitens fehlen ihnen selbst Grundkenntnisse desAusländerrechts, drittens haben sie keinen vollständi-gen Einblick in ihre Akte, und viertens herrscht fürRechtsmittel in höheren Instanzen ohnehin Anwalts -zwang. Akteneinsicht ist besonders in Dublin-Ver-fahren, also wenn die Rückschiebung in einenanderen EU-Mitgliedstaat ansteht, von großerWichtigkeit. Oft halten die Ausländerbehörden denihnen vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge(BAMF) zugesandten ablehnenden Bescheid für dieBetroffenen bis zum Tag der Rückschiebung in derAkte zurück, offensichtlich um Rechtsmittel dagegenzu verhindern.

Nun gibt es zwar einige wenige Bundesländer, indenen anwaltliche Beratung in begrenztem Umfangaus Landesmitteln finanziert wird (z.B. NRW undBrandenburg), letztlich müssen aber Hilfsorganisatio-nen und Kirchen diese Aufgabe übernehmen. Siefordern seit Jahren die Finanzierung von Anwältinnenund Anwälten aus Landesmitteln bzw. Gesetzesän-derungen zur Beiordnung von Pflichtverteidigerinnenund -verteidigern. Als Notlösung haben sie Rechtshil-fefonds gegründet. Diese meist regional verwalteten,eher kleinen Fonds werden aus Eigenmitteln bzw.aus Spendengeldern finanziert. Der Jesuiten-Flüchtlingsdienst unterhält in Berlin-

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Foto: Sibylle Fendt

Warten hinter Gittern Abschiebehäftling in Berlin

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Brandenburg und Bayern, wo er auch Zugang zu denHaftanstalten hat, einen Rechtshilfefonds. Mitunter -zeichnende sind sowohl Hilfsorganisationen, wiebeispielsweise Flüchtlingsräte und Amnesty Interna-tional, als auch kirchliche Stellen, etwa Diözesanräteund Caritas. Im vergangenen Jahr wurden aus demFonds 84 Fälle unterstützt. Dabei kam es zu 59Freilassungen. Die Anwaltskosten betrugen insgesamt25.500 Euro, pro Einzelfall also durchschnittlich etwa300 Euro.

Erfolge im Kleinen und im Großen

Freilich kann nur ein Bruchteil der notwendigen Ver-fahren durch solche Fonds unterstützt werden. Dochdie Erfolge zeigen sich nicht nur im Einzelfall, etwain einer kürzeren Haftdauer, der Ermöglichung einerfreiwilligen Ausreise, dem Erhalt der Familieneinheitoder der Klärung der Zuständigkeit im Asylverfahren.Sondern auch in Musterverfahren, deren Ergebnisdann ganzen Gruppen von Betroffenen zugutekommt. Zu nennen wären hier die zahlreichenEilentscheidungen bei Dublin-Rückführungen nachGriechenland, die schließlich im Januar 2011 zueinem Rückschiebestopp führten. Oder dieBeschlüsse der Landgerichte Dresden und Leipzig(AZ: 2 T 372/11 und AZ: 07 T 104/11), die sich be -reits mit dem oben genannten Trennungsgebot derRückführungsrichtlinie auseinandergesetzt haben. Ver-mehrt lassen Anwältinnen und Anwälte auchnachträglich die Rechtswidrigkeit von Abschiebungs -haft feststellen, um anschließend Schadensersatzfordern zu können. Freilich sind diesbezügliche Ver-handlungen mit den Behörden oft zäh und setzeneinen über längere Zeit bestehenden Kontakt mit denBetroffenen voraus. Doch sie führen zum Erfolg. InMünchen beispielsweise konnten Anwältinnen undAnwälte schon in mehreren Fällen Schadensersatz-zahlungen von 50-100 Euro pro Hafttag durchsetzen.Ein Iraker etwa, der wegen Zurückschiebung nachÖsterreich 60 Tage zu lange in München inhaftiertwar, bekam 13 Monate später von seiner Anwältin6.000 Euro überwiesen.

Noch immer wird Abschiebungshaft zu schnell, zuhäufig und zu lange verhängt, wie die DeutscheBischofskonferenz schon 1995 festgestellt hat.Gezielte rechtliche Hilfe ist das Mittel der Wahl, umdas zu ändern.<

Noch ein Hinweis in eigener Sache:

Der Rechtshilfefonds des Jesuiten-Flüchtlingsdiensteswurde in den vergangenen Jahren aus europäischenMitteln bezuschusst. Diese Unterstützung ist ausge-laufen. Wir sind jetzt ausschließlich auf privateSpenden angewiesen, um wie bisher helfen zu kön-nen.

Wenn Sie uns unterstützen wollen, benutzen Sie bitteunsere Bankverbindungen: Bayern: Konto 202 173 603, Ligabank, BLZ 75090300Berlin: Konto 6000 40 10 20, Pax-Bank, BLZ 37060193oder online unter www.jesuiten-fluechtlingsdienst.de.Verwendungszweck: „Rechtshilfefonds“.

Die Spenden sind steuerlich absetzbar. Faltblätter zurBewerbung unseres Fonds können Sie anfordern [email protected] oder [email protected].<

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Dieter Müllerist Jesuitenbruder

und arbeitet im Auf-

trag des Jesuiten-

Flüchtlingsdienstes

als Seelsorger für

Abschiebungs -

häftlinge in der

Justizvollzugsanstalt

München.

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Thomas de MaizièreDer unglückselige de Maizière hat nur den inzwischenschon wieder verworfenen Nacktscanner am FlughafenHamburg eingeweiht, ohne ein Model mitzunehmen, dasden Akt für die Boulevardpresse attraktiv gemacht hätte:"Sie machte sich für uns frei..." Ging stattdessen selberdurch. So blieb der Scanner assoziativ im Bereich derNackt schnecke: Mag auch niemand. Hätte was aus seinemHugenottenhintergrund machen können: "Ganz oben mitMigrationshintergrund: Deutschlands prominentester Who-genotte.„Fiel kurz auf, als er während der Arabellion inTunesien potentiellen Flüchtlingen empfahl, im Lande zubleiben, was nicht ganz durchdrang. Hätte er besser überden ADAC bekanntgeben sollen. Hat jetzt ein anderes Res-sort mit mehr Klarsichthüllen und mehr Durchschlagskraft.In dem er rückzugsbegleitende Öffentlichkeitsarbeit in derNach-Guttenberg-Ära machen muss. Gel bereits beseitigt:Mission accomplished. Bräuchte eine Werbeagentur, dieKnäckebrot ein individuelles nicht-schwedisches Image ver-passen kann. Aber Volvo ist ja auch schon chinesisch.

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Zukunftsfähige Ungerechtigkeit

Warum Abschiebehaft kein Auslaufmodell ist und trotz des „Knaststerbens“ in Deutschland nicht vonalleine verschwinden wird. Von Tim Landauer

Foto: Reiner Frey

Einfach Weggepackt Möblierung einer Zelle des Abschiebegefängnises Ingelheim

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Am Abend des 2. Juli 2010 erhängte sich der58-jährige Slawik C. mit dem Stromkabel einesWasserkochers am Fenstergitter seiner Zelle in

der Abschiebehaftanstalt Hannover-Langenhagen.Fünf Tage später hätte er in die armenische Haupt-stadt Eriwan abgeschoben werden sollen, nachdem erelf Jahre lang in Jesteburg (Landkreis Harburg) gelebthatte. Über ein Jahr später entschied das Bundesver-fassungsgericht, dass seine Inhaftierung rechtswidriggewesen ist. Slawik C. ist einer von mindestens 62Opfern der Abschiebehaft in Deutschland seit 1993.Wie für viele andere endete für ihn die Flucht in einals sicher geglaubtes Land mit dem Tod. Abschiebe-haft ist nach wie vor ein unannehmbares Unrecht. Siebedeutet für die von ihr betroffenen Menschenvielfach das Ende ihrer Hoffnungen und Pläne. Sieraubt ihnen ihre Würde, ihre Zukunft und nicht sel-ten ihr Leben.

Knaststerben

Trotzdem (oder genau deswegen) wird Abschiebehaftin Deutschland immer noch tausendfach vollzogen.Die Zahl der Inhaftierten ist jedoch seit Ende der1990er Jahre stetig gesunken. Infolgedessen sind auchdie eigens für den Zweck der Abschiebehaft geschaf-fenen Justizvollzugsanstalten (JVA) heute oft unter-belegt. In Deutschlands größtem Abschiebeknast, derJVA Büren, war Mitte der 1990er Jahre Platz für bis zu580 Gefangene, und nicht selten waren alle Zellenvoll. Inzwischen wurde die JVA teilweise für Kurzzeit-gefangene umgebaut und stellt noch 384 Haftplätzefür Abschiebegefangene. Dabei ist sie nunmehr daseinzige Abschiebegefängnis in Deutschlandsbevölkerungsreichstem Bundesland. Nachdem bereits2004 die Abschiebehaftanstalt Moers geschlossen wor-den war, wurde Ende 2011 auch das dritte Sonderge-fängnis NRWs, der Frauenabschiebeknast Neuss,aufgelöst und die weiblichen Häftlinge nach Bürenverlegt. Bereits 2010 wurde außerdem die Abschiebe-haftanstalt Rottenburg (Baden-Württemberg)abgewickelt und die Insassen nach Mannheimgebracht. In Rheinland-Pfalz soll der AbschiebeknastIngelheim über kurz oder lang geschlossen und imLaufe des Jahres 2012 ein „neues Konzept“ zurAbschiebehaft erarbeitet werden, nachdem dort zu -letzt nur etwa 22 der 152 Haftplätze belegt waren.

Abschiebehaft als Auslaufmodell?

Die Abschiebehaft hat im Wesentlichen zwei unmittel-bare Effekte: Sie sorgt dafür, dass staatliche Behördeneinen direkten und absoluten Zugriff auf dieinhaftierten Menschen und ihre „in Freiheit“ befind-

lichen Familienangehörigen haben, und sie schafft einKlima der Angst durch die ständige Bedrohung durchHaft und anschließende Abschiebung. Diesesmachtvolle Instrument werden sich die staatlichenBehörden nicht so einfach aus der Hand nehmenlassen. Zwar ist Abschiebehaft relativ teuer, dieKosten tragen jedoch – neben den Gefangenen selbst– die Bundesländer und nicht die einzelnen Auslän-derbehörden, welche die Haft anordnen. Diese Effek-te – unmittelbarer Zugriff und Klima der Angst – sindaus staatlicher Sicht weiterhin notwendig und sin-nvoll. Dass in Deutschland faktisch weniger Men-schen inhaftiert sind, hat mehrere Gründe: zum einensind die Asylantragszahlen infolge des SchengenerAbkommens und der militärischen Hochrüstung derEU-Außengrenzen kontinuierlich gesunken. Außer-dem hat die EU-Osterweiterung dazu geführt, dassaus vormals Illegalisierten legale Wanderarbeiterinnenund Wanderarbeiter geworden sind. Dazu kommt,dass viele Migrantinnen und Migranten im Rahmenvon Dublin II in andere EU-Länder zurückgeschobenwerden, was deutlich einfacher und schneller geht alsAbschiebungen in die Herkunftsländer Südamerikas,Asiens oder Afrikas, und daher die Haftdauer fürdiese Menschen reduziert.

Exportschlager Internierung

Von Abschiebehaft als Auslaufmodell zu sprechen,stimmt also spätestens dann nicht mehr, wenn dieeuropäische Ebene mit einbezogen wird. An derPeripherie Europas – diesseits und jenseits der Gren-zen – sind parallel zu den gesunkenen Inhaftierungs -zahlen in Deutschland zahlreiche neue Abschiebe -knäste und geschlossene Lager entstanden. Dortherrschen überwiegend katastrophale Verhältnisse:Überbelegung, defizitäre hygienische Bedingungen,kein Zugang zu Rechtsberatung und Betreuung. Obin der Ukraine, in Rumänien, der Türkei, in Griechen-land oder Nordafrika, die Inhaftierung von poten-tiellen EU-Einreisewilligen oder Illegalisierten hat sichzu einem Exportschlager entwickelt und ist inzwis-chen fester Bestandteil verschiedenster zwischen-staatlicher Verträge und EU-Abkommen.

Dass es sich bei der Internierung von Migrantinnenund Migranten nicht immer um Abschiebehaft imengeren Sinne handelt, macht die Lage nicht besser.Ein von migreurop verfasster Bericht über die Situa-tion in spanischen Internierungszentren für Auslän-derinnen und Ausländer ohne gültige Aufenthaltspa-piere (Centros de Internamiento de Extranjeros)kommt zu der Schlussfolgerung: „Hinter den soge -nannten Centros de Internamiento de Extranjeros

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(CIE) versteckt sich eine Realität, die in Wahrheit der-jenigen von Gefängnissen entspricht – und die sichschwer verbergen lässt.“ Eigentlich dürften solcheEinrichtungen lediglich die Bewegungsfreiheit begren-zen, darüber hinaus aber keinen „Strafcharakter“besitzen: „Doch zeigt sich dieser „Strafcharakter“keineswegs nur im architektonischen Erscheinungs-bild der CIE [die zum Teil in ehemaligen Haftanstal-ten eingerichtet worden sind, T.L.], sondern ebenso ineiner Beschneidung der Rechte der in diesen Zentrenfestgehaltenen Personen, die gelegentlich sogardiejenige, die in Strafanstalten vorgenommen wird,übersteigt.“

Aus dem Blickfeld der Öffentlichkeit

Aber auch in der BRD wird Abschiebehaft nicht ver-schwinden: nach dem Modell von Frankfurt am Mainund Düsseldorf planen die Länder Berlin und Bran-denburg derzeit einen „Asylknast“ am GroßflughafenSchönefeld mit 30 Plätzen für Männer, Frauen mitihren Kindern und unbegleitete minderjährigeFlüchtlinge. Die dort Inhaftierten müssen sich demvielfach kritisierten Flughafenverfahren stellen, einemverkürzten Asylverfahren, das aufgrund mangelnderWiderspruchsmöglichkeiten eine deutlich schnellereAbwicklung garantiert.

Auch die „normalen“ Abschiebeknäste werdenbleiben, solange es für die Verantwortlichen keinezwingenden Gründe für deren Abwicklung gibt. Zureibungslos läuft die Abschiebemaschine, und umsobesser, je mehr Abschiebehaft aus dem öffentlichenInteresse verschwindet. Die Unterbringung vonAbschiebehäftlingen in normalen JVAs (die eigentlichnach den Rückkehrrichtlinien der EU zu unterbleibenhat) und die temporäre Inhaftierung in Sondertraktenan Flughäfen verbirgt die Betroffenen noch mehr vordem Blick der Öffentlichkeit.

Vom Skandal zur Normalität

Noch vor 10 oder 15 Jahren spielte die Auseinander-setzung mit Abschiebehaft in der antirassistischenBewegung und darüber hinaus eine weit größereRolle und stellte, nicht zuletzt mit großen bun-desweiten Demonstrationen vor der JVA Büren, einenKulminationspunkt der Proteste dar. Mit derzunehmenden Verlagerung der Migrationskontrolle andie europäischen Außengrenzen hat sich notgedrun-gen auch der Fokus des Widerstandes dorthin ver-schoben. Mit der Folge, dass Abschiebehaft als nichtmehr so wichtig angesehen wird; fatal für all jene, dienach wie vor von ihr betroffen sind.

Was passiert, wenn der Druck durch Proteste nach-lässt, kann nicht zuletzt am Verhalten der Grünen inNRW abgelesen werden. Dort ist inzwischen auseiner klaren Positionierung gegen Abschiebehaft dieForderung nach besseren Haftbedingungen und derBeschränkung auf „notwendige Fälle“ geworden.Zuletzt bestaunen ließ sich diese Haltung in derDebatte Ende Januar um einen Antrag der Linksparteiim Landtag NRW auf Abschaffung der Abschiebehaft:Die flüchtlingspolitische Sprecherin der Grünen,Monika Düker, kritisierte Abschiebehaft in ihrer Rede,nur um dann dem Antrag nicht zuzustimmen. Unddas war kein Fauxpas, Frau Düker befindet sichdamit voll auf der Linie der Grünen, nicht nur inNRW. Abschiebehaft ist vom Skandal zur Normalitätgeworden. „Abschiebehaft light“ oder ein „goldenerKäfig“ kann nicht das Ziel einer emanzipatorischenBewegung sein. Bewegungsfreiheit bedeutet nicht nurdas Recht, grenzenlos zu migrieren, sondern auch,sich innerhalb eines Landes ohne Aufenthalts-beschränkungen, Residenzpflichten, Zäune undKnastzellen bewegen zu können. Für alle Menschen.<

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Tim Landauerlebt und arbeitet als

Mechatroniker in

Paderborn. Seit

1999 engagiert er

sich in der „Büren-

gruppe/Initiative

ausbrechen“ gegen

den Abschiebeknast

in Büren. Mehr

Informationen

unter: www.aus-

brechen.info

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DIY der HaftvermeidungWas tun wenn’s brennt?

Juristische Ersthilfe bei drohender Abschiebehaft, praktische Solidarität diesseits und jenseits der Knastmauern

Ein Bericht über das rechtliche Grundwerkzeug, deraufzeigt, auf welche Weise Personen dazu beitra-gen können, eine drohende Abschiebehaft zu ver-hindern. Und gleichzeitig ein ermutigender Aufruf,aktiv zu werden und eben dies zu tun. Von Frank Gockel

Illustrationen: Matthias Weinzierl

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Jemand wird von der Polizei mitgenommen, es besteht die Gefahrder Abschiebehaft. Befreundete Personen haben den Vorfall gese-hen. Sie rufen den zuständigen Rechtsbeistand an, doch der ist gera-de im Urlaub und eine Vertretung nicht bekannt. Die Flüchtlingsbe-ratungsstelle weiß auch nicht so recht, was sie machen kann. Wasnun? Leider kein Einzelfall, immer wieder werden Flüchtlinge in denersten Stunden der Abschiebehaft alleingelassen. Doch gerade dawerden juristische Weichen gestellt und es entscheidet sich, ob dieletzten Tage in Deutschland in Haft verbracht werden müssen.

Dieser Artikel soll Mut machen, denjenigen beizustehen, die vonAbschiebehaft bedroht sind. Er liefert das juristische Grundwerkzeug,um aktiv zu werden. Sicherlich, für all jene, die regelmäßig im Bereichder Abschiebehaft arbeiten, ist er oberflächlich, doch für sie stehen jaauch (teure) juristische Kommentare zur Verfügung. Es kann auchnicht jede Besonderheit berücksichtigt und alle möglichen Wegeaufzeigt werden, doch wissen die Leserinnen und Leser danach dochmehr, als so manche, die über Abschiebehaft entscheiden. Denn lei-der sind auch viele ausgebildete Juristinnen und Juristen in diesemFeld nicht besonders bewandert.

Wie erfahre ich, wenn mein Freundoder meine Freundin in Abschiebehaft kommt?

Sicherlich kann man niemanden rund um die Uhrbegleiten, um zu erfahren, ob die Person in Abschiebe-haft kommt. Doch wenn es passiert, bricht oft die Kom-munikation zusammen, so dass niemand weiß, woBetroffene verblieben sind. Handys werden von denAusländerbehörden oder der Polizei abgenommen; inden meisten Abschiebegefängnissen sind sie verboten.Daher sollten diejenigen, die von Abschiebehaftbedroht sind, zumindest die wichtigsten Telefonnum-mern auswendig lernen und sich keinesfalls daraufverlassen, dass sie im Handy gespeichert sind.

Sinnvoll ist es auch, eine Person des Vertrauens als Bei-stand zu benennen, die über die Inhaftierung nachdem Gesetz zu informieren ist. Als Beistand besteht dieMöglichkeit der Akteneinsicht, man kann bei derAnhörung vor Gericht anwesend sein und an diesemTermin Verfahrensanträge und Anregungen imNamen des Betroffenen stellen.

Noch weitreichender ist die Möglichkeit, als Beteiligteoder Beteiligter im Verfahren aufzutreten. Zusätzlichzu den Rechten des Beistandes können sie im eigenenNamen Anträge (zum Beispiel Haftaufhebungsantrag,Anträge zur Verfahrensweise) stellen und Beschwer-den einlegen. Sämtliche Beschlüsse müssen bekanntgegeben werden und man kann selbst eine Anwältinoder einen Anwalt beauftragen. So ist es möglich dasVerfahren weiterzuführen, auch wenn Betroffenebereits abgeschoben sind. Sollte das Gericht eine Betei-ligung der Person des Vertrauens ablehnen, muss eshierüber einen Beschluss ausstellen.

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Doch wie erfährt das Gericht, dass man an dem Verfahren beteiligt ist?

Eigentlich müsste das Gericht erfragen, ob eine „Persondes Vertrauens“ vorhanden ist, doch allzu oft erfolgtdies nicht. In der Praxis hat sich bewährt, dass die Per-son, welcher die Inhaftierung droht, immer einen Zet-tel mit sich führt, auf der folgender Text steht:

Bei einer Verhaftung ist der Zettel dann der Polizeioder der Richterin bzw. dem Richter zu geben. Vorsichtist bei der Ausländerbehörde geboten, denn anstatt denZettel an das Gericht weiterzuleiten, kam es in der Ver-gangenheit des Öfteren vor, dass dieser einfach in derAkte abgeheftet wurde. Außerdem muss sichergestelltsein, dass die Person des Vertrauens auch tatsächlicherreichbar ist. Eine Bürotelefonnummer der Flücht-lingsberatungsstelle, die von Freitag bis Montag nichterreichbar ist, hat deshalb wenig Sinn.

Mit diesem Zettel muss die Richterin bzw. der Richterdie Person des Vertrauens vor der Anhörung beiGericht anrufen und den Termin mitteilen. Dabeibesteht die Verpflichtung, auf der einen Seite, eineangemessene Zeit mit der Anhörung zu warten, um derVertrauensperson das Erscheinen zu ermöglichen, aufder anderen Seite muss die Anhörung so schnell wiemöglich vollzogen werden. Bei einer zu langen Anrei-se sollte man im Zweifelsfall darauf bestehen, zumin-dest telefonisch gehört zu werden.

Auch wenn ein solcher Zettel nicht vorhanden ist,kann eine Beteiligung erfolgen. Entweder Betroffenesagen dem zuständigen Gericht, dass sie jemanden amVerfahren als Person des Vertrauens beteiligen wollenoder die Person, die beteiligt werden möchte, meldetsich bei Gericht noch vor dem Anhörungstermin. Indiesem Fall muss das Gericht Betroffene dazu anhören.Stimmen diese zu, wird man am Verfahren beteiligt.Allerdings halten sich längst nicht alle Gerichte an die-ses Vorgehen.

Im Gericht

Die erste große Hürde ist es, insbesondere außerhalbder Öffnungszeiten, in das Gerichtsgebäude hineinzu-kommen. Die Zugangsmöglichkeiten zum Gericht soll-ten daher bereits bei der (telefonischen) Ladung erfragtwerden. Hilfreich ist es auch, sich eine Durchwahl-nummer geben zu lassen, um bei Problemen jemandenim Gebäude erreichen zu können.

Vor der Anhörung sollte die beteiligte Person daraufbestehen, einen Einblick in die Gerichtsakte nehmenzu dürfen. Zu dieser Gerichtsakte gehört im Regelfallauch die Ausländerakte. Aus den Akten dürfen aufeigene Kosten Kopien angefertigt werden. Insbesonderebei einem Haftantrag der Behörden sollte geprüft wer-den, ob die folgenden Punkte enthalten sind, daansonsten kein gültiger Antrag vorliegt und Abschiebe-haft nicht angeordnet werden darf:

> die Identität der oder des Betroffenen,> der gewöhnliche Aufenthaltsort im Bundesgebiet,> die Erforderlichkeit der Freiheitsentziehung,> die erforderliche Dauer der Freiheitsentziehung,> die „Verlassenspflicht“ der oder des Betroffenen,> die Voraussetzung und die Durchführbarkeit

der Abschiebung und> eine Begründung.

Es ist nicht ausreichend, dass die Ausländerbehördeallgemein gehaltene Textbausteine verwendet; vielmehrmuss sie die Angaben individuell auf die Situation derBetroffenen beziehen. Allerdings darf dieser Textdurchaus kurz gehalten sein.

Wurde noch kein Asylantrag gestellt und war diesgeplant, sollte das nun schnellstmöglich erfolgen.Kommt der Asylantrag, der auch gefaxt werden kann,

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Hiermit benenne ich Herrn/Frau [Vorname] [Nachname],

[Anschrift], [Telefonnummer], [Handy], als die Person

meines Vertrauens nach Art. 104 Abs. 4 GG. Er/Sie ist nach

§ 432 FamFG unverzüglich über die Anordnung der

Freiheitsentziehung oder deren Verlängerung zu informie-

ren. Er soll nach den § 7 Abs. 3 FamFG i.V.m. § 418

Abs. 3 Nr.2 FamFG an dem Verfahren beteiligt werden

und ist daher zu einer möglichen Anhörung zu laden.

[Unterschrift]

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noch vor der Anhörung durch das Gericht beimBundesamt an, so muss das Asylverfahren abgewartetwerden und die oder der Betroffene kommt nicht inHaft.

Wird gegen Betroffene von Seiten der Staatsanwalt-schaft oder der Polizei wegen Straftaten ermittelt, musszwingend die Zustimmung der Staatsanwaltschaft zurAbschiebung vorliegen. Auch dies ist im Rahmen derAkteneinsicht zu prüfen, denn nicht selten liegt eineAnzeige wegen illegalem Aufenthalt vor. Wann mandas Fehlen der Zustimmung dann aber am besten mit-teilt, ist schwierig zu beurteilen. In der Praxis gab esFälle, in denen noch während der Anhörung dieStaatsanwaltschaft angerufen wird und diese dieZustimmung zufaxt. Ob das rechtmäßig ist, muss dieRechtsprechung noch klären.

Nun ist es Zeit, mit den Betroffenen selber zu sprechen.In der Regel wird dies von der Haftrichterin bzw. demHaftrichter erlaubt. Unter Umständen kann jemandzum Dolmetschen hinzugezogen werden. Bei Rechts-beiständen muss das Gericht sogar auf Wunsch eineDolmetscherin oder einen Dolmetscher stellen. In derRegel geht es in den Gesprächen darum, Betroffene, dieoft sehr aufgewühlt sind, zu beruhigen. Und es sollteüberlegt werden, welche Aussagen vor Gericht gemachtwerden und welche nicht. So sind Aussagen über dieGefährdungssituation im Herkunftsland meist wenighilfreich, da dies bereits im Asylverfahren geprüft wird.Außerdem könnte es passieren, dass das Gerichtdadurch den Verdacht bekommt, dass Betroffene ausAngst vor der Rückkehr nicht freiwillig ausreisen, wasmöglicherweise ein Haftgrund wäre.

Die Anhörung

Am Anfang der Anhörung ist Betroffenen der Antragder Ausländerbehörde zu eröffnen. Dabei sollte daraufgeachtet werden, dass dieser komplett und nicht nurauszugsweise übersetzt wird. Auch mögliche Anhängesind zu übersetzen. Selbst wenn Betroffene gut deutschsprechen, sollte darauf nicht verzichtet werden. Geradedas „Beamtendeutsch“ ist oft so kompliziert, dass eineÜbersetzung unbedingt sinnvoll ist. Beteiligte könnendabei prüfen, ob es Anzeichen gibt, dass sich Betroffe-ne und dolmetschende Person nicht richtig verstehen.Im Zweifelsfall sollte dies angesprochen und ein Antragauf Hinzuziehung eines anderen Dolmetschers odereiner anderen Dolmetscherin gestellt werden.

Nun stellt die Richterin bzw. der Richter Fragen. Vielehalten diese sehr kurz und unpräzise, oft auch auseigenem Unwissen heraus. Hier darf für Beteiligte keineHemmschwelle bestehen, von sich aus Fragen zu stel-len, Erklärungen abzugeben und Anträge einzurei-chen.

Sollte zum Beispiel die Ausländerbehörde das beliebteArgument anführen, dass der oder die Betroffeneobdach- und mittellos sei, kann man darauf aufmerk-sam machen, dass diese Aussage insofern nicht stimmt,da ein Anspruch nach dem Asylbewerberleistungsge-setz besteht. Es lohnt sich auch immer zu prüfen, ob dieoder der Betroffene tatsächlich ausreisepflichtig ist.Nach einem Asylverfahren trifft das zum Beispiel erstzu, wenn das Bundesamt die Abschiebungsandrohungzugeschickt hat. Dies muss durch eine Postzustellungs-urkunde erfolgen. Da sich diese in der Akte desBundesamtes befindet, fällt es den Ausländerämternoft schwer, sie in der Anhörung vorzulegen. Geradewenn eine Ausländerbehörde drei Monate Abschiebe-haft beantragt hat, sollte man nicht scheuen, das zuhinterfragen.

> Wie lange dauert die „Passersatzpapierbeschaffung“ in der Regel? Kommt heraus, dass sie länger als drei Monate dauert, darf die Haft nicht angeordnet werden. Geht es schneller, muss die Haft auf diesen Zeitraum begrenzt werden.

> Gibt es kein milderes Mittel als Abschiebehaft? Hier istzu hinterfragen, warum zum Beispiel eine tägliche Meldeauflage oder die Stellung einer Kaution nicht ausreichend sein soll.

> Wird sich die oder der Betroffene tatsächlich der Abschiebung entziehen? Bestehen zum Beispiel enge,soziale Bindungen am Aufenthaltsort oder muss regelmäßig eine ärztliche Praxis aufgesucht werden, sowürde das eher dagegen sprechen.

Der Fantasie sind bei diesen Fragen keine Grenzengesetzt und es sollte alles erörtert werden, was gegeneine mögliche Haft spricht.

Dem Gericht können zudem Anregungen mitgegebenwerden, wie eine mögliche Beweisführung erfolgenkönnte. So können Beteiligte beispielsweise vorschlagen,weitere Akten (etwa vom Bundesamt) hinzuzuziehen,Zeuginnen und Zeugen zu laden oder es kannanhand des Geschäftsverteilungsplans des Gerichtsgeprüft werden, ob die jeweilige Richterin oder derRichter überhaupt zuständig ist. Leider sind diese nichtdaran gebunden, die Beweisanträge in der Form zu

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führen, wie es angeregt wurde. Die Ergebnisse derBeweisführung sind jedoch festzuhalten. Da dies abernicht immer geschieht und auch Gerichte oft vergessen,Anregungen zur Beweiserhebung im Protokoll aufzu-nehmen, hat es sich als zweckmäßig erwiesen, diesenoch während der Anhörung schriftlich zu formulie-ren und zur Gerichtsakte zu geben. Hierfür kann mandurchaus eine kurze Pause beantragen.

Während der Anhörung wird ein Protokoll geführt. Esmuss darauf geachtet werden, dass alle wichtigenSachen dort niedergeschrieben werden. Im Zweifelsfallsollte man einen entsprechenden Antrag auf Protokol-lierung stellen. Bei Bedarf kann auch gefordert wer-den, wichtige Emotionen der oder des Betroffenen(zum Beispiel Weinen) oder der anderen Verfahrens-beteiligten (beispielsweise Wutanfälle der Vertreter/Ver-treterin der Ausländerbehörde) festzuhalten.Sicher-heitshalber sollte die oder der Beteiligte das Gericht amEnde der Anhörung bitten, das Protokoll vorzulesenoder, falls es auf Tonband aufgenommen wurde, abzu-spielen, um es ergänzen oder berichtigen zu können.Allerdings besteht keine Verpflichtung hierfür.

Der Haftbeschluss

Sollte der Haftbeschluss direkt nach der Anhörungerfolgen, ist zu beantragen, dass er der oder dem Be -troffenen in voller Länge übersetzt wird.

Der Beschluss muss mindestens folgenden Inhalt ha -ben, um gültig zu sein:

> die Bezeichnung der Beteiligten, ihrer gesetzlichen Vertretung und der Bevollmächtigten. Hierbei sollte darauf geachtet werden, dass man selbst auch als Beteiligte oder Beteiligter (nicht als Vertretung) im Beschluss erwähnt wird. Das wäre ein eindeutiger Nachweis, dass das Gericht einen am Verfahren betei-ligt hat;

> die Bezeichnung des Gerichts und die Namen der Gerichtspersonen, die bei der Entscheidung mitge-wirkt haben;

> die Beschlussformel;> eine Begründung;> das Datum der Übergabe des Beschlusses an die

Geschäftsstelle oder der Bekanntgabe durch Verlesen der Beschlussformel;

> die nähere Bezeichnung der Freiheitsentziehung;> den Zeitpunkt, zu dem die Freiheitsentziehung endet,

und eine Rechtsmittelbelehrung.

Nicht selten benutzen die Gerichte vorgefertigte Text-bausteine. Dadurch neigen sie dazu, keine individuel-len Begründungen anzufertigen. Zudem werdenBegründungen oft von den Ausländerbehörden eins zueins übernommen. Es soll sogar Richterinnen undRichter geben, die von den Ausländerbehörden verlan-gen, den Haftantrag auf einem USB-Stick mitzubrin-gen, damit der Text als Begründung einfacher imCopy-paste-Verfahren eingearbeitet werden kann. Dasist aber nur dann zulässig, wenn aus der Begründunghervorgeht, dass sich die Richterin oder der Richter tat-sächlich Gedanken zu dem Fall gemacht hat. Außer-dem müssen mögliche Beweiserhebungen (oder Ableh-nungen von Beweiserhebungen), Anträge und derenErgebnisse festgehalten werden.

Man darf sich auch nicht auf die vorgefertigten Text-bausteine der Gerichte verlassen. Nicht selten sind sieuralt und wurden bei der einen oder anderen Geset-zesänderung nicht angepasst. Bis heute gibt es zumBeispiel Amtsgerichte, die noch nach dem seit 2005ungültigen Ausländergesetz entscheiden und in 20Prozent der Haftbeschlüsse ist die Rechtsmittelbeleh-rung falsch.Es ist auf jeden Fall darauf zu achten, ob eine soforti-

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ge Vollziehung angeordnet wurde. Fehlt sie, müssenBetroffene frühestens in einem Monat in Abschiebehaftund können das Gerichtsgebäude (noch) als freie Per-sonen verlassen.

Nicht jeder Fehler im Haftbeschluss führt automatischdazu, dass dieser ungültig wird. Im Zweifelsfall kannder Beschluss durch das Gericht auch bei offensicht-lichen Fehlern berichtigt werden.

Rechtsmittel

Sollten Betroffene nun tatsächlich in Haft sein, können

sowohl sie selbst als auch die beteiligte Person Beschwer-

de gegen den Beschluss einlegen. Grundsätzlich kann

dies unmittelbar nach der Anhörung zu Protokoll erfol-

gen; hiervon ist aber in der Regel abzuraten, da man

sich für die Begründung der Beschwerde genügend Zeit

nehmen sollte. Besser ist es, die Beschwerde in Ruhe aus-

zuformulieren und innerhalb von einem Monat zum

Amtsgericht zu schicken.

Es gibt Anwälte und Anwältinnen, die behaupten, dass

ein Drittel der Beschlüsse rechtswidrig sind. Der Autor

selber geht sogar noch von einer viel höheren Quote aus.

Daher ist es in vielen Fällen sinnvoll, eine Beschwerde

zu schreiben. Auch wenn man dies im eigenen Namen

machen kann, sollte man sich auf jeden Fall mit der

rechtlichen Vertretung der Betroffenen kurzschließen.

Wenn diese auch eine Beschwerde schreibt, hat es wenig

Sinn, wenn beide sich widersprechen.

Beim Schreiben der ersten Beschwerden sollte man sich

Rat von erfahrenen Anwälten oder Anwältinnen oder

juristisch versierten Personen holen, um die wichtigsten

Normen in Erfahrung zu bringen. Es gibt viele Punkte,

die man beachten sollte und ihre Beschreibung würde

aufgrund der Vielfalt den Rahmen des Artikels sprengen.

In Haft

Wurden Betroffene nun tatsächlich in Haft genommen,sollte man sie keinesfalls allein lassen. Die Rahmenbe-dingungen und Anstaltsordnungen der verschiedenenAbschiebegefängnisse sind sehr unterschiedlich und esist ratsam, sie daher dort zu erfragen. Sinnvoll ist es,Betroffenen zumindest die wichtigsten Gegenständeihrer Habe mitzubringen, damit sie diese im Falle einerAbschiebung bei sich haben. Ob und wie andereGegenstände wie Handy, Telefonkarten, Tabak undLebensmittel mitgebracht werden dürfen, sollte indivi-duell erfragt werden.

In den meisten Abschiebegefängnissen gibt es Seelsorge,Sozialarbeit, juristische Beratung und ehrenamtlicheKräfte, die sich um die Bedürfnisse der Gefangenenkümmern. Allerdings ist die Quantität und Qualitätsehr unterschiedlich. Es ist sinnvoll, sich bei Problemenan verschiedene Stellen zu wenden. Ein Verzeichnismit den Adressdaten gibt es bisher jedoch nicht.

Fazit

Bei Verhaftung oder drohender Abschiebehaft ist eineBetreuung der betroffenen Person enorm wichtig. Esgibt zahlreiche Instrumente, sie zu unterstützen. DasWichtigste ist, sich als Person des Vertrauens an demVerfahren beteiligen zu lassen. Der Autor hofft, dass erdurch die Wissensvermittlung der grundlegenden juri-stischen Möglichkeiten Mut gemacht hat, sich auch beiGericht einzumischen und steht bei weiteren Nachfra-gen gerne unter der E-Mail-Adresse [email protected] zu Verfügung.

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Frank Gockelberät seit 1996

Menschen in der

Abschiebehaftanstalt

Büren in NRW. Er

bietet unter anderem

auch Einführungsse-

minare in die The-

matik an.

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Knast bleibt Knast

Abschiebehaft ist keine Strafhaft, sondern ein Mittel, den Verwaltungsakt Abschiebung durchzusetzen. InBerlin wird man zur Durchsetzung dieses Verwaltungsaktes in den ehemaligen DDR-Frauenknast inKöpenick gesperrt. Laut Gesetz ist das bis zu 18 Monate lang möglich.

Von der Initiative gegen Abschiebehaft

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Page 78: ISSN 1863-1134 Abschiebung - Hinterland Magazin · 2016-12-16 · Ben Dala und sein Freund Miftah Saeid nach Berlin. Im Aufstand hatten sie gegen Gaddafi gekämpft, Waf-fen geschmuggelt

Um zu verschleiern, dass es sich bei derAbschiebehaft um einen Beitrag zur Abschot-tung Europas vor Flüchtlingen handelt – was

Folge eines rassistischen Systems ist – versucht diePolitik „normales“ Verwaltungshandeln zu sug-gerieren: Man spricht von „Polizeigewahrsam“ undstellt den Inhaftierten pro Tag im Knast 65,99 € inRechnung. Bei jeder Haftverlängerung fallen dazuGebühren für das einweisende Gericht an, die eben-so die Inhaftierten zu tragen haben. Außerdem kön-nen Kosten für Dolmetscher – wo benötigt – hinzukommen. Hohe Kosten für den erlittenen Freiheits -entzug! Dem Anschein des Verwaltungshandelnswiderspricht, dass die Menschen in ein Gefängnisgesperrt werden und alle damit verbundenenUmstände und Maßnahmen erdulden müssen,obwohl sie keine Straftat begangen haben. DieInhaftierten werden während ihrer Haft sichtbar undfühlbar kriminalisiert, wenn sie beispielsweise zuBotschaftsvorführungen und zu Arztbesuchen inHandschellen geführt werden. Dass die Fesseln häu-fig nicht einmal während der ärztlichen Behandlungabgenommen werden, ist ein Skandal, der auch dieÄrzte und Krankenpfleger betrifft, die sich nichtgegen derartige Vorführungen verwehren.

Gitter – Mauern – Wachtürme

Dass das Gebäude außerordentlich ungeeignet für dieUnterbringung von Abzuschiebenden ist, hat die Poli-tik nicht daran gehindert 1995 den ehemaligen DDR-Frauenknast zum Abschiebeknast umzufunktionieren.Im ehemaligen DDR-Frauenknast in Köpenick wur-den in den letzten Jahren die übrig gebliebenenHochsicherheitsmaßnahmen etwas reduziert. Dasheißt, Besuchertrennscheiben und Innengitter wurdenteilweise abgebaut, der tägliche Hofgang aufgroßzügige 90 Minuten verlängert. Beschäfti-gungsmöglichkeiten für die dort Festgehaltenen gibtes keine. Das deutsche Anstaltsessen müssen die inGemeinschaftszellen Gesperrten an im Boden ver-schraubten Tischen einnehmen – hinter Gittern,umgeben von Mauern und Wachtürmen. Wie langesie eingesperrt bleiben, wissen die Inhaftierten nicht.Aber es hat sich rumgesprochen: Wer nichtkooperiert, sitzt länger. Es besteht durchaus dieMöglichkeit, dass Abschiebehaft als Beugehaft miss-braucht wird. Auch aus diesem Grund verebbtgemeinsamer Widerstand im Knast. Einzelne Wider-ständige werden sofort isoliert. Suizidversuche imKnast nehmen zu.

Nicht nur im Knast sind die Inhaftierten vonentwürdigenden und ängstigenden Behandlungenbetroffen. Nach der Festnahme und zur Haftver-längerung werden alle erst einmal in „Polizeige-wahrsam“ am Tempelhofer Damm gebracht. Dortwerden sie einem Richter des Amtsgerichts Tiergartenvorgeführt, der die Haft im Köpenicker Knast anord-net und verlängert. Die Inhaftierten berichten vonwinzigen Zellen ohne Fenster, in die sie für vieleStunden oder auch die ganze Nacht gesperrt werden.Der Umgangston der Polizisten sei rau, deren Verhal-ten oft aggressiv.

Die Zahl der Inhaftierten ist gesunken

Immer weniger Abschiebehäftlinge werden imKöpenicker Knast untergebracht. Die Zahl der Haft-plätze ist inzwischen von 350 auf 214 reduziert wor-den. Aktuell sind zwischen 15 und 30 Personen inder köpenicker Anstalt inhaftiert – davon sind unge-fähr 10% Frauen. Die sinkenden Häftlingszahlen wer-den vor allem für die Frauen im Knast zum Problem.Manchmal sitzt eine Frau in Isolationshaft, weil garkeine anderen Frauen da sind. Gründe für das Sinkender Anzahl Eingelieferter, von über 5.000 im Jahr2003 auf unter 1.000 in den letzten Jahren, sindneben der verschärften Abschottung der europäischenAußengrenzen finanzielle Überlegungen des Senats.Abschiebungen lassen sich anders und billiger organi -sieren. Außerdem führte die Erweiterung der EUdazu, dass Menschen aus neuen EU-Ländern – dieDeutschland früher bei der Einreise einsperrte – jetzteinreisen dürfen.

Warum wird der Knast weiterbetrieben?

Die verringerten Häftlingszahlen im Knast sind auffäl-lig. Doch auch in seiner reduzierten Form erfüllt ernoch eine Reihe von wichtigen Funktionen imgesellschaftlichen Diskurs: Knast und Kriminalisierungmanifestieren die Unterscheidung von Deutschen undNicht-Deutschen. Wohlstand, Einkommen und Arbeit-splätze will die Regierung für „deutsche Staatsbürger“sichern. Der Staat demonstriert über den Knast Hand-lungsfähigkeit. Papierlose im Land sowie potentielleFlüchtlinge in den Herkunftsländern sollen durch denKnast abgeschreckt werden.

Abschiebehaft macht krank

Unsicherheit über die Dauer der Haft und die eigeneZukunft, die Isolation von der Familie, von Freundenund dem bisherigen Umfeld, sowie mangelnde Infor-mationen hinsichtlich der Verfahrensabläufe nagen an

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der Psyche. Hinzu kommen die Verhältnisse im Knast:Dauerbeobachtung, lähmende Langeweile, Zwangsge-meinschaft mit Fremden, medizinische Versorgungdurch Polizeiärzte, ungewohntes Essen. Diese Bedin-gungen führen bei vielen Häftlingen zuNiedergeschlagenheit, Schlaflosigkeit, Aggression undStress, bis hin zur Verwirrtheit und zumSuizidgedanken.

2010 veröffentlichte der Jesuiten-Flüchtlingsdiensteine von ihm in 22 EU-Ländern durchgeführte Unter-suchung, die zum Schluss kommt, dass Abschiebehaftdas Risiko psychisch-krank, depressiv oder suizidal zuwerden, signifikant erhöht. Besonders gefährdet sindMenschen, die schon vor der Haft traumatisiertwaren. Sowohl die psychische wie auch die physi -sche Gesundheit verschlechtern sich während derHaft rapide. Deutliche Effekt sind schon nach einemMonat im Knast zu erkennen, nach drei Monaten sinddreiviertel der Eingesperrten betroffen. Allein inDeutschland gibt es seit 1993 jedes Jahr durchschnitt -lich drei bis vier Selbsttötungen in Abschiebeknästen.2010 waren es drei Fälle in Hannover und Hamburg.Im Februar 2011 starb ein Mann aus dem Iran inMünchen.

Hansjörg Geiger, ehemaliger Chef des Bundesamtesfür Verfassungsschutz und heute Vorsitzender derLänderkommission zur Verhütung von Folter hat nacheinem Besuch der Kommission im Köpenicker Knastam 8. April 2011 die Zustände im Knast scharf kri-tisiert (Berliner Zeitung, 5.10.2011). In ihrem Berichtan den Senat hat die Kommission auffällige Mängelerkannt und benannt. Die Senatsverwaltung hat dieAnfragen der Kommission jedoch ausgebremst undkeinerlei Konsequenzen gezogen.

Der Köpenicker Abschiebeknast ist wahrlich keinRuhmesblatt für eine Stadt wie Berlin, die sicherlichnicht ins Wanken geriete, würden die wenigenverbliebenen Papierlosen schleunigst entlassen unddie unsägliche Anstalt geschlossen.<

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Joachim HerrmannEinsatz von Schadsoftware? Könnte sein, Hermann ist es.Burka-Verbot im Öffentlichen Dienst und Nichtraucher-schutz - zwei Topgefährder-Themen. Besonders ungesundist es, unter einer Burka zu rauchen: Plakatidee für denCSU-Wahlkampf. Proporzkandidat von der schwächelndenCSU-Reservebank in Berlin, einer Partei, die leider nicht soherzhaft bei Ausländern zugreifen kann wie der FC Bay-ern. Hat wenig bayerischen Charme und auch sonst kei-nen. Auch keinen dieser handwerklichen Kultnamen, dieman sich merken kann wie Schweinsteiger, Badstuber, Bek-kenbauer(die Sanitärbranche hat's schon immer gerissen -hinten dicht) und Müller. Wird deshalb vergessen werden,es sei denn, er führe betrunken Auto - und das konsequen-ter als Beckstein. Vorher aber richtet er noch ein wenig aus-länderpolitischen Schaden an.

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Von eins auf neunhundertNach dem Willen der Bundesregierung wird auf dem Großflughafen Berlin-Schönefeld ein neues großesInternierungslager für das Flughafenverfahren gebaut. Die damit verbundenen politischen Absichtenweisen weit über Berlin und Brandenburg hinaus. Von Beate Selders

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Willkommen in Berlin Hier entsteht in Kürze ein neuerKnast – für Sie!

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Die Baugenehmigung ist da und die Faktensind schnell erzählt: 550 qm Innenraum plus500 qm Freiluftfläche, Kinderspielplatz, Gitter-

bewehrung und Dauerbewachung – hier werden abJuni 2012 Flüchtlinge interniert, die auf demFlughafen Schönefeld Asyl beantragen müssen, weilsie keine Papiere für eine normale Einreise haben.1

30 Plätze soll das Land Brandenburg vorhalten. DieFlüchtlinge werden hier festgehalten, bis das soge-nannte Flughafenverfahren abgeschlossen ist. Gleichnach der Ankunft findet am Flughafen eine Befragungdurch die Bundespolizei statt, danach die Anhörungbeim Bundesamt. ZweiTage später kommt dieEntscheidung, ob dieEinreise erlaubt oderder Asylantrag als„offensichtlich unbe-gründet“ abgelehntwird. Dann der Wettlaufmit der Zeit: innerhalbder nächsten drei Tagemüssen ein Antrag aufRechtsschutz und eine Klage beim Verwaltungsgerichteingereicht werden. Das Gericht muss innerhalb von14 Tagen entscheiden. Entscheidet es negativ, setztdie Abschiebeprozedur ein: Die Bundespolizei sorgtfür ein Abschiebeland und Reisedokumente. Dasdauert manchmal Wochen. Nach 30 Tagen muss einHaftantrag gestellt werden.

Nur wenige Flughafenverfahren

Flughafenverfahren werden seit 1993 durchgeführt.Sie sind Teil des „Asylkompromisses“, mit dem dasAsylrecht zwar nicht aus dem Grundgesetz gestrichenaber so massiv eingeschränkt wurde, dass es faktischnicht mehr existiert. Alle an die Bundesrepublik gren-zenden Staaten wurden zu sicheren Drittstaaten undfür die Durchführung der Asylverfahren zuständigerklärt. Flüchtlinge, die auf dem Landweg einreisenund im Grenzgebiet aufgegriffen werden, werdenumgehend dorthin zurückgeschickt. Bleibt noch derLuftweg. Dafür wurde das Flughafenverfahrengeschaffen: Internierung auf dem Gelände undSchnellverfahren mit schwindelerregend kurzen Fris-ten. Gleich nach der Gesetzesverabschiedung ordneteder damalige Innenminister, Rudolf Seiters, an,Internierungs- und Anhörungseinrichtungen auf denFlughäfen Berlin-Schönefeld, Düsseldorf,Frankfurt/Main, Hamburg und München zuetablieren. „Ob weitere Flughäfen in Betracht kom-men, muss die Entwicklung zeigen“, heißt es imSchreiben an die Landesregierungen.

Bis heute sind keine weiteren Flughäfen dazu gekom-men und die Flughafenverfahren machen nicht ein-mal zwei Prozent aller Asylverfahren aus. In Berlin-Schönefeld etwa wurden seit 1993 ganze 47 Ver-fahren durchgeführt. Auch in München, Hamburg undDüsseldorf sind die Zahlen marginal. Nur in Frankfurtsieht es anders aus: Hohe Belegungszahlen, katas-trophale Fehlentscheidungen des Bundesamts fürMigration und Flüchtlinge, Selbsttötungen und Suizid-versuche in der Transithaft sorgten regelmäßig fürSchlagzeilen, bis auch hier Dank des Engagementsvon NGOs, politischer Aktivistinnen und Aktivisten

und einer kritischenÖffentlichkeit die Häu-figkeit der Einreisever-weigerung drastischgesunken ist.

Wozu also der Neubauin Schönefeld und wiekommt die Bun-desregierung zu derabsurd anmutenden

Prognose von 300 Verfahren im Jahr auf einemFlughafen, auf dem in den letzten drei Jahren eineinziges Verfahren durchgeführt wurde?

Europapolitische Sonderrolle

Offensichtlich soll das Flughafenverfahren aufge -wertet werden, um es zu erhalten. In Brüssel legtedie EU-Kommission nämlich Vorschläge für eine neueAufnahmerichtlinie vor, die die Internierung von Asyl-suchenden im Asylverfahren regeln soll. Der Bun-desregierung passen die Vorschläge nicht, denn siekönnten das Flughafenverfahren in Frage stellen.Deshalb will sie erreichen, dass das Schnellverfahrenaus dem Geltungsbereich der Aufnahmerichtlinieausgenommen wird – eine Sonderrolle, die für einVerfahren von marginaler Bedeutung kaum zu recht-fertigen ist. So wird neben den aufgeblähten Prog-nosen zur Begründung auf die Abschreckungsideolo-gie als allgegenwärtiges Deutungsmuster zurückge-griffen: Die Bundesregierung argumentiert verblüf-fender Weise, die niedrigen Fallzahlen zeigten nichtdie Überflüssigkeit des Flughafenverfahrens, sondern– im Gegenteil – seine Wirkung; Menschen ohneFluchtgrund würden eben wegen des Verfahrensnicht mehr über die Flughäfen einreisen. Bundesin-nenminister Hans-Peter Friedrich geht sogar so weit,zu behaupten, wer Flughafenverfahren abschaffenwolle, gefährde die „wiedergewonnene Akzeptanzdes Asylrechts in Deutschland“. Mit dem Willen, dasFlughafenverfahren aus dem Geltungsbereich der EU-

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Beate Seldersist Mitarbeiterin

beim Flüchtlingsrat

Brandenburg

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Die Flughafenverfahren machennicht einmal zwei Prozent aller

Asylverfahren aus. Wozu also derNeubau in Schönefeld?

Foto: Heba Umbruch Bildarchiv

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Richtlinie her-auszunehmen,fördert die Bun-desregierung die inder EU um sichgreifende Politik derEntrechtung vonFlüchtlingen durchGrenz- und Sonderasylverfahren, mit denen rechtlicheAusnahmesituationen geschaffen und Mindeststan-dards ausgehebelt werden können.

Zonen minderer Humanität

Die gesamte Konstruktion des Flughafenverfahrensbasiert auf der Behauptung, die Flüchtlinge seiennoch nicht eingereist. Sie haben zwar deutschenBoden betreten, gelten jedoch als exterritorial. Dasgilt selbst dann noch, wenn die Flüchtlinge erkrankenund (unter Polizeibewachung) im normalen Kranken-haus behandelt werden müssen. Diese Fiktion istauch die Grundlage der Behauptung, es handle sichnicht um Freiheitsentziehung, nicht mal um Freiheits-beschränkung. Der geschlossene, rund um die Uhrbewachte Bau auf dem Flughafen sei deshalb als„Unterkunft“ zu betrachten. Für diese Einschätzunghat das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteilvom 14.05.1996 gesorgt. Landes- wie Bundespoliti -kerinnen und -politiker werden nicht müde, es zuwiederholen.2

In den Einrichtungen für das Flughafenverfahren gibtes keine Haftzellen. Im Gebäude und der dazugehörenden Freiluftfläche können sich die Flüchtlinge„frei“ bewegen, verlassen können sie es jedochnicht. Erst nach 30 Tagen Internierung muss ein Haft -antrag gestellt werden, das exterritoriale „Eingesperrt-sein“ wird plötzlich per Definition zur „ordentlichen“deutschen Haft.

„Was würde Jesus dazu sagen?“

In Brandenburg und Berlin regt sich seit Monatenvielfältiger Protest gegen das Internierungslager. DerErzbischof von Berlin, Kardinal Rainer Maria Woelki,verurteilte das geplante „Asylgefängnis“ in der Bild-Rubrik „Was würde Jesus dazu sagen“, auch die evan-gelische Landessynode erklärte ihre Ablehnung.Wohlfahrtsverbände, Gewerkschafter und Gew-erkschafterinnen, Juristinnen und Juristen und nichtzuletzt der Willy-Brandt-Sohn Peter Brandt unterze-ichneten eine Stellungnahme gegen den Neubau derInternierungsanstalt in Schönefeld und gegen dasFlughafenverfahren überhaupt. Antirassistische Grup-

pen mobilisieren aufder Webseitehttp://keinasylknastbbi.blogsport.de/.

Nach großem Presse-Echo und Drängenvon Grünen und

Linkspartei behaupten die SPD-Abgeordneten inBrandenburg plötzlich, sie wären schon immer dage-gen gewesen. Parteigenosse Klaus Wowereit, derzugleich Aufsichtsratsvorsitzender der Flughafenge-sellschaft ist, tut hingegen so, als ginge ihn das allesnichts an. Der Brandenburgische Landtag hat im Feb-ruar dieses Jahres mit großer Mehrheit seineRegierung beauftragt, sich im Bund dafür einzusetzen,das „überholte“ Verfahren abzuschaffen. Es ist alsoBewegung in die Sache gekommen und selbst wennder überdimensionierte Knast in Berlin-Schönefeld inBetrieb genommen wird, könnte ins Wanken geraten,was die CDU europarechtlich in Beton gießen will.<

1 Das Flughafenverfahren ist vorgesehen für Asylsuchende, die

aus sogenannten sicheren Drittstaaten einreisen oder keine

gültigen Einreisedokumente haben. In der Regel beantragen

aber nur diejenigen schon auf dem Flughafen Asyl, die keine

gültigen Papiere haben, um einreisen zu können.

2 Die Begründung des Verfassungsgerichts wirft ein grelles

Licht auf die Funktionen solcher Sonderzonen, Entrechtung

zu legitimieren und Staatsdiener aus der Verantwortung

dafür zu entlassen: „Der Raum der Bundesrepublik Deutsch-

land ist Asylbewerbern, die ihn ohne entsprechende Reisedo-

kumente erreichen, vor der Feststellung ihrer Asylberechti-

gung rechtlich nicht zugänglich. Die Tatsache, daß sie sich

bei Ankunft auf einem Flughafen schon auf deutschem Staats-

gebiet befinden, ändert nichts daran, daß über die Gewäh-

rung der Einreise erst noch zu entscheiden ist. Abgesehen

davon ergibt sich für Asylsuchende am Flughafen die tatsäch-

liche Begrenzung ihrer Bewegungsfreiheit aus ihrer Absicht,

in der Bundesrepublik Deutschland um Schutz nachzusu-

chen und das hierfür vorgesehene Verfahren zu durchlaufen.

Zwar kann ihnen in dieser Lage eine Rückkehr in den Staat,

der sie möglicherweise verfolgt, nicht angesonnen werden. Die

hieraus folgende Einschränkung der Bewegungsfreiheit ist

jedoch nicht Folge einer der deutschen Staatsgewalt zure-

chenbaren Maßnahme.“

Die gesamte Konstruktion des Flughafenverfahrens basiert auf der

Behauptung, die Flüchtlinge seiennoch nicht eingereist.

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Das ist der Titel eines Gedichts, das jahrelang imLesebuch der DDR-Schulen stand, und ich has-ste es. Geschrieben hat es Fritz Räbiger, ein

Schlagertexter. Der Gegensatz zwischen der vorge-führten Modellsituation und meiner eigenen Lage warnur eine Ursache des Schmerzes, den dieser Text mirbereitete. Das Gedicht, in dem ein DDR-Kind seineMutter nach dem exotischen Kriegsland Vietnam fragtund die Solidaritäts-Botschaft schlicht herleitet (“Mut-ter, du weinst – so nah ist Vietnam?”), spielte mitmeinen Gefühlen Fußball. Denn mein Vater war wirk-lich im Vietnamkrieg.

Die Frage nach der Entfernung von Vietnam brauchteich zu Hause nicht zu stellen, denn gerade diesemachte uns das Leben schwer, und wenn jemandetwas zu weinen hatte, dann nicht jene erdachteGedichtfigur, sondern meine Mutter und ich in Ostber-lin und mein Vater in Hanoi.

Es war ein bestelltes Gedicht. Der Protest gegen denVietnamkrieg war in den politischen Blöcken unter-schiedlich verankert. Im Westen kam der Protest vonunten, im Osten von oben. Dort war er Teil der Staats -politik gegen den Westen und Teil der Solidarität miteinem verbündeten Land und wurde offiziell gelenkt.Das hieß, dass es in der DDR keine gelebte Protestkul-tur gegen den Vietnamkrieg gab, keine selbst erwor-bene, schon gar nicht durchlittene Identifikation in derBevölkerung. Das Resultat war eine Distanz zu allem,

was von oben kam, also auch zur Internationalität, dieohnehin nur eine Behauptung war. Das ideologische,wirtschaftliche und geistige Binnengebilde DDR voll-zog seine territoriale Abschottung endgültig mit demMauerbau 1961.

Wann fing alles an? 1956, als meine Eltern sich inHanoi kennen lernten? 1957, als meine Mutterstrafweise in die DDR zurückgeschickt wurde? Inmeinem Geburtsjahr 1961? 1967, als mein Vater in denVietnamkrieg ziehen musste? Oder 1968, als meineMitschüler mich an meinem ersten Schultag in die Eckedrängten und in seltsamer Einigkeit als “Chinesin” aus-lachten?

Was machen mit der täglichen schwitzenden Angst derlangen Schuljahre? Angst vor einem falschen Wort,einem falschen Blick im Klassenraum, weil ich wusste,wann es wieder bei mir enden würde: mit dem Feixender Mitschüler, den Bemerkungen, den Beleidigungen.Ganz falsch konnte auch eine Solidaritätsveranstaltungmit Vietnam in der Aula sein, und von denen gab es inmeiner Schulzeit viele.

Während mein Vater in Hanoi stationiert war, kämpfteich im befreundeten Bruderland an zwei Fronten:gegen die Kinder, die mich quälten und gegen diePlakate, Parolen und Lieder, die ein Mitgefühlbezeugten, dem ich in meinem Alltag selten begegnetwar.

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Angelika Nguyen ist als Kind deutsch-vietnamesischer Eltern im Jahr des Mauerbaus 1961 in der DDR geboren. Ihre verstörenden

Kindheitserinnerungen hat sie jetzt im Band „Kaltland“ veröffentlicht. HINTERLAND freut sich sehr, den Text ihren Leserin-

nen und Lesern mit freundlicher Genehmigung der Herausgeber Markus Liske, Manja Präkels und Karsten Krampitz, des Rot-

buch-Verlages und natürlich der Autorin selbst präsentieren zu dürfen:

Mutter, wie weit ist Vietnam?

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Anschaungsobjekt

Die Autorin Angelika Nguyen musste 1966 für eine Geschichte über notleidende vietnamesische Kinder auf dem Titelbild der Neuen Berliner Illustrierten (NBI) herhalten.

Foto: Barbara Meffert

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Zwischendurch war ich immer auch ein ganz normalesMitglied meiner Klasse, ein DDR-Kind. Pogrome kön-nen durchaus nur Minuten dauern. Dann wird weitergemacht, mit dem Spielen oder mit dem Unterricht. In Blankenburg im Harz rief man mich “Chinesenba-by”, “Mischling” in Berlin, bei jedem Ostseeurlaub gabes zum Essen im FDGB-Heim die starrenden Grup-penblicke von DDR-Kleinfamilien als Beilage, in einerDresdner Straßenbahn die Konfrontation mit einempöbelnden alten Mann, auf dem Schulhof ein paarPrügeleien und 1970 eine kleine Menschenjagd entlangder Linie 63 in Alt-Hohenschönhausen.

Fehlende Normalität im Umgang mit Fremdem undeine Art, es kollektiv zu bestaunen, ist als DDR-Eigen -art manchmal heute noch spürbar. Es war Teil einerMentalität, mit der hinter der territorialen Abriegelungtraditionelles deutsches Misstrauen auf ganz eigeneWeise gepflegt und an die Kinder weiter gegebenwurde.

Beim Klassentreffen 2003 plauderte ich freundlich mitBernd K. und Karin T., als wäre nie etwas gewesen.War ja auch nicht. Jedenfalls nicht für sie. Nur ich erin-nerte mich noch einmal daran: als Karin mitten im Ver-steckspiel sagt, sie würde mit solchen wie mir nichtspielen wollen und als Bernd sich unvermittelt im Erd-kundeunterricht über Asien zu mir umdreht, michangrinst und seine Augen zu Schlitzen verzieht.

Es gab jedoch auch Beistand. Von Frau Fichte, meinerSportlehrerin, die eine Pöbelei gut heraus hörte undderen Rüge argumentativ bis zu den Gaskammern derNazis reichte, von fassungslosen Freunden und vonmeiner Mutter, die dann immer wie eine Löwin war.Aber auch das grenzte mich ja aus.

Ein Kind will vor allem so sein wie alle anderen. Essucht seinen Schutz in der Gruppe. Den habe ich nichtbekommen. Täglich wurde ich daran erinnert, dass ichanders war. Ich konnte nicht mal so tun als ob. Inmeine Klasse ging ein Mädchen, das hatte Grübchen inden Wangen, eine fein ziselierte Nase, mittelblondesHaar und blau-graue Augen. Sie hieß Beate Lehmannund war sehr nett. So wollte ich auch sein. Ich wolltehelle Haare und helle Augen haben, eine schmaleNase und Beate Lehmann heißen. Niemand stockte beider Verlesung ihres Namens, niemand fragte sie, wohersie kam, niemand schubste sie auf dem Schulhof oderstarrte sie an, niemand feixte ihr ins Gesicht. BeateLehmann war der reinste Himmel. Sie wusste nichtsvon meinen Qualen und noch weniger von meineminnigen Wunsch, mich in sie verwandeln zu können.

Es gibt Fragen, die kann man nicht googeln. Dann sitzeich statt vor dem Internet in einem Berg von Schnell-heftern mit alten Briefen, Zeitungsausschnitten, Ster-beurkunden, Anträgen auf Familienzusammenführung,einer Einreiseerlaubnis in die DDR, Telegrammen,Arbeitsverträgen, Mahnungen für die Zahlung vonKinderheimkosten, Kontoauszügen, Postkarten undeinem Taschenkalender von 1956.

1956 hatte Vietnam eine kurze Atempause zwischenzwei Kriegen. Meine Mutter war als DDR-Dol-metscherin für neun Monate dienstlich in Vietnam undverliebte sich beim Aufbau eines Hanoier Kranken-hauses in einen vietnamesischen Arzt. Inmitten derpraktischen Solidarität zwischen zwei sozialistischenBruderländern kamen zwei sich näher. Das bliebzunächst geheim. Als meine Mutter jedoch schwangerwurde und sie beide Antrag auf Heirat stellten, wurdesie zwangsweise in die DDR zurück geschickt. Erstnach einem langen Kampf mit deutschen und viet-namesischen Behörden durfte meine Mutter zurücknach Vietnam und meinen Vater heiraten. Dann erstkonnte er wiederum in die DDR einreisen, mit Frauund Kind zusammenleben und als Arzt arbeiten. Auf diese Weise erlebte meine Familie das realsozialis-tische Dilemma zwischen Internationalität undAbschottung von Anfang an. Ich wurde ein paarMonate nach dem Mauerbau in diesen Widerspruchhineingeboren. Für meine Mutter bedeutete die Maueraußerdem, dass sie ihren Beruf nicht mehr ausübenkonnte wie bisher. Ihre Dienstreisen in französisch -sprachige Länder waren perdu. Der Mauerbau schufeine besondere deutsche Provinz. Eine stark aus-geprägte Unkundigkeit ihrer Bewohner in Weltdingenund Minderwertigkeitsgefühle waren die Folge. Fremd-sprachenunterricht wurde entsprechend vernachläs-sigt. Nicht nur war Russisch verpönt, auch mit Englischund Französisch konnte man nur wenig anfangen. Dawar die höhnische Nachahmung fremder Sprachennicht weit. Sching-Schang-Schong und hoch die inter-nationale Solidarität. Parolen, Lieder und Gedichtekönnen auch Sittengemälde sein. Von den Pionier-liedern waren mir die, die demonstrativ mit denKindern anderer Völker Freundschaft halten wollten,die lästigsten. Wenn dann im Chor erklang: “Ob nunseine Eltern Schwarze, Gelbe oder Weiße sind” oder“Ho, Ho, Ho Chi Minh” stand ich schwitzend dabeiund mied die spöttischen Blicke meiner Mitschüler.Ich erkannte potentielle Angreifer immer gleich, diesesgute Einfühlungsvermögen brauchte ich zum sozialenÜberleben. Körpersprache und Mimik sind wertvolleVermittler. Allerdings konnte das zu Überreaktionenführen, und ich stieß auch schon mal harmlose Leutevor den Kopf. Es gab zugleich die Begeisterten, die

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mich gerade wegen meiner Andersartigkeit toll fanden,positive Diskriminierung nämlich, mit der umzugehenzwar ebenfalls schwierig, aber weitaus angenehmerwar.

Gegen Blicke bin ich empfindlich geblieben. NochJahrzehnte später bin ich auf der Hut und übertriebenkampfbereit. Es ist nicht leicht, zuzugeben, dass mangewisse Verletzungen davongetragen hat. EinenDachschaden kann man reparieren, mit meinerEmpfindlichkeit aber muss ich leben. Du weißt immererst später, was das mit dir gemacht hat.

Ich beschwere mich nicht. Ich will nur etwas klar -stellen. In der DDR hat es Rassismus und Fremden-feindlichkeit gegeben, und die Pogrome, Überfälle undMorde im Osten nach dem Mauerfall haben michkeinen Augenblick lang gewundert. Und als hätte derOsten immer noch keine Ahnung vom Rest der Welt,wirkt die in den 90er Jahren entstandene Bezeichnungfür Vietnamesen, “Fidschis”, denn auf den Fiji-Inselnhaben Vietnamesen sich nie angesiedelt. Der Klang derVerachtung in dem Wort ist gewollt, und es wird nichtnur im rechten Milieu benutzt.

Wo höre ich auf? Im November 1989, als ich mitten inder Montagsdemo in Leipzig den Paradigmenwechselvom revolutionären “Wir sind das Volk” zum National-ruf “Wir sind ein Volk” erlebe und mich davonstehle?1990, als ich das erste Mal an einer Haltestelle dieParole “Ausländer raus” lese? 1991, als ich wegen derPogromstimmung auf den Straßen abends nicht mehrStraßenbahn fahre?

Oder 2000, als meine 12jährige Tochter im BerlinerThälmann-Park von Jugendlichen umzingelt wird, diesie rassistisch beleidigen und ihren Haarschmuck zer-brechen? 2010, als auf einer Neonazi-Website gegenmich gehetzt wird?

Ich möchte trotzdem mit niemandem tauschen, undBeate Lehmann möchte ich schon lange nicht mehrheißen. In der Schule, durch die ich gegangen bin,erwarb ich ein paar Fähigkeiten, die in keinem Fachunterrichtet werden. Es kann auch von Vorteil sein,sich nicht heraushalten zu können.

Alles, was anders ist, ist mir vertraut.<

Angelika Nguyen

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KaltlandEine SammlungKarsten Krampitz

(Hrsg.), Markus Liske

(Hrsg.), Manja Prä-

kels (Hrsg.) ISBN

978-3-86789-144-8,

288 Seiten,

Rotbuch

Angelika Nguyendrehte 1993 den

Dokumentarfilm

"Bruderland ist

abgebrannt" über

vietnamesische

Immigration, stu-

dierte Filmwissen-

schaft in Potsdam,

schreibt Filmkritiken

und Essays

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Baden-Württemberg

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Urbanstr. 4470182 Stuttgart

Tel: 0711/ 553 283 4Fax: 0711/ 553 283 5

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Bayern

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Flüchtlingsrat Berlin e. V.

Georgenkirchstr. 69-7010249 Berlin

Tel: 030/ 243 445 762 Fax: 030/ 243 445 763

[email protected]

Brandenburg

Flüchtlingsrat Brandenburg

Rudolf-Breitscheidstraße 164 14482 Potsdam

Tel: 0331/ 716 499Fax: 0331/ 716 499

info@fluechtlingsrat-brandenburg.dewww.fluechtlingsrat-brandenburg.de

Bremen

Flüchtlingsrat Bremen

Berckstr. 27 28359 Bremen

Tel: 0421/ 800 700 4Fax: 0421/ 800 700 4

[email protected]

Hamburg

Flüchtlingsrat Hamburg e.V.

c/o W 3, 3. StockNernstweg 3222765 Hamburg

Tel: 040/ 431 587Fax: 040/ 430 449 0

[email protected]

Hessen

Flüchtlingsrat Hessen

Leipziger Str. 17 60487 Frankfurt

Tel: 069/ 976 987 10 Fax: 069/ 976 987 11

[email protected]

Mecklenburg-Vorpommern

Flüchtlingsrat Mecklenburg–Vorpommern e.V.

Postfach 11 02 2919002 Schwerin

Tel: 0385/ 581 579 0Fax: 0385/ 581 579 1

[email protected]

Niedersachsen

Niedersächsischer Flüchtlingsrat

Langer Garten 23 b31137 Hildesheim

Tel: 05121/ 156 05Fax: 05121/ 316 09

[email protected]

Nordrhein-Westfalen

Flüchtlingsrat NRW e.V.

Asienhaus EssenBullmannaue 1145327 Essen

Tel: 0201/ 899 080Fax: 0201/ 899 081 5

[email protected]

Rheinland-Pfalz

Arbeitskreis Asyl Rheinland-Pfalz

c/o. Pfarramt für Ausländerarbeitim Kirchenkreis An Nahe und GlanKurhausstr. 855543 Bad Kreuznach

Tel: 0671/ 845 915 2Fax: 0671/ 845 915 4

[email protected]

Saarland

Saarländischer Flüchtlingsrat e.V.

Kaiser-Friedrich-Ring 46 66740 Saarlouis

Tel: 06831/ 487 793 8 Fax: 06831/ 487 793 9

[email protected]

Sachsen

Flüchtlingsrat Sachsen

Heinrich-Zille-Str. 6 01219 Dresden

Tel: 0351/ 471 403 9 Fax: 0351/ 469 250 8

info@saechsischer-fluechtlingsrat.dewww.saechsischer-fluechtlingsrat.de

Sachsen-Anhalt

Flüchtlingsrat Sachsen-Anhalt e.V.

Schellingstr. 3-439104 Magdeburg

Tel: 0391/ 537 128 1Fax: 0391/ 537 128 0

[email protected]

Thüringen

Flüchtlingsrat Thüringen e.V.

Warsbergstraße 199092 Erfurt

Tel: 0361/ 217 272 0Fax: 0361/ 217 272 7

[email protected]

Flüchtlingssolidarität vor Ort!Die Flüchtlingsräte

Hinterland19_Hinterland 01/06 12.03.12 13:46 Seite 87

Page 88: ISSN 1863-1134 Abschiebung - Hinterland Magazin · 2016-12-16 · Ben Dala und sein Freund Miftah Saeid nach Berlin. Im Aufstand hatten sie gegen Gaddafi gekämpft, Waf-fen geschmuggelt

Baden Württemberg

Flüchtlingsrat Baden-WürttembergBW-BankBLZ: 600 501 01Konto: 35 17 930

Bayern

Bayerischer FlüchtlingsratBank für SozialwirtschaftBLZ: 700 205 00Konto: 88 32 602

Berlin

Flüchtlingsrat BerlinBank für SozialwirtschaftBLZ: 100 205 00Konto: 311 68 03

Brandenburg

Flüchtlingsrat Brandenburg e.V.Mittelbrandenburgische SparkassePotsdamBLZ: 160 500 00Konto: 350 10 10000

Bremen

Zuflucht e.V.Sparkasse BremenBLZ: 290 501 01Konto: 11 83 05 85

Hamburg

Flüchtlingsrat HamburgPostbank HamburgBLZ: 200 100 20Konto: 293 02 200

Hessen

Förderverein Hessischer Flüchtlingsrat e.V.Sparkasse FuldaBLZ: 530 501 80Konto: 495 209 43

Mecklenburg-Vorpommern

Flüchtlingsrat Mecklenburg-VorpommernBank für SozialwirtschaftBLZ: 100 205 00Konto: 1194 300

Niedersachsen

Niedersächsischer FlüchtlingsratPostbank HannoverBLZ: 250 100 30Konto: 84 02 306

Nordrhein-Westfalen

Flüchtlingsrat NRW e.V.Bank für Sozialwirtschaft KölnBLZ: 370 205 00Konto: 80 54 100

Rheinland-Pfalz

Arbeitskreis Asyl Rheinland-PfalzSparkasse Rhein-NaheBLZ: 560 501 80Konto: 75

Saarland

Saarländischer FlüchtlingsratKreissparkasse SaarlouisBLZ: 593 501 10Konto: 200 630 986

Sachsen

Sächsischer Flüchtlingsrat e.V.Dresdner Volksbank Raiffeisen-bank eGBLZ: 850 900 00Konto: 332 379 1006

Sachsen-Anhalt

Flüchtlingsrat Sachsen-Anhalt e. V.Sparda-Bank Berlin eGBLZ: 120 965 97Konto: 8446270

Thüringen

Flüchtlingsrat ThüringenSEB LeipzigBLZ: 860 101 11Konto: 19 63 70 42 00

Flüchtlinge in den Städten, in den Dörfern und auf dem Land benötigen kompetente AnsprechpartnerInnen die Ihnen bei der Wah-rung ihrer Rechte beistehen und die Öffentlichkeit über ihre schwierige Situation aufklären! Deshalb gibt es Flüchtlingsräte, bundesweit. Fördern Sie Ihren regionalen Flüchtlingsrat mit einer Spende und helfen Sie mit, die unabhängige Flüchtlingssolidarität in Deutschlandzu sichern. Stichwort: „Flüchtlingshilfe vor Ort”

Flüchtlingshilfe vor Ortwww.fluechtlingsraete.de

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