it - gesellschaftbilder und selbstverst russlanddeutscher aussiedler in der sowjetunion und in...

146
Katharina Harder Gesellschaftsbilder und Selbstverständnis russlanddeutscher Aussiedler in der Sowjetunion und in Deutschland Diplomarbeit • Pädagogik

Upload: muldoon235

Post on 27-Jul-2015

809 views

Category:

Documents


4 download

DESCRIPTION

Katharina HarderGesellschaftsbilder und Selbstverständnis russlanddeutscher Aussiedler in der Sowjetunion und in DeutschlandDiplomarbeit • PädagogikDiese Arbeit wird unter den Bedingungen der »Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 Germany License« veröffentlicht. Der Inhalt dieser Arbeit darf unter Namensnennung des Autors beliebig vervielfältigt und verbreitet werden. Bearbeitungen dürfen unter der Bedingung angefertigt werden, dass sie ebenfalls unter den genannten Lizenzbestimmung

TRANSCRIPT

Page 1: it - Gesellschaftbilder Und Selbstverst Russlanddeutscher Aussiedler in der Sowjetunion und in Deutschland

Katharina Harder

Gesellschaftsbilder und Selbstverständnisrusslanddeutscher Aussiedler in der

Sowjetunion und in Deutschland

Diplomarbeit • Pädagogik

Page 2: it - Gesellschaftbilder Und Selbstverst Russlanddeutscher Aussiedler in der Sowjetunion und in Deutschland

Diese Arbeit wird unter den Bedingungen der »Creative Commons Attri-bution-Share Alike 3.0 Germany License« veröffentlicht. Der Inhalt die-ser Arbeit darf unter Namensnennung des Autors beliebig vervielfältigtund verbreitet werden. Bearbeitungen dürfen unter der Bedingung ange-

fertigt werden, dass sie ebenfalls unter den genannten Lizenzbestimmungen verbreitet werden. Eine kom-merzielle Nutzung ist untersagt. Der ausführliche Lizenztext ist einzusehen unter http://creativecommons.org/licenses/by-nc-sa/3.0/de/

Satzerstellung: Andreas Harder mit ConTEXtSchrift: Linux Libertine Version vom: 28. Januar 2010

Page 3: it - Gesellschaftbilder Und Selbstverst Russlanddeutscher Aussiedler in der Sowjetunion und in Deutschland

Johannes Gutenberg-Universität MainzFachbereich Sozialwissenschaften, Medien und Sport

Institut für Erziehungswissenschaften

diplomarbeit in erziehungswissenschaftstudienrichtung: sozialpädagogik/sozialarbeit

Gesellschaftsbilder und Selbstverständnisrusslanddeutscher Aussiedler in derSowjetunion und in Deutschland

Katharina Harder

Erstgutachter: Prof. Dr. Franz HamburgerAbgabetermin: 16.11.2009

Page 4: it - Gesellschaftbilder Und Selbstverst Russlanddeutscher Aussiedler in der Sowjetunion und in Deutschland

Ich versichere, dass ich die vorliegende Arbeit selbstständig angefertigtund keine anderen als die angegebenen Hilfsmittel benutzt habe.

Mainz, den 16.11.2009

Page 5: it - Gesellschaftbilder Und Selbstverst Russlanddeutscher Aussiedler in der Sowjetunion und in Deutschland

iii

Danksagung

An erster Stelle danke ich von ganzem Herzen meinem himmlischen Vater, der mich von Beginn bis zumAbschluss dieses Werkes begleitet und getragen hat; mir Ideen, Gesundheit, innere Ruhe und Energiegeschenkt hat!

Ich danke meiner Familie, die neben der Unterstützung durch aufmunternde Worte und ihr Gebet mirauch praktisch, durch die Vermittlung von Interviewpartnern, der Finanzierung eines neuen Notebooks, dasBringen meiner Wintersachen und anderen Naturalien nach Mainz, geholfen hat.

Ein sehr herzliches Dankeschön geht an die direkten Helfer dieser Arbeit:

• Andreas Harder für das gute Aussehen (Formatierung) dieser Arbeit!• Helene Harder für die Überprüfung von Interpunktion, Grammatik und Ausdruck!• Nina Jann, für die Überprüfung der Stringenz und die damit verbundene Ermunterungen!• Selma Haupt und Stephanie Rausch für das Korrekturlesen von Auszügen dieser Arbeit!• Andrea Ochsenfeld, Josef Schall, Irina Borisowa und Anastasija Obukh für ihre Hilfe bei der Vermittlung

von (potentiellen) Interviewpartnern.

Dem Navigatoren-Hauskreis danke ich vielmals für die Nachfragen und Ermutigungen, vor allem aber fürihr Gebet! Insbesondere danke ich Anne Eisenbürger; für das nahtlose Weiterschreiben-Können aufgrundder Leihgabe ihres Notebooks sowie für die steten Anrufe und Ermunterungen! Ich danke Sabine, Jens undMiriam Theden für ihre Wohnung, in der ich Sonne, Ruhe und Raum sowie Abwechslung zum Schreibenhatte!

Danke WG; für die Rücksicht, die Anteilnahme und das leckere Essen, als ich keine Zeit hatte, selber zukochen!

Danke Simone Denkhaus, die mir Wegbegleiterin war und meine Sorgen und Nöte verstehen konnte; soz. B. die allzu häufige Aussage: »Immer noch kaum weitergekommen …«!

Schließlich will ich mich auch bei den Mädels (und Jungs) der Bibliothek bedanken, die allein schon durchihre stete Präsenz in »einem Zuhause, das wir nie wollten« zu meinem Wohlbefinden beigetragen und dersozialen Verkümmerung entgegengewirkt haben!

Page 6: it - Gesellschaftbilder Und Selbstverst Russlanddeutscher Aussiedler in der Sowjetunion und in Deutschland
Page 7: it - Gesellschaftbilder Und Selbstverst Russlanddeutscher Aussiedler in der Sowjetunion und in Deutschland

v

Inhaltsverzeichnis

Einleitung 1

1.1 Aufbau der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1

Geschichte und Lebenslagen 3

2.1 Aussiedler aus der Sowjetunion: Geschichte und Lebenslagen damals und heute . . . . . . . . . . . 3

2.1.1 Geschichtlicher Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3

2.1.2 Soziale Lebenslage der Deutschen in der Sowjetunion in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts . . 4

2.1.3 Rechtliche Grundlagen der Aussiedleraufnahme und strukturelle Ausgangsbedingungen . . . . 4

Sozialisation, Selbstverständnis und Gesellschaftsbild 7

3.1 Sozialisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

3.1.1 Primäre Sozialisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

3.1.2 Sekundäre Sozialisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

3.2 Selbstverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83.3 Gesellschaftsbild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83.4 Zusammenfassung und Zusammenhang zur eigenen empirischen Untersuchung . . . . . . . . . . 9

Empirische Untersuchung 11

4.1 Untersuchungsziele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114.2 Qualitatives Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114.3 Das Erhebungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114.4 Die Untersuchungsgruppe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114.5 Die Auswertung der Interviews . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124.6 Typenbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124.7 Anonymität und Erklärungen zur Wortwahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124.8 Analysen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13

4.8.1 Hermann Decker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13

4.8.1.1 Strukturelle inhaltliche Beschreibung von ausgewählten Segmenten aus derHaupterzählung und dem Nachfrageteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13

Erzählstimulus und Eingangserzählung 13 ■ Auswanderungsentscheidung und Antragstel-lung 13 ■ Erste prägende Erfahrung in Deutschland 14 ■ Sprachkurs und Arbeitsauf-nahme 15 ■ Beruflicher Werdegang in Kasachstan 15 ■ Kennenlernen der Ehefrau 16 ■

4.8.1.2 Wissensanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17

»Unterdrückung« 17 ■ »Nix besonderes« 19 ■ Soziale Beziehungen 20 ■ Gesellschaft Ka-sachstan-Deutschland 21 ■ Ethnische Gesellschaftsordnung 21 ■ Kommunistische Partei 21 ■

4.8.1.3 Selbstverständnis und Gesellschaftsbilder Hermann Deckers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21

Selbstverständnis 21 ■ Gesellschaftsbilder 22 ■ Biographische Prozessstruktur 23 ■

4.8.2 Elvira Claus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23

4.8.2.1 Strukturelle inhaltliche Beschreibung von ausgewählten Segmenten aus derHaupterzählung und dem Nachfrageteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23

Page 8: it - Gesellschaftbilder Und Selbstverst Russlanddeutscher Aussiedler in der Sowjetunion und in Deutschland

vi Inhaltsverzeichnis

Erzählstimulus, Geburt und deren Umstände 23 ■ Leben in Tadschikistan 24 ■ Leben inKirgisien 24 ■ Auswanderung und Leben in Deutschland 25 ■ 20 Jahre in Deutschland 25 ■Kennenlernen des Ehemanns 26 ■

4.8.2.2 Wissensanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26

Zwanzig Jahre im Flug 26 ■ Unfreiwillige Ausreise nachDeutschland 27 ■ Gemeinschaft 28 ■Neuanfang und heute 28 ■ Optimismus 30 ■ »Bei jedem anders« 30 ■ Gesellschaft Kirgisien– Deutschland 30 ■

4.8.2.3 Selbstverständnis und Gesellschaftsbilder Elvira Claus’ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32

Selbstverständnis 32 ■ Gesellschaftsbilder 33 ■ Biographische Prozessstruktur 34 ■

4.8.3 Jakob (und Lydia) Egert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34

4.8.3.1 Selbstverständnis und Gesellschaftsbilder Jakob (und Lydia) Egerts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34

Gesellschaftsbilder 37 ■ Biographische Prozessstruktur 38 ■

4.8.4 Irina Albert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38

4.8.4.1 Selbstverständnis und Gesellschaftsbilder Irina Alberts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39

Selbstverständnis 39 ■ Gesellschaftsbilder 41 ■ Biographische Prozessstruktur 42 ■

4.8.5 Peter Berndt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42

4.8.5.1 Selbstverständnis und Gesellschaftsbilder Peter Berndts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43

Selbstverständnis 43 ■ Gesellschaftsbilder 45 ■ Biographische Prozessstruktur 46 ■4.9 Typen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46

4.9.1 Typus 1: Deutsche Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46

4.9.2 Typus 2: Soziale Identität; Deutschsein irrelevant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46

4.9.2.1 Untertyp: Deutsche Identität und andere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47

4.9.2.2 Untertyp: Identität Ehefrau und Mutter; Deutschsein annähernd irrelevant . . . . . . . . . . . . . . 47

4.9.2.3 Untertyp: Identität Arbeit und Freund; Deutschsein irrelevant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48

Integration 49

5.1 Identität(en) und Integration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49

Auswertung und Schlussbetrachtung 51

6.1 Auswertung des Typus 1: Deutsche Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51

6.1.1 Auswertung des Untertypen: Deutsche Identität und andere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51

6.1.2 Auswertung des Untertypen: Identität Ehefrau und Mutter; Deutschsein annähernd irrelevant 51

6.1.3 Auswertung des Untertypen: Identität Arbeit und Freund; Deutschsein irrelevant . . . . . . . . 52

6.2 Auswertung des Typus 2: Soziale Identität; Deutschsein irrelevant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 526.3 Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52

Page 9: it - Gesellschaftbilder Und Selbstverst Russlanddeutscher Aussiedler in der Sowjetunion und in Deutschland

vii

Verzeichnis der Anhänge

Vorüberlegungen zum Gespräch und exmanente Fragen 59

Interviews und Gedächtnisprotokolle 61

B.1 Interviewprotokoll: Hermann Decker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61B.2 Interview: Hermann Decker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61B.3 Interviewprotokoll: Elvira Claus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69B.4 Interview: Elvira Claus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70B.5 Interviewprotokoll: Jakob (und Lydia) Egert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79B.6 Interview: Jakob (und Lydia) Egert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80B.7 Interviewprotokoll: Irina Albert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97B.8 Interview: Irina Albert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98B.9 Interviewprotokoll: Peter Berndt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120B.10 Interview: Peter Berndt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120

Page 10: it - Gesellschaftbilder Und Selbstverst Russlanddeutscher Aussiedler in der Sowjetunion und in Deutschland
Page 11: it - Gesellschaftbilder Und Selbstverst Russlanddeutscher Aussiedler in der Sowjetunion und in Deutschland

1

Kapitel 1

Einleitung

Als es nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion realistischwurde nach Deutschland ausreisen zu können, verwirklichtenviele Angehörige der in der Sowjetunion¹ lebenden deutschenMinderheit die seit langem ersehnte Aussiedlung Ende der80er und in den 90er Jahren. Rund zwanzig Jahre sind nunvergangen, seit die erste größere Anzahl von Aussiedlern indie Bundesrepublik kam.

Wiewar ihr Leben in der Sowjetunion?Was bewegte sie zurAusreise und wie geht es ihnen heute? Diese Fragen führtenzur Fragestellung der vorliegenden Arbeit: Welches Selbstver-ständnis und welches Gesellschaftsbild entwickelte die Nach-kriegsgeneration in der Sowjetunion, in der sie 30 bis 40 Jahreihres Lebens verbrachte? Und, welche Vorstellungen habendiese Menschen nach 20 Jahren von der deutschen Gesell-schaft entwickelt und wie betrachten sie sich selbst in dieser?Konnten sie Wünsche und Erwartungen realisieren und wiesteht es um ihr heutiges Wohlbefinden?

Ein qualitatives Studiendesign soll zur Beantwortung dieserFragen führen. Mit diesem wird anhand der Interviewanalysevon fünf untersuchten Personen der Zielgruppe eine Typolo-gie erstellt, die die Gemeinsamkeiten und Unterschiede bezüg-lich der relevanten Aspekte der Fragestellung darstellen sollund mit Hilfe derer abschließend die Frage nach dem Wohl-befinden beantwortet wird. Die Erhebung der dazu notwen-digen Informationen erfolgt in Form biographisch narrativerInterviews nach Fritz Schütze (1983, 1987).

1.1 Aufbau der Arbeit

In Kapitel 2 erfolgt ein geschichtlicher Überblick; dieser sollden Begriff »Aussiedler«² aus der Vergangenheit heraus be-leuchten und somit ein Erklärungsansatz zu der Frage sein,wer sie sind. Außerdem soll er zeigen, wie sie in der Geschichte(nachhaltig) geprägt wurden. Darin enthalten ist auch eineallgemeine Beschreibung ihrer sozialen Lebenslage in der So-

wjetunion sowie die Darstellung der rechtlichen Grundlagender Aussiedleraufnahme und die daraus resultierenden struk-turellen Ausgangsbedingungen. Sie dienen als Hintergrund-information, um die Ausbildung der Gesellschaftsbilder unddes Selbstverständnisses einschätzen zu können.

Kapitel 2 legt dar, wie Selbst³- und Gesellschaftsbilder ent-stehen und was im Zusammenhang dieser Arbeit darunterverstanden werden soll. Um diese verständlich zu machen, be-nötigt es zunächst der Darstellung »primärer und sekundärerSozialisation«.

Das 3. Kapitel beschreibt die empirische Vorgehensweise.In Kapitel 4 werden die Ergebnisse der Untersuchung in Formvon fünf Interviewanalysen sowie die darauf aufbauende Ty-pologie präsentiert. Bevor diese in Kapitel 6 im Hinblick aufIntegration ausgewertet werden können und eine Schlussbe-trachtung der Ergebnisse erfolgt, wird zunächst in Kapitel 5eine Begriffsbestimmung von »Integration« und damit zusam-menhängend auch von »Identität« vorgenommen.

Die verhältnismäßig umfangreiche Darstellung der empiri-schen Ergebnisse ist der Tatsache geschuldet, dass die Selbst-und Gesellschaftsbilder russlanddeutscher Aussiedler auf derGrundlage dieser herausgearbeitet wurden. Weiterhin ist einIntegrationbegriff gewählt worden, der das Individuum als Be-zugsrahmen hat; die untersuchten Personen sind also die wich-tigsten Informationsquellen bei der Beantwortung der Fra-gestellung, sodass ihnen entsprechend viel Platz eingeräumtwird. Außerdem würde der vorgegebene formale Rahmen die-ser Arbeit gesprengt, wenn eine sinnvolle Erweiterung deskonzeptionellen Anteils vorgenommen werden wollte.

¹Weil sich das Augenmerk der Arbeit auf die Zeit richtet, als die Sowjetunionnoch bestand, wird auch im Folgenden stets nur von der »Sowjetunion« dieRede sein und nicht etwa der »früheren oder ehemaligen Sowjetunion«.

²Hier wie im Folgenden meint der Begriff »Aussiedler« beide Geschlechter.Der Lesbarkeit halber wird aber auf die weibliche Endung verzichtet.

³Die Begriffe Selbstverständnis und Selbstbild werden synonym verwandt.

Page 12: it - Gesellschaftbilder Und Selbstverst Russlanddeutscher Aussiedler in der Sowjetunion und in Deutschland
Page 13: it - Gesellschaftbilder Und Selbstverst Russlanddeutscher Aussiedler in der Sowjetunion und in Deutschland

3

Kapitel 2

Geschichte und Lebenslagen

2.1 Aussiedler aus der Sowjetunion: Ge-schichte und Lebenslagen damals undheute

Ziel der vorliegenden Arbeit ist die Erarbeitung des Selbst-verständnisses und der Gesellschaftsbilder russlanddeutscherAussiedler. Zunächst soll anhand eines geschichtlichen Über-blicks aufgezeigt werden, wer sie sind und wie sie geprägtwurden. Danach folgt eine allgemeine Beschreibung ihrer so-zialen Lebenslage in der Sowjetunion und schließlich eine Dar-stellung der rechtlichen Grundlagen der Aussiedleraufnahmeund die daraus resultierenden strukturellen Ausgangsbedin-gungen. All diese Aspekte haben das Leben der Russlanddeut-schen beeinflusst und bilden somit den Hintergrund, auf demdie Ausbildung der Gesellschaftsbilder und des (deutschen)Selbstverständnisses unter anderem (neben der individuellenAnlage und dem unmittelbaren sozialen Umfeld) beruhen.

2.1.1 Geschichtlicher Überblick

Der geschichtliche Überblick beginnt im 18. Jahrhundert. AlsKatharina Ⅱ. 1762 bis 1796 Zarin von Russland war, beganndie Anwerbung und Ansiedlung deutscher Bauern und Hand-werker (aber auch einiger französischer, holländischer undschwedischer Bauern), die sich überwiegend in der Region umSaratow, rechts und links derWolga und in der Umgebung vonPetersburg niederließen. Die Zarin erhoffte sich so eine wirt-schaftliche Stärkung ihres Landes. Sie lockte die Deutschenmit einer Reihe von Privilegien; Religionsfreiheit, Befreiungvom Militär, Steuerfreiheit bis zu 30 Jahren, Selbstverwaltungund Unterstützung bei der Umsiedlung waren für diese eineverheißungsvolle Aussicht. Außerdem bekamen sie ca. 30 haLand und Kredite für den Bau von Häusern und den Kauf vonVieh, die erst nach 10 Jahren zurückgezahlt werden sollten.Handwerkern wurden die Handelszölle erlassen, wenn sie et-was produzierten, das es in Russland noch nicht gab. Bis 1775siedelten etwa 31 000 Deutsche nach Russland aus.

Die Besiedlung hatte nicht auf Anhieb den gewünschtenwirtschaftlichen Nutzen; die ersten Jahrzehnte der Neubesied-lung erwiesen sich als schwierig, da zunächst der Aufbau derHäuser und die Bearbeitung der Felder unter ungewohntenklimatischen Bedingungen und ohne mitgebrachte Geräte er-folgen musste. Nach der russischen Bauernbefreiung im Jahr1861 erfuhr die Wirtschaft einen Aufschwung und damit ver-bunden das Hineinwachsen der Deutschen in die russische Ge-sellschaft. »Von den Einheimischen zwar als Fremde betrach-tet, bestanden dennoch keine offenen Feindseligkeiten, zumaldann nicht mehr, als die deutschen Siedler ab 1874 auch zumMilitärdienst verpflichtet wurden« (Silbereisen/Lantermann/Rodermund 1999, S. 53). 1897 wurden bei der ersten russischenVolkszählung 1 790 489 Personen mit deutscher Mutterspracheerhoben.

Als sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts der nationale Ge-danke in Europa ausbreitete, Frankreich, Italien und Deutsch-land zu Nationalstaaten wurden, fühlte sich Russland bedrohtund führte neue Handelszölle zwischen Deutschland und Russ-land ein, die die Beziehungen der Länder zusätzlich verschlech-terte. Folglich wurden auch die Privilegien der deutschen Sied-ler nach und nach aufgehoben. Man versuchte ihnen Kauf oderPacht von Land zu untersagen und deutsche Schulen wurdenzu russischen gemacht. Mit Ausbruch des ersten Weltkriegesspitzten sich die Restriktionen zu; es kam zu Plünderungenund Enteignungen.

So brachte die russische Revolution im Jahr 1917 den Deut-schen neue Freiheiten und wurde von ihnen begrüßt. Für alleBewohner des russischen Reiches galten nun einheitliche Bür-gerrechte und die Wolgaregion wurde sogar zur »AutonomenSozialistischen Republik« der Wolgadeutschen aufgewertet.War es ihnen zur Zeit des ersten Weltkriegs verboten in derÖffentlichkeit Deutsch zu sprechen, konnten sie nun dankder Gründung nationaler Verwaltungseinheiten Deutsch alsUnterrichts- und Geschäftssprache einführen. »Diese Status-veränderung der deutschen Bevölkerung hat mit ihrer psy-chologischen Wirkung sicherlich viel zum Selbstverständnisder deutschen Volksgruppe in der Sowjetunion beigetragen«(ebd., S. 54). Dies zeigt sich nicht zuletzt in der Eröffnung vonBildungs- und Kultureinrichtungen in deutscher Sprache (vgl.Eisfeld 1992, S. 102 f.).

Zur Regierungszeit Stalins war eine erneute Verschlechte-rung der Situation der deutschen Bevölkerung auszumachen.Kirchen wurden geschlossen und Religionsausübung unterStrafe gestellt. Die Deutschen wurden ihres Landes besondersschnell enteignet als die Kollektivierung 1928 einsetzte.

Der Druck auf die deutsche Bevölkerung verstärkte sichzunehmend nach der Machtübernahme der Nationalsozialis-ten in Deutschland. Da sich diese um das Wohlbefinden derAuslandsdeutschen öffentlich besorgt zeigten, stellte die so-wjetische Regierung die Loyalität der deutschen Minderheitin Frage und setzte sie vermehrten Repressionen aus. Deutsch-sprachige Einrichtungen wurden geschlossen oder in russisch-sprachige umgewandelt, deutsche Verwaltungsbezirke undSiedlungen wurden aufgelöst und ab 1939 ihre männlichenBewohner systematisch deportiert.

Mit Ausbruch des deutsch-sowjetischen Krieges 1942 wur-den Häuser, Vieh und Einrichtungen der Deutschen von denBehörden beschlagnahmt, die der Kollaboration kollektiv be-schuldigte deutsche Bevölkerung mit Güterwagen RichtungOsten transportiert und in die sogenannte Arbeitsarmee ab-berufen. Dort mussten sie im Straßen- und Bergbau, in derForstwirtschaft sowie beim Bau von Kanälen und Industriean-lagen schwerste physische Arbeit verrichten. 1948 wurde dieArbeitsarmee zwar aufgelöst, jedoch konnten die Deutschenihre dem Innenministerium unterstehenden Sondersiedlun-gen nicht verlassen. Erst mit einem aus deutsch-sowjetischen

Page 14: it - Gesellschaftbilder Und Selbstverst Russlanddeutscher Aussiedler in der Sowjetunion und in Deutschland

4 kapitel 2 Geschichte und Lebenslagen

Verhandlungen hervorgegangenem Dekret durften sie dieseab dem Jahr 1956 verlassen, aber nicht in ihre angestammtenDörfer zurückkehren. Deutsche Literatur durfte wieder verlegtwerden und Deutsch zu sprechen war wieder erlaubt.

Daraufhin wanderte ein Teil der Deutschen aus Sibirien indie klimatisch angenehmeren Regionen aus; häufig nach Ka-sachstan, Kirgisien und Tadschikistan. Neue deutsche Gemein-den entstanden und bald schon wurden Deutsche in lokaleSowjets gewählt. Ab 1957 war in Schulen mit vielen deutschenKindern der Deutschunterricht gestattet, aber Lehrer konn-ten nur schwer gefunden werden. »Zusammen mit der Hal-tung vieler Eltern, die in der Aufrechterhaltung der deutschenSprache Hindernisse in der Angleichung ihrer Kinder sahenund deshalb den Unterricht ablehnten, fand diese Entwick-lung nicht allzuviel Anklang« (Silbereisen/Lantermann/Ro-dermund 1999, S. 55). Deutschsprachige Zeitungen und Rund-funksendungen konnten wieder verlegt bzw. ausgestrahlt wer-den. Im Jahr 1964 nahm der Oberste Sowjet die Anschuldi-gungen von 1941 zurück und erwirkte somit eine formale Re-habilitierung der Deutschen. Ihr Versuch die Wolgarepublikwieder herzustellen hatte jedoch keinen Erfolg; die sowjeti-sche Regierung lehnte diesen mit der Begründung ab, dassdie Arbeitskraft der Deutschen an ihrem derzeitigen Wohn-ort gebraucht würde und dass das ehemals autonome Gebietnun von anderen Volksgruppen besiedelt sei. Im Folgendenbemühte sich zum ersten Mal eine größere Gruppe von Deut-schen um die Auswanderung nach Deutschland. Denn auchweiterhin hatten sie mit Schwierigkeiten zu kämpfen; häufigwurden sie als Kollaborateure und Faschisten geächtet undvon der angestammten sowjetischen Bevölkerung nicht aner-kannt. Die mit der Politik von Michail Gorbatschow einher-gehende Öffnung der Grenzen seit dem Jahr 1987 erleichterteund beschleunigte die Ausreise vieler Russlanddeutscher, nach-dem bis dahin nurWenige und unter großen Einschränkungenausgewandert waren. In den Jahren 1987 bis 1994 erreichte dieZahl der Emigrierten ihren Höhepunkt. Von 1950 bis 2006kamen insgesamt 2 341 960 Russlanddeutsche in die Bundes-republik (Grobecker/Krack-Rohberg 2008, S. 17).

2.1.2 Soziale Lebenslage der Deutschen in der Sowjet-union in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts

Durch den Einsatz der Russlanddeutschenwährend der Kriegs-zeit in der Arbeitsarmee, wo sie vielfach in der Industrie undim Bergbau eingespannt wurden, kam es zu einer sozialenUmschichtung vom Land in die Stadt. »Lebten [sic!] im Jahr1926 erst jeder Sechste Deutsche in Städten, so waren es imJahr 1979 etwa die Hälfte. […] Waren noch im Jahr 1926 neunvon zehn Deutschen Bauern, so hatte sich dies zu Gunstenvon Industrie und Dienstleistungsberufen verschoben« (Ingen-horst 1997, S. 58 f.). Da nach dem Zweiten Weltkrieg geschlos-sene deutsche Siedlungen kaum noch vorhanden waren undviele Russlanddeutsche nun in der Stadt lebten, ging der Ge-brauch deutscher Sprache zurück. Besonders die Generationder nach 1955 Geborenen gab der russischen Sprache die Rolleder Muttersprache; weniger als die Hälfte gab im Jahr 1989Deutsch als Muttersprache an (vgl. Westphal 1997, S. 90).

Vom Osteuropainstitut durchgeführte Befragungsstudienaus den Jahren 1985/1986 (vgl. Dietz 1988, Dietz/Hilkes 1988)und 1989 (vgl. Dietz 1990, Dietz/Hilkes 1992) geben einen Ein-

blick in die Ausbildungs- und Berufsstruktur sowie in die all-gemeine soziale Situation der russlanddeutschen Bevölkerung.So zeigt sich in der Studie von 1985/86, dass Russlanddeutscheein mit der sowjetischen Bevölkerung ähnliches Ausbildungs-niveau aufwiesen (Dietz 1988, S. 9) und dass das Bildungsni-veau der Deutschen (Studie 1989) sogar etwas über dem des so-wjetischen Durchschnitts lag. Da die Generation, die nach 1955geboren wurde, relativ ungehinderten Zugang zu Bildungsein-richtungen hatte, konnte bei dieser der höchste Bildungsstandverzeichnet werden. Entsprechend der sowjetischen Beschäfti-gungsquote insgesamt, war auch die der Russlanddeutschenhoch; 80–90% der Befragten waren berufstätig. Dabei wa-ren über die Hälfte als ArbeiterIn beschäftigt, etwas mehr alsein Viertel waren Angestellte und knapp 20% waren in derLandwirtschaft tätig. Die Berufs- und Branchenzugehörigkeitwar sehr vielfältig, insgesamt überwogen aber die Arbeiter-berufe (Dietz 1990, S. 18). Es ist also davon auszugehen, dassRusslanddeutsche im beruflichen Bereich nicht oder kaum dis-kriminiert wurden und keinen (kaum) Einschränkungen un-terlagen. Sie besaßen außerdem einen vergleichsweise hohenLebensstandard (eigenes Haus, landwirtschaftliche Nutzfläche,Konsumgüter wie Fernseher oder Auto) und wiesen im Zu-sammenhang damit eine hohe Zufriedenheit auf (vgl. Dietz/Hilkes 1993, S. 65 ff.).

2.1.3 Rechtliche Grundlagen der Aussiedleraufnahmeund strukturelle Ausgangsbedingungen

»Deutscher im Sinne dieses Grundgesetzes ist vorbehaltlichanderweitiger gesetzlicher Regelung, wer die deutsche Staats-angehörigkeit besitzt oder als Flüchtling oder Vertriebenerdeutscher Volkszugehörigkeit oder als dessen Ehegatte oderAbkömmling in dem Gebiete des Deutschen Reiches nachdem Stande vom 31. Dezember 1937 Aufnahme gefunden hat«(Grundgesetz Artikel 116 Absatz 1). Mit diesem Gesetz wurdeAussiedlern⁴ ihr rechtlicher Status als Deutsche mit den sichdaraus ergebenden Bürgerrechten und -pflichten anerkannt.Leibliche Kinder, Adoptiv- und (Ur-)Enkelkinder sowie nicht-deutsche Ehepartner erhielten ebenfalls die deutsche Staatsan-gehörigkeit. Mit den im Bundesvertriebenen- und Flüchtlings-gesetz enthaltenen Regelungen, wurden Aussiedlern aufgrunddes erlittenen »Kriegsfolgenschicksals«⁵ Entschädigungsleis-tungen (in Form einer pauschalen Auszahlung von 4000 DMan diejenigen, die vor dem 1. April 1956 geboren sind) sowieIntegrationsmaßnahmen zugestanden. Letztere bedeutetenunter anderem die Auszahlung von Arbeitslosengeld übereinen Zeitraum von 15 Monaten, dessen Höhe aus dem Ge-haltsbetrag einer Berufstätigkeit ermittelt wurde, die demim Heimatland zuletzt ausgeübten Beruf äquivalent war (vgl.Ingenhorst 1997, S. 104). Des Weiteren wurden Fortbildungs-und Umschulungsmaßnahmen gefördert und Deutsch-Sprach-kurse von zwölfmonatiger Dauer angeboten.

⁴Die Ausführungen beziehen sich allein auf Aussiedler (die, so wie die Befrag-ten der Untersuchung, vor dem 01.01.1993 eingereist sind) und nicht etwaauf Spätaussiedler, deren rechtliche Bestimmungen von denen der Aussiedlerzum Teil abweichen.

⁵Gemeint sind hier die zu Kriegszeiten mit Vertreibung und Zwangsumsied-lung verbundenen materiellen Verluste, Kontaktabbrüche zu Familienangehö-rigen, die erzwungene Aufgabe von sprachlichen, kulturellen und religiösenTraditionen und sonstige Diskriminierungen.

Page 15: it - Gesellschaftbilder Und Selbstverst Russlanddeutscher Aussiedler in der Sowjetunion und in Deutschland

Aussiedler aus der Sowjetunion: Geschichte und Lebenslagen damals und heute 5

Aus den Darstellungen der Geschichte, der sozialen Lebens-lage in der Sowjetunion sowie den rechtlichen Grundlagender Aussiedleraufnahme und den sich daraus ergebenden Aus-gangsbedingungen für die Gestaltung des neuen Lebensrau-mes ist einerseits die von Deportation und Vertreibung ge-kennzeichnete schicksalsschwere Grunderfahrung festzuhal-ten, die auch die nachfolgenden Generationen geprägt hat und

häufig von den direkt Betroffenen als »Trauma an die nächsteGeneration« (Bade 1994, S. 158) weitergegeben wurde. Ande-rerseits beschreibt ihre soziale Lebenslage in der Sowjetunion– zumindest auf struktureller Ebene – eine zufriedenstellendeLebenssituation. Schließlich sind auch die strukturellen Aus-gangsbedingungen für Aussiedler in Deutschland als positivzu bewerten.

Page 16: it - Gesellschaftbilder Und Selbstverst Russlanddeutscher Aussiedler in der Sowjetunion und in Deutschland
Page 17: it - Gesellschaftbilder Und Selbstverst Russlanddeutscher Aussiedler in der Sowjetunion und in Deutschland

7

Kapitel 3

Sozialisation, Selbstverständnis und Gesellschaftsbild

Die Bedeutung der Begriffe Selbstverständnis und Gesell-schaftsbild soll in ihren für den gegebenen Zusammenhangrelevanten Aspekten im Folgenden dargestellt werden. Grund-lage der Entwicklung eines Selbst- und Gesellschaftsbildes istdie Sozialisation des Individuums, deren für den Kontext wich-tige Inhalte vorab erläutert seien.

3.1 Sozialisation

Dem Selbstbild voran geht die Auseinandersetzung des Indi-viduums mit sich selbst und seiner sozialen Umwelt. Dieserwechselseitige Prozess wird in der Sozialisation beschrieben,die von Geulen und Hurrelmann folgendermaßen definiertist: »Sozialisation ist die lebenslange Aneignung von Aus-einandersetzung mit den natürlichen Anlagen, insbesondereden körperlichen und psychischen Grundmerkmalen, die fürden Menschen die ›innere Realität‹ bilden, und der sozialenund physikalischen Umwelt, die für den Menschen die ›äu-ßere Realität‹ bilden« (Geulen/Hurrelmann 1980, S. 51). Die-ser Entwicklungsverlauf kann in eine primäre und sekundärePhase aufgeteilt werden. Die folgenden Ausführungen sindan die von Berger und Luckmann (1969) angelehnt, die denTerminus »Sozialisation« im üblichen Gebrauch der Sozialwis-senschaften verstehen (wie oben definiert), ihn aber in ihrentheoretischen Rahmen einpassen.

3.1.1 Primäre Sozialisation

Die primäre Sozialisation stellt durch die in dieser entwickel-ten Strukturen die Basis für die sekundäre Sozialisation darund ist somit von grundlegender Bedeutung.

Wenn ein Mensch geboren wird umgibt ihn eine bereits vor-handene Gesellschaftsstruktur, innerhalb derer »signifikanteAndere« (Mead 1968) für seine Sozialisation besonders prä-gend sind. Diese stehen zu ihm in direkter Beziehung und erkann ihnen nicht ausweichen. Sie vermitteln ihm die gesell-schaftliche Welt durch eine Auswahl von Aspekten, die »jenach ihrem eigenen gesellschaftlichen Ort und ihren eigenenbiographisch begründeten Empfindlichkeiten« getroffen wird(Berger/Luckmann 1969, S. 141). Folglich nimmt ein Kind diegesellschaftliche Welt aus der Perspektive des sozialen Stand-orts derer, die seine Primärsozialisation übernommen haben,wahr und überträgt (in Teilen) deren Weltsicht auf seine ei-gene. Dies geschieht (nur), wenn eine emotionale Bindungzu den signifikanten Anderen besteht; das Kind internalisiertnur dann die Rollen und Einstellungen und macht sich diesezu eigen, wenn es sich mit seinen Bezugspersonen auch iden-tifiziert. »Der Mensch wird, was seine signifikanten Anderenin ihn hineingelegt haben. Das ist jedoch kein einseitiger, me-chanischer Prozess. Er enthält vielmehr eine Dialektik zwi-schen Identifizierung durch Andere und Selbstidentifikation,

zwischen objektiv zugewiesener und subjektiv angeeigneterIdentität« (ebd., S. 142).

In der primären Sozialisation erwacht das Bewusstsein fürden »generalisierten Anderen« (Mead 1968), indem von densignifikanten Anderen auf die Allgemeinheit der Anderen, dieGesellschaft erweitert wird; Rollen, Einstellungen und Nor-men, die das Kind in seiner unmittelbaren sozialen Umgebungkennengelernt hat, versteht es zunehmend als allgemein gültigund internalisiert auch diese. Es kann sich nun entsprechendmit der Allgemeinheit der Anderen identifizieren und somitseine Identität festigen, da es sich jedem Anderen gegenübersubjektiv als konsistent erlebt.

Die Sprache ist der wichtigste Inhalt und das wichtigsteWerkzeug der Sozialisation. Sie wird gesellschaftsübergreifendin der primären Sozialisation internalisiert. Durch sie werdengesellschaftliche Begründungs- und Auslegungszusammen-hänge vermittelt und übernommen.

Da das Kind zu seinen signifikanten Anderen Vertrauen hatund auch ihrerWeltauslegung vertraut, ist seineWelt kompaktund zweifellos wirklich. Erst in einem späteren Entwicklungs-stadium des Bewusstseins werden Zweifel möglich. Die in derprimären Sozialisation internalisierte Welt ist »viel fester imBewusstsein verschanzt als Welten, die auf dem Wege sekun-därer Sozialisation internalisiert werden« (Berger/Luckmann1969, S. 145).

Das Ende der primären Sozialisation ist erreicht, sobalddie Vorstellung des generalisierten Anderen im Bewusstseinverankert ist und der Mensch damit »ein nützliches Mitgliedder Gesellschaft [geworden ist] und subjektiv im Besitz seinesSelbst und einer Welt« (ebd., S. 148). Allerdings ist Sozialisa-tion »niemals total und niemals zu Ende« (ebd.).

3.1.2 Sekundäre Sozialisation

Jede Gesellschaft in der es Arbeitsteiligkeit gibt, hat gesell-schaftlich verteiltes Wissen, sodass eine sekundäre Soziali-sation, die auf der primären aufbaut, notwendig ist. Diesebedeutet die Internalisierung einer partiellen (und dennochkohärenten) Wirklichkeit (im Gegensatz zur ganzen Wirklich-keit, die man in der primären Sozialisation erfasst), die sichaufgrund der Arbeitsteiligkeit durch spezifisches Wissen aus-weist. Im Laufe der sekundären Sozialisation wird dieses, jenach Rolle des Individuums, in einem institutionalen Gebietnotwendige Wissen erworben; ein diesem entsprechendes Vo-kabular wird sich zu eigen gemacht sowie über dieses auchein dem Ort eigentümliches Verhalten internalisiert.

Sekundäre Sozialisation unterscheidet sich von der primä-ren darin, dass sie meist ohne emotionale Identifikation aus-kommt; »sie braucht zu ihrem Erfolge nur eben so viel wech-selseitige Identifikation, wie sie zu jedem Austausch zwischenMenschen gehört« (Berger/Luckmann 1969, S. 151). Außerdemist es dem Individuum möglich der Wirklichkeit sekundärer

Page 18: it - Gesellschaftbilder Und Selbstverst Russlanddeutscher Aussiedler in der Sowjetunion und in Deutschland

8 kapitel 3 Sozialisation, Selbstverständnis und Gesellschaftsbild

Sozialisation auszuweichen, da es den Teil des Selbst mit derdazugehörigen Wirklichkeit ablegen kann, sobald die rollen-spezifische Situation nicht relevant ist.

3.2 Selbstverständnis

Als Ergebnis von im Laufe der Sozialisation entwickelten Ge-wohnheiten, Dispositionen, Erfahrungen usw., die das Indi-viduum charakterisieren und ein Bewusstsein für sich undseine eigene Unverkennbarkeit hervorbringen, ist das ›impli-zite‹ Selbst zu verstehen. Es wird im Handeln sichtbar unddurch dieses gefestigt sowie verwirklicht. Das Individuumerfährt sich als kohärentes Selbst, das sich mit seinem Selbst-bild identisch glaubt. Jedoch ist das Selbstbild der Entwurfseiner selbst, in dem er einen »Spielraum [hat], dessen Gren-zen durch Anlagestruktur und Mitweltstruktur bestimmt sind.Das Bild, das er von sich selbst entwirft, hat insoweit gegen-ständliche Gewißheit für ihn, als er sich nach ihm verhält,bleibt ihm selbst aber auch insoweit immer ungewiß, als ersein eigenes Bild noch negieren kann« (Dreitzel 1962, S. 191).Dieser Entwurf kann dem Individuum unbewusst sein undbleibt entsprechend implizit.⁶

Im Unterschied dazu bringt das »explizite« Selbst diesenzum Ausdruck, indem es ihn darstellt und kommuniziert. Innicht elaborierten Formen des Alltags handelt es sich dabei umsituative Selbstdarstellungen, die zwar noch dem ›gewohnten‹Handeln entspringen, jedoch gezielt auf das Selbst Bezug neh-men und es thematisieren, um es über die Situation hinaus zutypisieren. So zum Beispiel in Aussagen wie: »Du kennst michdoch!« Oder auch umgekehrt: »Das ist mir nur so herausge-rutscht. So bin ich sonst nicht!« (Hahn 2000, S. 100). Darüberhinaus und in einer nicht alltäglichen Form kann die Darstel-lung des Selbst auch in einer biographischen Selbstreflexionerfolgen, wie es unter Anderem im biographischen Interviewder Fall ist. In diesem wird der Lebenslauf, der eine Gesamt-heit von Ereignissen, Erfahrungen und Empfindungen dar-stellt, in einer Auswahl besagter Gesamtheit vergegenwärtigt,innerhalb welcher neue Zusammenhänge erstellt werden, diees vorher so nicht geben konnte. Das Individuum entwickeltalso eine Vorstellung seines Lebenslaufs, welche, abhängigvom Augenmerk, Momente aus seiner Totalität selektiert undzu einem Bild nach eigener Logik zusammenfügt. Es erzeugtein Selbstbild. Wenn nicht in expliziten Aussagen, die eineSelbstauszeichnung (»Ich bin …«) beinhalten, so macht es dochdurch die Zusammenfügung einer Auswahl von Momentendes Lebenslaufs nach eigener Logik, sowie in dazugehören-den Aussagen und Argumenten deutlich, wie es sich selbstversteht bzw. verstanden wissen will. Auf dieser Basis stehendie in Kapitel 4 ausgeführten Analysen zum Selbstverständnisder interviewten Zielgruppe.

»Manchmal allerdings übernimmt es auch Konzepte seinerselbst, die von anderen entwickelt wurden. Es ist dann fürsich selbst, was andere von ihm sagen« (ebd., S. 98). So zumBeispiel, wenn einige Interviewte angeben, dass sie von derGesellschaft in der Sowjetunion als gut arbeitende und flei-ßige Deutsche wahrgenommen wurden und dies auch in ihrSelbstbild integrieren.

Gleichermaßen selbst- und fremdentwickelte Selbstbilderkönnen für die Deutung der Vergangenheit als auch die Zu-

kunftsorientierung richtungweisend sein. Allerdings bestehendie für die Lebensführung relevanten Selbstbilder nur in derGegenwart, von der aus sie sich aktualisieren. Im Hinblick aufdie narrativ geführten Interviews der in Kapitel 4 vorgestell-ten Untersuchung kann es bedeuten, dass die Erzählungen, dasie aus der Perspektive des gegenwärtigen Selbstbildes vorge-nommen werden, auch die Vergangenheit so abbilden, dass siedem heutigen Selbstverständnis entspricht und nicht das da-malige reproduziert. Andererseits ist es aufgrund der methodi-schen Herangehensweise möglich, dass »eine enge […] Verbin-dung zwischen der aktuellen Kommunikation einerseits unddem damaligen Erleben und den damaligen Handlungsorien-tierungen des Erzählers andererseits« (Küsters 2009, S. 23)hergestellt werden kann und somit die Deutung der Vergan-genheit im Rückblick tatsächlich auch der damaligen Deutungentspricht.

3.3 Gesellschaftsbild

»Das Selbstbild [ist] vorzüglich verbunden mit dem Gesell-schaftsbild, dessen Ausfluss und Gegenentwurf es zugleich ist.Selbstbild und Gesellschaftsbild gehören untrennbar zusam-men, weil beide sich auf eine Mitwelt beziehen, die allererstmenschliches Sein ermöglicht. Sie wird [durch das genera-lisierte Andere] verinnerlicht und trägt gerade darum denAußenaspekt nach innen, wie andererseits über das Selbstbilddie innere Welt veräußerlicht wird und dadurch der Mitwelteinen Innenaspekt verleiht« (Dreitzel 1962, S. 193). Sprache istdabei die vermittelnde Instanz.

Als Gesellschaftsbilder »werden gewöhnlich Vorstellungenüber die gesellschaftliche Wirklichkeit bezeichnet, welche einegewisse Kohärenz und Konsistenz aufweisen und über denBereich der unmittelbaren Erfahrung hinausreichen« (Sand-berger 1983, S. 112). Sie werden in der Sozialisation vermittelt;abhängig von der gesellschaftlichen Position und den Empfind-lichkeiten des Subjekts signifikanter Anderer (und in Zusam-menwirkung, schließlich auch der eigenen) in der Primärsozia-lisation als auch der Lage innerhalb einer partiellen Wirklich-keit (z. B. Milieu, sozialer Standort) sowie von den gemachtensozialen Erfahrungen und nationalen, politisch kulturellenEinflüssen, betrachtet das Subjekt die Gesellschaft.

Gesellschaftsbilder können für das Individuum folgendeFunktionen übernehmen: Seiner unmittelbaren Erfahrung ei-nen weiteren Horizont verleihen, indem es Vorstellungen vonSachverhalten entwickelt, die über seine partielle Wirklichkeithinausreichen und somit Deutungsmuster zur Orientierungin einer weiteren, komplexen Wirklichkeit bieten. Des Wei-teren selektieren Gesellschaftsbilder die Wahrnehmung vonInformationen, indem den, mit schon vorhandenen Vorstellun-gen kompatiblen Informationen, Aufmerksamkeit geschenktwird, während widerstreitende Einflüsse (sofern die Diskre-panz zwischen Erfahrung und Vorstellung nicht zu groß ist)nicht zugelassen werden. Schließlich kann auch davon ausge-gangen werden, dass Gesellschaftsbilder eine Orientierung zu

⁶ Selbstbild bzw. Selbstverständnis wird in den folgenden Kapiteln auch alsIdentität bezeichnet. Denn die Interviewerin kann als Außenstehende (erstrecht) nicht zwischen Selbst und Selbstbild differenzieren; es wird also ab-wechselnd von Identität, Selbstbild und Selbstverständnis die Rede sein.

Page 19: it - Gesellschaftbilder Und Selbstverst Russlanddeutscher Aussiedler in der Sowjetunion und in Deutschland

Zusammenfassung und Zusammenhang zur eigenen empirischen Untersuchung 9

bewusstem Handeln liefern.Sylvia Dietmaier-Jebara knüpft mit ihrer Studie an die

Frage der Entstehung des Gesellschaftsbildes an und kommtzu dem Ergebnis, dass dieses in der alltäglichen Lebensfüh-rung aktiv entworfen wird. Es spiegelt wider, »welche An-sprüche und Bedürfnisse die Menschen an das Leben haben,wie sie diese unter den gegebenen Bedingungen umsetzenund wie diese Alltagspraxis in Auseinandersetzung mit dergesellschaftlich produzierten Ideologie, mit den Normen undLeitbildern zu einem Bild über die Gesellschaft zusammenge-fügt wird« (Dietmaier-Jebara 2005, S. 331). Alltägliche Erfah-rungen können mit Hilfe des Gesellschaftsbildes interpretiertwerden und es gibt Orientierung für soziales und politischesHandeln, sowie in unbekannten Situationen.

Angesichts solcher weist es eine hohe Stabilität auf, weil esin der alltäglichen Lebensführung gründet. Diese verändertsich mit neuen gesellschaftlichen Lebensbedingungen (wie siez. B. im Einwanderungsland vorgefunden werden) zwar inihrer Form, jedoch nicht in ihrer Logik, wie Margit Weihrichaus ihrer Untersuchung der Konstruktion alltäglicher Lebens-führung im Umbruch folgert: »Das etablierte Regelsystem,an dem sich der Aktor bei seinen Handlungsentscheidungenorientiert, wird nicht so einfach außer Kraft gesetzt, nur weilsich die Rahmenbedingungen geändert haben« (Weihrich 1998,S. 486, 487). Dies lasse sich ähnlich, so Dietmaier-Jebara, auchauf das Gesellschaftsbild übertragen; Vorstellungsinhalte ver-änderten sich, die Grundstruktur bleibe jedoch erhalten, wel-che die Sichtweise der Gesellschaft, den ihr zugrunde liegen-den sozialen Typus, den Gesellschaftsaufbau sowie die sozia-len Beziehungen zum Inhalt hat (vgl. Dietmaier-Jebara 2005,S. 333).

3.4 Zusammenfassung und Zusammenhangzur eigenen empirischen Untersuchung

Selbstverständnis und Gesellschaftsbild gehen aus der primä-ren und sekundären Sozialisation hervor, in der das Indivi-duum in Beziehung zur Gesellschaft ein kohärentes Selbst

entwickelt. Von diesem entwirft es ein Bild, das es mit dem›eigentlichen Selbst‹ als deckungsgleich erlebt und entwederimplizit durch Handeln, in situativen (mehr oder wenigerimpliziten) selbstauszeichnenden Aussagen nach außen trägtoder explizit kommuniziert. Letzteres kann zum Beispiel inbiographischen Narrationen (im narrativen Interview) gesche-hen. Durch eine Auswahl von Momenten aus dem Lebenslauf,die nach der Logik des aktuellen Selbstverständnisses neuzusammengefügt werden sowie dazugehörende Argumenta-tionen und eventuelle Selbstauszeichnungen gibt das Indivi-duum dann zu verstehen, wie es sich selbst wahrnimmt. DieserKommunikation liegt aber nicht zwangsläufig zugrunde, dassdem Individuum sein Selbstbild bewusst wäre; sie gibt viel-mehr auf besagte Weise sein vorbewusstes Selbstverständnispreis, das erst durch die Interpretation der benannten Aspektezugänglich wird. Diese erfolgt in Kapitel 4 durch die Inter-viewerin, die unter der Überschrift »Selbstverständnis« inWorte kleidet, was die befragte Person so nicht ausdrückenkonnte oder wollte, dem aber doch zustimmen kann (oderkönnte wenn nicht wollte), sofern das Interpretierte richtigist.

Ähnliches gilt für das Gesellschaftsbild, das mit dem Selbst-bild eng verknüpft ist. Dessen Interpretation basiert in dervorliegenden Untersuchung allerdings auf relativ vielen kon-kreten gesellschaftsauszeichnenden Aussagen, die auf explizi-tes Nachfragen zustande gekommen sind, sodass die Vorstel-lungen über Gesellschaft – sei es in der Sowjetunion oder inDeutschland – spätestens im Moment der Frage ins Bewusst-sein geholt und entsprechend formuliert wurden.

Für den Gegenstand der Untersuchung besonders interes-sant ist die Frage, inwiefern das Selbstbild, das sich über einenrelativ langen Zeitraum (etwa 30 Jahre) unter gesellschaftlichwenig veränderten Bedingungen in der Sowjetunion entwi-ckeln konnte, in der neuen Lebenswelt der Bundesrepublikfortgeführt werden kann und inwiefern das damit im Zusam-menhang stehende Bild von der deutschen Gesellschaft (dasin der Grundstruktur dem des Bildes von der sowjetischenGesellschaft gleicht) der Integration bzw. dem Wohlbefindenin Deutschland zuträglich ist.

Page 20: it - Gesellschaftbilder Und Selbstverst Russlanddeutscher Aussiedler in der Sowjetunion und in Deutschland
Page 21: it - Gesellschaftbilder Und Selbstverst Russlanddeutscher Aussiedler in der Sowjetunion und in Deutschland

11

Kapitel 4

Empirische Untersuchung

4.1 Untersuchungsziele

Ziel der empirischen Untersuchung ist die Darlegung desim Laufe der (Migrations-)Biographie von russlanddeutschenAussiedlern entwickelten Selbstverständnisses sowie ihrer Ge-sellschaftsbilder von der sowjetischen als auch von der deut-schen Gesellschaft. Des Weiteren soll der Zusammenhangzwischen Selbstverständnis und Gesellschaftsbildern und derIntegration der Eingewanderten im Sinne eines personalenund relationalen Gleichgewichtszustands analysiert werden(Dieses Begriffsverständnis von Integration wird in Kapitel 5erläutert).

4.2 Qualitatives Verfahren

Die Entscheidung für ein qualitatives Erhebungsverfahrenergibt sich aus dem Erkenntnisinteresse an komplexen Zu-sammenhängen, die nur mit diesem erfasst werden können(vgl. Flick/Kardorff/Steinke 2000, S. 23). Das zu erforschendeSelbstverständnis und die Gesellschaftsbilder stehen mit derBiographie eines Menschen in enger Verbindung, sodass de-ren vollständiger Verlauf und die darin enthaltenen objek-tive Prozesse sowie subjektive, bewusste und nicht bewussteZusammenhänge, die der/die Befragte/n konstruiert, erfasstwerden müssen. So kann nur ein qualitatives Verfahren ange-wandt werden, das sich für die Exploration von Zusammen-hängen eignet. Mit einem quantitativen Verfahren, welchesauf der Prüfung von Hypothesen basiert, könnten diese nichtermittelt werden und eine Theoriegenerierung auf Grundlageder empirischen Daten, die mit dieser Arbeit anvisiert ist,wäre nicht möglich. Es geht schließlich auch nicht um dieErforschung statistischer Relationen vor dem Hintergrund ei-ner Grundgesamtheit, sondern um das Herausarbeiten vontypischen Profilen eines oder mehrerer Zusammenhänge undsomit um eine »theoretische Repräsentativität«, die von derqualitativen Forschungslogik beabsichtigt wird (Hermanns1992, S. 116).

Für die methodische Konzeption der Untersuchung leitendist eine subjektorientierte Perspektive, die das Individuum,seinen einzigartigen Lebenslauf sowie seine Sichtweise aufdiesen in den Mittelpunkt der Anschauung stellt. Um alsodiese möglichst von eigenen Vorabvorstellungen unvoreinge-nommen zu erfassen, bietet sich das biographisch narrativeInterview nach Fritz Schütze (Schütze 1983, 1987) an.

4.3 Das Erhebungsverfahren

Drei von den fünf befragten Personen (Albert, Berndt undClaus) wurden über die Eltern der Interviewerin kontaktiert;sie sind Bekannte ihrer Eltern. In einem Fall erfolgte die Kon-

taktaufnahme über die Freundin einer Freundin (Decker) undeinem über den Mitbewohner der Interviewerin (Egert). AlleGesprächspartnerInnen waren der Interviewerin bis zum Zeit-punkt des Gesprächs unbekannt, aber in vier von fünf Fällen(Albert, Berndt, Claus und Egert) über die Verbindung der El-tern bzw. des Mitbewohners nicht völlig fremd. Die befragtenPersonen wussten alle, dass die Interviewerin selbst Aussied-lerin ist und waren von diesem Wissen in ihrer Erzählungbeeinflusst, da über die Gemeinsamkeit schneller Vertrauenaufgebaut werden konnte. Allerdings kann diesbezüglich un-ter anderem die Tatsache, dass unterschiedliche Generationeninteragierten, (in manchen Fällen) als störend bewertet wer-den. Der Erstkontakt erfolgte stets telefonisch.

Als Erhebungsinstrument wurde das biographisch narra-tive Interview nach Fritz Schütze gewählt. Da nur eine Ein-stiegsfrage von der Interviewerin gestellt wird, eröffnet esdem/r Interviewten die Möglichkeit, nur darauf begrenzt dieLebensgeschichte zu erzählen, die Themen innerhalb seinerErzählung frei zu bestimmen. Durch immanente Nachfragenseitens der Interviewführenden können nicht thematisierte Le-bensbereiche oder Verständnisschwierigkeiten später erfragtwerden und mit Hilfe exmanenter Fragen nach der Erster-zählung auf für die Forschungsfrage relevante Themen, diebislang nicht wurden, eingegangen werden. Letztere wurdenim Vorfeld formuliert; ebenso die Einstiegsfrage sowie einigePunkte, von denen zu erwarten war, dass sie erwähnt wer-den würden. Nach den Interviews wurden jeweils Interview-protokolle angefertigt, die Beobachtungen über das Zusam-mentreffen, Eindrücke und Gedanken sowie alles, was vorEinschalten und nach Abschalten des Aufnahmegerätes ge-tan oder gesprochen wurde, aus der Erinnerung wiedergeben.Diese können im Anhang unter dem Punkt A sowie B.1, B.3,B.5, B.7 und B.9 eingesehen werden. Die Transkription derInterviews erfolgte nach den von Küsters (Küsters 2009, S. 75)angegebenen Transkriptionsregeln.

4.4 Die Untersuchungsgruppe

Die empirische Grundlage der vorliegenden Untersuchungbesteht aus fünf russlanddeutschen Aussiedlern, die in denJahren von 1948 bis 1956 in unterschiedlichen Republiken derSowjetunion geboren sind und bis zum Ende der 80er, An-fang der 90er Jahre in diesen gelebt haben. In dieser Zeit sindsie nach Deutschland ausgewandert und leben somit zumZeitpunkt der Befragung seit ca. 20 Jahren hier. Nach diesengemeinsamen Merkmalen wurden die Interviewpartner aus-gesucht. Das Alter und der Zeitpunkt der Ausreise sollten einehinreichend lange (primäre und ›gefestigte‹ sekundäre) Sozia-lisation in der Sowjetunion sicherstellen, während durch ca.20 Jahre Aufenthalt in Deutschland eine (mehr oder weniger)abgeschlossene Eingewöhnung und das ›Kennen‹ (im Sinne

Page 22: it - Gesellschaftbilder Und Selbstverst Russlanddeutscher Aussiedler in der Sowjetunion und in Deutschland

12 kapitel 4 Empirische Untersuchung

eines alltagstauglichen Verständnisses der Struktur und so-zialen Gegebenheiten) der Gesellschaft gewährleistet werdensollte. Nicht zuletzt war auch die damit (meist) einhergehendeSprachkompetenz für das narrative Interview von Bedeutung.

Unter den Befragten waren zwei Frauen und zwei Männersowie ein Ehepaar, wobei in diesem Fall die Biographie desMannes erhoben wurde und die Aussagen seiner Ehefrau alsErgänzungen berücksichtigt wurden (eine Begründung erfolgtin Kapitel 4.8.3).

Alle untersuchten Personen hatten den BildungsabschlussMittlere Reife und, bis auf eine (Arbeiterin in einer Fabrik),einen Ausbildungsberuf ergriffen, in dem sie bis zur Ausreiseauch arbeiteten. In Deutschland arbeit(et)en sie meistens inähnlichen (dem Ausbildungsniveau entsprechenden) Positio-nen. Alle leben in Dörfern oder Kleinstädten und vier vonihnen in einem selbstgebauten Haus.

4.5 Die Auswertung der Interviews

Die Interviews hatten eine Dauer von einer bis dreieinhalbStunden. Neben darin enthaltenen Erzählungen wiesen sieauch viele Beschreibungen und Argumentationen auf (je-weils im Sinne der Ausführungen von Przyborski/Wohlrab-Sahr 2008, S. 224 ff). Folglich wurden die von Schütze (1983,S. 286 ff.) vorgeschlagenen Auswertungsschritte so modifiziert,dass eine größtmögliche Gegenstandsangemessenheit gewähr-leistet werden konnte. Um die verschiedenen Prozessstruktu-ren des Lebenslaufs herauszuarbeiten, wurde zunächst einestrukturelle inhaltliche Beschreibung vorgenommen. Anschlie-ßend wurden in der Wissensanalyse Argumentationen undBeschreibung untersucht. Da diese häufig einen Großteil desInterviews ausmachten, kam ihnen auch in der Auswertungviel Aufmerksamkeit zu. Hier wurden in Anknüpfung an dieMethodologie der »GroundedTheory« von Glaser und Strauss(1967) Kategorien erstellt, mit Hilfe derer die für die Frage-stellung wichtigen Sichtweisen der Befragten systematischerfasst werden konnten. Am Ende einer jeden Interviewana-lyse erfolgte eine Einordnung in die von Schüzte (1993, S. 286)herausgearbeiteten biographischen Prozessstrukturen, die zu-sammenfassend den Zusammenhang der Biographie und des(zentralen) Selbstbildes in Anbetracht des gelebten Lebensdemonstrieren sollten. Nach der Interpretation der einzelnenInterviews wurde ein systematischer Bezug zwischen den Fäl-len hergestellt, indem sie miteinander kontrastiert wurden.Dabei wurden zwei voneinander maximal kontrastierende Ty-pen (siehe folgendes Kapitel zur Typenbildung) ausgemacht,deren Analysen zur besseren Nachvollziehbarkeit in ausführ-licher Form dargestellt werden. Bei den drei anderen Fällen,die sich zwischen den maximal kontrastierenden bewegen,werden nur die zentralen Ergebnisse der Analysen zum Selbst-verständnis und Gesellschaftsbild präsentiert.

4.6 Typenbildung

Die Bildung von Typen soll den Untersuchungsgegenstandstrukturieren und zentrale Untersuchungselemente nach Un-terschieden und Gemeinsamkeiten ordnen. Inhaltliche Sinnzu-sammenhänge, die innerhalb eines Typus sowie zwischen den

Typen bestehen, sollen damit aufgezeigt werden. Der BegriffTypus bezeichnet eigentlich eine Teilgruppe innerhalb der ge-samten Untersuchungsgruppe, die gemeinsame Eigenschaftenaufweist und deren spezifische Konstellation charakterisiertist. Um das Charakteristische eines Typus möglichst klar her-ausstellen zu können, ist eine hohe interne Homogenität wich-tig. Zwischen den Typen sollte eine hohe externe Heterogeni-tät bestehen, sodass sie gut voneinander unterscheidbar sindund eine möglichst breite Vielfalt des Untersuchungsgegen-standes sichtbar wird (vgl. Kluge 1999, S. 42).

Da aber die Zahl der untersuchten Personen in der vorlie-genden Arbeit sehr gering ist, besteht ein Typus aus nur einerPerson und es werden insgesamt nur zwei maximal voneinan-der kontrastierende Typen gebildet. Diesen werden Unterty-pen zugeordnet, die in einigen vergleichbaren Gesichtspunk-ten die interne Homogenität zwischen Typus und Untertypverdichten und in anderen, unterscheidenden Merkmalen dieexterne Heterogenität verdeutlichen und somit die denkbareVielfalt des Untersuchungsgegenstandes nur andeuten kön-nen. Homogenität und Heterogenität werden also anhandeinzelner Untersuchungselemente deutlich gemacht.

Typenbildung macht die Verallgemeinerung der Untersu-chungsergebnisse möglich. Bei dieser geht es nicht um dasquantitative Vorkommen eines Typus innerhalb eines sozialenFeldes, sondern vielmehr um die Identifizierung von Typenund um die anschließende Erklärung fallinterner Merkmale(vgl. Brüsemeister 2008, S. 29). Der Tatsache geschuldet, dassnur fünf untersuchte Fälle vorliegen, ist es nicht möglich dievorgefundenen Typen durch eine größere Personengruppe mitgemeinsamen Eigenschaften zu erhärten; sie müssen somitvage bleiben. Allerdings können anhand von Zusammenhän-gen, die bei jedem Typus vorliegen, generalisierende Aussagengetroffen werden.

Die Untersuchung will den Zusammenhang zwischen demSelbstverständnis und Gesellschaftsbildern russlanddeutscherAussiedler und Integration im Sinne eines personalen und rela-tionalen Gleichgewichtszustands beleuchten. Folglich wurdendie Vergleichsdimensionen Selbstbild, insbesondere das Selbst-verständnis in Bezug auf die deutsche Volksangehörigkeit, dieVorstellungen von der deutschen Gesellschaft sowie sozialeKontakte/Beziehungen zu Aussiedlern und Einheimischen alsrelevant erachtet und gegenübergestellt.

4.7 Anonymität und Erklärungen zur Wort-wahl

Alle relevanten Informationen, die die Identifizierung der Be-fragten ermöglichen könnten, wurden verändert. Vor- undZuname sowie Angaben zum Wohnort wurden durch Pseud-onyme ersetzt, jedoch zu den Originalen möglichst äquivalenttransformiert, um so die Authentizität zu wahren.

Aus demselben Grund wurde bei den Analysen die Wort-wahl mancher Begriffe von den Interviewten übernommen.So wurden, trotz des Wissens um die offizielle Bezeichnung»Kirgisistan« und »Republik Moldau«, in den Analysen dieBezeichnungen »Kirgisien« und »Moldawien« verwandt.

Von den Befragten gebrauchte Begriffe, die so in der deut-schen Sprache nicht vorkommen, deren Bedeutung aber ausdem Kontext hervorgeht, wurden ebenfalls übernommen.

Page 23: it - Gesellschaftbilder Und Selbstverst Russlanddeutscher Aussiedler in der Sowjetunion und in Deutschland

Analysen 13

4.8 Analysen

4.8.1 Hermann Decker

Hermann Decker (im Folgenden nur nochmit D. abgekürzt) ist1956 in Kirgisien geboren. Schon kurz darauf wandert sein Va-ter mit der ganzen Familie nach Kasachstan aus. Dort, in eineretwa 30 000 Einwohner großen Stadt, die zu einem großenTeil von Deutschen besiedelt ist, lebt er bis zu seiner Aus-reise nach Deutschland. Er macht eine Ausbildung an einemTechnikum, die ihn dafür qualifiziert im technischen Bereicheines landwirtschaftlichen Betriebes zu arbeiten. Nach zweiJahren Militärdienst, zu dem er nach Abschluss der Ausbil-dung einberufen wird, heiratet er und nimmt die Arbeit ineinem großen in der Stadt angesiedelten landwirtschaftlichenBetrieb auf. In dieser Zeit kommen auch die zwei Kinder zurWelt. Einige Jahre später verpflichtet sich D. für fünf Jahrebei der Armee. Im Alter von 33 Jahren wandert er mit sei-ner Familie nach Deutschland aus. Nach kurzen Aufenthaltenin zwei Übergangslagern zieht die Familie zunächst in eineheruntergekommene Wohnung, dann in eine Sozialwohnungund schließlich in das selbstgebaute Haus. D. und seine Frauerhalten einen Sprachkurs, welchen er aber schon nach einein-halb Monaten abbricht um arbeiten zu gehen. Er fängt in dernächstgelegenen Stadt als Straßenkehrer an und arbeitet – inhöherer Position – auch heute noch dort. Um das Haus finan-zieren zu können, geht D. einem Nebenjob als Autoschlossernach, in dem er an den Wochenenden schwarz arbeitet. Die-sen hat er vor einem Jahr aufgegeben um der Tochter beimBau des Eigenheims helfen zu können.

4.8.1.1 Strukturelle inhaltliche Beschreibung von aus-gewählten Segmenten aus der Haupterzählungund dem Nachfrageteil

Erzählstimulus und EingangserzählungI: Also wie ja bereits angesprochen geht es um Ihre Le-bensgeschichte, und zwar wie das Leben für Sie war in derSowjetunion und wie es in Deutschland war und heute ist.Also Ihre ganze Lebensgeschichte und ähm, ja erzählen Sieeinfach alles was äh, was Ihnen wichtig ist und was Ihneneinfällt und, und ich werd Sie jetzt erzählen lassen und Sieerstmal nicht unterbrechen und Ihnen einfach nur zuhörenund wenn ich ne Frage habe hab ich diesen Block hier undwerd mir das notieren und werd Sie aber jetzt erstmal nurerzählen lassen und dannH.D.: ( ) bin ich kein großer Erzähler und deswegen mirwäre lieber wenn Fragen und Antworten. Aber ich ( )..I: Fangen Sie einfach mal an und dann ähm.. gucken wirH.D.: Ja gut, (der vierte) geboren bin ich in Kirgistan, Kir-gisien und nach paar Jahre sind wir ausgewandert nachKasachstan. Freiwillig ohne gezwungen und so weiter, da-mals sechsundfünfzich fünfundfünfzich wurd das aufgeho-ben und dann haben die Leute Pässe gekriegt und danndurften sie ausreisen. Und deswegen sind wir nach Ka-sachstan, hat Vater einfach andere Lebensraum gesuchtoder (lacht) Arbeitsraum gesucht, ist dann nach Kasachs-tan ausgewandert.. Dort sind wir, haben wir gelebt bis ichdreiunddreißich wurde ungefähr, ja.So ganz normale, keinegroße Geschichte (S.61, Z.1–23)

Die Reaktion von D. auf die Erzählaufforderung zeigt, dasses ihm unangenehm ist einen großen Redeanteil zu überneh-men und die Auswahl der konkreteren Themen selber vorneh-men zu müssen. »Bin ich kein großer Erzähler…« könnte aucheine vorauseilende Entschuldigung für seine mangelnden Er-zählfertigkeiten sein. Er ratifiziert somit den Erzählstimulusnicht, lässt sich aber auf die erneute Aufforderung der In-terviewerin – eher unfreiwillig – ein. Die daraus resultierteStegreiferzählung und D’s Redeanteil, in dem er die Thematikselber wählt, ist sehr kurz. Anschließend folgen Antwortenauf Fragen der Interviewerin.

Die extrem kurze Erzählung von der Geburt bis zum Al-ter von dreiunddreißig Jahren ist auffällig. Sie umreißt D’sPosition in der Geschwisterfolge und das Geburtsland, die Aus-wanderung der Familie nach Kasachstan und deren Grundsowie die diesbezüglich relevanten politischen Begebenheitenzu jener Zeit. Das Geburtsjahr wird nicht im Zusammenhangder Geburt sondern mit der Passausgabe und der damit ver-bundenen Ausreisemöglichkeit erwähnt. Biographische Anga-ben über die Familie, Schulzeit, Familiengründung, Erwerbs-tätigkeit(en) bleiben vorerst aus. Diese erste Erzählung wirddamit geschlossen, dass D. und seine Familie bis zu seinemdreiunddreißigsten Lebensjahr in Kasachstan lebte, welchesgleichzeitig das Jahr der Auswanderung nach Deutschlandist. Im Anschluss bewertet er seine Geschichte als gewöhnlichund unbedeutend. Diese Bewertung zeigt sich auch im wei-teren Gesprächsverlauf noch sehr häufig und schickt bereitsan dieser Stelle voraus, wie auch alles im Folgenden Gesagtezu beurteilen ist. Zwei Deutungsmöglichkeiten drängen sichdiesbezüglich auf: Die unwichtige Geschichte verweist aufdie Unwichtigkeit ihres Protagonisten; diese Annahme würdeauch darin bestätigt, dass der Passausgabe mehr Bedeutungzukommt, als der eigenen Geburt. Im gesamten Interviewredet D. wenig von sich und gebraucht selten die Ich-Form,stattdessen sagt er häufig »du«, »man« oder erzählt in 1. Per-son Plural. Dem nicht widersprüchlich, aber doch eine anderemögliche Deutung dieser Aussage ist die, dass D. betonen will,dass er und seine Lebensgeschichte nicht herausstechen ausdem, was als normal gilt und für jedermann plausibel ist. Erwill sich nicht als Jemand besonderes bzw. mit besondererLebensgeschichte verstanden wissen, sondern sich einreihenin die vielen ähnlichen Lebensgeschichten anderer Menschen,so wie er sich auch in die Geschwisterfolge als Vierten in dieSchicksalsgemeinschaft der Familie einreiht und dort in die 1.Person Plural eintaucht.

Indem er die Ausreise nach Kasachstan als »Freiwillig ohnegezwungen und so weiter« beschreibt, setzt er bereits im zwei-ten Satz die erste Markierung für eine Schlüsselkategorie, diesich im ganzen Interview durchzieht. Immer wieder argumen-tiert D. dass weder Deutsche seiner Generation in Russland,noch russlanddeutsche Aussiedler in Deutschland irgendei-ner Art »Unterdrückung« oder Benachteiligung ausgesetzt(gewesen) wären. Es ist ihm sehr wichtig zu betonen, dass siekeiner Sonderbehandlung im negativen Sinne unterstandenbzw. unterstehen.

Auswanderungsentscheidung und AntragstellungAuf die erste kurze Erzählung folgen einige temporal nichtverknüpfte Beschreibungen und Argumentationen, denen D.sehr bald seine Aufforderung anknüpft das Thema zu kon-

Page 24: it - Gesellschaftbilder Und Selbstverst Russlanddeutscher Aussiedler in der Sowjetunion und in Deutschland

14 kapitel 4 Empirische Untersuchung

kretisieren (Z. 74). Darauf geht die Interviewerin mit einererzählgenerierenden Frage ein:

Dann, wie, ich mein wie kam es zur Entscheidung dannauszuwandern?H.D.: Wie kam es zur Entscheidung zur auszuwandern, äh..als erste unsere Großmutter, ja gut die Oma von die MamiSeite, Mamas Mutter, die hat immer gesagt, die hat auchkaum Russisch gesprochen, sie hat gesagt: »Irgendwannfahren wir nach Hause.« Und nach Hause war immer nachDeutschland. Ja, und von daher schon von Kindheit warenwir schon so geprägt.. Also das war immer Omas Traum,klar die konnte damals nicht, und konnt das vergessen da-mals konntest du nicht auswandern. Und äh.. dann hat sieaber immer gesagt: »Irgendwann fahren wir nach Hause, ir-gendwann fahren wir nachHause nachDeutschland.« Und..dann ist sie, dreiundsechzig glaub ich gestorben.. dann istandere Oma, von Vater seine Mutti praktisch, die ist zu unsgezogen und sie hat auch immer geträumt von Deutschland,und dann Jahre.. oh achtundsiebzig oder so was ja, ist dieOma nach Deutschland gezogen hier, nach DDR.I: Hm hm.H.D.: Dann ist sie nach Deutschland gezogen und dannim Jahre… neunundsiebzich oder achtzich wir wolltenauch nachziehen, also unsere Familie, ganze Familie nachDeutschland. Äh, die Oma hat uns Einladung geschicktoder sowas, wir haben damals erste mal Antrag gestelltund das wurde uns abgelehnt, gleich total, uff Ausspracheoder wie, auf jeden Fall auf abgelehnt und haben gesagt:»Nee, die Familien mit Mädchen« zum Beispiel »oder garkeine Kinder haben, die dürfen ausreisen, die Familien mitviel Jungs dürfen nicht ausreisen.« War so ne unoffizielleAussage ja, warum auch immer. Das hat man damals ge-sagt. Und damals wurde uns abgelehnt Antrag, achtzicheinundachtzich haben wir Antrag gestellt ja zum erstenMal. Und da wurde alles abgelehnt total, und dann erst imachtundachtzich oder sowas hat die Oma dann schon überandere Wege und so weiter wieder Antrag geschickt unddann hat’s geklappt.I: Hm.H.D.: Aber auch, was heißt geklappt ja auch.. hehe sagtman so (schwarze Gänger) bisschen beigeholfen, mal da Be-kannte mal da und so weiter, deswegen (7). (S.62, Z.74–112)Der zitierte Abschnitt stellt die Auswanderungsentschei-

dung und die wiederholte Antragstellung bis zur Bewilligungdar.

Auf die Frage, wie es zur Entscheidung kam auszuwandern,rekurriert D. auf den Wunsch seiner Großmutter – zunächstmütterlicherseits. Er führt sie ein als »die Oma von die MamiSeite, Mamas Mutter, (…), die hat auch kaum Russisch gespro-chen.« Die familiäre Bezeichnung »Oma« und »Mami« bzw.»Mama« deutet auf ein warmes innerfamiliäres Klima undeine gute Beziehung zu diesen Frauen seiner primären Sozia-lisation. Insbesondere die Großmutter, die bis zu ihrem Todim Jahre 1963 bei der Familie lebt, hat auf das damals sechs-jährige Kind einen stark prägenden Einfluss, was die Ausreisenach Deutschland und vermutlich auch die Identität und dasGefühl der Zugehörigkeit zum deutschen Volk anbetrifft. D.ist sich dieser Prägung bewusst: »Ja, und von daher schon vonKindheit waren wir schon so geprägt« (Z. 81–82). Ihre gerin-gen Kenntnisse der russischen Sprache und der Gebrauch der

deutschen (an anderer Stelle wird dies explizit gesagt) verwei-sen auf eine starke Orientierung an der deutschen Nationalitätund damit einhergehend wahrscheinlich auch auf weitere Pra-xen deutscher Kultur, die sie an ihre Enkel weitergibt. DenTraum der Großmutter in die Heimat Deutschland auszurei-sen, wiederholt D. drei Mal in stets demselben Wortlaut. Erinternalisiert den von der Großmutter unrealisierten Wunschund lässt ihn, auch später als Erwachsener, unhinterfragt zumeigenen werden. Dies bestätigt sich in der späteren Aussage:»Aber trotzdem sag ich doch von Omas Zeiten noch wir fah-ren nach Deutschland ( ), das war einfach drin, da hat keinerwidersprochen oder so was« (Z. 564–566). Die Tatsache, dasssie davon spricht »nach Hause« und nicht nach Deutschlandzu fahren offenbart, dass sie ihr Leben in Kasachstan als einVerweilen in der Fremde wahrnimmt und damit als eine ge-fühlte Heimatlosigkeit, die sie an die Enkel weitergibt. DieGroßmutter väterlicherseits führt dieses Vermächtnis fort undwird, indem sie die tatsächlich ausreist, zum Vorbild. 1979oder 1980 schickt sie der in Kasachstan zurückgebliebenen Fa-milie die erste Einladung nach Deutschland. Daraufhin wirdder erste Antrag auf Ausreise gestellt, der aber sofort abge-lehnt wird. Der vermutete Grund für die Ablehnung ist dielandläufige Annahme, dass insbesondere Familien mit Söh-nen die Ausreise verweigert wird. Ein solches »Hindernis«ist aber auf keinem Wege zu beseitigen. D. wiederholt in die-ser kurzen Passage viermal die Ablehnung des Antrags, zweimal davon bekräftigt er, dass »alles« und »total« abgelehntwurde. Möglicherweise lassen ihn das unumgehbare »Hin-dernis« und die totale Zurückweisung seitens der Behördenzunächst resignieren, denn der nächste Versuch erfolgt erstsieben Jahre später. In dieser Zwischenzeit verpflichtet sichD. auf fünf Jahre bei der Armee, fünf Jahre in denen er mitSicherheit nicht wird ausreisen können. Vielleicht ist nach derherben Enttäuschung der Traum erstmal aufgegeben und D.konzentriert sich nun auf die Verbesserung der aktuellen Le-benslage durch den Eintritt in die Armee (bessere Bezahlung).Darüber gibt er allerdings keinerlei Auskunft; er schließt demMisserfolg sofort die erfolgreiche Antragstellung an. Dieserhilft D. auf nicht ganz offiziellem Wege, durch das Nutzenseiner Beziehungen, nach. Der Erfolg wird nicht allein durchandere – die Zustimmung der Behörden – hervorgebracht, erkommt nicht passiv über die Familie, vielmehr nimmt D. seinSchicksal in die Hand und kann sich den positiven Ausgangletztlich ein Stück weit selber zuschreiben. Dies kommt darinzum Ausdruck, dass es nicht nur »geklappt« hat, sondern dasser auch »bisschen beigeholfen« hat.

Erste prägende Erfahrung in DeutschlandNachdem D. die Umstände bei der Ausreise beschreibt; daswenige Geld, das die Familie mitnehmen durfte, den vorausge-schickten Container mit Gebrauchsgegenständen, die strengenZollbedingungen und die zwei Stationen der Übergangslager,in denen die Familie insgesamt drei Wochen verbringt, erzählter von seiner Erfahrung in der ersten Wohnung in Deutsch-land.H.D.: Dann hat der Bruder hier Wohnung gemietet füruns. Und dann hat er uns abgeholt, sind wir nach Rülzheimund dann nach einem Jahr nach Speyer gezogen. Als wir daankamen, haben wir eigentlich super angefangen, damalswar grad die Zeit äh sind viele eingereist, da war auch

Page 25: it - Gesellschaftbilder Und Selbstverst Russlanddeutscher Aussiedler in der Sowjetunion und in Deutschland

Analysen 15

Schwierigkeiten mit derWohnung sowieso. Und der Bruderhat in Rülzheim eine ältere Wohnung so gefunden, habenwir viel erlebt, als wir kamen natürlich haben wir, unsereContainer mit der Bettwäsche und so weiter waren nochnicht da, und dann haben wir vom Rathaus so paar Bettegekriegt undMatratzen, undMatratze ja, und haben wir dieBette aber nicht aufgestellt weil das war altes Zeug aus demKeller mit entsprechendem Geruch und Aussehen natürlich,und sind wir einfach auf den Matratzen hingelegt und aufdem Boden geschlafen. Da waren wir, ein Jahr haben wirgelebt ja, circa ein Jahr haben wir gelebt in Rülzheim undda waren Ratten alles Mögliche, das war alte Wohnungmit Holzboden und als wir dann in einem Zimmer Bodenaufreißen, aufrissen da waren Rattennester.I: AhhH.D.: Das war eklich, ganz ehrlich. Meine Frau hat damalsschon gesagt: »Hätten wir noch was in Russland gehabt,hätten wir hätte ich sofort zurückgefahren.« Also so was ek-liges weißt, dort eigentlich habenwir ganz gut gelebt, durch-schnittlich oder überdurchschnittlich ein bisschen, habenwir beide gearbeitet wie jeder andere, haben nicht schlechtverdient und war alles okay und hier in so ein Loch rein-zukommen das war schon ein bisschen hart. Aber okaywir haben dort Stricke abgeschnitten, Haus, Auto verkauft,alles verkauft, natürlich Geld haben wir da gelassen, waswillst damit anfangen? Da war noch die Verwandtschaftvon der Frau da, haben wir alles da gelassen. Wie gesagtbloß mit vierzig Rubel dahergereist. Und äh.. ja… da habenwir was erlebt in der Wohnung, aber ich finde das auch gutso, das wir so angefangen haben, so schlecht.Wir haben unslangsam, dann sind wir ein Jahr da gewohnt in Rülzheim,waren noch Schwiegereltern dabei.. (S.63, Z.140–174)Diese Erzählung ist im gesamten Interview die einzige, die

so detailliert wiedergegeben wird, sodass ihr eine gewisse Be-deutung eingeräumt werden kann. Zu späterem Zeitpunktwird noch einmal in einer Argumentation darauf Bezug ge-nommen (Z. 689–707). Es ist das erste prägende Erlebnis in derlang ersehnten »Heimat« welches einen dramatischen Anfangnimmt. Für D. und seine Familie ist es ein harter Schlag ineiner alten Wohnung mit Ratten und auf Matratzen auf demFußboden schlafend hausen zu müssen, nachdem sie einen»überdurchschnittlich(en)« Lebensstandard in Kasachstan ge-nossen haben. Als sie die Rattennester entdecken erreicht diebedrückendeWohnsituation ihren Höhepunkt, die in demAus-ruf der Ehefrau, sofort die Rückreise antreten zu wollen, wennsie nur die Möglichkeit dazu hätte, dramatisch zugespitzt wird.An dieser Stelle wird nicht deutlich, ob D. selber diese Mei-nung hundertprozentig teilt; er beschreibt nur pragmatisch dieUnmöglichkeit ihrer Realisierung. Sicher ist wohl aber, dassauch ihn die Situation hart trifft, die er in der Retrospektiveverharmlost: »… und hier in so ein Loch reinzukommen daswar schon ein bisschen hart«. Gleich zu Beginn der Erzählungevaluiert er die folgenden Geschehnisse gleichermaßen iro-nisch und doch auch so gemeint, wie gesagt: »… haben wireigentlich super angefangen…« Letzteres bestätigt sich in derabschließenden Evaluation: »… aber ich finde das auch gut so,das wir so angefangen haben, so schlecht.« Diese ist das Ergeb-nis seiner rückblickenden Betrachtung aus der heutigen Sicht.Heute kann er so eine Erfolgsgeschichte ›von unten nach oben‹erzählen, als jemand der ›es geschafft‹ hat und es seiner An-

strengung zu verdanken hat, getreu seiner Devise »wer wasmachen will, der macht was aus sich« (Z. 244). die er im Zu-sammenhang mit der Erfolgsgeschichte seiner Schwester auf-stellt. Er hat seine Lage gleich richtig einzuschätzen gewusst(als gute Ausgangslage, die verbessert werden kann und nichtals solche, die nur bemitleidenswert und unveränderbar wäre),ist entsprechend aktiv geworden und »so langsam langsamhochgestiegen« (Z. 704). Ganz anders also als diejenigen, diesich zunächst überschätzen, daraufhin ›absteigen‹ und folglich»mosern« und unzufrieden sind (Z. 694–706). Die Geschichtevermittelt, dass sich D. durch widrige Umstände nicht unter-kriegen lässt sondern diese vielmehr als Herausforderung undMöglichkeit begreift sie durch aktives Handeln (harte Arbeit)zu etwas Positivem zu wenden.

Sprachkurs und ArbeitsaufnahmeD. schildert dann den Start der Kinder in Schule und Kinder-garten sowie den Beginn der Sprachkurse für ihn und seineFrau. Diesen bricht er nach kurzer Zeit ab, um arbeiten zu ge-hen: »War aber ein tappischer Lehrer, hat er nix beigebracht,deswegen war das verlorene Zeit, hab ich lieber Bewerbun-gen geschrieben, hab ich Job gefunden, bin ich gleich arbeitengegangen, obwohl ich Deutsch, na die Sprache war noch natür-lich ganz schlimm…« (Z. 180–184). So schnell es geht werdennun die Vorkehrungen getroffen, um sich aus der unerträgli-chen Situation zu befreien. Dabei steht der Erwerb finanziel-ler Ressourcen vor dem Spracherwerb, wenngleich Ersteresmittels einer Arbeitsstelle erreicht wird, die allein Mittel zumZweck ist und die D. zumindest unangenehm ist, da er sich da-für rechtfertigt: »Als Straßenkehrer (lacht verlegen) ja bin ichgegangen, ja dat is mir egal was und so weiter, ich geh arbeitenich kann das nicht mehr aushalten nix machen und so wei-ter« (Z. 192–195). Für den Spracherwerb lohnt es sich offenbarnicht, die Unannehmlichkeiten auf sich zu nehmen (den Leh-rer zu ertragen, wie seine Frau es getan hat; vgl. Z. 608–611),sein Nutzen ist nicht so unmittelbar wie der der Arbeitsauf-nahme. Vielleicht ist ihm auch das Lernen der Sprache imVergleich zur Arbeit als Straßenkehrer unverhältnismäßigschwerer gefallen. Ein Beleg dafür könnte sein, dass er an an-derer Stelle im Zusammenhang des Sprachelernens von seinerFrau sagt: »… Deutsch konnte sie mehr als ich. Frauen sindsowieso schlauer« (Z. 611). Der Wert guter Sprachkenntnissewird ihm wahrscheinlich später bewusst; während der Be-schreibung der Gegebenheiten am Arbeitsplatz (Z. 195–222)thematisiert er größtenteils was in die Schlüsselkategorie »Un-terdrückung« gefasst werden kann, dabei zieht er auch eineVerbindung zu guten Sprachfähigkeiten:

Undwegen der Aussprache natürlich klar, das hört man undFehler sind da, die kann man nicht mehr beheben (lacht).Hoffen wir bloß das das bei den Kindern anders ist. Najaaber, siehst du ein bisschen fühlst du dich schon unterdrückt,du gewöhnst dich langsam daran, aber irgendwo ist dochwas.. weil solang du nix sagst vielleicht naja gut und (essieht man auch), solang du nix sagst undwenn du Ro,Mundaufmachst hörst das du nicht da geboren bist (lacht verle-gen). (S.63, Z.212–220)

Beruflicher Werdegang in KasachstanNach der Aufforderung etwas über seine Schulzeit zu erzählenund der Frage nach der Entscheidung für das Technikum, be-

Page 26: it - Gesellschaftbilder Und Selbstverst Russlanddeutscher Aussiedler in der Sowjetunion und in Deutschland

16 kapitel 4 Empirische Untersuchung

schreibt D. sehr kurz seine Schulzeit und erzählt anschließendvon seinem beruflichen Werdegang in Kasachstan.

I: Hm. Und wieviel Klassen haben Sie da gemacht?H.D.: Ich hab acht Klassen gemacht und dann bin ichin Technikum gegangen. Noch vier Jahre in Technikum,Landwirtschaft Technik da studiert oder gelernt.I: Hm. Und wie kam die Entscheidung das Technikum dannzu machen?H.D.: Hmhmhm, das weiß ich nicht, wie die Entscheidungwar, das war einfach so, mein Vater hat immer in der Land-wirtschaft Firma gearbeitet und irgendwie, man konnte nixanderes, ich weiß nicht, war ich Technik begabt, also mitAutos und Traktoren hab ich gern was gemacht und deswe-gen sind so die Hände, Bruder war dort noch, und das hatmich auch hingezogen, wir haben in der Nähe so, in demnächsten Dorf auch dem Technikum gehabt, war nicht soweit hier. Wahrscheinlich das alles zusammen. Und studie-ren wollt ich nicht, weil so begeistert von der Schule warich auch wieder nicht (lacht).I: (lacht) Hm.H.D.: Und deswegen, bin ich zu Technikum, und danachwieder auch in der Firma wo der Vater gearbeitet hat, daswar die größte Landwirtschaft Firma bei uns, waren nochpaar, aber dort war unser Vater, das hat man jeden gekenntund so weiter, dann bin ich auch dahin. Hab ich dort paarJahre gearbeitet und dann wie gesagt hab ich mich für fünfJahre verpflichtet in die Armee. Da war ich fünf Jahre da.I: Und, Sie wurden aber einberufen oderH.D.: Nee, freiwillig.I: Sie haben aufgehört zu arbeiten und sind in die Armee?H.D.: Ja.I: Und wie kam das?H.D.: ( ) Truppental, das Truppental war bei uns im Dorfpraktisch, hab ich auch die Jungs gekennt, und da war gradso eine Stelle frei, mit meinem Beruf was ich (gern) machund so weiter und was ich bei der Armee in Pflichtzeitgelernt hab, da war die Stelle frei und da hab ich michbeworben.I: Hm.H.D.: Hab ich eigentlich, ja gut äh, man kennt sich in derStadt so, da bin ich eigentlich locker reingekommen. (S.65,Z.393–430)D. absolviert acht Klassen und erreicht damit den niedrigs-

ten Schulabschluss sowie die Voraussetzung für den Besuchdes Technikums, das auf landwirtschaftliche Technik speziali-siert ist. Die Entscheidung für diesen Werdegang wird nichtbewusst und nach Abwägung der Möglichkeiten getroffen,was sich in D’s zögerlichen Antwort auf die Nachfrage zeigt:»Hmhmhm, das weiß ich nicht, wie die Entscheidung war, daswar einfach so… .« Vielmehr sind es die praktischen Umstände,dass sein Vater und sein Bruder bereits in dem nahe gelegenenlandwirtschaftlichen Betrieb arbeiteten und das Technikum imnächsten Dorf liegt, die bei der Ausbildungswahl ausschlag-gebend sind. Dieses Entscheidungsmuster setzt sich weiterfort, als er in demselben Betrieb anfängt, in dem auch seinVater arbeitet und in dem »man jeden gekennt« hat. Ebensoist das Truppental praktisch nah, D. kennt dort bereits Leuteund es wird gerade eine Stelle frei, die das erfordert, was ergelernt hat. Wahrscheinlich ist das Gehalt bei der Armee auchhöher, was aber D. nicht explizit erwähnt. Es sind also pragma-

tische Gründe die ihn bei der Berufswahl leiten. Zwar bringter auch das Argument der Begabung und Vorliebe für Autosund Traktoren an; dies erscheint aber – betrachtet man dieSatzkonstellation – eher unglaubwürdig: »… mein Vater hatimmer in der Landwirtschaft Firma gearbeitet und irgendwie,man konnte nix anderes, ich weiß nicht, war ich Technik be-gabt, also mit Autos und Traktoren hab ich gern was gemacht…« Die Begabung steht jedoch unter dem vorausgeschicktenZweifel »ich weiß nicht« und der Erklärung »man konnte nixanderes«, die erahnen lässt, dass andere Rahmenbedingungenwomöglich eine andere Begabung hervorgebracht hätten.

Eine andere Möglichkeit, die ihm zumindest theoretisch zurVerfügung stand, die seine Schwester auch wahrgenommenhat – das Studium an einer Universität – schließt er mit denWorten: »Und studieren wollt ich nicht, weil so begeistert vonder Schule war ich auch wieder nicht (lacht)« aus. Er scheintes jedoch in Erwägung gezogen zu haben – wahrscheinlichaufgrund des Vorbilds seiner Schwester – und meint sich fürdie Entscheidung gegen das Studium rechtfertigen zu müssen.D. versucht aber seine Ausbildung im Technikum, das er ananderer Stelle als »Berufsschule oder so was oder (Hochschul)oder wie« (Z. 31) übersetzt, dem Studium (der Schwester) ander Universität gleichzusetzen oder zumindest anzunähernwenn er davon spricht im Technikum vier Jahre »studiert odergelernt« zu haben.

Kennenlernen der EhefrauIn einem auffällig kurzen Absatz erzählt D. auf Nachfragevom Kennenlernen der Ehefrau.

H.D.: Äh die Frau hab ich zufällig mal gesehen und dann,die wohnte im gleichen Dorf, in die gleiche Stadt hat siegelebt. Bloß, ich hab gedacht ich kenn jedem aber die habich später entdeckt.I: (lacht) Hm.H.D.: Na hab ich gesehen und dann, ja…unsere beide Fami-lien waren in einer Stadt gelebt, hab ich zufällig getroffen..haben wir geheiratet (lacht).I: (lacht) Ihre Frau ist auch Deutsche?H.D.: Ist auchDeutsche ja. Ja gut war auch, es kam auchniein die Frage irgendwas anders bei zu heiraten oder sowas.(S.65, Z.488–498)Auch in diesem Lebensbereich scheint er nach einem ähn-

lich pragmatischen Auswahlprinzip vorzugehen wie bei derBerufswahl. Die Frau, die er »zufällig« sieht, lebt in seinergeographischen Nähe und ist deutscher Abstammung, derenWichtigkeit D. in der nachstehenden Argumentation deutlichmacht; eine russische oder kasachische Frau wäre ganz un-denkbar gewesen. Bei diesem eigentlich emotionalen Themakommt D’s Erzählung ganz ohne emotionale Begrifflichkeitenaus. Vielleicht ist es D. unangenehm der Interviewerin von ei-ner doch so persönlichen Erfahrung zu erzählen, sodass er sichentsprechend kurz fasst und sich nur auf die aus seiner Sichtnötigsten Angaben beschränkt. Diese sind neben der örtlichenund ethnischen Herkunft (letzteres nach Nachfrage), dass D.seine heutige Ehefrau »zufällig mal gesehen« hat, daraufhindie Feststellung macht, dass er, anders als gedacht, doch nichtalle im Dorf kennt, dass beide Familien in derselben Stadtleben und sie dann heiraten, nachdem er noch mal betont,dass er sie »zufällig« getroffen hat. D. beschreibt dabei nurseine Perspektive; er sieht sie, er entdeckt sie, er trifft sie. Die

Page 27: it - Gesellschaftbilder Und Selbstverst Russlanddeutscher Aussiedler in der Sowjetunion und in Deutschland

Analysen 17

Reaktion der »Frau«, wie er sie hier unpersönlich nennt undspäter mit »die« bezeichnet, wird nicht berichtet. Wiederholtspricht er in diesem Zusammenhang von Zufall. D. könnte da-mit ausdrücken wollen, dass er nicht gezielt auf Partnersuchewar, sondern nur »zufällig« und unerwartet eine Frau trifft,die ihm gefällt und seine Ansprüche erfüllt. Denkbar wäreauch, dass er mit dieser Wiederholung seine Überraschungbetont, auf eine Person aus seinem Dorf zu treffen, die er bisdahin noch nicht kannte. Anders als bei der Findung seinerArbeitsstellen, an die er über Beziehungen gelangt, lernt erseine Frau nicht über Bekannte, Freunde oder Familie kennen.Aber ähnlich wie bei dieser scheinen es die »praktischen« Um-stände zu sein, die ihn zu der Entscheidung bewegen, die ihm›über den Weg gelaufene‹ Frau zu ehelichen.

4.8.1.2 Wissensanalyse

»Unterdrückung«Das wohl zentralste Thema, das sich durch das gesamte In-terview zieht ist das der Unterdrückung. Obwohl seitens derInterviewerin in keinster Weise nach diesem Thema gefragtwird und es auch in der Unterhaltung vor Beginn des Inter-views unerwähnt bleibt, ist es für D. sehr relevant. Möglicher-weise glaubt er, dass dies die eigentliche Fragestellung hinterdem so allgemein gehaltenen Erzählstimulus ist. Da die Inter-viewerin im Gesprächsverlauf die Thematik nicht fördert, D.aber immer wieder von selber darauf zu sprechen kommt, istsie eindeutig allein seiner Relevanzsetzung geschuldet.

Das Thema führt D. bereits in seinem zweiten Satz ein, alser die Freiwilligkeit der Ausreise des Vaters nach Kasachstanbetont, darauf folgen nachstehende Aussagen, die alle ausdem kurzen Hauptteil stammen (und ihn fast komplett aus-machen), dessen Thematik er, innerhalb der Vorgabe seineLebensgeschichte zu erzählen, frei wählt:

[…] was besonders was, was als Deutsche in Kasachstanoder so was als Unterdrückung oder so was, hat man prak-tisch nix gemerkt, ja gut zwischen den Jungs bloß so hatman gehetzt ein bisschen, das du Deutsche warst oder bist.Aber sonst, (ist) eigentlich kein großer Unterschied, deswe-gen sag ich auch die Schwester hat, manche sagen: »Wurdeman da unterdrückt, als Deutsche kannst du nicht studie-ren«, oder sowas. Find ich alles Quatsch, weil Beispiel un-sere Familie die Schwester älteste, die war gut in die Schule,hat auch Studium gemacht ohne Probleme.I: Hm.H.D.: Hm. Gearbeitet pff, Job, wegen Job auch kein Pro-blem war, also keine Unterdrückung als Deutscher odersowas. Haben wir eigentlich ganz gut gelebt, wir waren inso einem Dorf oder Stadtmitte, so wie Kreisstadt ungefährmit dreißich tausend Einwohner… hm, eigentlich ( )meinLeben keine große Geschichte. Letzte Zeit hab ich sogarbei der Armee da gearbeitet, als Deutscher war auch keinProblem.I: Hm.H.D.: Als Einzigste, als ich in der Armee war, als Pflicht,Pflichtdienst, und dort dürfen die.. nicht, ich hab eigentlichwar ich in so eine Schule und dann wollten sie uns in Aus-land, was heißt Ausland, damals war Tschechei DDR undso weiter, und wir als Deutsche dürfen nur direkt in Russ-land, Ukraine oder Kasachstan so, nach DDR zum Beispiel

oder Tschechei dürfen wir nicht.I: Hm.H.D.: Das war bei mir sogar persönlich passiert, ich warin der Schule gut, in der Armee und aus Versehen wolltendie mich, also die Besten waren dann ausgewählt für Aus-land praktisch, also Tschechei und DDR, und dann habensie mich noch rechtzeitig gestoppt (lacht) (andere gehenlassen). Da sind die Deutschen nicht rausgekommen, ichweiß nicht warum wie auch immer. Aber auf jeden Fall,das war einzigste Unterschied, sonst kein Problem. Und beidie Kinder sowieso nicht, also, weil wir sind da geboren,wir haben auch Sprache hundertprozentich gekannt klar, sowie deine Eltern wahrscheinlich auch. Und… ne, war allesokay… (S.62, Z.35–72)D. orientiert sich bei der Auswahl der Themen fast aus-

schließlich an seiner Leitkategorie »Unterdrückung« bzw.»Nicht-Unterdrückung«. Er belegt diese mit seinen Erfahrun-gen in Kasachstan aus unterschiedlichen Lebensbereichen; sowaren in den Bereichen Bildung und Arbeit Deutsche kei-nerlei Einschränkungen oder Benachteiligungen ausgesetzt,sogar in der Armee durfte er arbeiten. Hier wurde ihm aller-dings der Auslandseinsatz aufgrund seiner ethnischen Zuge-hörigkeit verweigert, was D. als »einzigste[n] Unterschied«aber nicht als »Unterdrückung« deklariert. Auch das »Hetzen«»zwischen den Jungs«, das hier wohl als nicht ernst gemeintesAnstacheln zwischen Jugendlichen verstanden werden kann,ist in D’s Augen harmlos. Zuletzt bekräftigt er das Nichtvor-handensein von »Unterdrückung« mit seiner Logik eines kau-salen Zusammenhangs: ›Im Land geboren sein‹ sowie das Vor-handensein ›hundertprozentiger Sprachkenntnisse‹ hat dasAusbleiben von »Unterdrückung« zur Folge.

Das nächsteMal kommtD. auf »Unterdrückung« im Zusam-menhang der Beschreibung seiner Arbeitsstelle in Deutsch-land zu sprechen:

Und äh, hab ich angefangen ja erstmal, zwischen Arbeits-kollegen war, sag ich, keine Unterdrückung oder sowas,weil als ich kam waren nur Einheimische in dem Betrieb,wir waren circa zwanzich Mann im Betrieb und äh warennur Einheimische. Und gelacht oder sowas hat keiner und…inzwischen bin ich ja bisschen gewachsen, bin ich in demgleichen Betrieb schon seit zwanzich Jahre fast, na jetzt istüberhaupt kein Problem klar, aber gab’s auch keine Unter-drückung. Natürlich.. was ich, was ich nicht mag, sagenwir egal was du machst oder bist, ja keine Unterdrückungoffene aber gegen Russe haben sie doch was, Russ bleibstdu Russ, oder bist von Russland bist du Russe, die machenkeine Unterschiede große zwischen Russen und Aussiedleroder so, Deutschrussen und so weiter. Intelligente Leutemachen schon Unterschied, die wissen bescheid, die sagenauch nicht was aber normale so Arbeiter manchmal kommtauch doch raus. Beim Streit oder sowas weißt du, und dannkommt doch raus das du aus Russland bist, vergessen tutdas Keiner. Und wegen der Aussprache natürlich klar, dashört man und Fehler sind da, die kann man nicht mehrbeheben (lacht). Hoffen wir bloß das das bei den Kindernanders ist. Naja aber, siehst du ein bisschen fühlst du dichschon unterdrückt, du gewöhnst dich langsam daran, aberirgendwo ist doch was.. weil solang du nix sagst vielleichtnaja gut und (es sieht man auch), solang du nix sagst undwenn du Ro, Mund aufmachst hörst das du nicht da geboren

Page 28: it - Gesellschaftbilder Und Selbstverst Russlanddeutscher Aussiedler in der Sowjetunion und in Deutschland

18 kapitel 4 Empirische Untersuchung

bist (lacht verlegen).I: (lacht) Hm.H.D.: Aber so allgemein ist kein Problem… Eigentlich(lacht). (S.63, Z.195–222)Hier geht D. stärker auf die zwischenmenschliche Ebene

der »Unterdrückung« ein: Obwohl er der einzige Aussiedlerist, und dazu noch mit sehr schlechten Sprachkenntnissen, la-chen sie ihn nicht aus. Diese offene Form der »Unterdrückung«hatte D. vielleicht erwartet, sie bleibt aber aus. Vielmehr sindes die unterschwelligen Formen der »Unterdrückung« die D.schließlich doch einräumen muss. In welcher Art sich dieseäußern, erwähnt er nicht und kann sie wahrscheinlich in ihrerUnbestimmbarkeit auch nicht in Worte fassen; er beschreibtsie als Gefühl: »ein bisschen fühlst du dich schon unterdrückt,du gewöhnst dich langsam daran, aber irgendwo ist dochwas.. .« Grund der »Unterdrückung«, der im Streit mit denKollegen (»normale so Arbeiter«) erkennbar wird, ist die Her-kunft aus Russland und damit einhergehend die falsche Aus-sprache sowie grammatikalische Fehler. Sie verstehen D. alsRussen und »gegen Russe haben sie doch was«, ganz im Ge-genteil zu »intelligenten Leuten«, die den Unterschied zwi-schen Russen und russlanddeutschen Aussiedlern kennen undsomit wissen, dass D. als deutscher Staatsangehöriger keineAngriffsfläche für »Unterdrückung« bietet, so D’s Perspek-tive. In Deutschland gilt in D’s Verständnis nicht länger dieFormel: ›Im Land geboren sein‹ und das Vorhandensein ›hun-dertprozentiger Sprachkenntnisse‹ führt zum Ausbleiben von»Unterdrückung«, wie er sie für sein Leben in Kasachstan pos-tuliert. In der Bundesrepublik ist es die Zugehörigkeit zumdeutschen Volk, die den Grund für das Ausbleiben von An-feindungen oder Benachteiligungen stellen soll (dies bestätigtsich auch an einer später ausgeführten Stelle). Allerdings istdieser nicht für jedermann so leicht zugänglich und auf An-hieb erkennbar wie zum Beispiel Sprachfertigkeiten, sodassvon ›nicht intelligenten‹ Leuten ebenfalls nicht auf Anhieberkennbare, latente »Unterdrückung« ausgeht. Sie beschränktsich hauptsächlich auf die zwischenmenschliche Ebene und istso verhüllt, dass D. sie nur kurz erwähnt, um dann doch wie-der zu dem zurückzukehren was er so gern glauben will undauf struktureller Ebene wohl meistens auch zutrifft: »Aber soallgemein ist kein Problem… Eigentlich (lacht).«

In der anschließenden Passage bestärkt D. wieder das Nicht-vorhandensein von »Unterdrückung« auf struktureller Ebeneund stellt sogar den Vorteil von Aussiedlern heraus:

Und eigentlich von der Familie.. sind alle gut hier, ein Bru-der ist ja selbstständig, der hat Küchengeschäft.. der jüngste,ist gut ja. Zwei Brüder arbeiten auch.. handwerkliche Be-rufe aber okay sind zufrieden. Also war kein Nachteil weil,die, Aussiedler oder Deutsche sind manchmal doch hand-werklich geschickter wie, sagen wir Einheimische hehe oderdie reine Russen so, sagen wir. Die Aussiedler können et-was handwerklich mehr, also sind geschickter, egal wo dunimmst, egal ( ). (S.63, Z.223–230)In Bezug auf die Geschicklichkeit in handwerklicher Arbeit

grenzt er Aussiedler gegenüber »Einheimischen« und »reineRussen« sogar ab und stellt sie positiv heraus.

Auch am Beispiel seiner Schwester, die in Deutschland Kar-riere gemacht hat, demonstriert er, dass sie es als Aussiedlerin›geschafft‹ hat: »hat sie sich hochgesteigert langsam in derFirma und dann haben sie sie als Direktorin dahin geschickt.

Also auch kein Nachteil, sagen wir mal so, komplette Unter-drückung oder so weiter. Wenn jemand was will das aus sichmachen dann macht er auch« (Z. 261–265).

An späterer Stelle kehrt D. – nach 15 Sekunden Stille – wie-der zu dem Thema zurück, das ihn so sehr beschäftigt: »Aberso wie gesagt… hier sagen wir, das du unterdrückt warst, nee«(Z. 360), und bezieht sich dabei auf Kasachstan. Er zieht hiereinen Bogen von seiner Jugend bis zum Erwachsenenalterkurz vor der Ausreise (vgl. Z. 360 ff) und bilanziert diese Zeit,also sein ganzes Leben in Kasachstan mit folgenden Worten:»Sag ich doch keine offizielle Unterdrückung oder so was, aufjeden Fall hab ich so was nicht gemerkt..« (Z. 377–378). WennD. im oben gezeigten Zitat sagt: »hier sagen wir«, könnte dieszweierlei bedeuten. Erstens wird die Beurteilung aus heuti-ger Sicht (in Deutschland) in der Retrospektive beurteilt undzweitens besagt das »wir«, dass D. nicht alleine so denkt unddie Aussage womöglich das Ergebnis gemeinsamer (mit wembleibt unklar) Überlegungen ist. Beide Punkte beeinträchti-gen ihren Wahrheitsgehalt; D. könnte früher anders gedachthaben als heute und würde vielleicht auch heute anders den-ken, wenn er dabei von anderen Meinungen unbeeinflusstgeblieben wäre.

Die folgende Passage ist für das Unterdrückungsthema zen-tral; sie zeigt den Wendepunkt der bisherigen Argumentati-onslinie – von »keine Unterdrückung« zum »schlimmste[n]Heimatlose[n]«.H.D.: Jaa, ich hab doch gesagt, nach außen merkst dunix, nach außen ja. Dir sagt direkt ins Gesicht nicht oderwenn du in der, in die Verwaltung kommst, sagt dir keinerins Gesicht: »Du bist ein scheiß Faschist oder sch ein Deut-scher.« Grob, grob, offiziell nicht, hinten rum ja. Und dasmerkst du hier, auch hier in Deutschland du merkst, hiersagt ja auch keiner offiziell ins Gesicht: »Du bist Russ, dukriegt das nicht oder du darfst das nicht«, oder sowas weißt»Du bist aus Russland«, sagt keiner offiziell.. Aber irgendwohängt das bei jedem. Irgendwie merkst du doch, weißt dasäh Abstand irgendwie halten oder.. das die Leute, ich weißnicht, wenn äh zum Beispiel für die Einheimische meinerMeinung nach derTürk der hier geboren ist, ist näher alswir, komischerweise, für die Einheimische hehe. Der hiergeboren ist, der spricht deutsch, der ist zu dene näher alswir, die Eingereiste…I: Hm.H.D.: … Das irgendwie, es ist keine Unterdrückung, nein,aber irgendwie merkst du immer das das bleibt, das istauch immer da. Du merkst, also in sich merkst du das du,das du nicht vollständig dahergehörst. Wir sind eigentlichschlimmste Heimatlose. Weil nee, das ist so, weil richtigeHeimatlose, weil dort haben wir, haben gesagt: »Hey du bistFaschist, fahr doch nach Hause! Du bist Deutsche fahr dochnach Hause, ja. Verschwinde!« Und hier fragen sie:»Warumbist du gekommen, du gehörst hier nicht her!« Hehe.I: Hehehe, ja, das ist wohl so.H.D.: Ja. VonAnfang hab ich nochGeschichte erzählt: »Wirsind doch Deutsche, alle Verwandte sind Deutsche und soweiter.« Und jetzt hab ich aufgehört. Bringt nix! (4) (S.66,Z.526–554)Nach erneuter Nachfrage seitens der Interviewerin wie es

zu der Ausreiseentscheidung kam, obwohl die Familie ihr Le-ben in Kasachstan doch fest gegründet hatte, bricht es aus D.

Page 29: it - Gesellschaftbilder Und Selbstverst Russlanddeutscher Aussiedler in der Sowjetunion und in Deutschland

Analysen 19

heraus. Um seiner bisherigen Argumentationslinie, in der erimmer wieder betont, dass ihm bis auf wenige, unerheblicheAusnahmen keine »Unterdrückung« widerfahren ist, nicht(komplett) zu widersprechen, hebt er zunächst hervor (aucham betonten Sprechen erkennbar), dass sie nicht »nach au-ßen« sichtbar ist und nicht »offiziell« vonstatten geht. Den-noch erlebt D. »Unterdrückung«; in einer Form, die äußerlichnicht an Fakten festgemacht werden könnte, die er jedochinnerlich ganz klar spüren kann, sowohl in Kasachstan alsauch in Deutschland. Sie ist in dieser Passage keine unwe-sentliche Ausnahme sondern letztlich auch ein entscheidenderGrund für die Ausreise. Dennoch zögert er das geschilderteErleben als »Unterdrückung« zu bezeichnen und findet dochkeinen passenden Begriff für sein Gefühl: »Das irgendwie,es ist keine Unterdrückung, nein, aber irgendwie merkst duimmer das das bleibt, das ist auch immer da« (Z. 542–544).Er setzt das Relativpronomen »das« ein, ohne das Nomenzuvor benannt zu haben, auf welches er sich dabei bezieht;es steht für das nicht in Worte fassbare Gefühl, das sich anFakten nicht festmachen lässt. Es ist das schmerzliche Gefühl,das durch die Verweigerung der Zugehörigkeit sowohl zurkasachischen als auch zur deutschen Gesellschaft, ausgelöstwird und in der Feststellung »Wir sind eigentlich schlimmsteHeimatlose« gipfelt. Es ist somit auch die Verweigerung derAnerkennung seiner Person und die »Unterdrückung« sei-ner Menschenwürde wenn ihm aufgrund seiner Herkunftnicht dieselben Rechte und derselbe Wert zugestanden wer-den. ›Du bist Russ, du kriegst das nicht oder du darfst dasnicht‹ sagt ihm zwar keiner »offiziell ins Gesicht«, »aber ir-gendwo hängt das bei jedem. Irgendwiemerkst du doch, weißtdas äh Abstand irgendwie halten«. D. wird nicht offensicht-lich seiner Rechte beschnitten, aber indem ihm vorenthaltenwird, was anderen zusteht und Menschen auf Abstand zu ihmgehen, bekommt er einen minderen Wert seiner Person ver-mittelt. Eine starke Kränkung empfindet D. auch darin, dasser nicht als Deutscher erkannt wird, der folglich das Rechthat in Deutschland zu leben und den »Einheimischen« alseiner der ihren gelten müsste, ihnen somit auch »näher« seinmüsste als zum Beispiel Türken. Diesen gegenüber erfülltsich die Logik, die er in Kasachstan für sich postulierte: ›ImLand geboren sein‹ und Vorhandensein ›hundertprozentigerSprachkenntnisse‹ führt zum Ausbleiben von Unterdrückungund in diesem Fall auch zu (mentaler) Nähe, die er aber aufdie Situation der Türken nicht überträgt, vielleicht deshalbnicht, weil sich besagte Logik auch ihm gegenüber letztlichnicht bewahrheitet hat. Er versteht nicht, dass »der Türk derhier geboren ist, ist näher als wir, komischerweise, für dieEinheimische. Der hier geboren ist, der spricht deutsch, derist zu dene näher als wir, die Eingereiste… .« Denn aus D’sPerspektive gilt in Deutschland doch die Regel (wie oben be-reits ausgeführt), dass die ethnische Zugehörigkeit zum deut-schen Volk das Ausbleiben von »Unterdrückung« und Nähezur Folge haben. Verzweifelt muss er aber feststellen, dassdiese Legitimation (Deutsch sein) nicht die für ihn logischeFolge nach sich zieht: »Von Anfang hab ich noch Geschichteerzählt: ›Wir sind doch Deutsche, alle Verwandte sind Deut-sche und so weiter.‹ Und jetzt hab ich aufgehört. Bringt nix!«Im gesamten zitierten Passus spricht D. in der ersten Per-son Plural oder der zweiten Person Singular anstelle die Ich-Form zu verwenden (wie auch nicht selten an anderen Stellen

des Interviews). Auf diese Weise stellt er vermutlich Distanzzu sich her, was auf seine emotional starke Verwicklung amThema verweist. Außerdem bezieht er die Interviewerin sostärker in seine Perspektive ein und wirbt um ihr Verständ-nis.

Nachdem D. durch die Beschreibung seiner wirtschaftlich»überdurchschnittlichen« Situation in Kasachstan belegt, dasser nicht aus ökonomischen Gründen nach Deutschland aus-gewandert ist, trifft er folgende, das Thema »Unterdrückung«abschließende, Aussage: »Also von daher.. keinen Nachteil, ichmeine von vom Essen oder von der Arbeit her, bloß irgendwiedas innere Gefühl oder wie das war nicht okay« (Z. 590–592).Hier formuliert D. explizit, dass die »Unterdrückung« nichtauf struktureller Ebene (wie z. B. gegenüber den Kasachen beider Arbeitsplatzvergabe vgl. Z. 861–867), sondern vielmehrauf gefühlter, personeller Ebene stattgefunden hat. Diesmalnimmt er keine Verharmlosung vor und versucht das unguteinnere Gefühl auch nicht als Ausnahmeerscheinung zu dekla-rieren.

»Nix besonderes«Die nächste wichtige Kategorie, die sich in den verschiede-nen Zusammenhängen des ganzen Interviews immer wiederbemerkbarmacht, ist die des »normal seins« bzw. nicht »beson-ders seins«. Als D. auf den Erzählstimulus hin zunächst vonseiner Geburt erzählt, ist es seine Position in der Geschwister-folge, die er als erstes nennt und diese somit wichtiger erschei-nen lässt als zum Beispiel das Geburtsjahr, von dem er auchnur im Zusammenhang der Passausgabe berichtet. Dass diesdie Schlussfolgerung zulässt, dass D. seiner Person die hiereigentlich angebrachte Wichtigkeit nicht zukommen lässt unddas Ereignis seiner Geburt in die der vielen Geburten seinerGeschwister einreiht und somit gewissermaßen untertaucht,wurde bereits in der Analyse des ersten Erzählsegments dis-kutiert.

Ebenso die in diesem eingelagerte Bewertung seiner Ge-schichte: »So ganz normale, keine große Geschichte« (Z. 22).Darauf beschreibt D. die damalige Familienkonstellation, denSchulbesuch aller Geschwister und deren Bildungsabschlüsse(Schwester: Studium; Brüder: Technikum). Das zwischen dieBeschreibungen eingeschobene »Nix besonderes« könnte sichauf beide beziehen; eine Familie wie jede andere und der Schul-besuch, wie bei allen anderen Kindern auch. Kurze Zeit später,nachdemD. kaum etwas aus seinem Leben erzählt hat, scheinter seine Ausführungen bereits abschließen zu wollen mit denleisen Worten: »mein Leben keine große Geschichte« (Z. 50).Eine Geschichte, so »klein«, dass sie es nicht wert ist erzähltzu werden, wäre eine Verständnismöglichkeit. Jedoch ist diesenicht so überzeugend, lässt sich D. doch auf ein Gespräch überseine Lebensgeschichte ein. Plausibler erscheint, dass seineLebensgeschichte nicht »größer«, nicht herausragender ist alsdie Lebensgeschichten anderer Menschen.

D. fügt sich auch in die arbeitende und relativ gut verdie-nende Bevölkerung Kasachstans ein, wenn er sagt: »haben wirbeide gearbeitet wie jeder andere auch, haben nicht schlechtverdient und war alles okay«. (Z. 163–165)

Mit dem folgenden Zitat identifiziert er sich mit allenrusslanddeutschen Familien, bei denen, wie er vermutet, die-selbe Sprachpraxis vorherrscht: »Wie in jede andere Fami-lie wahrscheinlich auch – als die Oma noch lebte haben wir

Page 30: it - Gesellschaftbilder Und Selbstverst Russlanddeutscher Aussiedler in der Sowjetunion und in Deutschland

20 kapitel 4 Empirische Untersuchung

Deutsch n bisschen gesprochen oder auf deutsch gehört, rus-sisch geantwortet«. (Z. 185–187)

Auf die Aufforderung, etwas über die Schulzeit zu erzählen,ist D’s Reaktion folgende: »A ja gut Schulzeit, war eigentlichnix besonders« (Z. 383). und etwas später »Hm, also, war ganznormale Schulzeit, wie bei jedem Kind natürlich« (Z. 387–388).Hier wiederholt er, was er zu Beginn des Interviews schongesagt hat, spricht an dieser Stelle aber aus, was weiter obennoch Interpretation ist; genau wie bei jedem anderen Kind istselbstverständlich auch seine Schulzeit verlaufen, als sei dieserVerlauf weltweit oder zumindest landesweit völlig homogen.Das »natürlich« lässt anklingen, dass er diese Tatsache außerFrage gestellt wissen will. Genauso »natürlich« ist für D. die»nicht so böse gemeint[e]« Beschimpfung als Faschist seitensder Mitschüler (Z. 389–390). von der er im selben Satz berich-tet. Dieser Bericht und der, dass viele »deutsche Jungs« in derKlasse waren sollen nicht besonders sein, aber erwähnenswertsind sie (vielleicht aufgrund des Zugzwangs der Erzählung)offenbar trotzdem. Diese eigentlich nicht gewöhnlichen De-tails aus der Schulzeit, stuft D. aber als ›nicht besonders‹ und›normal‹ ein. Hier zeigt sich, wie groß sein Wunsch ist ganz›normal‹ zu sein und dazuzugehören; so groß, dass er denVerstand umgeht.

In Argumentationen, die sich auf die Zeit in Deutschlandbeziehen, bleiben besagte Normalitätsbekundungen aus. Viel-leicht kann D. diesen Wunsch in der Gegenwart – während ernoch spüren kann, dass ihm eine Andersbehandlung zukommt– nicht länger als Realität ausgeben.

Soziale BeziehungenAus D’s Erzählungen erfährt man wenig über seine sozialenBeziehungen außerhalb der Familie. Jedoch geben Argumen-tationen aus dem Nachfrageteil Aufschluss über sein Verständ-nis von Beziehungen. In den Erzählungen, die sich auf dasLeben in Kasachstan beziehen, wird deutlich, dass man sichim Dorf gegenseitig kennt. Weil D. und sein Bruder schon alsTeenager/Jugendliche in dem dörflichen landwirtschaftlichenBetrieb mithelfen, in dem die meisten Anwohner beschäftigtsind, sind sie dort bekannt. Über diese Beziehungen kommenbeide später zu ihrer Arbeitsstelle in besagtem Betrieb. Auchdie Arbeitsstelle bei der Armee und die Hilfe bei der Bewilli-gung des Ausreiseantrags hat D. – zumindest partiell – seinenBekanntschaften zu verdanken. Als er erzählt, wie er seineFrau kennenlernt, betont er, wie außergewöhnlich es war, dasser sie noch nicht kannte, glaubte er doch jeden im Dorf zu ken-nen. Diese Informationen erwecken den Eindruck von gutennachbarschaftlichen Beziehungen zu den Dorf- oder Klein-stadtbewohnern. D. erwähnt aber keine Freunde, spricht nichtvon freundschaftlichen Beziehungen; es sind »Bekannte« oder»Jungs« die er kennt, die ihm behilflich sind.

Wie es in Deutschland um seine außerfamiliären Kontaktesteht, erfährt man kaum. Bloß in einem Satz, in dessen Kon-text es um die deutsche Sprachpraxis der Familie geht, merkter an: »und wir haben auch, damals auch, ja bis jetzt auchnit groß mit den Aussiedlern so mit Russen kein Kontaktgehabt praktisch, wir waren in dem Dorf sowieso in dem, ein-zigste Familie« (Z. 637–640). Über die Beziehung zu seinenArbeitskollegen gibt D. die Auskunft, dass diese ihn wegenseiner anfänglichen Sprachschwierigkeiten zwar nicht ausge-lacht haben, aber dass er eine latente »Unterdrückung« oder

Andersbehandlung doch nicht leugnen kann. Es ist also zuvermuten, dass D. nur über nüchterne Arbeitsbeziehungen zuseinen Kollegen verfügt.

Aus der Antwort auf die Nachfrage nach dem Bild von derGesellschaft Kasachstans wird unter anderem ersichtlich, wieD. über Freundschaft bzw. soziale Beziehungen denkt:

[…] war auch Freundschaft enger dort, weil dort sind dieLeute mehr angewiesen auf die Hilfe von einem anderen.Nicht unbedingt das ist Geld. Das Geld hat zwar Rolle ge-spielt, aber nicht so große. Dort war wichtiger was für einJob hast du, wie kannst du dem anderen helfen oder wieauch immer ( ). Und wie gesagt, Zusammenhalt war dabesser.. weil in Geschäfte ich sagte, zum Beispiel letzte ZeitButter oder sowas ja, kriegst du nicht so einfach, gehst hinund kaufst, wenn du Geld hast. Da kann sein das du Geldhast, wenn du keine Bekannte hast, dann kaufst du nixhehe, oder nicht das was du willst. (S.68, Z.748–758)[…] weil die Leute sind hier nicht angewiesen auf die Hilfevon den Anderen.. Mein ich mal so. Weil dort musst dujemandem helfen, wenn du willst das jemand dir hilft. Hiermuss das nicht unbedingt sein, wenn du n Job hast, ver-dienst Geld, du kannst alles kaufen, kannst HandwerkerBetrieb bestellen, die machen dir alles und so weiter, wenndu Geld hast dann brauchst praktisch keine Freundschaft,wenn du so sagen willst. Dort geht es nicht, du bist auf-einander angewiesen. Oder warst ja, mehr oder weniger…(S.68, Z.785–793)(Enge) Freundschaft bedeutet für D. in erster Linie ein ge-

genseitiges Geben und Nehmen; eine Austauschbeziehung ingegenseitiger Abhängigkeit und zu gegenseitigem Nutzen. Sieberuht nicht (zwangsläufig) auf Zuneigung, Vertrauen undgegenseitiger Wertschätzung der Personen um ihrer selbstwillen. Dieses in Kasachstan sozialisierte Konzept von Freund-schaft kann D. in Deutschland nicht fortführen, da hier dieBedürfnisse des täglichen Lebens mit finanziellen Mitteln soweit befriedigt werden können, ohne dass dafür Freundschaftvonnöten wäre. Der Interviewauszug geht folgendermaßenweiter:

Und deswegen war da einfacher, offener sag ich ähh wasich, was mir zum Kotzen war hier zum (erste mal) äh wenndort, wenn du immer mit einem befreundet bist, dann bistdu befreundet, weißt. Du schwätzt nicht hinne rum überdem Mann und so weiter, es ist einfach dein Freund, dunimmst ihn so wie es ist, alles offen, wenn was nicht gefällt,sagst einfach offen. Hier ist es nicht, hier pappelt jeder hinnerum, wenn der Mann nicht da ist, dann ist er schuld weilwenn es was passiert ist. Das hat mich erschreckt. (S. 68,Z.793–802)Freundschaft war in Kasachstan »einfacher« und »offener«,

somit klarer und leichter zu definieren. Sie war vielleicht weni-ger von komplizierten und zu Verwirrung führendenGefühlengekennzeichnet; war die Freundschaft (über gegenseitige Hil-feleistung) einmal geschlossen, stand sie fest und konnte auchdurch offene Kritik des Freundes nicht erschüttert werden, daja auf keine Gefühle, die eventuell verletzt werden könnten,Rücksicht genommenwerdenmusste. Mit der angesprochenenBeschreibung des »hinne rum schwätz[ens]« deutet D. das Ver-hältnis mit und zwischen den Arbeitskollegen an, was er aufNachfrage auch bestätigt. Da er auf dieses in Verbindung mitdem Thema Freundschaft zu sprechen kommt, bezeigt, dass D.

Page 31: it - Gesellschaftbilder Und Selbstverst Russlanddeutscher Aussiedler in der Sowjetunion und in Deutschland

Analysen 21

vielleicht versucht hat zu seinen Kollegen eine freundschaftli-che Beziehung aufzubauen oder eine solche für ihn zumindesttheoretisch denkbar ist, jedoch aufgrund der beschriebenenUnehrlichkeit nicht realisierbar. Dass für D. der Nutzen-Faktorin einer Freundschaft sehr wichtig ist, zeigt sich auch in demArgument über den Briefaustausch seiner Tochter mit einerFreundin aus Kasachstan: »also da war eine Freundin, hat siemit der Briefe ausgetauscht, hat sie das extra auch gemachtweil das die die Sprache nicht vergisst« (Z. 674–676).

Gesellschaft Kasachstan-DeutschlandAuf die explizite Frage nach dem Bild der kasachischen Ge-sellschaft beschreibt D. diese im Vergleich zur deutschen. DasLeben dort sei »einfacher, nicht leichter sondern einfacher«(Z. 742) gewesen. Diese Aussage macht er einerseits an demBeispiel fest, dass es unkomplizierter und selbstverständli-cher war Kontakte zu Nachbarn und Verwandtschaft zu pfle-gen, weil man sie ohne Terminabsprachen jederzeit besuchenkonnte (vgl. Z. 741–750). Die so beschriebene Gesellschaftzeichnet sich demnach durch Offenheit aus, bei der die Privat-sphäre der Kernfamilie keinen so hohen Stellenwert hat undnicht so exklusiv zu sein scheint wie in Deutschland. Ande-rerseits erwähnt er in diesem Zusammenhang auch die ausge-prägte Hilfsbereitschaft und die Angewiesenheit auf die Hilfeanderer, die unter dem Gesichtspunkt Freundschaft bereits dis-kutiert wurden. Auf Hilfe angewiesen zu sein ist in Kasachstankein Zeichen von Demütigung sondern gründet in der Selbst-verständlichkeit die empfangene Hilfeleistung zurückzugeben(vgl. Z. 760–787). Auch in Bezug auf Hilfsbereitschaft stehtdie Kernfamilie in keinem so großen Abstand zur restlichenFamilie und Verwandtschaft oder außerfamiliären Kontakten.Ganz anders sieht D. das Verhalten in Deutschland, das mitder Zeit aber auch auf die eingereisten Aussiedler abfärbt:H.D.: Du machst dich irgendwie geschlossener und dannguckst du bloß das du deine Familie versorgst, weißt du..Schon jemandem zu helfen oder so, dem Bruder oder so-was, machst du’s, erste machst du aber nicht unbedingt sofreiwillig wie dort oder so viel wie dort. Du bist irgendwiemehr… ich weiß nicht, geschlossen oder wie gesagt.. weißnicht. (S.68, Z.772–777)

Ethnische GesellschaftsordnungAuf die Erkundigung nach »Gewinnern« und »Verlierern« inder Gesellschaft Kasachstans kann D. zunächst keine eindeu-tige Antwort geben: »Äh von vornherein pff kannman so nichtsagen« (Z. 821), kommt dann aber darauf zu sprechen, dass»die Kasachen im eigenen Landwaren unterdrückt en bisschen«(Z. 822). In der gesamten folgenden Passage (Z. 822–874) orien-tiert sich D. an der ethnischen Zugehörigkeit, wie auch bereitsan anderer Stelle zuvor (Z. 332–337), während er die Band-breite anderer Zugehörigkeiten (z. B. sozialer, generationaler,geschlechtsspezifischer, regionaler Art) in keinster Weise inBetracht zieht. Dass diese Kategorie diejenige ist, an der sichD. hauptsächlich orientiert, zeigt sich sehr deutlich in seinerNachfrage: »Hm, was in Bezug auf deutsch oder nicht deutsch,oder?« (Z. 381) als die Interviewerin ihn zuvor auffordert überseine Schulzeit zu erzählen. Dabei ordnet er der ethnischenZugehörigkeit meistens eine Berufsgruppe oder zumindestein besonderes Talent bzw. Geschick für eine bestimmte Tätig-keit zu: »Zum Beispiel wenn wirklich irgendwo in der Land-

wirtschaft Firma mit Vieh umgehen da waren die Kasachen..besser. Technik null, da waren die Deutsche wieder… Russendazwischen.. ja« (Z. 828–831). Auch die Aussiedler grenzt erals »ethnische Gruppe« gegenüber Einheimischen und Rus-sen ab und spricht ihnen mehr handwerkliches Geschick zu:»Aussiedler oder Deutsche sind manchmal doch handwerklichgeschickter wie, sagen wir Einheimische hehe oder die reineRussen so, sagen wir. Die Aussiedler können etwas handwerk-lich mehr, also sind geschickter, egal wo du nimmst, egal ( )«(Z. 227–230).

Kommunistische ParteiAuf die politischen Gegebenheiten in Kasachstan kommt D.während des Interviews von selber nicht zu sprechen. Erstauf die Frage nach politischer und gesellschaftlicher Aktivitätin der kasachischen Gesellschaft macht er Angaben über diekommunistische Partei. Auch hier schlüsselt er nach ethni-scher Zugehörigkeit auf wer aus opportunistischen Gründender Partei beitritt: »Aber Vorteile hast du. Deswegen sind vielKasachen, viel Russen auch in die Partei gegangen […] Bloßvon den Deutschen von uns war ganz selten war jemand«(Z. 898–904). Des Weiteren betont er, dass seit den 30er Jah-ren niemand mehr an die Partei und ihre Richtigkeit glaubeund ihr aus Überzeugung beitreten würde. Sie sei Gewohn-heit geworden; eine Rahmenbedingung des Lebens, die zwarnicht gefällt aber auch nicht übermäßig stört, über die mannicht mehr nachdenkt, so scheint es. Schließlich ist auch lauteKritikäußerung undenkbar, sodass man der Partei gegenüberschicksalsergeben versucht das Beste aus seinem Leben zumachen.

4.8.1.3 Selbstverständnis und Gesellschaftsbilder Her-mann Deckers

SelbstverständnisHermann Decker sieht sich als den vierten Sohn einer »ganznormalen« russlanddeutschen Familie. Als Kind ging er wiejedes andere Kind zur Schule und verbrachte eine »ganz nor-male Schulzeit«. Da die im Elternhaus lebende und deutschsprechende Großmutter starken Einfluss auf die Enkel hat,versteht sich D. als deutsches Kind, dessen sonstiger Umgangaber russischsprachig- und kulturell ist, sodass er Russischspricht und somit auch in der Bedeutungswelt dieser Spracheund Kultur beheimatet ist. Seine deutsche Identität und dasBewusstsein in der Fremde zu leben, wird ihm nicht nur vonEltern und Großeltern vermittelt, auch von seinen Mitschü-lern bzw. der peer-group wird ihm dies gespiegelt, wenn sieihn »Faschist« nennen. Allerdings hat er auch deutsche Mit-schüler, die ein Stück weit ›deutsche Lebenswelt‹ bzw. dasLeben als Deutsche in einer nichtdeutschen Umgebung mitihm teilen. Auch als Erwachsener bleibt D. bei seiner primärsozialisierten Identität als Deutscher; trotz russischen Freun-dinnen als Jugendlicher steht für ihn fest nur eine deutscheFrau zu heiraten zu können, ebenso sicher ist er darin, seinendeutschen Namen nicht zu verändern oder sichmit russischemNamen vorzustellen, wie dies andere Deutsche zu seiner Zeitgetan haben (vgl. Z. 497–512).

Bei der Berufswahl zieht D. nicht Wünsche und Begabun-gen und damit zusammenhängende Möglichkeiten als Aus-wahlkriterien in Erwägung, sondern die Tatsache dass Vater

Page 32: it - Gesellschaftbilder Und Selbstverst Russlanddeutscher Aussiedler in der Sowjetunion und in Deutschland

22 kapitel 4 Empirische Untersuchung

und Bruder bereits in demselben Betrieb arbeiten und sowohldieser als auch das für diese Ausbildung notwendige Techni-kum praktisch nah sind. Möglicherweise ist dabei auch vonBedeutung, dass die Arbeit im technischen Bereich, eine ›ty-pisch deutsche Arbeit‹ ist. Bei dem Arbeitsplatzwechsel in dieArmee und bei der Auswahl seiner Ehefrau geht er ebensonach dieser pragmatischen Handlungsorientierung vor.

Ganz anders als bei der Entscheidung zur Auswanderung;hier sind es keine rationalen Gründe, die ihn dazu bewegendas »überdurchschnittliche« Leben in Kasachstan aufzugebenum in der ungewissen ›Heimat‹ einen Neuanfang zu starten.Es ist vielmehr die Erfüllung des von der Großmutter emp-fangenen und verinnerlichten Traumes aus der Fremde in dieHeimat zu fahren sowie das an seiner eigenen Person erfah-rene, schmerzliche Gefühl der »Unterdrückung«, das darinzum Ausdruck kommt, dass ihm die gefühlte Zugehörigkeitzur Gesellschaft verweigert wird und ihn somit zur Ausreisebewegt.

D. betrachtet sich und seine Lebensgeschichte (insbeson-dere in Kasachstan) als »normal«, er ist nicht anders als dieMenschen der ihn umgebenden Gesellschaft, er und seine Fa-milie heben sich nicht von anderen Familien, Kindern, Schü-lern oder Arbeitnehmern ab. Gleichzeitig sieht er sich aberauch der deutschenMinderheit zugehörig und weiß somit (ausder tradierten Vergangenheit), dass ihm als solchen in vielenLebensbereichen eine Sonderbehandlung (negativer Art) zu-kommt bzw. zukommen kann. Um das Bild der Nicht-Sonder-behandlung aufrecht zu erhalten, versucht er es mit der immerwiederkehrenden Argumentation »keine Unterdrückung«, dieer auf struktureller Ebene meistens auch belegen kann, zuuntermauern. Die gefühlte »Unterdrückung« seiner Person,die Diskriminierung und Ausgrenzung, die einen der Aus-reisegründe darstellen, kann er letztlich aber nicht leugnen.Obwohl er in Kasachstan geboren ist und über »hundertpro-zentige« Sprachkenntnisse verfügt, kann er doch nicht in diekasachische Gesellschaft ›eintauchen‹ und dazugehören, wozuer eigentlich aufgrund der zwei genannten Voraussetzungenlegitimiert wäre. Dies macht ihm einerseits die Gesellschaftunmöglich, die ihm auf die eine oder andere Weise zu ver-stehen gibt: »Hey du bist Faschist, fahr doch nach Hause!Du bist Deutsche fahr doch nach Hause, ja. Verschwinde!«(Z. 547–549). Andererseits kann er sich aufgrund seiner Prä-gung und Überzeugung, seiner Identität als Deutscher nichtintegrieren, ohne diese verleugnen zu müssen (z. B. durch Hei-rat mit einer Russin/Kasachin, Ablegung bzw. Veränderungdes deutschen Namens).

Im Rückblick auf sein Leben in Kasachstan sieht sich D. alsTeil einer Dorf- bzw. Kleinstadtgemeinschaft, in der man ihnkennt und in der er (so gut wie) jeden kennt. Er pflegt guteBeziehungen zur Verwandtschaft, Nachbarschaft und sonsti-gen Bekannten, denen er ein Helfender ist (z. B. auf dem Bau)sowie seinerseits Hilfe empfängt. Denn auf diese ist er undsind die anderen angewiesen, da so Waren und Dienstleistun-gen ausgetauscht werden, die mit Geld nicht zu bekommenbzw. zu teuer sind.

In Deutschland versteht sich D. als Deutschen, der aber auf-grund seiner Migration und nicht hundertprozentigen Sprach-beherrschung als solchermeistens (insbesondere von den nichtintelligenten Leuten) nicht erkannt wird und damit auch dieLegitimation seines Aufenthaltes nicht ratifiziert wird. Zwar

betont er auch in Bezug auf sein Leben in der Bundesrepublik,dass er und seine Familie keinerlei Benachteiligung oder »Un-terdrückung« auf struktureller Ebene erfahren. Jedochmuss erhier – in der lang ersehnten Heimat – auf der zwischenmensch-lichen Ebene ebenfalls die leidvolle Erfahrung machen, dass erals deutscher Mitbürger nicht anerkannt wird und damit dasGefühl der Zugehörigkeit nicht erleben kann. Unterschwelligoder direkt wird ihm, wohl vor allem seitens der Arbeitskolle-gen, vermittelt: »›Warum bist du gekommen, du gehörst hiernicht her!‹« (Z. 549). Folglich begreift sichD. nicht nur als Deut-schen sondern auch als Aussiedler in folgendem Sinne; eineGemeinschaft, die sich gegenüber Einheimischen und Russen,mindestens in Bezug auf handwerkliches Geschick und »guteArbeit« abgrenzt, und damit eine eigene »ethnische« Gruppedarstellt. Diese Gruppe, der er sich zugehörig fühlt, hebt D.positiv heraus; nachdem er seine »Normalität« in Deutschlandnicht länger aufrechterhalten kann, unterscheidet er sich aufdiese Weise doch wenigstens im positiven Sinne. Allerdingspflegt er, bis auf die Verwandtschaft, keine Kontakte zu Aus-siedlern, sodass diese Zugehörigkeit eine gefühlte aber keinereal existente ist.

Von sonstigen guten Beziehungen in der Nachbarschaft, zuBekannten oder von Freundschaften erzählt D. nicht. Er machtstattdessen deutlich, dass er in Deutschland nicht Geber undNehmer von Hilfe sein kann, folglich, nach dem aus Kasachs-tan mitgebrachten Verständnis von Freundschaft, auch nichtFreund sein kann bzw. ist. Denn hier beruht der Austauschvon Waren und Dienstleistungen nicht auf Freundschaft son-dern auf finanziellen Mitteln.

GesellschaftsbilderD. betrachtet seine soziale Umwelt in Kasachstan als eine, dieihm äußerlich betrachtet ein »normales« Leben ermöglicht.Sie gibt ihm die Möglichkeit zur Teilhabe an gesellschaftlichwertvollen Gütern; sie erlaubt ihm den Zugang zu Bildung,Arbeit, ausreichend Wohnraum und Mobilität. D. kann einenBeruf ausüben, den er frei wählt und welcher ihm zu »über-durchschnittlicher« Lebensqualität, was die Versorgung mitfinanziellen Ressourcen angeht, verhilft (die berufstätige Ehe-frau trägt ebenso dazu bei). Die mit finanziellen Mitteln alleinnicht zu erreichenden Güter und Dienstleistungen kann erüber gute Kontakte kompensieren.

Innerhalb der sowjetischen Grenzen darf er sich frei bewe-gen. Seine Lebensqualität wird jedoch im kulturellen Bereich,was sein Leben als Angehöriger der deutschen Minderheitangeht, eingeschränkt. D. persönlich, der so selbstverständ-lich mit der russischen Sprache groß geworden ist, empfindetdas inoffizielle Verbot des deutschen Sprachgebrauchs wahr-scheinlich nicht bewusst als diskriminierend, jedoch wird ihmdieses Gefühl sicher über die Generation der Großeltern ver-mittelt, die sich außerhalb des Hauses nicht frei fühlen konn-ten deutsch zu sprechen (Z. 339–345). Von klein auf lernt erdie deutsche Sprache nur in der Kommunikation mit der Groß-mutter und im Haus zu gebrauchen; auf der Straße ist ihrePraxis undenkbar. Somit wird der Gebrauch deutscher Spra-che, wenn auch in der Schule in minimalem Umfang (zweimal pro Woche) als Unterrichtsfach gestattet, doch inoffiziellunterdrückt. Bewusst, wenn auch nicht in Worte fassbar, sodoch als Gefühl sehr klar spürbar, empfindet D. die Diskri-minierung seiner Person als Angehöriger der deutschen Min-

Page 33: it - Gesellschaftbilder Und Selbstverst Russlanddeutscher Aussiedler in der Sowjetunion und in Deutschland

Analysen 23

derheit seitens der kasachischen Gesellschaft. Sie projiziertauf ihn aufgrund seiner ethnischen Zugehörigkeit das aus derKriegszeit bekannte Feindbild des Faschisten und gibt ihm zuverstehen, dass er als solcher kein (vollwertiges) Mitglied derGesellschaft sein kann.

Ebenso betrachtet D. selbst die Gesellschaft nach ethnischerZugehörigkeit und folgt damit vermutlich der allgemein ver-breiteten Sichtweise seines sozialen Umfelds. Dabei sieht erdie Kasachen als die Unterdrückten im eigenen Land (Z. 822).und schließt sich der vorherrschenden Meinung an, dass diese»n bisschen zurück..geblieben« seien und nur zumUmgangmitdem Vieh tauglich. Die Russlanddeutschen hebt er als »Tech-nikbegabte« positiv hervor und die Russen ordnet er irgendwo»dazwischen« ein.

Abgesehen davon und im Vergleich zur deutschen Gesell-schaft empfindet er die kasachische (in der Retrospektive) alseinfacher, in der es nicht so sehr auf Formalitäten ankommt.So ist zum Beispiel wichtiger, ob jemand die Fähigkeiten füreine gewisse Arbeit mitbringt, als eine entsprechende Ausbil-dung oder Urkunde vorweisen zu können (vgl. Z. 314–325),und der gegenseitige Besuch muss nicht zuvor über einen Ter-min vereinbart sein, sondern kann vielmehr spontan erfolgen.Freundschaften sind klarer über wechselseitige Hilfe definiertund die Menschen sind offener und hilfsbereiter; der Blickreicht über die Kernfamilie hinaus, zum Beispiel und insbe-sondere in Bezug auf gegenseitige Hilfe. Aus D’s Beschreibunglässt sich eine Gesellschaft mit kollektivistischen Wertmaßstä-ben vermuten.

Im Vergleich zu dieser sieht er die deutsche Gesellschaftals eine individualistische, in der jeweils das Gegenteil derzuletzt angebrachten Punkte gilt. Auch in Deutschland ordnetD. die Gesellschaft nach dem Gesichtspunkt »ethnischer« Zu-gehörigkeit; Einheimische und Aussiedler grenzt er in Bezugauf Geschick und Tüchtigkeit bei der Arbeit voneinander ab(Z. 227–230), den »Türk der hier geboren ist« (Z. 538) hinsicht-lich der (mentalen) Nähe zu den Einheimischen gegenüberden Aussiedlern.

Wie bereits in Kasachstan ist ihm auch inDeutschland struk-turelle Partizipation möglich; Teilhabe an Bildung, Arbeit,ausreichend Wohnraum (selbstgebautes Haus) und Mobilität(Auto einerMarkemit Statussymbol) bleiben ihm nicht vorent-halten. Aber auch die fehlende Anerkennung als Mensch/Per-son setzt sich fort, diesmal verweigert ihm die deutsche Gesell-schaft aus dem Grund des ›nicht im Land geboren seins‹ unddes Nichtvorhandenseins ›hundertprozentiger Sprachkennt-nisse‹ die Zugehörigkeit.

Biographische ProzessstrukturIn Anbetracht der gesamten Biographie erfährt D. sein Le-ben als planbar und seinerseits steuerbar. Seine beruflicheLaufbahn, Familien- und Auswanderungsplanung sowie dieGestaltung des neuen Lebensraumes in Deutschland kann erbeeinflussen und aktiv mitgestalten. Von unerwarteten Rück-schlägen (ersteWohnung in Deutschland) kann er sichmit star-kem Willen und Initiative (»wer was machen will, der machtwas aus sich«; Z. 244). von »unten nach oben« (vgl. Z. 704)kämpfen. Was er jedoch nicht ›in der Hand‹ hat, ist das Verhal-ten seiner sozialen Umgebung ihm gegenüber. Er kann sozialeAnerkennung und Zugehörigkeit nicht einfordern und bleibtsomit in beiden Gesellschaften »schlimmster Heimatloser«.

4.8.2 Elvira Claus

Elvira Claus (im Folgenden nur noch mit C. abgekürzt) ist 1951in Sibirien geboren. 1958, als sie sieben Jahre alt ist, wandertdie Familie, die aus der Mutter, den Großeltern, einer Tanteund den Geschwistern besteht, nach Tadschikistan aus. Dortverbringt sie ihre Schulzeit und beendet die zehnte Klasse bisdie Familie 1968 beschließt nach Kirgisien zu ziehen. Hier be-ginnt sie mit 17 Jahren in einer Bekleidungsfabrik zu arbeitenund heiratet 1970 ihren ebenfalls deutschstämmigen Mann. Indemselben Jahr kommt die erste Tochter zur Welt, zwei Jahrespäter die zweite. Die Familie baut sich ein Haus. Als die Kin-der schulpflichtig werden, wechselt C. ihren Arbeitsplatz vonder Fabrik ins nahe gelegene Rathaus. 1989, als viele Russland-deutsche das Land verlassen, beschließt auch Familie C. dieAuswanderung nach Deutschland. Zunächst lebt sie siebenJahre in einer Wohnung in Koblenz, danach beginnt sie mitdem Bau des Eigenheimes. Kurz nach der Einreise besuchtdas Ehepaar gemeinsam mit der älteren Tochter Sprachkurse.Dann absolviert C. einen Kurs, der sie zur Verkäuferin schult,arbeitet aber nicht als solche. Sie fängt in einer Serviettenfa-brik an und ist auch heute noch dort beschäftigt. C’s Ehemannarbeitet ebenfalls in einer Fabrik.

4.8.2.1 Strukturelle inhaltliche Beschreibung von aus-gewählten Segmenten aus der Haupterzählungund dem Nachfrageteil

Erzählstimulus, Geburt und deren UmständeI: Also wie schon angesprochen interessiert mich Ihre Le-bensgeschichte, also wie das Leben für Sie so war in derSowjetunion und hier in Deutschland war und heute ist.Und ähm, Ihre ganze Lebensgeschichte also, alles was Ihneneinfällt, was interessant ist, was Ihnen wichtig ist, das istdann auch für mich interessant. Und ich möcht Sie bitteneinfach zu erzählen und ich werd sie nicht unterbrechenerstmal, sondern erzählen lassen und Ihnen zuhören undwenn ich ne Frage habe, dann werd ich die notieren hierund werd sie dann am Ende stellen, nachdem Sie fertigerzählt haben, fertig sind mit Ihrer Geschichte.E. C.: Achso ich dachte Sie stellen Fragen, ja gut, ja wassoll ich denn anfangen, wie was wann?I: Wie Sie meinen, das ist völlig Ihnen überlassen und, IhreLebensgeschichte eben zu erzählen und, am EndeE. C.: Ja was äh, geboren bin ich in Sibirien und.. weilunsere Großeltern und Eltern ja vor dem Krieg aus äh, ausder Ukraine von Saratow-Gebiet ausgewiesen wurden ähnach Sibirien, weil der Krieg angefangen hat und weil sieDeutsche waren und wurden die nach Sibirien, wie sagtman das denn, nicht umgesiedelt sondern verwiesen oderwie weiß ich nicht.I: HmE. C.: Ja, und da sind wir auch geboren, einundfünfzig binich geboren und, damals war das in Russland nach demKrieg, die Deutschen die durften ja überhaupt nirgendwo-hin, äh ich meine die wohnten da im Dorf da so in diesemGebiet, die durften nit auswandern oder in anderes Gebietfahren so und dann sechsundfünfzig war ja dieses Gesetz.Gesetz vom, ich weiß nicht von, wer war da damals da,keine Ahnung, weiß ich nicht, wusst ich aber jetzt, die ha-

Page 34: it - Gesellschaftbilder Und Selbstverst Russlanddeutscher Aussiedler in der Sowjetunion und in Deutschland

24 kapitel 4 Empirische Untersuchung

ben ja das Gesetz neunzehn hundert sechsundfünfzig, dasjetzt die Deutschen auch die jetzt alle aus ihrem Gebietverwiesen wurden wegen Krieges, konnten jetzt auch frei,ja, da auswandern oder sich neues Wohngebiet suchen undso. (S.70, Z.1–34)Auf die Erzählaufforderung reagiert C. überrascht. Sie hat

sich ein Frage-Antwort-Gespräch vorgestellt und ist somit zu-nächst irritiert. Nach der Erklärung der Interviewerin, dass esihr vollkommen freigestellt ist, die Themen innerhalb ihrerLebensgeschichte nach Belieben zu wählen, lässt sie sich aufeine Erzählung ein, noch ehe die Erklärung zu Ende gespro-chen ist. Sie ratifiziert den Erzählstimulus und beginnt mitder Erzählung ihrer Geburt und erklärt wie es dazu kam, dasssie ausgerechnet in Sibirien geboren ist. Zunächst setzt siedafür bei ihrer Familiengeschichte an; bei den Großeltern undEltern, die als Deutsche in Russland während der Kriegszeitnach Sibirien verschleppt wurden. Darauf erwähnt sie nocheinmal ihre als auch die Geburt ihrer Geschwister (implizitdurch erste Person Plural), nennt jetzt das Geburtsjahr undberichtet von den Gegebenheiten dieser Zeit, die für Russland-deutsche relevant waren. Somit beginnt C’s Lebensgeschichte– und hier ordnet sie sich auch ein – als Kind einer deutschenFamilie, die unter besonderen Umständen lebte, deren Ursa-che auf ihre ethnische Zugehörigkeit zurückzuführen sind.Die Familie lebte unfreiwillig in der kalten Region und un-ter widrigen Lebensbedingungen bis 1956 ein Gesetz auchder deutschen Minderheit die freie Wahl des Wohnortes undsomit die Ausreise ermöglichte.

Kurz schildert C. in diesem Zusammenhang die Familien-situation zu dieser Zeit ihrer Kindheit in Sibirien: »Äh wirhaben zwar kein Vater gehabt, meine Mutter, wir waren dreiKinder und äh Oma Opa und ne Tante und meine Mutter«(Z. 59–61). Die Tatsache, dass C. ohne Vater aufgewachsenist, scheint für sie keine traurige oder negative Bedeutung zuhaben, was sich aus dem Wort »zwar« vermuten lässt. Dennein normalerweise darauf folgendes »aber«, das hier ausbleibt,würde in diesem Satz etwas Positives ausdrücken. Dieser Ein-druck bestätigt sich, wenn C. später auf Nachfrage nach ihremVater sagt: »so behütete Familie waren wir, wir hat von kei-nem was, haben keine Scherereien dann mit Männer oder mitwas gehabt, nee. Wir haben nur zwei Männer gehabt (lacht),unsern Opa und unsern Onkel« (Z. 523).

Leben in TadschikistanMit Möglichkeit der Ausreise folgt die Familie der Einladungeiner Bekannten und wandert nach Tadschikistan aus als C.sieben Jahre alt ist. Dort lässt sie sich in einer deutschen Sied-lung nieder: »Und da sind wir da zu diesen Leuten, das wa-ren auch Plattdeutsche auch wie wir, aber wir waren in eineKolchose und da waren nur Hochdeutsche, da waren ein oderzwei Familien nur Russen, anders waren alle Deutsche« (Z. 82).Nachdem C. die Vegetation und das Klima im neun Lebens-raum beschreibt, erwähnt sie auch die neue soziale Umge-bung. Die Tatsache unter Deutschen zu leben scheint dabeivon Bedeutung zu sein. Mit »zu diesen Leuten« meint siedie Bekannten, die nach Tadschikistan eingeladen hatten unddie als Anknüpfungspunkt für die Niederlassung im neuenLand dienen. So kommt es, dass die Familie in einer Siedlungvon »Hochdeutschen« sesshaft wird. C. differenziert bei ihrerBeschreibung innerhalb der Gruppe der Deutschen zwischen

»Plattdeutschen«, denen sie sich zugehörig fühlt, und »Hoch-deutschen«, unter denen sie nun lebt. Da anzunehmen ist, dassdie Siedlung in Sibirien aus »Plattdeutschen« bestand (da siegemeinsam aus dem Saratow-Gebiet der Ukraine verschlepptwurden), stellt C. mit der Information nun unter »Hochdeut-schen« zu leben die neue Situation deskriptiv fest und machtgleichzeitig die eigene Zuordnung als (Platt)Deutsche klar.

Anschließend schildert sie in einem sehr positiven Licht ihrLeben und das ihrer Familie in Tadschikistan; kurz berichtetsie von der Arbeit ihrer Mutter, ihrer Tante, der eigenen Schul-zeit und der Ausbildung ihrer Schwester und leitet schließlichdie Auswanderung nach Kirgisien ein. Nachdem die Großel-tern gestorben sind und C’s Onkel nach Kirgisien ausgewan-dert ist, holt er die allein zurückgebliebene Schwester mit ihrerFamilie nach. Im Alter von 17 Jahren wandert C. nun nachKirgisien aus.

Leben in Kirgisien[…] das war achtundsechzich sind wir aus Tadschikistannach Kirgisien umgewandert dann wieder, umgezogen, daswar schon umgezogen dann.I: HmE. C.: Ja. Ist meine Mutter dann wieder zur Arbeit gegan-gen. Ich bin dann auch, ich war dann siebzehn, dann binich auch zur Arbeit gegangen, ich wollte nit mehr, hab ichnix gemacht so mit Schule und Lernen. Mir kam das »weifremde Stadt, alles so ganz anders wie in Tadschikistan undso« und dann, wir haben da ne große Fabrik gehabt unddann sind wir mit meinem Onkel dahin und dann hat ermich da, ich, wie sagt man, vorgestellt und so und dann binich dann da gelandet in der Fabrik da, aber da war schön,das waren sehr viele junge Mädels auch, dann haben wir,ein halbes Jahr mussten wir da, wie man sagt, haben uns al-les da beigebracht, jeden Nähmaschine, das war Fabrik wosie Sportanzüge genäht haben und Verschiedenes und.. ja dahab ich dann gearbeitet, dann hab ich geheiratet, naja wie,neunzehn hundert siebzich… und, ja da so lebten wir auchin Kirgisien, die ganze Jahre bis neunundachtzich. (S. 71,Z.126–145)Diesmal beschreibt C. weder Klima, Vegetation noch die so-

zialen Begebenheiten am neuen Ort. Sie kommt gleich auf diefinanzielle Versorgung der Familie zu sprechen; die Arbeits-aufnahme der Mutter, die diesmal ohne Beschreibung ihrer Tä-tigkeit bleibt, und die eigene Arbeitsaufnahme, die mit mehrDetails in den Vordergrund rückt. An dieser Stelle zeichnetsich die Veränderung von der kindlichen auf die Perspektiveeiner Verantwortung übernehmenden Jugendlichen ab.

Diese zeigt sich auch in der bewussterenWahrnehmung derneuen Situation, die nun vielmehr als beängstigend empfun-denwird, was in der Aussage: »Mir kam das ›wai fremde Stadt,alles so ganz anders wie in Tadschikistan und so‹« (Z. 133).zum Ausdruck kommt. Vielleicht ist diese auch der Grund fürdie Ablehnung von »Schule und Lernen«. Angesichts der un-bekannten neuen Umgebung, in der C. sich erst noch zurecht-findenmuss, zieht sie es vor, mit einer angelernten Tätigkeit ineiner Fabrik ein Einkommen zu sichern, anstatt eine (Kostenverursachende) Ausbildung oder ein Studium zu beginnen. Ob-wohl sie ihre Schulzeit als »schön« empfand (Z. 96, 600, 650)und die ältere Schwester, die eine Ausbildung absolviert hat,in dieser Hinsicht als Vorbild gedient haben könnte (C. zieht

Page 35: it - Gesellschaftbilder Und Selbstverst Russlanddeutscher Aussiedler in der Sowjetunion und in Deutschland

Analysen 25

weiteres »Schule und Lernen« immerhin in Betracht, indem siees erwähnt), beginnt C. in der nahe gelegenen Fabrik zu arbei-ten; möglicherweise aufgrund von mangelnden finanziellenRessourcen und/oder den ungewissen (Ausbildungs-)Bedin-gungen am neuen Ort. Jedenfalls ist C. mit ihrer Entscheidungzufrieden: »Aber da war schön, das waren sehr viele jungeMädels auch.« Grund dafür scheint in erster Linie die Tatsa-che des guten Miteinanders unter den Arbeitskolleginnen zusein. Hier deuten sich bereits zwei wichtige Kategorien an, diein der späteren Wissensanalyse näher betrachtet werden; C’soptimistische Weltbetrachtung und ihr Sinn für Gemeinschaft.

Nach der Arbeitsplatzbeschreibung erwähnt sie ihre Heirat;Arbeit und Heirat scheinen dabei in einer logischen Abfolgezu stehen: »ja da hab ich dann gearbeitet, dann hab ich gehei-ratet.« Es ist so selbstverständlich, dass es keinerlei Beschrei-bungen oder Hintergrundinformationen bedarf. Die Geburtihrer Kinder, der Bau des Hauses und der Arbeitsplatzwech-sel ins Rathaus bleiben an dieser Stelle unerwähnt. C. machthier einen Sprung von 19 Jahren und fährt mit der Auswande-rung nach Deutschland fort. Möglicherweise erzählt sie nichtsweiter über ihr Leben in Kirgisien, weil eine so starke themati-sche Verbindung zur nächsten Erzählung – der Ausreise in dieBundesrepublik – besteht, dass sie sich gedrängt fühlt dieseschnellstmöglich anzuschließen.

Auswanderung und Leben in DeutschlandJahr neunundachtzich dann sind wir nach Deutschland um-gezogen, gewandert, umgezogen, ah haben wir vorherauch gar nit, gar nit gewusst und gewollt das wir, wir ha-ben überhaupt keine Rede gehabt, ja gut wir wussten dasdie, das mehrere fahren und von meinem Mann die Tantedie war schon auch, zehn Jahre war die schon damals hier,ich weiß nicht von den ersten ist die hierhin gekommen,aber uns kam das so unendlich weit und überhaupt wirhaben gar nit, Deutschland das kam uns so weit so..I: HmE. C.: und dann war alles Überraschung, schnell schnellschnell, dann sind alle gefahren und wir mit (lacht).. (S.71,Z.145–156)So plötzlich, schnell und überraschend wie die Ereignisse,

die C. und ihre Familie ereilen und schließlich zur Ausreiseführen, so überschlagen sich auch die Sätze ihrer Erzählung.Gedanken werden abgebrochen, um neue zu formulieren, diewieder nicht zuende gebracht werden. Anders als bei der Aus-reise nach Tadschikistan und Kirgisien, wo das Ziel der Reisedurch die Bekannte bzw. den Bruder ein wenig vertraut war,zumindest aber nicht völlige Ungewissheit bedeutete, siehtsich C. diesmal einer Situation ausgesetzt, in der ihr das Zielabsolut fremd ist. Auch der Ausreisegrund ist ein anderer. Wares das angenehmere Klima, die besseren Lebensbedingungenund das Leben in der Nähe von Bekannten, die C’s Familienach Tadschikistan führten und Familienzusammenführung,die sie nach Kirgisien auswandern ließ, so liegt diesmal die Ur-sache des Auswanderungsmotivs nicht im Zielland begründet.Denn schließlich wissen C. und ihr Mann zu diesem Zeit-punkt praktisch nichts über dieses: »Deutschland das kamuns so weit so… .« Vielmehr ist es die Sorge in Kirgisien al-leine zurückzubleiben, die dazu führt es den Wegfahrendengleichzutun. Obwohl die Tante von C’s Ehemann schon län-ger in Deutschland lebte und Familie C. bereits beobachten

konnte, dass »mehrere fahren«, kam es für sie nicht in Frage– »wir haben überhaupt keine Rede gehabt« – in ein sowohlgeographisch als auch geistig so weit entferntes Land zu zie-hen. Zusammengefasst zeugt dieser Absatz vom allgemeinenWohlbefinden C’s und ihrer Familie in Kirgisien und der Un-freiwilligkeit der Ausreise. Denn erst als alle fahren, fassenauch sie den hastigen Entschluss mitzufahren; dieser fußt vielmehr auf der Entscheidung anderer (derer die ausreisen), alsauf der eigenen. Sie sehen sich gedrängt, ‚auf den Zug mitaufzuspringen’.

Es folgt keine Erzählung oder Beschreibung der Ausreiseund des Neubeginns in Deutschland, stattdessen bilanziert C.das Leben nach dieser mit folgenden Worten: »Jetzt sind wirschon zwanzich Jahre hier… Gut, haben wir Glück gehabt daswir alle beide Arbeit haben, bis jetzt noch. Und, auch guteArbeit…« Die Tatsache, dass sie hier nur von Arbeit spricht,zeigt ihre Erleichterung und Freude über das vorhandene Be-schäftigungsverhältnis, nachdem sie in Deutschland zunächstfeststellen musste, dass es schwierig sein kann eine Arbeits-stelle zu finden: »Und wir haben uns gar nit auch vorgestelltdamals das hier doch auch schwer mit der Arbeit oder so«(Z. 200). Insofern ist es ein zentraler Aspekt, den sie an dieserStelle hervorhebt (indem sie ausschließlich diesen erwähnt),der ihr somit wichtig ist, aber ihr Leben nicht vordergründigbestimmt oder identitätsstiftend ist. Denn was ihre größteSorge in Anbetracht des Verbleibens in Kirgisien war – al-leine zurückzubleiben – und schließlich zum schwer gefasstenEntschluss der Ausreise führte, ist in der Bundesrepublik, wosie wieder in der Gesellschaft von Verwandten und Freundenlebt, obsolet geworden und damit an dieser Stelle nicht er-wähnenswert. Dieser für C. sehr wichtige Gesichtspunkt derGemeinschaft wird in der späteren Wissensanalyse ausführli-cher behandelt.

Sie schließt die Haupterzählung mit einem Ausblick auf dieZukunft ihrer Erwerbsbiographie ab: »Ich hab noch jetzt zweiJahre muss ich noch n bisschen weniger dann bin ich fertichmit dem Schaffen (lacht).« In ihrer Wortwahl bestätigt sich dieVermutung, dass Arbeit zwar eine wichtige Notwendigkeit ist,jedoch nicht im Lebensmittelpunkt steht.

20 Jahre in DeutschlandAuf die Aufforderung, mehr über das Leben in Deutschlandmitzuteilen, kommt folgende Erzählung zustande:I: Sie sind ja jetzt, Sie haben gesagt zwanzich Jahre diesie hier in Deutschland leben und, ja wie war das als Siedann herkamen und, von diesen zwanzich Jahren sozusagenhaben Sie noch nicht erzählt.E. C.: Ah eigentlich die sind so im Flug vorbeigegangen daswir gar nit gemerkt haben, nur jetzt auf einmal, wo jetzt dieKrankheiten kommen, gekommen sind und so »Wie, wasist das jetzt schon«, weil die ganze Zeit, ja gut, bis äh dieKinder auch, zwei Töchter, bis die dann, die haben geheira-tet dann Kinder dann das dann das, wir haben gearbeitetdann haben wir »Ja, wir müssen was eigenes vielleicht oderne Wohnung kaufen«, haben wir uns entschieden für Hausbauen. Dann haben wir Haus gebaut, dann haben wir im-mer, mein Mann auch immer fast alles, na gut wir habenvon Verwandten viel Hilfe gekriegt und so und, ja und sodie Zeit ist in einem Flug vorbeigegangen. Wir sind zwarauch in Urlaub gefahren und so und haben uns alles n biss-

Page 36: it - Gesellschaftbilder Und Selbstverst Russlanddeutscher Aussiedler in der Sowjetunion und in Deutschland

26 kapitel 4 Empirische Untersuchung

chen so angeschaut und, und wenn wir zurückkamen nachDeutschland haben wir uns immer gefreut: »Wie schön.«..Ja, die Zeit ist äh, da kann man, ich weiß nit, gar nit soviel wie, diese zwanzich Jahre hätt ich nie gedacht dasdie so schnell.. (S.72, Z.277–297)Nachdem in der Haupterzählung 20 Jahre Leben in Deutsch-

land kaum mit Inhalt gefüllt werden (einziges Thema ist Ar-beit), erfolgt auf Nachfrage zunächst eine Antwort, die eben-falls wenig darüber aussagt: »Ah eigentlich die sind so im Flugvorbeigegangen das wir gar nit gemerkt haben.« Es scheint,als blicke C. zum ersten Mal auf ihr Leben in Deutschlandzurück und müsse erstaunt feststellen, wie schnell die Zeitvergangen ist. Als sei diese die treibende Kraft, die C. bis anden heutigen Tag gebracht, ohne sie daran teilhaben zu las-sen. Denn sie hat »gar nit gemerkt« wie sie, ganz ohne ihrZutun, einfach fortgeschritten ist; erst die Krankheiten lassensie die Zeit wieder bewusster wahrnehmen. 20 Jahre lang lebtsie einen geschäftigen Alltag, der keine so einschneidendenEreignisse mit sich bringt, dass sie diese für wert befundenhätte an den Anfang ihrer Erzählung zu stellen.

Erst die bilanzierende Reflektion führt sie zu der weite-ren Überlegung, in der sie dann zusammenfassend berichtetwomit sie ihre Zeit zugebracht hat; Kinder, Arbeit, Hausbauund Urlaub. Die zwei Töchter sind zur Zeit der Einreise derelterlichen Verantwortung schon (fast) entwachsen und heira-ten bald darauf. Entsprechend wenig Aufmerksamkeit wirdihnen in der Erzählung zuteil. Von der Arbeit sagt C. an die-ser Stelle nur: »wir haben gearbeitet«; vielleicht erwähnt siedieses Detail auch nur, um damit zu erklären, dass die Voraus-setzungen erfüllt waren, um eine eigene Wohnung bzw. denHausbau finanzieren zu können. Dies scheint ein etabliertesHandlungsmuster zu sein, da das Vorgehen in Kirgisien, wiean späterer Stelle berichtet, dasselbe ist: »Ich hab gearbeitet,er hat gearbeitet, dann haben wir uns n Grundstück auch ge-sucht und dann haben wir wieder gebaut« (Z. 687–690). Das»wieder« ist, wenn auch chronologisch falsch, vermutlich aufden Hausbau in Deutschland bezogen. Dauerhaft in Mietezu leben steht dabei außer Frage; die Entscheidung wird nurzwischen Wohnung kaufen und Haus bauen getroffen. DemBau des Hauses schenkt sie schließlich etwas mehr Beachtung.Denn da Familie C. das Haus zu einem Großteil selber undmit Hilfe der Verwandtschaft baut, wird viel Zeit und Energiein diese Arbeit investiert und steht somit eine lange Zeit imMittelpunkt der Aufmerksamkeit. Sie sind »zwar auch in Ur-laub gefahren«, haben sich »alles n bisschen so angeschaut«,um dann nach Deutschland und vermutlich noch viel mehr zudem selbst erbauten Heim zurückzukommen und sich daranzu erfreuen. Dieses scheint das Zentrum des Wohlbefindenszu sein.

Kennenlernen des EhemannsE. C.: .. Ja und dann ging schnell dann.. haben wir geheira-tet mit meinem Mann. Mein Mann hab ich geheiratet der,mit dem haben wir da in Sibirien noch als Kinder habenwir auch als Nachbarschaft gewohnt. Dann sind wir nachTadschikistan ausgesiedelt und er ist dann später mit seinenEltern und mit, auch mit, mein Onkel und meinem Mannsein Vater das waren Freunde, und die sind auch nach Kir-gisien, dann kamen wir nach Kirgisien, haben wir uns dawieder getroffen (lacht).

I: Ah (lacht).E. C.: Ja wir kennen uns von klein an und sind auch ineinem Krankenhaus geboren, alles. (S.75, Z.675–685)Auf die Nachfrage, wie es zu der Entscheidung kam nach

Kirgisien zu ziehen, erzählt C., nachdem sie kurz darauf ein-geht, wie es zur Heirat mit ihrem heutigen Ehemann kam.Diesen kennt sie schon seit ihrer Kindheit aus der Nachbar-schaft, die Wege verlaufen sich kurzzeitig und kreuzen sich inKirgisien wieder. Er ist auch ein guter Bekannter der Familie,da sein Vater und C’s Onkel befreundet sind. Sie sucht undfindet einen Partner, der ihr aufgrund der genannten Punktegut vertraut ist. Nachdem die zunächst neue und fremde Si-tuation in Kirgisien nicht leicht für sie ist, orientiert sie sichhinsichtlich des Partners (den sie nach zwei Jahren in Kir-gisien heiratet) an dem was (alt)bekannt ist und somit einegewisse Sicherheit und Stabilität verspricht. Ihr Mann ist auchDeutscher, was für den letztgenannten Punkt sicherlich eineRolle spielt, aber an sich kein wichtiges Auswahlkriterium fürC. darstellt. Es besitzt zwar Wichtigkeit für ihre (Groß)Eltern(vgl. Z. 1089), ist jedoch für sie und ihre Geschwister von kei-ner entscheidenden Bedeutung, was sich auch darin bestätigt,dass C’s Schwester und Bruder jeweils russische Ehepartnerhaben.

4.8.2.2 Wissensanalyse

Zwanzig Jahre im FlugDa C. während des Gesprächs an verschiedenen Stellen ins-gesamt fünf Mal betont, wie schnell die Zeit vergangen sei,handelt es sich hierbei um einen Aspekt, der sie beschäftigtund entsprechend eine nähere Betrachtung erfahren soll.

Das erste Mal antwortet C. auf die Aufforderung vom Le-ben in Deutschland zu erzählen, dass die Zeit »so im Flugvorbeigegangen« (Z. 281) ist und wiederholt die Aussage imselben Wortlaut kurz darauf, nachdem sie von den Kindern,Arbeit und Hausbau erzählt hat. Einen Satz später sagt sienoch mal: »Ja, die Zeit ist äh, da kann man, ich weiß nit, garnit so viel wie, diese zwanzich Jahre hätt ich nie gedachtdas die so schnell..« (Z. 295–297). Auf eine Frage, die sie zwingtüber das Leben in Deutschland nachzudenken, ist ihr vorder-gründigster Gedanke, die schnell vergangene Zeit; quasi dieÜberschrift für die letzten 20 Jahre. Folgende Bedeutungenkönnen einer solchen Bilanz im vorliegenden Zusammenhangzugrunde liegen: 20 Jahre waren von so überraschend kurzerDauer, dass C. es verpasst hat zu registrieren, wie sie vorange-schritten sind. Dies kann Zeichen für eine geschäftige als auchgute und zufriedene Zeit sein, denn nach langer Untätigkeitoder nach einer leidvollen, unangenehmen Zeit würde mandiese kaum als »im Flug vergangen« bezeichnen. Aber aucheine gewisse Wehmut nach der vergangenen Zeit bzw. dar-über, dass sie schon zuende ist, kann in einer solchen Aussageenthalten sein.

Auffallend ist, dass sie diese sowohl in dem betrachtetenPassus (Z. 281–297) als auch an zwei weiter unten angeführtenStellen dann trifft, wenn sie unter Anderem vom Eigenheimredet. Vielleicht weil jenes sehr zentral im Zeitraum der 20Jahre steht; es hat wegen des hohen Arbeitsaufwands vielZeit in Anspruch genommen, die schnell vorbeiging und sichanschließend auch gelohnt hat. Denn Familie C. hat und hatteeine gute und zufriedene Zeit darin. Anders als in Kirgisien,

Page 37: it - Gesellschaftbilder Und Selbstverst Russlanddeutscher Aussiedler in der Sowjetunion und in Deutschland

Analysen 27

wo Arbeitsaufwand und die Freude an seinem Ergebnis auf-grund des nur kurzen Wohnens im selbstgebauten Haus ineiner schlechten Relation zueinander standen: »Wir haben soein schönes Haus gehabt und so, verkaufen und (wieviel ha-ben) und dann stand man da mit Geld und dacht: ‚Wie das istjetzt alles? Haben wir geschafft und gearbeitet und gemachtund so und jetzt haben wir’« (Z. 190–194). C. beendet denSatz nicht, man könnte ihn aber mit »nichts« oder »Geld«ergänzen. Die Dramatik liegt darin, dass das Haus, welcheseinen hohen (emotionalen) Wert hatte, so schnell aufgegebenwerden musste.

Die beiden anderen Male, dass C. von den 20 Jahren »wiein einem Flug« (Z. 377) bzw. »wie ein Hauch« (Z. 483) spricht,bringt sie auch das Thema des anfänglichen Eingewöhnensund damit die Überlegung des Zurückwollens mit ein. In die-sem Rückblick kann sie einen Prozess ausmachen; von einemschwierigen Einleben und Sehnsucht nach der guten Zeit inKirgisien zur heutigen Zufriedenheit und der gefundenen Hei-mat in Deutschland, die sich darin äußert, nicht mehr zurückzu wollen:

Aber jetzt denken wir auch gar nit, naja schon lange aberso das äh.. nee wir haben überhaupt nit das wir zurückwollten oder was, nein, aber musste doch ne bestimmteZeit bis wir uns da so eingewöhnt haben (S.74, Z.484–487)[…] war, die erste ja gut, n bisschen wie man sagt ähm, jagut schwer nit, aber ja, am Anfang ja, bis man das alles dakapiert hat wie und was und (S.73, Z.374–376)Gut wir haben uns ja, jetzt können wir uns das nicht mehrvorstellen, wir denken immer zurück: ›Ach‹, denken wir soes war, aber zwanzich Jahre, da hat sich in Russland schon,zehn mal alles verändert. (S.73, Z.380–383)Im letzten Zitat spricht C. an der Stelle »›Ach‹, denken wir

so es war« nicht aus; »schön« könnte man sinnvoll einsetzen.Aber da sie diese Sehnsucht nicht wieder wach werden lassenwill, wird sie rational und fixiert ihren Blick schnell auf dieGegenwart, in der »Russland« nicht mehr das ist, als wases in ihrer schönen Erinnerung fortbesteht. Somit scheint derProzess auf emotionaler Ebene nicht ganz abgeschlossen, wirdaber mit rationaler Hilfe Richtung Abschluss gebracht.

Unfreiwillige Ausreise nach DeutschlandAuf die Nachfrage wie es zur Auswanderungsentscheidungkam, folgt eine Argumentation zu deren Begleitumständenaus denen deutlich wird, wie wohl sich Familie C. in Kirgisienfühlt und wie ungern sie dieses Land verlässt.E. C.: Ja, ich sag ja, wir haben uns gar nit wie, haben niegedacht das wir überhaupt mal nach Deutschland kommen,weil früher war das auch so, wir haben ja überhaupt garkeine Information gehabt überhaupt, wir wussten ja über-haupt nit wie das, wurde ja nirgendwo geschrieben, nir-gendwo geschildert wie was wann, wir wussten überhauptgar nix. Ja gut die Tante die hat da, meine Schwiegermutterhat die da Briefe geschrieben aber das war ja alles so geheim,ja gut und da, da ist gut, aber das war für uns so unendlicheWeite, wer weiß. Und haben wir dann auf einmal, sind allenach und nach und nach sind alle weg und dann auf einmal(Frau kommt ins Haus) »Hallo Lena« (spricht kurz auf Rus-sisch mit ihr). Ja und dann ja alle, alle, auf einmal war dasso, das war überhaupt uns sehr so’n richtig äh ich meinefür uns und für mich und für meinen Mann und so, das

war richtich schlimm, auf einmal alle nacheinander da wieimmer so eine, äh ich meine mein Mann hat viele Cousensund Cousinen und so und wir waren immer so alle engzusammen und die Freunde und so, und auf einmal warenso nach der kurzen Zeit, einer nach dem anderen weg, ja.Oh dann haben wir uns so, weißt du das war ein so, soein Gefühl wie, wie jetzt sind all, wie, das war das wartatsächlich schlimm. Ja und dann waren meinem Mannseine Eltern ein halbes Jahr weg und dann haben die unsauch ein Visum gemacht, der kam auch schnell und dann ahund dann das Haus, wir haben so ein schönes Haus gehabtund so, verkaufen und (wieviel haben) und dann stand manda mit Geld und dacht: »Wie das ist jetzt alles? Haben wirgeschafft und gearbeitet und gemacht und so und jetzt ha-ben wir« wir haben das gar nit so kapiert, weißt du das warso schlimm für uns, wie? Und wir wussten ja überhauptauch nit wie das da jetzt in Deutschland sein wird, ja undwir haben nur gedacht: »Ach naja, wir sind noch, ja gut,wir sind noch jung und wir müssen ja noch arbeiten« undwir haben uns gar nit auch vorgestellt damals das hier dochauch schwer mit der Arbeit oder so, weil in Russland warin der Zeit ja noch genug Arbeit und so, das haben wir, daswar für die Menschen so eine Beruhigung ja, das, dieArbeit, war waren, wir haben so ne Stadt gehabt, oi wievielwaren da ( ) tausend, musst meinen Mann fragen der weißdas ja, und äh, hat jeder Arbeit gehabt, da waren so vielFabriken und für Frauen und äh Nähfabriken, Oberbeklei-dung, da war Fabriken wo sie Bettwäsche genäht haben,wo sie Kleider genäht haben, wo sie Schuhfabriken wo sieSchuh, also Arbeit hat jeder gehabt.I: Hm hm.E. C.: Und deswegen waren die Leute auch so, ich meine soausgeglichen und ruhig und äh, da hat jeder hat gearbeitet,hat Geld verdient, konnte sich kaufen was er wollte. Wennjemand (will, sagte) wir haben Haus gebaut, haben Hausgehabt und auch bisschen im Garten angebaut, also waralles gut, war richtich schön.I: Hm hm.E. C.: Und das alles dann auf einmal: »Wie, warum fahrendie denn alle, wie!« Das war, das war für uns war dasschwer zum Beispiel, ich weiß nit. (S.71, Z.166–219)Als erstes führt C. ihre damalige Perspektive der Undenk-

barkeit einer Ausreise nach Deutschland an, die sie zunächstmit der Unwissenheit über das Zielland begründet. Denndiesbezügliche Informationsbeschaffung war einerseits sehrschwierig, wenn nicht unmöglich, andererseits war C’s Inter-esse daran auch sehr gering. Über die Briefe der Tante war esihr möglich etwas mehr zu erfahren, so wusste sie auch »daist gut«, was ihre Neugier aber nicht wecken konnte, denn»das war für uns so unendliche Weite«. Das Fremde und Unbe-kannte übt keinerlei Reiz auf sie aus. Deutschland ist von dem,wer C. ist und was sie umgibt so weit entfernt, dass die Über-legung dahin auszuwandern von ihr selbst gar nicht ausgehenkann. Dies legt den Schluss nahe, dass ihr weder durch ihreMutter oder Großeltern, noch durch ihre soziale Umgebungin Kirgisien, die zu einem Großteil aus Deutschen bestand,der Wunsch vermittelt wurde nach Deutschland auszureisen.Zwar besitzt die ethnische Zugehörigkeit zur deutschen Min-derheit eine gewisse Relevanz für C., damit geht aber nichtder Wunsch einher deshalb auf deutschem Boden leben zu

Page 38: it - Gesellschaftbilder Und Selbstverst Russlanddeutscher Aussiedler in der Sowjetunion und in Deutschland

28 kapitel 4 Empirische Untersuchung

müssen. Kirgisien ist ihre gefühlte Heimat; da wo sie und ihreFamilie im selbstgebauten Haus lebt, Arbeit hat, die ihr eingut versorgtes Leben ermöglicht und Freunde und Verwandte,zu denen sie enge Beziehungen pflegt. Als aber die deutschenund damit die meisten unter ihnen die Möglichkeit der Aus-reise Ende der 80er Jahre nutzen, fällt mit diesen der für C.und ihren Mann gewichtigste Grund des Wohlbefindens inKirgisien weg, der sie schließlich zur Ausreise in das für sieso fremde Land ‚zwingt’. An späterer Stelle bringt sie es fol-gendermaßen auf den Punkt: »Waren ja auch alle zusammenimmer, und dann als das anfing mit demAuswandern, ja dannklar, dann haben alle Hals über Kopf: ›Schnell schnell so, blei-ben wir hier alleine und die Verwandte sind schon alle wegund..‹« (Z. 997–1000). Dieses Zitat steht in dem Abschnitt, indem C. auf die Frage eingeht, ob es besonders war als Deut-sche in Kirgisien zu leben (Z. 983–1014). Ihre Antwort daraufbringt Argumentationen hervor, die sie zu dem Thema der»unfreiwilligen Ausreise« führen. Zunächst sagt sie:

E. C.: Em, bei uns war das nit so schlimm, weißt, bei unswar, die haben das weil, ich sag ja, weil wir immer in soGebieten gewohnt habenwo viel Deutschewaren und dann,da haben wir das nit so gemerkt ja, wie einige erzählen:»Ach das«, vielleicht war das auch so, ich weiß das nit, aberbei uns äh… eigentlich sogar die Russen und die Kirgisenund so, die haben sogar immer: »Ah die Deutschen diehaben immer Ordnung, die haben immer«, weißt du so, jadas war wahrscheinlich überall so.I: Hm.E. C.: Nein, uns hat da keiner nit wie, wir waren da auchsehr glücklich.. (S.78, Z.985–996)Das »nit so schlimm« bezieht sich auf das vorher Gesagte,

wo C. vom Großvater ihres Mannes erzählt, der zu Kriegszei-ten im Gefängnis sterben musste, weil er Deutscher war. Fürsich kann sie jedoch keine negative Behandlung aufgrund ih-rer Zugehörigkeit zur deutschen Minderheit ausmachen, wassie darauf zurückführt in einem Gebiet mit vielen Deutschengelebt zu haben. Im Gegenteil, ihr wird seitens der Russen undKirgisen sogar Anerkennung zuteil: »’Ah die Deutschen diehaben immer Ordnung’« und sie ist glücklich dort zu leben.Anschließend untermalt sie das Glück mit der oben bereitszitierten Gemeinschaft. Dieses zerbricht dann mit der Aus-wanderung von Verwandten und Freunden und der Aussichtalleine zurückbleiben zu müssen bzw. es ihnen gleich tun zumüssen.

An dieser Stelle erwähnt C. auch davon gehört zu haben,wie andere für eine Ausreiseerlaubnis »schon zehn Jahre ge-kämpft« (Z. 1008) haben. Diese Leute gehören aber nicht zuihrem engeren Bekannten- und Freundeskreis; sie hat nur vonihnen vernommen und grenzt sich klar von ihnen ab: »Undobwohl die Tante von meinem Mann da war schon zehn Jahreund wir haben, wir haben gar nix, gar nit, gedacht das wirmal zu Besuch oder, für uns war das unendliche Weite undwer weiß wo das war« (Z. 1010–1014).

GemeinschaftBereits mehrmals wurde diese Kategorie schon erfasst, die inC’s Leben eine so zentrale Bedeutung hat; die Gemeinschaft.Das Leben in engen Beziehungen mit Verwandten und Freun-den, die in der Nähe wohnen, ist ihr sehr wichtig und einetreibende Kraft, die die Ausreise nach Kirgisien (hier liegt die

Entscheidung noch mehr bei C’s Mutter, für die dieser As-pekt aber vermutlich ebenso einen hohen Stellenwert besitzt(vgl. Z. 666) und Deutschland bewirkt und in ihrem ganzenLeben erkennbar ist. In der Beschreibung ihrer Schulzeit er-wähnt C.: »Waren immer draußen mit den Freundinnen dannimmer pff, die meiste Zeit waren wir« (Z. 596). In Bezug aufihr Leben in Kirgisien betont sie die sehr guten Beziehungenzu Cousins und Cousinen des Ehemanns als auch zu Freunden(Z. 181–183). Des Weiteren schildert sie auch gemeinschaftlicheAktivitäten mit den Kollegen am Arbeitsplatz (gemeinsamesFrühstück Z. 746–752, Basareinkauf Z. 829–838).

C’s zentraler Lebensinhalt »Gemeinschaft« bleibt auch inDeutschland erhalten:

[…] und dann äh Wochenenden und dann (atmet aus), ähweil wir, wir haben viel Freunde, die ganze Freunde mitdenen wir da zusammen waren sind auch hier, aber nit alleäh wohnen hier in userm, aber viele auch. Und dann meinMann hat sechs Geschwister, mit meinem Mann sie sind zusechst und wir sind alle auch sehr nah (S.72, Z.299–304)Dabei sind die Freunde dieselben geblieben, sodass die en-

gen Kontakte mit ihnen fortbestehen. Unklar, aber denkbarbleibt, dass diese durch weitere Kontakte mit Aussiedlern er-gänzt werden. »Wenn man ehrlich sagt, wir sind äh, auchselten mit so in so Gesellschaften äh, wir sind meistens unteruns. Gut äh, nee gut, auf der Arbeit und so, doch, aber… ei-gentlich ganz normal« (Z. 1109–1112). Mit »unter uns« meint C.entweder den Freundes- und Verwandtschaftskreis oder Aus-siedler im Allgemeinen. Diese Beziehungen führt sie zuerstausschließlich an, besinnt sich dann aber noch auf die weite-ren Kontakte zu den Kollegen, zu denen sie auch ein gutesVerhältnis hat und um deren Verständnis für die Geschichterusslanddeutscher Aussiedler sie bemüht ist (vgl. Z. 313–344).Nachdem C. die Gemeinschaft mit Verwandten und Freundenthematisiert, macht sie folgende Aussage: »Ja, so haben wiruns son bisschen so integriert, ja wie man sagt…« (Z. 313)und beginnt daraufhin von ihrem guten Verhältnis zu den Ar-beitskollegen zu erzählen. C. fühlt sich unter anderem deshalbintegriert, weil sie das, was so zentral und identitätsstiftendfür sie ist – Gemeinschaft – leben kann. Vielleicht schränktsie ihre Integration auf »son bisschen« ein, da ihr Umgangmit den Kollegen zwar gut ist, aber doch nicht so warm wiemit den Kollegen im Rathaus in Kirgisien:

[…] da waren wir so äh, mehr zusammen mit den Leuten,ich meine äh zum Beispiel wenn, sogar zum Beispiel wennmorgens haben wir auch Frühstückspause gehabt und ha-ben wir gefrühstückt, wir haben nit so gefrühstückt zumBeispiel wie hier, jeder holt äh das Frühstück raus was du dagebracht hast, isst selber und das war’s. (S.76, Z.746–752)

Neuanfang und heuteNachdem C. die Auswanderungsentscheidung dargelegt hat,beschreibt sie, wie sie die erste Zeit in Deutschland erlebt undempfunden hat.

Ja und dann hier, ja hier haben wir uns gefühlt wie vomHimmel gefallen, das stimmt. Und wir haben ja auch nochäh.. wir dachten, wir kennen ja Deutsche, ist doch kein Pro-blem, ja aber anscheinend war das nit so, das die Sprachevor zweihundert Jahre von unsere Großeltern wie die um-gesiedelt sind, die sind ja auch freiwillig von Deutschlandnach Russland umgesiedelt, als der, der Peter der Zar der

Page 39: it - Gesellschaftbilder Und Selbstverst Russlanddeutscher Aussiedler in der Sowjetunion und in Deutschland

Analysen 29

hat ja mit dem deutschen Kaiser hat er so verabgemacht, ja,weißt ja die GeschichteI: Ja, jaE. C.: und das sind ja unsere Urgroßeltern gewesen.. Ja unddann sind wir zurück, ja war, klar hier war alles aber wirhaben uns schrecklich schrecklich fremd gefühlt, obwohl,ich weiß nit, wir haben ja auch mit deinen Eltern haben wirSprachkurs gemacht und wir haben so eine schöne Lehreringehabt, schöne (lacht), gute. Und die war ja auch zu uns,die hat uns alles so beigebracht und erklärt, klar war das,das war, ich sag immer zu meinem Mann: »Wenn wir esda gewusst hätten, ähm wäre die Hälfte Russlandsdeutschenit nach Deutschland gekommen.«I: HmE. C.: Wegen, ichmeine wegen diese ähm.. diese, überhauptUmstellung und diese seelische alles, weißt du, wir habenhier auch, wir wurden versorgt ja im Lager da.. und äh wirhaben auch zu Essen gehabt und alles das Notwendigste.Aber das alles, ja wie, ohne alles, ohne Wohnung, ohnealles standen wir da und uäh, und das ist noch gut daswir so viele Verwandte gehabt haben, die haben uns allegeholfen da, und Wohnung zu suchen und in der Zeit warso schwer, neunundachtzich, weil so viel umgesiedelt sindund, aber. Ja, war(sch) mir klar, ich meine, diese ganzeUmstellung und ganze, anderes Land und andres, klar istdas schwer. Das ist äh, das war ja auch selbstverständlichnur das wir nix gewusst haben. Anscheinend war das (oft)so. (S.71, Z.219–252)C. beschreibt einen schweren Start in Deutschland; sie und

ihr Mann fühlen sich »wie vom Himmel gefallen«. Damitführt sie bildhaft vor Augen, dass ihr im neuen Land nichtsbekannt ist und sie somit auf kein bereits vorhandenes Hand-lungs- oder Orientierungsmuster zurückgreifen kann, son-dern – vielleicht wie ein Kind – alles neu lernen muss. Diesstellt eine große Herausforderung dar, der sie – anders alsdie Großeltern, die »ja auch freiwillig von Deutschland nachRussland umgesiedelt« sind, gezwungenermaßen begegnenmuss. Die ernüchternde Feststellung mangelnder deutscherSprachkompetenz trägt erheblich zum anfänglichen Unwohl-befinden bei. Aber trotz des Sprachkurses mit einer gutenLehrerin und damit sehr wahrscheinlich einhergehenden Fort-schritten der Deutschkenntnisse, als auch der Erkenntnis »klarhier war alles«, haben sich C. und ihr Mann »schrecklichschrecklich fremd gefühlt.« Dieses Gefühl der Unsicherheitund Angst führt sie auf eine »seelische Umstellung« zurück,die aus der Fremdheit des Landes und dem Fehlen jeglicherInformation (und damit einer möglichen Vorbereitung) dar-über resultieren. Hätte C. in Kirgisien gewusst was auf siezukommt, wäre sie und »die Hälfte Russlanddeutsche nit nachDeutschland gekommen«, so denkt sie aus der Perspektivekurz nach der Einreise. Die »seelische Umstellung« hat ihreUrsache aber auch in der strukturellen Umstellung; denn dieVersorgung mit dem Notwendigsten im Lager und das Da-stehen »ohne alles, ohne Wohnung, ohne alles« bedeuteteine Verringerung des Sozialstatus und somit Verunsicherung.Dessen Veränderung trägt schließlich einen Großteil zumWohlbefinden bei: »Ja und so jetzt sind, ja, haben Haus ge-baut und jetzt denken wir das musste so sein und sind auch,ich meine.. froh darüber« (Z. 255–257). C. macht in keinsterWeise irgendein Fehlverhalten von hiesigen Deutschen für

ihr Fremdfühlen und den schwierigen Start verantwortlich.Im Gegenteil; sie weiß diesbezüglich nur Positives zu berich-ten:E. C.: und so überhaupt als wir ja.. alle die ganze Papieregemacht haben als wir kamen und so und äh, wie immer sodie Behörden und wie die Leute immer, ich weiß nit, zu unswaren alle immer ganz normal, ja kann ich nit sagen dasjemand uns da äh ausgeschimpft nee nicht ausgeschimpft,überhaupt, jah ich versteh, ich weiß nit, haben immer er-klärt, haben immer äh, eigentlichwar, da kann ich nix sagen.War immer alles gut und die haben sich auch so viel Mühemit uns gegeben, weil wir auch mit unserer Sprache undmit unserem Verständnis, weißt selber wie wir da gespro-chen haben und die mussten dann auch rätseln was wirgewollt oder gemeint haben.I: Hm.E. C.: Also wir können uns nit beschweren, ich weiß nit,war alles okay Gut das hat die, immer was und da gege-ben, wir, vielleicht das und das aber im Grunde, im ganzenGrunde war ja alles gut. (6) (S.74, Z.499–515)C. grenzt sich hier von den »Menschen die immer was zu

meckern haben« (Z. 494) ab, indem sie sich als Optimistin be-schreibt (Z. 494f) und ihre »normalen« Erfahrungen bei denBehörden schildert bzw. deren Bemühen sogar lobend hervor-hebt. Einerseits um ihr Selbstbild (als Optimistin) zu wahrenund andererseits um das positiv gezeichnete Bild nicht zu wi-derlegen, bleibt sie bei dem Beispiel und führt keine weiterennegativen an. Sie fühlt sich nicht in der Position überhauptKritik üben zu dürfen (»wir können uns nit beschweren«)und deutet nur an: »Gut das hat die, immer was und da gege-ben, wir, vielleicht das und das aber im Grunde, im ganzenGrunde war ja alles gut.« Für C. scheinen diese Vorfälle nichterwähnenswert zu sein; viel wichtiger ist, dass »alles gut« war.In diesem Sinne bewertet sie auch die persönliche Situationheute:

[…] ich meine im Ganzen ah, zusammen da so so, wir müs-sen uns äh, ich meine äh, ja glücklich, naja gut glücklich jadas ist ein anderes Wort aber, ja glücklich schätzen das wirbis jetzt noch auch, ich meine Dach über’m Kopf, Essen undso, weil ich meine das ist das Wichtigste und die Arbeit ja,und dann kommt erst mal alles andere. (S.73, Z.433–438)Diese Aussage trifft sie nachdem sie die schwierige aktu-

elle Situation in Kirgisien beschrieben hat. Sie steht also imVergleich zu dieser. Insofern sieht sich C. in einer wesentlichvorteilhafteren Lage, kann aber nicht überzeugt sagen, sie sei»glücklich« in Deutschland. Die Zustandsbeschreibung »glück-lich« erscheint ihr nicht zutreffend, als geeigneter empfindetC. den Verb beinhaltenden Ausdruck »glücklich schätzen« umihre momentane Lebenssituation zu beschreiben. Denn zum»glücklich schätzen« kann man aktiv und von sich aus etwasbeitragen, anders als zum »Glücklichsein«. In Anbetracht von»Dach über’m Kopf, Essen« und »Arbeit« fühlen sie sich ge-zwungen, froh und dankbar zu sein (insbesondere im Ver-gleich zu Kirgisien). Dieses Gefühl gründet unter Anderemauf rationalen Überlegungen. »Glücklichsein« bewegt sich aufrein emotionaler Ebene und ist somit schwer beeinflussbar;dieses kann C. nicht entschlossen für sich behaupten. Auchnach 20 Jahren und einer abgeschlossenen Eingewöhnung(vgl. Z. 484–487) ist das in Kirgisien erlebte Wohlbefinden inDeutschland nicht erreicht. Vielleicht ist es die Sehnsucht nach

Page 40: it - Gesellschaftbilder Und Selbstverst Russlanddeutscher Aussiedler in der Sowjetunion und in Deutschland

30 kapitel 4 Empirische Untersuchung

dieser Zeit, die C. davor zurückhält überzeugt sagen zu kön-nen, sie sei in ihrer momentanen Situation glücklich. Denn imRückblick auf die Zeit in Kirgisien spricht sie ohne Vorbehalteaus: »Wir waren da auch sehr glücklich« (Z. 995).

OptimismusWie im vorangegangenen Abschnitt bereits zum Vorscheinkam, sieht sich C. als optimistischen Menschen (Z. 494f). ImFolgenden soll diese Einschätzung anhand weiterer Aussa-gen, die dem gesamten Interviews entnommen sind, beurteiltwerden. Sehr häufig findet sich die Bewertung, dass etwas»(richtig) schön war«. So in Bezug auf die neue Umgebungin Tadschikistan (Z. 81), die Schulzeit dort (Z. 96), die Arbeitin der Fabrik in Kirgisien (Z. 138), das Leben dort mit Ar-beit, Haus und Garten (Z. 214), das Eigenheim in Deutschland(Z. 295) und die Sprachlehrerin (Z. 233–234), bei der C. abervon »schöne« auf »gute« korrigiert. Als »gut« bezeichnet sieihre Arbeit in Deutschland und das Verhältnis zu den Kolle-gen sowie an anderer Stelle noch mal die Schulzeit und dieTatsache, dass sie dort »von der zweiten Klasse an deutsch[zu] lernen« konnte (Z. 604). Fast in jedem Lebensabschnittist eine positive Bewertung vorzufinden, ausgenommen derZeit vor und nach der Ausreise, die sie »schlimm« (Z. 187) und»schwer« (Z. 250) empfindet. Somit beweist sich C’s Selbstein-schätzung als Optimistin und wirkt authentisch, da sie auchunschöne Zeiten als solche erkennt und eingestehen kann.Diese Lebenseinstellung hilft ihr bei der Bewältigung neuerSituationen, die sie zunächst zwar als leidig wahrnimmt aberdank positiven Denkens zu zufrieden stellendem inneren alsauch äußeren Befinden wenden kann und damit der Integra-tion zuträglich ist.

»Bei jedem anders«C. betont immer wieder, dass das was sie zu berichten weiß,ihre persönliche Sichtweise und ihr Erleben ist und mit demAnderer nicht übereinstimmen muss. Insofern betrachtet sieihre (mit eingeschlossen ist immer auch der Ehemann, da siein der Wir-Form spricht) Perspektive als individuell und alseine von vielen möglichen.

So leitet sie ihre Meinung »wir müssen uns […] glücklichschätzen« (Z. 435f) mit den Worten: »Und em die Leute, najaklar, Leute sind, einer denkt so, einer denkt so« (Z. 431) ein.Vielleicht will sie diese Aussage zunächst auf alle Aussiedlerbeziehen, begrenzt dann aber ihre Gültigkeit auf die eigenePerson (bzw. Familie). Auch hinsichtlich dessen, was ihr amWichtigsten im Leben erscheint und in dem Streben nach einerbesseren beruflichen Position differenziert sie ihre Sichtweisevon anderen und grenzt sich damit ab: »Wir denken so, viel-leicht die haben, ja jeder, ich meine, jeder Mensch naja gut, ichäh, wir denken so und die andere kommt drauf an wie, wiedie Leute jetzt stehen […] aber für uns das alles, HauptsacheGesundheit und so« (Z. 440–446). Ebenso von »Menschen dieimmer was zu meckern haben« und zählt sich zu »Menschendie so positiv, die mehr positiv denken« (Z. 494–496). Als C.davon spricht, dass sie zur Eingewöhnung in Deutschland eine»bestimmte Zeit« brauchte, will sie diesen schwierigen Zeitab-schnitt nicht nur aus ihrer alleinigen Perspektive so betrachtetwissen und sucht zunächst in den Eltern der Interviewerindiesbezüglich Gleichgesinnte: »Ja deine Eltern genauso wis-sen die auch« (Z. 487). Folgt dann aber doch ihrem Prinzip:

»Aber bei jedem anders weißt du, das kommt noch auf dieMenschen überhaupt wie die eingestellt sind und wie, wiewas, das jeder hat seine eigene Meinung dazu« (Z. 488–491).Auch wenn sie über ihr Leben in Kirgisien berichtet, über dasgute Miteinander und die Freundlichkeit, so hat sie doch auchvon anderen Erlebnissen gehört und bringt diese indirekt zurSprache: »Vielleicht war das bei jemand auch anders, ich sagja alles wer, bei einem so, bei einem, eine haben im Ort ge-wohnt, die andere haben in der Stadt gewohnt, da war ja auchganz anders in der Stadt« (Z. 846–849). Ebenso weiß C., dassihre Gründe für die Auswanderung nach Deutschland sichvon denen vieler anderer Russlanddeutscher (z. T. erheblich)unterscheiden: »Ja jeder hat, jeder hat dann was anderes zuerzählen, weißt du« (Z. 1000). Ihr ist bewusst, dass – ganz imGegenteil zu ihr – andere seit langer Zeit auf die Möglichkeitder Ausreise gewartet und dafür gekämpft haben.

C. weiß um ihre eingeschränkte Perspektive und bleibt beidem was sie persönlich weiß und erlebt hat ohne zu verallge-meinern. Es stellt kein Problem für sie dar, mit ihrer Meinungoder Sicht eventuell alleine zu stehen oder damit als allein ste-hend gesehen zu werden. So wie sie die Andersbetrachtendennicht verurteilt, braucht auch sie kein (negatives) Urteil ihrerWeltsicht zu befürchten.

Anhand der vielen Beispiele zeigt sich, dass C. die Vielfaltder Ansichten und Erfahrungen immer wieder hervorhebt,anstatt Verallgemeinerungen vorzunehmen, um ihreWeltsichtzu rechtfertigen.

Gesellschaft Kirgisien – DeutschlandIm Rahmen ihrer Argumentation zur Auswanderungsent-scheidung beschreibt C. auch wie sie die Gesellschaft in Kirgi-sien wahrnimmt. Viele Fabriken ermöglichten den Menscheneine Vollbeschäftigung, welche – so C’s Schlussfolgerung – fol-gende Auswirkungen hatte: »Und deswegen waren die Leuteauch so, ich meine so ausgeglichen und ruhig und äh, da hatjeder gearbeitet, hat Geld verdient, konnte sich kaufen waser wollte« (Z. 210–212). Arbeit und die damit gewährleisteteVersorgung des Lebensbedarfs gab den Menschen Sicherheitund wirkte sich positiv auf ihren Charakter aus; Ausgegli-chenheit und Ruhe beschreiben einen Zustand der Zufrieden-heit mit dem Gegebenen. Im Gegenteil zu dieser Beschrei-bung sieht sie die unsichere Lage auf dem Arbeitsmarkt inDeutschland, (von der sie kurz nach der Einreise persönlichbetroffen war: »Wir haben uns gar nit auch vorgestellt damalsdas hier doch auch schwer mit der Arbeit« (Z. 198), sodassauch ein konträres Bild von der deutschen Gesellschaft vermu-tet werden kann, welches sie aber nur implizit zum Ausdruckbringt.

Des Weiteren greift sie das Thema der Erziehung auf, de-ren Praxis in Kirgisien und Deutschland klare Unterschiedeaufweist und die für C. sehr markant sind: »Weil da war jadas ganz anders, die Kinder wurden anders erzogen und über-haupt alles, wir haben auch auf unsere Eltern immer Sie gesagt,nicht du oder was, das war so oder auf ältere Leute oder aufältere Nachbarn oder was immer Sie und so« (Z. 353–357). C.bringt dieses Beispiel an, weil hier der Verhaltensunterschiedsehr offensichtlich ist und ihr von anderen auch gespiegeltwird: »Ha, was habt ihr immer mit diesem ›Sie‹?« (Z. 357). Sienimmt aber viel mehr Unterschiede wahr, die sie nicht weiterkonkretisiert, vielleicht auch nicht konkretisieren kann, weil

Page 41: it - Gesellschaftbilder Und Selbstverst Russlanddeutscher Aussiedler in der Sowjetunion und in Deutschland

Analysen 31

sie schwer in Worten fassbar sind und resümiert: »Klar wardas ganz anders, überhaupt alles ganz anders« (Z. 359). Kurzdarauf geht sie zwar noch auf den unterschiedlichen Sprach-gebrauch ein (der Gebrauch englischer Umgangswörter, derin Kirgisien nicht üblich war); aber auch dies ist nur ein wei-teres augenscheinliches Beispiel, das für die Vielzahl der vonC. erlebten Differenzen steht. Das Exempel der andersartigenErziehung, das die Achtung vor Respektpersonen (Eltern undältere Personen) beschreibt, wird an späterer Stelle in andererWeise verdeutlicht. Als C. ihre Unwissenheit über den Vatererklärt, sagt sie: »Die Eltern haben, das war ja so die äh, nit sowie jetzt das die alles erzählen oder was, das war eben nit ähund wenn die Mutter das nit erzählt hat dann haben wir auchnit gefragt« (Z. 552–554). Hier wird die starke Autoriät derEltern deutlich, die C. in Kirgisien erlebt hat und wohl auchallgemein verbreitet war. Das Verhältnis der Kinder zu denEltern war nicht in dem Maße von Offenheit geprägt, wie esheute und in Deutschland der Fall ist (»nit so wie jetzt das diealles erzählen«). Diese Aussagen über Erziehung legen einentendenziell autoritären Erziehungsstil nahe, in dem der/dieErzieherIn alleine bestimmt und das Kind wenig in Entschei-dungen eingebunden ist. Die Folge eines solchen Stils ist unterAnderem ein hohes Maß an Sicherheit für das Kind.

Auf die explizite Frage nach C’s Gesellschaftsbild und ihrerEinschätzung dessen, was den Menschen in Kirgisien wichtigwar, antwortet sie folgendes:

E. C.: Ach was kann ich sagen, eigentlich da im Rathausals ich gearbeitet habe, wir waren da zehn Mann und allehaben Familie gehabt und äh, eigentlich die Leute warenalle so, ich meine jeder hat dann äh.. ich meine, da warendie Leute ähm irgendwie anders wie hier zum Beispiel,die waren, da waren wir so äh, mehr zusammen mit denLeuten, ichmeine äh zumBeispiel wenn, sogar zumBeispielwennmorgens haben wir auch Frühstückspause gehabt undhaben wir gefrühstückt, wir haben nit so gefrühstückt zumBeispiel wie hier, jeder holt äh das Frühstück raus was duda gebracht hast, isst selber und das war’s. Damals wardas, das war, ich meine wir haben, wir waren immerso zusammen wie eine Familie, wir haben, jeder hat wasmitgebracht, aha dann haben wir geguckt die Zeit, habenwir äh Elektrokocher aufgestellt, dann haben wir alles aufden Tisch gestellt, dat hat alles, ich hab zum Beispiel das,ich hab Marmelade mitgebracht, die andere: »Ach ich gehmal schnell Brot kaufen«, das war jetzt, haben wir hier inder Nähe, die andere hat Wurst mitgebracht, die andere hatSpeckmitgebracht, die andere hat ein paar Eier mitgebracht.Wir haben dann alle immer zusammen, das gab es nit beiuns so das einer selber isst. Wir haben, da war ja allesGemeinschaft, da haben wir alle zusammen gegessen dannhaben wir schnell alle zusammen abgeräumt und das war’s.I: Hm.E. C.: Und die Leute waren, wie waren die Leute, die Leute,jeder hat äh äh, ja jetzt diese Zeit haben die Leute sichauch ganz verändert aber die Leute waren, ich meine wieman sagt… naja anständig, ja wie, wie man sagt ja anstä,ich meine anständig, jeder hat gesorgt für die Familie das,das die Kinder in die Schule, das besser das die zuhausehelfen, weißt du jeder hat sich bemüht ähm.. immer waszu machen (S.76, Z.742–773)C. stützt sich bei ihrer Beschreibung der Gesellschaft auf

das Wissen aus ihrer unmittelbaren Umgebung in Kirgisien;vom Arbeitsplatz im Rathaus führt sie ihre Betrachtungenaus. Darüber hinaus kann und möchte sie keine Aussagen ma-chen. C. beginnt ihre Ausführungen mit »alle haben Familiegehabt«, was darauf schließen lässt, dass die (Kern)Familieweit verbreitet war und somit die »normale« Lebensform dar-stellte. Danach ringt sie um die passenden Begrifflichkeitenzur Beschreibung der Menschen, die »irgendwie anders« sindals in Deutschland und drückt es dann so aus: »Da warenwir so äh, mehr zusammen mit den Leuten.« Um dies zu ver-anschaulichen, schildert sie sehr ausführlich die gemeinsameFrühstückspause am Arbeitsplatz, die für C. das Symbol derherzlichen Gemeinschaft ist, welche sie sogar mit der einerFamilie vergleicht: »Wir waren immer so zusammen wieeine Familie.«Wie in einer solchen übernimmt jeder eine Auf-gabe und trägt so zum Gemeinwohl bei. Dem Bild der Familieentgegengesetzt betrachtet sie die deutsche Gesellschaft, inder jeder sein Frühstück nur für sich mitbringt und es alleineeinnimmt, wo der Blick also auf die persönlichen Bedürfnissekonzentriert ist und kein Sinn für Gemeinschaft besteht. Dafür C. persönlich Gemeinschaft sehr wichtig ist, ist es auchdieser Aspekt, den sie auf die Frage nach der Gesellschafthervorhebt.

Des Weiteren beschreibt sie: »Die Leute waren, ich meinewie man sagt… naja anständig« und meint damit das Sorgetragen um die Familie im Sinne einer Förderung der Kinderin Schulangelegenheiten und ihre Erziehung zu Mithilfe imHaus. Außerdem habe sich jeder »bemüht ähm.. immer waszu machen.« C. rückt hier erneut die Familie in den Forder-grund; die Leute sind »anständig«, weil sie sich um die Familiekümmern und sich um ihre Fortentwicklung (insbesonderedie der Kinder) bemühen. Diese Aussagen beschränkt sie aufdie von ihr erlebte Zeit in Kirgisien und stellt keinen Vergleichzur deutschen Gesellschaft her.

Danach schildert C., wie sie einige Kollegen aus dem Rat-haus in der deutschen Art der Verwertung eines geschlachte-ten Schweins unterweist und formuliert folgendermaßen denAspekt, den sie mit diesem Beispiel untermalen wollte:

Eigentlich so, und jeder hat voneinander was gelernt, acheiner, und ich koch das und ich mach das, nicht nur vonKochen meine ich und ähm, was ja bei den Russen so ist,die sind sehr gastfreundlich und ähm, wenn du zu denenzu Besuch kommst, dann geben die dir das letzte Stückchendas, die verstecken das nicht im Kühlschrank für sich, dannkriegst du das, weil du zu Besuch gekommen bist. Ja, und..also, war schon, oder wenn zum Beispiel äh nach der Ar-beit jemand auf den Basar gefahren ist oder zum Beispiel»Ah wir müssen jetzt pflanzen Paprikapflänzchen oder nochwas«, dann hat jeder, dann kam jeder dann: »Brauchst duwelche, brauchst du welche?« »Ja.« »Wieviel soll ich mit-bringen?« Dann hat, zum Beispiel, ich hab das dann nit nurfür mich gekauft, dann haben wir dann zusammengelegtund dann hab ich anstatt zwanzich Pflänzchen hab ich dannhundert Stück gekauft, jedem dann, dann hat jeder abendsdann gepflanzt und so und dann waren alle glücklich (lacht).I: (lacht)E. C.: Doch, das war ne gute Zeit und eigentlich die Men-schen die waren auch und.. wenn du dann zum Beispiel äh,das war ja auch nit so wie hier, das Brot oder Wasser gingman zum Nachbarn: »Ach hör mal, ich hab Besuch gekriegt,

Page 42: it - Gesellschaftbilder Und Selbstverst Russlanddeutscher Aussiedler in der Sowjetunion und in Deutschland

32 kapitel 4 Empirische Untersuchung

kannst du mir dann ein Leib Brot leihen oder nochWasser?«Also jeder war freundlich und das, kann man nit sagen, ichhab das nit erlebt, ich weiß nit. (S.76, Z.822–846)Das Voneinander Lernen unterstreicht die Vorstellung von

einem freundschaftlichen Miteinander zum gegenseitigen Vor-teil. C. unterscheidet hier die voneinander lernenden Parteiennach ethnischer Zugehörigkeit; Russen lernen das Schweine-schlachten von Deutschen und diese die Gastfreundlichkeitvon Russen. Da sie in ihren bisherigen Ausführungen zurGesellschaft in Kirgisien diesbezüglich keinerlei Unterschiedegemacht hat, bestätigt sich hier die etwas später so formulierteWeltsicht: »Aber wie man sagt ja, die Leute sind eigentlich allegleich. Deutsche, Russen, bei jedem – klar die Mentalität istanders – bei jedem sind auch solche Leute auch solche Leute,weißt du, das ist bei jedem Volk so…« (Z. 1075–1078). So kannman von den unterschiedlichen »Mentalitäten« und Kenntnis-sen, wie in den konkreten Beispielen angebracht, lernen undprofitieren; die ethnische Zugehörigkeit ist für C. aber keinKriterium, nach dem sie die Gesellschaft ordnet. Wenn sie vonder Ausgeglichenheit der Leute, der Kindererziehung oder derVorrangstellung der Familie etc. spricht, so differenziert sienicht zwischen den Ethnien. Denn schließlich kann sie auch»keine Inzidenten erzählen (weiß ich nit), die haben so viel Na-tionalitäten und immer gut alle miteinander ausgekommen«(Z. 1072–1073). In der im Interview abverlangten Reflektionerkennt C. das gute Miteinander der »viel(en) Nationalitäten«,die sie in ihrem Alltag aber nicht differenziert wahrnimmt.

Das Beispiel des Pflanzenkaufs auf dem Basar, den C. oderein/e andere/r KollegIn für das gesamte Kollegium übernimmt,zeugt von einem Denkmuster, das das Wohl des Kollektivsals sehr wichtig einstuft. Es scheint selbstverständlich, dass C.»das dann nit nur für (sich) (ge)kauft«, wie sie es in Deutsch-land wahrscheinlich tun würde, sondern die Kollegen bedenkt,damit »alle glücklich« sind.

Weiterhin sagt sie: »Also jeder war freundlich« und beziehtsich dabei auf die Selbstverständlichkeit der nachbarschaftli-chen Hilfe, die sich darin äußert, dass mit Brot und Wasserausgeholfen wird, wenn jemand spontanen Besuch empfängtund selber damit nicht dienen kann. Es ist selbstverständlichum Hilfe zu bitten und erfordert somit keine Überwindungdes Schamgefühls aufgrund einer Bedürftigkeit. Denn genauso›normal‹ ist es Hilfe zu geben, sodass sie auf Gegenseitigkeitberuht. Wenn C. sagt: »Wenn du dann zum Beispiel äh, daswar ja auch nit so wie hier, das Brot oder Wasser ging manzum Nachbarn«, so könnte zweierlei gemeint sein. Erstens,dass der Vorrat an Brot und Wasser im Haushalt in Kirgi-sien nicht jederzeit und so selbstredend gegeben war wie inDeutschland oder zweitens, dass die nachbarschaftliche Hilfein Deutschland nicht (in dem Maße) gegeben ist wie in Kirgi-sien. Es könnte aber auch beides gemeint sein.

C. nimmt die kirgisische Gesellschaft als eine wahr, in derjeder einzelne ›seines Glückes Schmied‹ ist: »Meine Meinungdas das hing ja alles von zum Beispiel von dir ab, wenn dudich selber bemüht hast und äh Beruf gelernt hast, studierthast […] wenn du gewollt hast und, ja dann hast du das auchgemacht.« (Z. 920–930). Mit dieser Aussage antwortet sieauf die Frage nach den »Verlierern« und »Gewinnern« derGesellschaft, die anhand des Kriteriums der (Berufs)Bildungerwogen werden. Wer also die Bildungsangebote wahrnimmtund sich bemüht, der hat auch die Möglichkeit »Gewinner«

zu sein. Letzteres gilt insbesondere für Deutsche, denn ihnengegenüber war man an den Universitäten bzw. Berufsschulen»nit so sehr freundlich« aber »so sehr gravierend war das auchnit« (Z. 928, Z. 927). Allerdings gilt nicht der Umkehrschluss;diejenigen, die weder Ausbildung noch Studium absolvierthaben, sind aus C’s Perspektive nicht automatisch »Verlierer«.Schließlich gehört sie selber zu ihnen, macht aber an keinerStelle deutlich, dass sie sich als solche fühlt oder jemals ge-fühlt hat; im Gegenteil, betrachtet sie ihr Leben doch stets als»schön« oder »gut«.

Auf die Frage nach den bedeutendsten Unterschieden zwi-schen der deutschen und der kirgisischen Gesellschaft, ant-wortet C. zunächst, dass schon so viel Zeit vergangen sei, Sieerweckt damit den Eindruck, als könne sie sich nichtmehr erin-nern, benennt dann aber doch kurz die andersartige Erziehung,die sehr prägend gewesen sei (vgl. Z. 1115–1120). Schließlichsagt sie wieder: »Und so, für uns ist das ja klar ganz anders.Aber jetzt derzeit kann ich gar nix sagen warum, ichweiß nit..«(Z. 1124–1126). Und noch einmal beteuert, sie wüsste es nicht(Z. 1128). Einerseits ist Ablenkung ein möglicher Grund da-für, da ihr Ehemann zu diesem Zeitpunkt ins Zimmer kommtund den Fernseher anschaltet, andererseits könnte es für C.schwierig sein, konkrete Unterschiede zu bezeichnen, weildas Leben in Deutschland kein Leben in der Fremde mehrist, sondern vertraute Umgebung und vertrauter Alltag, wiesie an anderer Stelle sagt: »Wir haben uns auch über Vie-les immer gewundert und so, aber jetzt wenn uns mal, jetztwenn du mich fragst, ist alles normal« (Z. 351–353). Währendder Beschreibung der kirgisischen Gesellschaft kommt C. aufeinzelne Punkte zu sprechen, die im Vergleich zur deutschenGesellschaft differieren, jedoch fällt es ihr schwer diese auchaus dem umgekehrtem Blickwinkel zu sehen; sie kann ausder deutschen Gesellschaftsbeschreibung heraus keine Unter-schiede benennen. Vielleicht ist sie heute zu sehr Teil vondieser, als das sie in der Lage wäre die nötige Distanz herzu-stellen, um solche Aussagen treffen zu können; ein Zeichenvon gefühlter Integration.

4.8.2.3 Selbstverständnis und Gesellschaftsbilder El-vira Claus’

SelbstverständnisElvira Claus sieht sich als Tochter einer Familie, die zur (platt-)deutschen Minderheit gehört und als solche eine besondereGeschichte durchlebt hat, die dazu führt, dass C. in Sibiriengeboren wird und dort die ersten sieben Jahre ihres Lebens ver-bringt. Als Deutsche darf die Familie die unwohnliche Regionbis 1956 nicht verlassen. Insofern wird C. davon geprägt, auf-grund ihrer Zugehörigkeit zu einer deutschstämmigen Familiebesonderen Umständen ausgesetzt zu sein. Folglich nimmt siesich als deutsches Kind wahr. Auch als die Familie nach Ta-dschikistan auswandert und dort in einer deutschen Siedlungwohnt, macht C. ihre eigene Zuordnung als Plattdeutsche klar.Jedoch stellt diese Einordnung für C. keine Handlungsorientie-rung dar; die Tatsache in eine deutsche Familie hineingeborenzu sein, wirkt sich zwar auf die Begleitumstände ihrer Ge-burt und Kindheit aus, bringt deutsch-kulturelle Praxen mitsich (deutsche Sprache, ›deutsches Schweineschlachten‹) undschließlich die Möglichkeit der Ausreise nach Deutschland,aber beeinflusst sie weder in ihren Entscheidungen noch in ih-

Page 43: it - Gesellschaftbilder Und Selbstverst Russlanddeutscher Aussiedler in der Sowjetunion und in Deutschland

Analysen 33

ren Beziehungen oder ihrem Alltag. Berufswahl, Partnerwahloder die Auswanderung nach Deutschland werden nicht vonihrer Identität als Deutsche motiviert.

Auch in Deutschland legt C. keinen Wert darauf als Deut-sche anerkannt zu werden; so klärt sie zwar ihre Arbeitskol-legen über Russlanddeutsche und ihre Geschichte sowie dieLebensbedingungen in Kirgisien auf, argumentiert dabei abernicht für ihre Anerkennung als Angehörige des deutschenVolkes. Ihre Erklärungen haben rein informativen Charak-ter: »Dann hab ich das ihnen erzählt, wie das überhaupt, wasist das überhaupt Russlanddeutsche, wie sind die nach Russ-land gekommen, (aber) warum die sich Deutsche nennen, weildie sind da ja geboren und so« (Z. 330–333). C. schließt sichin diese Erklärung nicht direkt mit ein, sondern begründetnur, warum »die [Hervorhebung K. H.] sich Deutsche nen-nen«. Und so sieht sie sich auch nicht in der Lage Kritiküben zu dürfen, was ihre Behandlung bei den Behörden an-betrifft, sondern hebt diese positiv hervor. C. tritt nicht mitder Erwartungshaltung auf, als Deutsche entsprechend gutbehandelt werden zu müssen, sondern erkennt die ihr entge-gengebrachte Mühe als unverdient und somit lobenswert an(vgl. Z. 499–515).

In ihrem Selbstverständnis ist C. nicht vordergründig Deut-sche sondern vielmehr Optimistin und Beziehungsmensch.Ihre optimistische Grundhaltung offenbart sich in der posi-tiven Bewertung fast jeder Lebensphase. Als schwierig undnicht positiv bewertbar sind die Phasen von Ausreise undNeubeginn. Schon als C. im Alter von 17 Jahren nach Kirgi-sien kommt, löst die neue Situation Unwohlsein in ihr aus; sietut sich mit Veränderungen schwer. Umso mehr als sie sichgezwungen sieht die gewonnene Heimat nach 21 Jahren zuverlassen, um in ein ihr völlig fremdes Land zu ziehen.

Die Motivation, das glückliche Leben in Kirgisien hintersich zu lassen und die unerfreuliche Herausforderung auf sichzu nehmen, liegt in C’s nach Gemeinschaft strebender Iden-tität begründet. Denn in Kirgisien steht sie in engen freund-schaftlichen Beziehungen, ist Kollegin in einem harmonischenKollegium und eine hilfsbereite Nachbarin. In all diesen Be-ziehungen kann sie ihrer Identität Ausdruck verleihen. DieTatsache unter vielen Nationalitäten (Deutsche, Russen, Kirgi-sen, Türken, Z. 84) zu leben, die »immer gut alle miteinanderausgekommen« (Z. 1073) sind, empfindet C. als Bereicherung.Als viele Menschen, zu denen C. in (enger) Beziehung steht,ausreisen, ist es für sie eine schwere Erschütterung, die sie zureigenen Auswanderung bewegt. Nachdem aber die Gemein-schaft in Deutschland wieder hergestellt ist und die Sicherhei-ten Eigenheim und Arbeit erreicht sind, kann sie sich auchhier »glücklich schätzen«. Jedoch sind die Beziehungen zu denKollegen in Deutschland im Vergleich zu denen im Rathausin Kirgisien (»wie eine Familie«) nicht so herzlich und dienachbarschaftlichen Kontakte sowie die Selbstverständlichkeitder gegenseitigen Hilfe sind weniger ausgeprägt. Insofern istnicht jeder Lebensbereich in dem Maße von Gemeinschaftgeprägt, wie C. es in Kirgisien erlebt hat.

Die Entwicklung von der anfangs schweren Zeit über dieEingewöhnung zum heutigen »glücklich schätzen« und Ge-fühl der Integration ist zu einem Großteil C’s Optimismusund der Möglichkeit Gemeinschaft zu leben geschuldet. Siemacht sich rational bewusst, dass sie sich glücklich schätzenmuss (im Vergleich zur heutigen prekären Situation in Kirgi-

sien) und wahrt damit ihr Selbstbild als Optimistin, obwohlsie auf emotionaler Ebene nicht überzeugt sagen kann, glück-lich zu sein (im Vergleich zum damals in Kirgisien erreichtenWohlbefinden). Vielleicht macht es die Sehnsucht nach derglücklichen Zeit in Kirgisien unmöglich und/oder auch dieTatsache, in Deutschland nicht in jedem Lebensbereich dasdort erlebte Ausmaß an Gemeinschaft leben zu können.

C. ist eine nach Stabilität und Sicherheit strebende Persön-lichkeit; davon zeugt die Aufnahme der Arbeitsstelle in der Fa-brik in Kirgisien (und damit die Entscheidung gegen eine mitUnsicherheiten verbundene Ausbildung oder ein Studium),die wiederholte Betonung (des Glücks) einen Arbeitsplatz zuhaben, die Wahl ihres Ehepartners, den sie (bzw. ihre Familie)seit langer Zeit und gut kennt, sowie der zweimalige Hausbauund das Unbehagen in Anbetracht neuer Situationen. Mög-licherweise ist letzteres auf den von C. erlebten autoritärenund damit Sicherheit bietenden Erziehungsstil zurückzufüh-ren, der es ihr schwer macht mit Unklarheiten in neuen Situa-tionen umzugehen.

C. betont immer wieder, dass ihr Erleben und ihre Ansich-ten nicht automatisch mit denen Anderer übereinstimmen,somit also individuell sind. Sie weiß, dass selbst Menschen inähnlichen Situationen oder unter ähnlichen Bedingungen an-dersartige Erfahrungen machen und unterschiedlich darüberdenken, sodass sie die eigene Position nur für sich allein bean-sprucht. Somit grenzt sie sich und ihre Lebensgeschichte vonanderen ab und verleiht ihr damit gewisse Besonderheit. C. istmit ihrer besonderen Lebensgeschichte und ihrer Perspektivedarauf im Einklang und bedarf somit nicht ihrer Rechtferti-gung durch Verallgemeinerungen.

GesellschaftsbilderC. sieht sich in Kirgisien einer sozialen Umwelt gegenüber, dieihr alleMöglichkeiten zumGlücklichsein bietet. Sie ermöglichtihr den Ausdruck ihrer Identität, nämlich in Gemeinschaft zuleben, sodass sich C. als vollwertig integriertes Mitglied derGesellschaft empfindet. Die Gesellschaft schränkt sie aufgrundihrer Zugehörigkeit zur deutschen Minderheit nicht ein odergrenzt sie gar aus, vielmehr schätzt sie die deutsche kulturellePraxis, so zum Beispiel die deutsche Ordnung (Z. 991) oderdie umfassende Verwertung eines geschlachteten Schweins(Z. 807–809). C. kann von ihrer Zeit in Kirgisien »keine Inzi-denten erzählen« (Z. 1072), die wegen ihrer Nationalität zuBenachteiligungen irgendwelcher Art geführt hätten. Die Bil-dungswege Studium oder Berufsausbildung wären ihr – wennauch als Deutsche vielleicht mit etwas mehr Anstrengung ver-bunden – offen gestanden und hätten ihr somit auch die Chan-cen eingeräumt »Gewinner« zu sein. Diese hat C. zwar nichtwahrgenommen, sie sieht sich dadurch aber keineswegs be-nachteiligt. Schließlich war es ihr (und ihrem Mann) dennochmöglich, durch das Erwerbseinkommen in der Fabrik bzw.im Rathaus den Bau eines Eigenheimes zu finanzieren unddas für C’s Wohlbefinden so wichtige Gefühl der Sicherheitzu gewinnen. Auch in der Bevölkerung nimmt sie Ruhe undAusgeglichenheit wahr, die sie auf die durch viele ansässigeFabriken erlaubte Vollbeschäftigung zurückführt.

C. erlebt eine Gesellschaft, in der die Autorität der Elternbzw. der Respekt vor älteren Leuten maßgeblich die Erziehungbeeinflussen. Ein in der Tendenz autoritär ausgerichteter Erzie-hungsstil prägt sie als Heranwachsende und gibt ihr auch als

Page 44: it - Gesellschaftbilder Und Selbstverst Russlanddeutscher Aussiedler in der Sowjetunion und in Deutschland

34 kapitel 4 Empirische Untersuchung

Erwachsene den Orientierungsrahmen für Einstellungen undHandeln als auch das Muster zur Einordnung der Gesellschaft.

Die weit verbreitete Lebensform der (Kern)Familie be-schreibt die Normalität in C’s sozialer Umgebung. Die Familiebildet den Kern der Gesellschaft und ist darüber hinaus auchSinnbild für das harmonische Miteinander und die Aufga-benerfüllung innerhalb größerer sozialer Netzwerke. Entspre-chend übernehmen die Eltern für ihre Familie Verantwortungund erziehen ihre Kinder zu Verantwortungsbewusstsein undFortkommen in Schule und Beruf.

Die deutsche Gesellschaft erscheint C. zunächst sehr fremd-artig. Dies liegt unter Anderem in der im Vergleich zu Kirgi-sien sehr unterschiedlichen Sozialisation und Sprachpraxis be-gründet. So ist zum Beispiel Erziehung in Deutschland durchweniger Autorität und Respekt und mehr Offenheit in derBeziehung zwischen Eltern und Kindern ausgezeichnet. Dieneue soziale Umgebung in der Bundesrepublik erscheint C.von dem ihr bisher Bekannten »ganz anders« und erfordert an-fänglich eine »seelische Umstellung« und Eingewöhnungszeit.Das in dieser Zeit empfundene Unbehagen führt C. in keins-ter Weise auf ihr entgegengebrachtes Fehlverhalten zurück,sondern hebt vielmehr die freundliche Aufnahme durch dasPersonal der Behörden und die zuvorkommende Sprachlehre-rin hervor. Zusammen mit den strukturellen Möglichkeiten,Einkommen durch Arbeit zu sichern und ein Haus zu bauen,ergibt sich für C. ein Gesellschaftsbild (eines, das für sie persön-lich relevant ist), in dem die Gegebenheiten für ein zufriedenesLeben bereitgestellt sind. Auch das für sie so wichtige guteMiteinander kann sie im engen Verwandtschafts- und Freun-deskreis leben und – wenngleich nicht in demselben Maßewie in Kirgisien – amArbeitsplatz mit den Kollegen herstellen,sodass sie ihre Eingewöhnung als abgeschlossen betrachtetund sich integriert fühlt. Dies zeigt sich unter Anderem auchdarin, dass C. der Aufforderung, die deutsche Gesellschaft zubeschreiben und aus diesem Blickwinkel die bedeutendstenUnterschiede zwischen den Gesellschaften zu nennen, nichtnachkommen kann. Ihr fehlt die dafür nötige Distanz, da sieaus heutiger Sicht ihr gesellschaftliches Umfeld als »normal«betrachtet. Aus dem Vergleich mit der Beschreibung der kirgi-sischen Gesellschaft lässt sich aber schließen, dass sie in derhiesigen Gesellschaft eine individualistische Grundhaltungausmacht und die Menschen (aufgrund von Unsicherheitenauf dem Arbeitsmarkt) als weniger ausgeglichen wahrnimmt.

Biographische ProzessstrukturIn Anbetracht der gesamten Biographie erfährt C. ihr Lebenals wenig planbar, kann aber die über sie hereinbrechenden Er-eignissen im Nachhinein nach eigenen Vorstellungen formen.So ist der Umzug nach Kirgisien von ihrer Familie entschie-den, aber schon bald findet sie sich in der fremden Umgebungzurecht, weil sie ihre Potentiale gebraucht um ein ihrer Per-sönlichkeit entsprechendes Leben aufzubauen. Dank ihres Op-timismus’ und Sinn für Gemeinschaft findet sie Arbeit, knüpftKontakte und baut schließlich mit ihrem Ehemann zusammenein Haus. Ähnlich, aber drastischer, ist die Auswanderungs-welle der Russlanddeutschen, die C. und ihre Familie mitreißt.Aber auch in Deutschland kann sie ihr Leben so gestalten, dasssie aus heutiger Sicht auf zufriedene 20 Jahre zurückblickenkann. Diese scheinen jedoch von der Übermacht zu schnellvergangener Zeit getrieben zu sein.

4.8.3 Jakob (und Lydia) Egert

Frau E. wohnt dem Interview die meiste Zeit bei und bringtsich immer wieder in das Gespräch ein. Deshalb werden auchihre Aussagen im Folgenden berücksichtigt; zumal das Ehe-paar (meistens) einer Meinung zu sein scheint sich gegenseitigergänzt.

Jakob Egert (im Folgendenmit E. abgekürzt) ist 1952 in Kras-nojarsk (Sibirien) geboren. Dort lebt er mit seinen Großeltern,Eltern und Geschwistern zunächst in einer Baracke. Siebenoder acht Jahre später zieht die Familie in eine Dreizimmer-wohnung eines Plattenbauhauses. 1967 beendet E. nach achtKlassen die Schule und tritt mit 15 Jahren in das Orchestereiner Offiziersschule ein. Währenddessen geht er zur Abend-schule und erlangt auf diesem Wege die Mittlere Reife. Mit19 Jahren besucht er für ein Jahr seine Tante in Tadschikistan,wo er als Dreher in einer Fabrik arbeitet und Musikunterrichterteilt sowie einen kleinen Chor dirigiert. 1972 bis 1974 wirdE. in den Wehrdienst nach Tschita (Südostsibirien) einberufen.Als er zurückkommt arbeitet er ein Jahr lang im musischenBereich eines Kulturheims in Krasnojarsk. In dieser Zeit ver-nimmt er von den Auswanderungsplänen seines Onkels undzieht 1975 nach Moldawien; ein Land der Sowjetunion, vondem es heißt, dass hier größere Chancen auf Auswanderungbestehen. Dort wohnt er zunächst bei seinem Onkel und arbei-tet als Schreiner in einer Sowchose. Bald lernt E. in der kirch-lichen Jugendgruppe, die er besucht, seine spätere Ehefraukennen. Sie heiraten 1981. 1982 kommt die erste Tochter zurWelt, 1984 ein Sohn und 1987 wieder eine Tochter. Zunächstlebt das Ehepaar bei Frau E’s Eltern, danach bekommen sieüber E’s Arbeitsstelle ein Zweizimmerapartment in einemFamilienwohnheim gestellt. 1987, nach 12 Jahren Ausreisebe-mühungen, erhält die Familie das lang ersehnte Visum.

In der Bundesrepublik angekommen, sind sie zunächst füreine Woche in einem Auffanglager in Friedland untergebracht.Da E’s Onkel und Schwägerin im Raum Wiesbaden wohnen,wünscht das Ehepaar auch die eigene Ansiedlung in dieser Re-gion. Das dieser zugeordnete Auffanglager hat nicht genügendPlatz, sodass sie drei Monate in einem Hotel überbrücken müs-sen. Danach bekommen sie eine Sozialwohnung behördlichvermittelt. E. fängt bald darauf an als Schreiner zu arbeiten,verdient aber nicht gut, sodass er 1988 zu Firma X wechselt,wo er noch heute als Siebdruckschablonenfertiger angestelltist. In der Fabrik ist Schichtarbeit üblich, von der sich E. abernach zwei Jahren befreien kann, weil er in das Orchester derFirma eintritt und ihm der Dirigent zu geregelten Arbeitszei-ten verhilft. 1992 kauft Familie E. ein Grundstück und bautdarauf ein Haus.

4.8.3.1 Selbstverständnis und Gesellschaftsbilder Ja-kob (und Lydia) Egerts

Jakob Egert begreift sich zuvorderst als Musiker und Ästheten,als Ehemann und Vater sowie als deutschen Volkszugehöri-gen.

Als E. Schüler der vierten Klasse ist meldet ihn seine Mutterbei einer Musikschule an, wo sein musisches Talent entdecktwird. Von nun an spielt Musik in seinem ganzen weiterenLebenslauf eine entscheidende Rolle. Seine Schulzeit bilanzierter folgendermaßen:

Page 45: it - Gesellschaftbilder Und Selbstverst Russlanddeutscher Aussiedler in der Sowjetunion und in Deutschland

Analysen 35

Gelernt hab ich so nicht schlecht, kann man sagenJ. E.: aber Ingenieur bin ich nicht geworden, warum kannich dir auch sagen, ich habe mich mehr konzentriert inmeine.. sagen wir so, hobbymäßig hat mir mehr Musikgefallen. Ich wollte immer mehr musikalisch sowas machenja, so irgendwoI: Wie kam das?J. E.: Ja so wie James Last wie heute ja, so Orchester ir-gendwo, das wäre meine Welt, so Ziele. Ja, aber das habich nicht erreicht, ja, leider noch nit (lacht). Aber wer weißja. Alles isch.. ja (atmet aus) (S.85, Z.585–594)E. macht aber sein Hobby erstmal zum Beruf, als er mit

15 Jahren ins Militärorchester eintritt. Sein Wunsch ist es –auf Empfehlung seines Dirigenten – die Dirigentenschule inMoskau zu besuchen, um die nötige Ausbildung zum Mili-tärdirigenten zu absolvieren. Diesen kann er jedoch nichtrealisieren, da ihm der Weg zur besagten Schule aufgrundseiner deutschen Nationalität verwehrt wird; ihm wird an-geboten russischer Staatsangehöriger zu werden, um aufge-nommen zu werden. Dies lehnt er aber zugunsten des größe-ren Wunsches, eines Tages nach Deutschland auszureisen, ab(Z. 152–155). Dennoch setzt er seinen musikalischen Weg fort;in Tadschikistan gibt er Musikunterricht und leitet einen Chorund als er aus dem Wehrdienst zurückkehrt arbeitet E. in ei-nem Kulturheim. In Moldawien geht er einer Erwerbstätigkeitals Schreiner nach, führt aber die Musik als Hobby fort, indemer mit seinen Brüdern und Cousins auf Hochzeiten sowie ineiner kirchlichen Jugendgruppe musiziert. Nach kurzer Zeitin Deutschland tritt E. in das firmeneigene Orchester seinerArbeitsstelle ein und verankert auch hier die Musik als festenBestandteil seines Lebens. Diese wirkt sich auch positiv aufseinen Berufsalltag aus, da E. über die Beziehung zum Diri-genten geregelte Arbeitszeiten bekommt und nicht mehr imSchichtdienst arbeiten muss.

Nicht nur in der Musik lebt E. seinen Sinn für das Schöne,der ein wichtiger Teil seiner Identität ist, aus. In seinen Be-schreibungen und Erzählungen wird immer wieder deutlich,dass ihn das »Schöne« anspricht und leitet. So sind es durch-weg »schöne Mädchen«, – ihre Schönheit hebt E. jedes malhervor – die sich in ihn verlieben bzw. er sich in sie (Z. 568f;Z. 847; Z. 941). Eine dieser Begebenheiten schildert er geradezuverzaubert: »Die Tochter war so hübsch ja und die spielt auchKlavier, kannst dir vorstellen!« (Z. 791). Diese junge Frau er-weckt E’s Begeisterung aufgrund der Vereinigung von Musikund Schönheit in ihrer Person. Er lernt sie nur für zwei Stun-den kennen, in denen sie gemeinsam Klavier spielen, aber siehinterlässt einen bleibenden Eindruck in seiner Erinnerung.Ebenso vermutet er auch seine positive Wirkung bei ihr, daer in seiner Paradeuniform »schön angekleidet gewesen [ist]«(Z. 819). So erfreut er sich auch an den schönen Bällen zu seinerZeit im Militärorchester und den zu diesem Anlass getrage-nen Uniformen, welche er ausführlich beschreibt (Z. 730–754),an der »so richtig schöne[n] Party zum neuen Jahr« (Z. 865),wo das »Orchester so richtig schön« spielt (Z. 862) und »kannman essen kann man tanzen und so richtig schön sich amüsie-ren« (Z. 867), oder auch an dem von ihm selbst gezimmertenschönem Kinderzimmer (Z. 1165).

Dass sich E. auch als Ehemann und Vater sieht, zeigt sicheinerseits in der Tatsache, dass er seine Frau während desInterviews unbedingt in Anwesenheit wissen will. Vor Ge-

sprächsbeginn sagt er, dass sie die Frau sei, die er lange ge-sucht (vgl. Gedächtnisprotokoll) hat und zeigt damit an (dieswird auch durch die mehrfach geschilderten Kennenlernge-schichten deutlich), dass er den Status, den er anstrebte – dieEhe und das Vatersein – erreicht hat. Die Kinder betreffendeAussagen seiner Frau, die sie aus ihrer Rolle als Mutter trifft,sieht E. entsprechend aus der Vaterperspektive und stimmtmit ihr überein. Relativ ausführlich beschreibt er die Geburtseiner drei Kinder (Z. 221–247) und orientiert das lang er-sehnte Ereignis der Möglichkeit zur Ausreise an dem Alterseiner jüngsten Tochter: »Sieben Monat war sie alt und da ha-ben wir bekommen unsere Visum nach Deutschland« (Z. 246).Als E. vom Bau des Hauses erzählt, legt er Wert darauf, seineFrau und Kinder in die Ausführungen mit einzubeziehen undsie an diesem wichtigen Projekt seines Lebens zu beteiligen:

[…] und dann hab ich den Ausbau und alles, Fliesen, Tep-pich und oben, Verkleidung alles, mit Holz, hab ich dannselbst mit meine Kinder, mit Abraham, Lydia, wer waskann hat mitgeholfen ja, deswegen schätzen sie auch dasHaus bisschen (S.83, Z.330–334)Als E. sein Leben in diesem Haus und in Deutschland bi-

lanziert, hat er zuvorderst seine Kinder vor Augen: »Ja fastneunzehn Jahre wohnen wir hier. Ja, die Kinder, sind auchfroh natürlich… jetzt ziehen sie langsam aus wieder, wo sieerwachsen sind, die Hannah zieht nach Bayern, naja der Abra-ham studiert in Wiesbaden« (Z. 399–400). Dass diese auch inZukunft versorgt sind, ist sein ausdrückliches Ziel: »Nächstedritte Ziel haben wir auch, wir wollen auch für die Zukunftdass unsere Kinder versorgt sind« (Z. 399–400). Der Anmer-kung seiner Frau, dass der einzige bzw. wichtigste Grund derAusreise nach Deutschland der sei, dass die »Kinder Deutschebleiben« (Z. 440), pflichtet E. bei: »Ja das war auch der einzige,der wichtigste Grund sagen wir so« (Z. 443). Hier zeigt sichunter Anderem die aus seinem Selbstverständnis als Familien-vater resultierende Handlungsmotivation, die das Wohl derKinder anstrebt.

Bis zu dem Zeitpunkt, da E. vor die Wahl gestellt wirdrussischer Staatsbürger zu werden, um ins Konservatoriumeintreten zu dürfen, macht er keinerlei Angaben, die daraufhindeuten, dass er sich der deutschen Minderheit zugehörigfühlt. Erst mit der Entscheidung gegen die Änderung sei-ner Nationalität erwähnt E. den Wunsch der Ausreise: »Abermir war auch Wunsch natürlich irgendwann ausreisen nachDeutschland, oder auch irgendwann sehen unsere Vaterland,mal.. was das ist überhaupt, unsere geliebte Deutschland, wiedas aussieht und alles« (Z. 152–155). An dieser Stelle bleibtunklar, wie dieser Wunsch erwachsen ist, wer oder was ihnalso diesbezüglich geprägt hat; die Motive, die zu dem schein-bar selbstverständlichen Anliegen führen, werden hier nichtbenannt. Da E. bis zu diesem Moment nichts erwähnt, dasdarauf hindeutet, dass er sich als Deutschen begreift, wirktdie Aussage überraschend. Mit dem Begriff »Vaterland« unddem Ausdruck »geliebtes Deutschland« gebraucht er aber eineemotional besetzte Wortwahl, die auf sein Verständnis undGefühl als »Sohn« dieses Landes, also als Deutschen verweist.E’s Onkel sowie angehende Liebesbeziehungen zu deutschenFrauen, die mit ihren Familien nach Deutschland ausreisenund somit einen Beziehungsabbruch bewirken, geben offen-bar den äußerlich gewirkten Anstoß für den Ausreisewunsch(vgl. Z. 922–948). Vielleicht ist es auch der Onkel, der ihn in

Page 46: it - Gesellschaftbilder Und Selbstverst Russlanddeutscher Aussiedler in der Sowjetunion und in Deutschland

36 kapitel 4 Empirische Untersuchung

seinem Selbstverständnis als Deutschen prägt, denn von die-sem sagt er: »Ich hab immer gedacht, mir Gedanken gemachtwarum mein Onkel ausreisen will und dann hab ich gedachtda steckt was drinmehr ja« (Z. 973–975). Da E’s Eltern auf dieWeitergabe der deutschen Sprache an die Kinder wenig Wertlegen und er diese zur Ausreise »bisschen antreiben« muss(Z. 955–957, vgl. Z. 970–972), lässt sich vermuten, dass siekeinen entscheidenden Einfluss auf sein Zugehörigkeitsgefühlzum deutschen Volk ausüben. Dennoch steht für ihn fest, dasser weder die Nationalität wechselt (wenngleich er damit seinemusikalische Identität zurückstellt) noch eine nichtdeutscheFrau heiratet. Letzteres sagt er zwar nicht explizit, macht esaber in seinen Erzählungen deutlich, da er gezielt nur Mäd-chen kennenlernt, von denen er weiß, dass sie Deutsche sind(vgl. Z. 704–715; Z. 922–936).

E. setzt sich nach der wiederholten Erfahrung abgebroche-ner Beziehungen zu Frauen, die nach Deutschland ausreisen,das Ziel es ihnen gleichzutun und formuliert damit einherge-hend folgende Wünsche: »Uns was aufbauen in Deutschlandja, unsere Heimat sehen, Deutschland, Deutschland sehenund das wir unsere ( ) wie Deutsche leben, was für Kul-tur, so deutsche Kultur, deutsche Musik, deutsche Schlager«(Z. 957–961). Er bezeichnet Deutschland als seine »Heimat«,die er sehen will und deren Kultur er kennenlernen will; einOrt also, von dem er nicht viel weiß und somit in keiner Be-ziehung zu ihm steht, außer der, dass er sich mit diesem alsDeutscher, der glaubt nur in Deutschland beheimatet sein zukönnen, verbunden fühlt. Wie bereits erwähnt, beabsichtigter mit der Auswanderung auch, dass die »Kinder Deutschebleiben« (Z. 440) und ferner eine Verbesserung der Lebensum-stände für sich und seine Familie zu erreichen; in Deutschlandein Haus zu bauen (vgl. Z. 389–397; Z. 1890–1897) und vondem größeren Warenangebot, das sein Onkel in Briefen be-schreibt, zu profitieren (vgl. Z. 973–987).

E. sieht sich dazu berechtigt nach Deutschland einwandernzu dürfen, weil er Deutscher ist und mit einer deutschen Frauverheiratet ist. Denn als solcher pflegt er ›deutsche Tugenden‹,durch die er sich von aus seiner Sicht nicht einwanderungsbe-rechtigten Russen sehr klar abgrenzt:

[…] wir haben noch unsere deutsche so bisschen sagen wirso gehabtAkkuratnast so, nit klaue so, zurückhalte sich nbisschen ja, aber heute wird viel geklaut und, und das ma-chen die ja meist die welche dann später gekommen sindund.. a warum wird so viel aufgebrochen und die Autoskaputt gemacht und alles ja, und Gefängnisse sind sehrviel voll fast mit die Aussiedler, ich meine auch mit so mitRussen ja, welche das machen. (S.90, Z.1206–1213)Als Deutscher ordnet er sich auch die (ihm in Russland/

Moldawien gespiegelte) Tugend des ›fleißigen Arbeiters‹ zuund weiß sich von seinen Mitmenschen aufgrund dieser ge-achtet: »Die sehen das du gut arbeitest, dann hast du auchAnsehen, die haben uns da sehr geschätzt« (Z. 1975–1976). Mitdieser ›deutschen Eigenschaft‹ meint er und seine Frau dasFundament des sowjetischen Systems gebildet zu haben, wieL. E. formuliert:

Das ist die Frage, warum die letzte zwanzich Jahre war soschwer den Deutschen ausreisen aus Sowjetunion, warum?..Weil die welche an der Macht waren, wussten ganz genauwo der Fundament ist.. wer hält das ganze System, daswaren die Deutschen, die haben gearbeitet, geschuftet und

überall wo Deutsche gewohnt haben waren Kolchosen Mil-lionäre. (S.96, Z.1989–1994)In der Haupterzählung macht E. zwei Aussagen, die Rück-

schluss auf sein Selbstbild in Bezug auf das Leben in Deutsch-land zulassen; er nimmt sich als zufriedenen Arbeitnehmerwahr: »Die Arbeit ist ganz gut bis jetzt ja und hoffen wir dases so bleibt, wir sind sehr zufrieden bis jetzt« (Z. 308–309)und ist froh sein Ziel, in Deutschland leben zu können, imeigenen Haus zu wohnen und die Kinder gut versorgt zu wis-sen, erreicht zu haben: »Wir sind zufrieden, eigentlich sindwir zufrieden das wir da sind in Deutschland und das wirunsere Ziel erreicht haben« (Z. 382–384).

Auf die Nachfrage, wie E. die Einreise in die Bundesrepu-blik erlebt hat, sagt er, dass es ein »Schock« war, aber auchschön (vgl. Z. 1221). Dies veranschaulicht er an einer Anek-dote wie er sie am Flughafen bei seiner Ankunft erlebt; seinOnkel bringt ihm eine Bierdose zum Empfang mit, E. weißaber nicht wie man sie öffnet. Nachdem er es geschafft hat,genießt er das wohlschmeckende Bier (vgl. Z. 1221–1237). DasGefühl der Ahnungslosigkeit in Anbetracht der Bierdose be-schreibt sein Empfinden kurz nach der Einreise, in der erOrientierungslosigkeit erlebt und sich ›durchboxen‹ muss(Zeile 1267). E. erlebt sich als Kämpfer bei der Suche nachgeeignetem Wohnraum und Arbeit (vgl. ebd.) als auch beider Einarbeitung (Erlernen der deutschen Fachbegriffe) amneuen Arbeitsplatz (vgl. Z. 1398–1418). Ebenso meint seineFrau, sie müsse sich in Deutschland nach Möglichkeiten aufdem Arbeitsmarkt »durchsetzen«, da ihr hier die Ausbildungnicht anerkannt wird (vgl. Z. 1440–1441). Das Ehepaar nimmtsich (entsprechend) als zielstrebige Russlanddeutsche wahr:»L. E: Wir Leute aus Russland wir sind mehr zielstrebiger.J. E: Ja. Wenn die Russlanddeutschen will ein Haus, dannbaut er ein Haus. L. E: Ja, wir sind zielstrebiger einfach«(Z. 1866–1869).

Kampfgeist und Durchhaltevermögen müssen sie auch un-ter Beweis stellen, um von der autochthonen Bevölkerungals Deutsche anerkannt zu werden. Denn die Selbstverständ-lichkeit Deutsche zu sein, mit der sie ihr bisheriges Leben inder Sowjetunion verbracht haben, wird ihnen in der »Hei-mat« zunächst aberkannt; sie werden als »Russen« bezeichnet(vgl. Z. 1342–1370). Heute finden sie einerseits vermehrt Ver-ständnis für Aussiedler und ihre deutschen Wurzeln in der Be-völkerung vor, andererseits »kämpft« das Ehepaar aber auchum eine gute Sprachbeherrschung, indem es den Ratschlägeneines Nachbarn und der Lehrerin ihrer Tochter folgt, fortannur noch deutsch zu sprechen (vgl. Z. 1366–1389) Diese verste-hen sie als zentrales Moment, von dem ein gelingendes Lebenabhängig ist: »Ja wichtig, die Sprache muss man natürlicherreichen, gut beherrschen, von der Sprache hängt auch vielesab, ganzes Leben« (Z. 1775–1777). Aus heutiger Perspektivebilanziert L. E.: »Aber wir haben’s geschafft, mittlerweile sagich: ›mich können sie nennen wie sie wollen, Hauptsache ichfühl mich wohl in Deutschland‹« (Z. 1391–1393). Sie und ihrMann sehen sich als Sieger aus dem Kampf um Sprachver-mögen und anderen Schwierigkeiten hervorgehen, sodass sie,selbst wenn sie fälschlicherweise als Russen bezeichnet wer-den, davon nicht mehr so hart getroffen sind. Dabei hilfreichist ihr Bewusstsein für die ›natürlichen‹ Anfangsschwierigkei-ten jedes Migranten: »Da muss man sich auch durchkämpfenja, wie überall wenn man jetzt nach Japan fährt oder nach

Page 47: it - Gesellschaftbilder Und Selbstverst Russlanddeutscher Aussiedler in der Sowjetunion und in Deutschland

Analysen 37

Australien, da muss man auch neu anfangen. Überall ja gibt’sSchwierigkeiten, wie jeder Aussiedler oder Auswanderer ja«(Z. 1399–1402).

Das Ehepaar E. identifiziert sich in Deutschland als russ-landdeutsch und fühlt sich der Gruppe der Russlanddeutschenverbunden. Dies äußert sich unter Anderem in der besonde-ren Sympathie zu »russlanddeutschen Hochzeiten«, dem Wis-sen um Treffen von russlanddeutschen Gruppen (vielleichtauch deren Besuch) sowie dem Lesen russlanddeutscher Zeit-schriften. Letzteres ist für sie von Interesse, weil dort »unsereTalente« und »wenn jemand was erreicht hat« beschriebenwerden (vgl. Z. 1572–1575).

Sie fühlen sich als Russlanddeutsche von ihrer sozialen Um-gebung weniger geschätzt: »Sagen wir so, Katharina wir sagendir gleich, die versuchen immer uns halten für die Menschenzweiter Sorte, verstehst du (was ich will sagen). Wenn man duaus Russland kommst, die denken: ›Naja, die sind nit Hiesige,die sind nit echte Deutsche‹« (Z. 1833–1837) und ringen fürein Selbstverständnis, in dem die Wertschätzung der eigenenPerson nicht abnimmt: »Aber wir dürfen sich nicht runter-kriege, wir sind genauso Menschen wie andere ja, wir tun kei-nen Millimeter sich weniger schätzen wie die« (Z. 1850–1852).Da sie im Anschluss an diese Aussage die Wichtigkeit vonZielsetzung- und Erreichung betonen und die ZielstrebigkeitRusslanddeutscher hervorheben, ist zu vermuten, dass sie aufdiese Weise die fehlende Wertschätzung seitens der sozialenUmwelt kompensieren. Die Perspektive »Wir sind alle gleich,ja, vom Menschen Natur, vom Grundsatz, wir sind von dem-selben gemacht, oder Amerikaner oder Japaner oder Franzose,wir sind Menschen, wir sind von Gott, wir sind Gottes Ge-schöpfe« (Z. 1802–1805) ist zur Stabilisierung des Selbstwert-gefühls ebenfalls hilfreich.

GesellschaftsbilderE. sieht sich in der Sowjetunion einer Gesellschaft gegenüber,deren politisches System ihm das Ausleben seiner Identitätals Musiker (in Form der Wunscherfüllung als Militärdirigentzu arbeiten) aufgrund seiner bewussten Zugehörigkeit zurdeutschen Minderheit verwehrt und ihn in seinen Möglichkei-ten eingrenzt. Aber er wird auch als eben solcher von seinemsozialen Umfeld in Moldawien geschätzt. E. und seine Frauwissen ihre ›gute deutsche Arbeit‹ seitens der Mitmenschenbemerkt und gewürdigt (vgl. Z. 1929–1945; 1975–1976). DieWichtigkeit der gut arbeitenden deutschen Minderheit stufensie so hoch ein, dass sie den Zusammenbruch der Sowjetunionauf die Auswanderung der Deutschen und damit das Wegbre-chen des tragenden Fundaments des Systems zurückführen(vgl. Z. 1989–1994). Sie entwickeln folglich das Bild einer Ge-sellschaft, die sie aufgrund ihrer Leistung, welche unmittelbarmit ihrer ethnischen Zugehörigkeit verknüpft ist, honoriertund für die sie aus Sicht des politischen Systems unersetzlichsind. Andere in der Sowjetunion wohnhafte Ethnien nimmtL. E. – und hier schließt sie an das von Politikern angeblichgewusste und vermutlich allgemein verbreitete Bild an – inihrer Natur als den Deutschen entgegengesetzt wahr:

Und das wussten sie.. ja, weil egal wo, warst du in Ta-dschikistan gelebt, Tadschiken lieben auch nicht arbeiten,Kasachstan.. (auch nein), ja. Die sind so Schafhüter undso ja, die wollen auch nicht arbeiten, Moldawien, ja dietrinken gerne Wein, Russland Wodka.. das isch doch.. und

wer hat gearbeitet? Die Deutschen haben gearbeitet. (S.96,Z.1998–2003)Ebenso besteht das Bild von Russen, die mit den ›deut-

schen Tugenden‹ entgegengesetzten Lastern behaftet sind; zuden folgenden oppositionelle Eigenschaften zeichnen sie aus:»Akkuratnast so, nit klaue so, zurückhalte sich n bisschen«(Z. 1207).

Aufgrund ihres Deutschseins erfahrene Diskriminierung,die Beschimpfung als »Feinde des Volkes«, sind eher seltenund stellen Ausnahmeerscheinungen dar (vgl. Z. 1713–1725;2011–2014). Allerdings ist Diskriminierung auf politischerEbene verankert; als deutsche Volksangehörige werden E.und L. E. vom kommunistischen System benachteiligt, dasihnen den Zugang zur Universität erschwert und Kar-riere (bis zur Besetzung eines Spitzenpostens) unmöglichmacht, sofern die deutsche Nationalität beibehalten wird(vgl. Z. 1633–1680; 1589–1615). Des Weiteren sehen sie diePolitik in der Sowjetunion nicht nur für sich als Deutsche,sondern auch für alle gleichermaßen bedrohlich, die sich inirgendeiner Weise gegen diese auflehnen:

[…] die Leute haben Angst gehabt von Politik, da was gegensagen. Das isch äh.. natürlich die haben protestiert wennwas falsch gelaufen isch oder wasL. E.: und die wurden alle eingeschüchtert, die Leute habenAngst gehabt.J. E.: Aber dann, dann haben die einige gefangen und einge-sperrt ja, du hast gespielt mit deiner Freiheit, immer. (S.94,Z.1691–1697)Selbst Russen würden unter der Herrschaft der Kommunis-

ten unterdrückt, sie dürften ihre russische Kultur nicht aus-leben und Menschen, die »nur bisschen von der Wahrheitgesprochen haben« wurden staatlich verfolgt (Z. 1622).

Auf der kommunistischen Idee basiert auch die wirtschaft-liche Struktur in der Sowjetunion, die zu Diebstahl verleitetund somit eine unlautere Gesellschaft fördert; denn »die Fa-brik gehört dem Volk und wenn sie den Arbeitnehmer nichtbezahlt haben anständig, dann hat der Arbeitnehmer hat sich– das gehört dem Volk, dann gehört auch mir – dann hat ersich selbst bedient« (Z. 1488–1491). Und dies umso mehr, je hö-her die Position, während »wenn ein kleiner Mann erwischt[wird] dann, ja, kam er ins Gefängnis« (Z. 1496). Insofernbetrachten E. und L. E. die sie umgebende Gesellschaft alseine, in der Missstände und offenkundige Lüge als Normalitäthingenommen werden und gegen die aus bereits erwähntemGrund nicht protestiert wird, sondern in der man sich so gut esgeht Selbsthilfe verschafft und sich so arrangiert, dass auch dereigene Vorteil bedacht wird. Diesem Grundsatz folgt auch E.,der für die Renovierung seines Zweizimmerapartments mehrals nur Reste von Linoleum mitnimmt (vgl. Z. 1156–1162) undwenn er ein Haus in Moldawien gebaut hätte, sagt: »Verstehstdu, ich hätte die Hälfte geklaut, sag ich dir offen und ehr-lich« (Z. 1980). Die Motivation für den Diebstahl liegt aus E’sSicht in dem Wunsch der Menschen begründet, die Familieversorgen zu wollen, es aber nicht zu können, da sie manch-mal monatelang keinen Lohn erhalten und unterbezahlt sind(vgl. Z. 1470–1475).

In dieser Gesellschaft ist es entsprechend wichtig Beziehun-gen zu haben, die zu gesellschaftlich begehrten Gütern ver-helfen, wie sich am Beispiel der Wohnungssuche von E. zeigt;um eine Wohnung zu bekommen hat er nicht genügend oder

Page 48: it - Gesellschaftbilder Und Selbstverst Russlanddeutscher Aussiedler in der Sowjetunion und in Deutschland

38 kapitel 4 Empirische Untersuchung

die richtigen Beziehungen, aber für ein zweites Zimmer imFamilienwohnheim reicht der gute Kontakt zu seinem Chefaus (vgl. Z. 1134–1152).

»Das ist eine Seite der Geschichte, aber […] die andereSeite der Geschichte ist.. dort sind die Leute mehr wärmer«(Z. 1498–1500). Mit diesenWorten leitet L. E. die Beschreibungder Gesellschaft ein, die – imVergleich zuDeutschland – durchmehr Offenheit, Hilfsbereitschaft, Freundschaft und Gast-freundschaft gekennzeichnet ist. Letztere bedeutet eine aufrich-tig gewünschte Einladung und die Selbstverständlichkeit demGast nur das beste Essen bereitzustellen (vgl. Z. 1503–1515).Weiterhin zeigt sich die Wärme in der freudvollen Anteil-nahme am Erfolg Anderer; zum Beispiel wenn L. E. ein neugekauftes Kleid der Nachbarin vorführt oder E’s Vater einAuto kauft und sich die Nachbarschaft eine Woche lang mitihm das Ereignis feiert (vgl. Z. 1522–1544).

In Deutschland erleben E. und L. E. entsprechend ein Weni-ger der genannten Charaktereigenschaften, die sie der sowje-tischen Gesellschaft zuschreiben. So seien Einladungen nichtehrlich gemeint (z. B. die Einladung der Nachbarn zum Pol-terabend, vgl. Z. 1832) und es mangelt an gegenseitiger Unter-stützung; »hier bist du mehr so abgeschirmt, irgendwo stehstdu allein und du musst dich allein durchkämpfen ja, durchdem Leben, wie gesagt, wenn man nicht kämpft dann gehtman zugrunde ja, oder wirst du von anderem..« (Z. 1786–1789).Nicht Solidarität, sondern Kampfgeist bestimme die deutscheGesellschaft, denn ist dieser nicht entwickelt, »wird dich je-der schleudern wo er will, ja, und machen mit dir was erwill« (Z. 1799). Die Menschen seien gestresst und konzentrier-ten sich allein auf die eigenen Probleme und deren Lösung(vgl. Z. 1781–1784). Den Stress führt E. unter anderem auf dieerhöhte Belastung bei der Arbeit zurück, die in Deutschlandsehr kontrolliert ablaufe und (deshalb) mindestens doppelt soschwer sei (vgl. Z. 414–435). Außerdem beherrsche Missgunstdas Verhältnis der Menschen untereinander; die Reaktion aufein neu gekauftes Kleid oder Auto eines Anderen sei nichtMitfreude, sondern Neid. Und selbst die Freude über eigeneerreichte Ziele, wie der Kauf eines teuren Autos, währt nurkurz (vgl. Z. 1527–1542).

Ähnlich wie in Moldawien erlebt E. auch in der deutschenGesellschaft – wenngleich er dies nicht explizit äußert – dieBedeutung von guten Kontakten; so kann E. durch die Be-ziehung zum Dirigenten des firmeneigenen Orchesters vonSchichtarbeit zu normalen Arbeitszeiten übergehen und somitviel Lebensqualität gewinnen (vgl. Z. 275–285).

Im Gegensatz zur sowjetischen Gesellschaft, von der sichE. und seine Frau als arbeitsame Deutsche geschätzt fühlen,sehen sie sich von der deutschen Gesellschaft als »Menschenzweiter Sorte« behandelt (Z. 1834). DenGrund dafür vermutensie in ihrer Migrationsgeschichte; sie werden nicht als »echteDeutsche« anerkennt, weil sie aus Russland kommen. Dadurchverlieren sie als Menschen an Wert, sodass die Eheleute E. diesie umgebende Gesellschaft als eine ausmachen, für die Natio-nalität bzw. Ethnie Kriterien zur Einordnung und Beurteilungvon Menschen sind. Aber auch sie selber konstruieren einGesellschaftsbild nach diesen Kriterien, indem sie unter ande-rem den verschiedenen Ethnien der Sowjetunion bestimmteEigenschaften zuschreiben; jedoch sind diese nicht explizitwertend und (theoretisch) dem Grundsatz vorbehalten, dassalle Menschen gleich sind, weil sie »Gottes Geschöpfe« sind.

Das Gefühl »Leute zweiter Sorte« zu sein begründet sichaber auch in der Versagung der beruflichen Anerkennungund dem damit verringerten Sozialstatus in Deutschland. L. E.glaubt hier als Russlanddeutsche nur aus zweckdienlichenGründen ›gemocht‹ zu werden: »Aber die Leute haben sieauch gern weil sie wissen das die Leute [Aussiedler] ma-chen die Arbeit welche sie nie im Leben machen würden«(Z. 1948–1950).

Biographische ProzessstrukturIn Anbetracht der gesamten Biographie zeigt sich E. als Pla-nender und Steuernder seines Lebens; von klein auf verfolgt ersein musikalisches Interesse an den verschiedenen Stationenseines Lebens und lässt sich von dem Rückschlag, in die Di-rigentenschule nicht aufgenommen werden zu können, nichtentmutigen. Sehr konsequent geht er auch dem Ziel der Fa-miliengründung mit einer deutschen Frau nach, die er »langesucht« und schließlich findet. Er realisiert den seit langer Zeitgehegten Plan nach Deutschland auszureisen, indem er sichseinem Ziel durch die Auswanderung nach Moldawien einStückweit nähert und dann beharrlichAnträge auf Ausreiseer-laubnis stellt. E. kann durch das Einbringen eigener Potentialeseine Wünsche – einst in Deutschland ein Haus zu bauen undseine Kinder gut versorgt zu wissen – verwirklichen. Was erjedoch nicht steuern kann, ist das Bild seiner sozialen Umge-bung von Russlanddeutschen als »Menschen zweiter Sorte«und die, damit einhergehend, geringere Wertschätzung undAnerkennung seiner Person.

4.8.4 Irina Albert

Irina Albert (im Folgenden nur noch mit A. abgekürzt) ist 1955als zweites von drei Kindern in Swerdlowsk geboren. Als 1956ein Gesetz in Kraft tritt, das auchDeutschen die freie Wahl desWohnortes innerhalb der Sowjetunion ermöglicht, zieht dieFamilie nachAlmata. Etwa zehn Jahre später erfolgt ein erneu-ter Umzug nach Dschambul, in den Süden Kasachstans. DieFamilie siedelt sich in einem von Dschambul 60 km entferntenDorf an, wo A. zur Schule geht und im Nachbardorf eine Aus-bildung zur Bibliothekarin absolviert. In dieser Zeit lernt sieihren Ehemann kennen und bringt ihre erste Tochter zur Welt.Kurz darauf zieht das Ehepaar mit Kind und Schwiegermutterin die Stadt, wo es eine Wohnung kauft. Drei Jahre nach demersten Kind wird hier die zweite Tochter geboren. A. arbeitetin Dschambul zunächst bei einer Stadtbibliothek und wech-selt später in eine Schulbibliothek. 1983 stirbt ihr Ehemann beieinem Arbeitsunfall, woraufhin sie auf sich allein gestellt dasLeben mit zwei Kindern und Beruf organisieren muss. DieSchwiegermutter stirbt kurz vor ihrem Sohn und A’s Elternleben zu weit weg, als dass sie ihr im Alltag helfen könnten.Ihre Chefin nimmt aber Rücksicht und die Nachbarschaft gibtauf die Kinder acht, wenn A. noch auf der Arbeit ist. 1992, alsder Bruder bereits ausgereist ist, wandert auch A. mit ihrenTöchtern und Eltern nach Deutschland aus. Zunächst lebt dieFamilie sehr beengt in einer Notwohnung in einem kleinenDorf bei Lübeck. A. schickt die jüngere Tochter zur Realschule,wo sie aber nicht mitkommt und schließlich auf ein Internatwechselt, das (vermutlich) auf Kinder mit Migrationshinter-grund spezialisiert ist. Diese macht später Fachabitur und eineAusbildung zur Floristin und lebt heute mit ihrem Mann und

Page 49: it - Gesellschaftbilder Und Selbstverst Russlanddeutscher Aussiedler in der Sowjetunion und in Deutschland

Analysen 39

Kindern bei Düsseldorf. Die ältere Tochter beginnt ca. achtMonate nach der Einreise einen Sprachkurs bei der Otto-Ben-ecke Stiftung in Hamburg, holt das Abitur nach, studiert BWLund lebt heute mit Ehemann und Kindern in Frankfurt. Kurznachdem A. – etwa zu derselben Zeit wie die ältere Tochter– einen Sprachkurs beginnt, zieht ihr Bruder nach Koblenz;in die Nähe von Verwandtschaft und mit mehr Aussicht aufArbeit. A. folgt ihm bald in den Süden, wo sie den Sprach-kurs fortsetzt. Sie absolviert ein dreimonatiges Praktikum ineinem Warenkaufhaus und findet dann einen Arbeitsplatz ineiner Knopffabrik. In dieser Zeit lernt A. einen wesentlich äl-teren Mann aus der Nachbarschaft kennen und zieht mit ihmzusammen, nachdem sie zuerst beim Bruder gewohnt hatte.Nach fünf Jahren in der Knopffabrik geht diese Bankrott undA. wird arbeitslos. Sie macht wieder ein Praktikum, diesmalin der Altenpflege. Dieses wirkt zwar abschreckend auf sie,aber nach intensiver Arbeitssuche nimmt sie doch eine Stellein einem (anderen) Seniorenheim an und macht schließlichauch eine Ausbildung in diesem Bereich. Bis heute arbeitet A.in derselben Einrichtung und lebt mit ihrem Lebensgefährtenin einem kleinen Dorf bei Koblenz.

4.8.4.1 Selbstverständnis und Gesellschaftsbilder IrinaAlberts

SelbstverständnisIrina Albert versteht sich in erster Linie als Mutter und Ehe-frau. Dies äußert sich unter anderem darin, dass A. den Le-bensgeschichten ihrer Töchter im Interview sehr viel Raumzugesteht und diese in den Vordergrund stellt. Erst nach demTod ihres Ehemannes, also ab dem Zeitpunkt, in dem A. alleinfür das Großziehen der Kinder verantwortlich wird, rückendie Kinder an die zentrale Stelle in ihrem Leben und ihreRolle als Mutter wird zum vordergründigsten Merkmal ihrerIdentität. Zuvor berichtet sie nur kurz, dass sie ihren Mannkennenlernt, heiratet, das erste Kind bekommt, sie dann ge-meinsam in eine Wohnung in die Stadt ziehen und dann diezweite Tochter zurWelt kommt, bevor der Ehemann bei einemArbeitsunfall verstirbt. In diesem Bericht macht A. in keinsterWeise deutlich, dass es ihr sehnlichster Wunsch war Mutterzu werden, sondern betont eher die damalige Normalität derFamiliengründung: »Dann hab ich mein Mann kennengelerntund geheiratet wie dat in Russland geht schon, ne. […] Ge-heiratet und dann ein Kind gekriegt« (Z. 152–156). Nach demschweren Schicksalsschlag jedoch wird die Sorge um die Kin-der zu ihrem Lebensinhalt, zumal A. damit das Erbe ihresMannes realisiert. Er legte großen Wert auf die Ausbildungund Förderung seiner Kinder, die ihm selbst zu seinem gro-ßen Bedauern verwehrt geblieben waren (vgl. Z. 278–281).A. übernimmt diesen Wunsch und verwirklicht nach Kräften,was ihrem Ehemann so wichtig war: »Haben versucht allesfür die Kinder zu machen…« (Z. 274). Seinen Tod, der A. sehrschwer getroffen hat und sie bis heute emotional stark mit-nimmt (A. weint oft während des Gesprächs, wenn sie überihren Mann spricht), verarbeitet sie durch die Bewahrung sei-nes Andenkens in der Erziehung der Kinder. Aber auch ihrselbst ist es ein Anliegen »das die Kinder, eben was aus denewird« (Z. 1187), anders als die eigenen Eltern, die A. »vielleichtnit so gefördert« (Z. 1156) haben. In Kasachstan ermöglicht sieihnen diverse Aktivitäten außerhalb der Schule (Chor, Fuß-

ball, Leichtathletik, Gymnastikturnen), in dem sie viel Zeitund Energie für ihre Organisation investiert (die Aktivitätenselber sind kostenlos). In Deutschland sorgt sie für die best-mögliche Ausbildung der Kinder; die jüngere Tochter gehttrotz Schwierigkeiten zur Realschule und dann auf ein Inter-nat, aber soll keineswegs die Hauptschule besuchen: »Habich gesagt: ›die geht nit auf die Hauptschule, die war dort inder besten Schule in der Stadt, hier geht sie auch in die Real-schule‹« (Z. 547–549). Sie erreicht das Fachabitur. Die ältereTochter besucht anstatt des von der Arbeitsagentur angebo-tenen Sprachkurses, einen qualitativ hochwertigeren bei derOtto-Benecke Stiftung (vgl. Z. 575–582), der ihr schließlich zueinem sehr guten Abitur verhilft und damit das Studieren er-möglicht. In erster Linie zur finanziellen Unterstützung dieserAusbildungswege nimmt A. die Arbeit in der Knopffabrik an:»So bin ich auf die Knopffabrik gegangen, bin ich zum Chefgegangen, hab ich gesagt: ›Hier bin ich, ich hab zwei Kinderund ich muss arbeiten!‹ […] Ich hab gesagt: ›Ich muss arbei-ten, ich hab dat nie gemacht, aber ich muss arbeiten, ichhab zwei Kinder!‹« (Z. 932–937). Die Ausbildung und Zukunftder Kinder ist unter Anderem auch ein entscheidender Grundzur Ausreise nach Deutschland (Z. 1602–1611). A. beschließteine Erzählsequenz mit den Worten: »Alles für die Kinder ge-macht. Und jetzt kommen schon mit die Enkelkinder (lacht)..jetzt weiter« (Z. 1833–1835). Hier bezeichnet sie die Kinderausdrücklich als den Mittelpunkt ihres Lebens und hebt damitihre Identität als Mutter und weiterhin auch als Großmutterhervor. Nach dem Gespräch überreicht A. der Interviewerineinen Kalender, in dem ihre ältere Tochter als eine von 12erfolgreichen MigrantInnen abgebildet ist, die ihre »berufli-chen Entwicklungsträume« verwirklicht hat. A. ist eine stolzeMutter, deren Mühe im Erfolg der Kinder belohnt wird.

Des Weiteren versteht sie sich auch als Deutsche, jedochist diese Identifizierung nicht handlungsweisend. Vielmehrregistriert A. nur ihre Zugehörigkeit zur deutschen Minder-heit. Mit den der Erzählung ihrer Geburt einhergehendengeschichtlichen Rahmenbedingungen verdeutlicht sie, dass sieKind deutscher Eltern ist, die aufgrund ihres DeutschseinsVerschleppung und Restriktionen erleiden mussten. Als dieFamilie nach Almata zieht, lässt sie sich in einer deutschenSiedlung nieder, während sie in der nächsten Stadt Dscham-bul, die einzige deutsche Familie in der Straße ist. Hier feiertsie zwei Mal das Osterfest – jeweils nach deutscher und nachrussischer Tradition. Weiterhin berichtet A. von dem Versuchder Eltern mit den Kindern im Haus deutsch zu sprechen. Diezusammenfassende Betrachtung dieser Angaben zeigt, dasssie ein Bewusstsein dafür entwickelt haben muss Deutschezu sein und damit eine Besonderheit in ihrem Umfeld darzu-stellen. Dieses scheint jedoch ihr Denken und Handeln nichtwesentlich zu beeinflussen. Zumal A. und ihre Geschwisterden Versuch der Eltern, durch die deutsche Sprachpraxis dieKultur aufrecht erhalten zu wollen, abwehren: »Ja, und wirKinder wollten net, ja wat heißt wollten net, sie haben unsdeutsch gesagt, und wir denne russisch geantwortet […] weilman draußen redet anders da und dann will man ja ange-nommen sein, ne« (Z. 117–129, ebenso vgl. Z. 404–408). Ihrist es viel wichtiger von ihrem Umfeld angenommen zu seinund nicht aufzufallen, als deutsche Kultur zu pflegen und sichdamit abzugrenzen. Somit ist auch für die weitere Lebensge-schichte die Tatsache deutsch zu sein für A. nicht relevant

Page 50: it - Gesellschaftbilder Und Selbstverst Russlanddeutscher Aussiedler in der Sowjetunion und in Deutschland

40 kapitel 4 Empirische Untersuchung

und wird entsprechend nicht thematisiert. Auf die expliziteNachfrage, wie das Leben für Deutsche in Kasachstan war, ant-wortet A.: »Wir waren angenommen und nit ausgegrenzt […]ich hab ja zwischen der ganzen Masse gelebt, da waren alleNationalitäten« (Z. 2497–2501). Ihre soziale Umwelt gibt ihrauch keinen Anlass ihrer ethnischen Zugehörigkeit mehr Be-deutung beizumessen. Schließlich »hat man sich da eingelebt,hat man sich da auch wohl gefühlt..« (Z. 427).

Erst im Zusammenhang der Ausreise besinnt sich A. wie-der auf ihre deutschen Wurzeln: »Ich war nur da noch fürmich so selber stolz dat ich dann nachher Deutsche war ja.Später, wann ich dann schon konnte ein verstehen ein biss-chen von der Sprache mit Eltern und so. Dann hat dat allesmit Deutschland angefangen und so weiter« (Z. 2509–2513).An anderer Stelle sagt sie, ebenfalls im Kontext der Ausrei-seerzählung, dass es ihr gefallen hat mit der Mutter auf demMarkt deutsch sprechen zu können, um so besser zu verhan-deln (vgl. Z. 412–419). Deutschsein wird für A. also zu demZeitpunkt wieder relevant, als sie mitbekommtwie Verwandteund andere Deutsche aus ihrem Umfeld ausreisen: »Und wirhaben ja immer gedacht, wir sind ja Deutsche, wir müssendann nach nach Deutschland« (Z. 353–355). A. bringt hier dieAussage ihrer Eltern an, die eine notwendige Ausreise nachDeutschland mit der Bibel rechtfertigen. Es scheint, als wirdbesagte Rechtfertigung erst entwickelt, als die Möglichkeit zurAuswanderung besteht und von vielen anderen Deutschengenutzt wird. Für A. sind aber andere Motive, die die Auswan-derung in die Bundesrepublik bewirken, ausschlaggebenderals der Wunsch als Deutsche unter Deutschen zu leben. Diewohl höchste Priorität nimmt bei dieser Entscheidung die Zu-kunft der Kinder ein, denen sie eine bessere Zukunft bietenwill, indem sie ihnen eine gute Ausbildung bzw. ein Studiumermöglicht. Dies wäre ihr in Kasachstan angesichts des starkenGeldwertverlustes nicht möglich gewesen (vgl. Z. 1602–1611).Außerdem »hat man ja auch gesehen, von Westen sind bes-sere Sachen gekommen. […] Und deswegen dann sind allegegangen und dann hat man gedacht man wird – der Menschis ja so so immer wo es besser geht, man hat gut und will janoch besser« (Z. 1612–1622). Die Aussicht auf ein »vielleichtbesseres Leben« (Z. 2234), in dem es nicht mehr nötig ist umGüter (Kleider, Wurst, Bonbons) zu kämpfen, diese qualita-tiv hochwertiger sind und die Tatsache, dass »alle fahren«(Z. 2238) sind ebenfalls wichtige Gründe, die zur Ausreiseführen (vgl. Z. 2218–2238; Z. 1602–1626).

So wie A. als Kind in Kasachstan russisch spricht, um ange-nommen zu sein und nicht aufzufallen, so sind es in Deutsch-land dieselben Gründe, die den Wunsch als Deutsche aner-kannt zu werden begründen. Sie versucht möglichst wenigaufzufallen, indem sie sich einerseits äußerlich anpasst:

[…] haben alles weg und haben beim Roten Kreuz Kla-motten geholt und angezogen, man wollte ja nicht auffal-len.I: HmI. A.: Weil die Klamotten waren ja anders da. Dort ha-ben sie so ein Haufen Geld gekostet wat wir haben bezahlt.Habe gesagt: »Kannst ja nicht nach Deutschland so fah-ren, musst dich ja so fein anziehen«, und wat hast duangezogen.. musstest dann die ganze teure Sachen allesweg und hier den Mist vom Roten Kreuz nehmen anziehenund hast dich wohl gefühlt, weil du warst dann, bist schon

auf die Straße nit so.. äh sonst hat sich ja jeder da, so gucktsich ja jeder um und dann ja noch mehr ja, die Klamottendann noch sind so. (S.115, Z.2134–2146)Andererseits sind es die deutschen Sprachkenntnisse, die A.

nicht so leicht wie neue Kleider erwerben kann und die dazuführen, dass sie anfangs »als Russe abgestempelt« wird. In die-sem Zusammenhang sagt sie: »Und dann hat man schon sichso Gedanken gemacht, du fühlst dich als Deutsche und von an-dere Seite bist ja irgendwie ausgegrenzt, weil du verstehst jadie Sprache nit, das ist ja dat wichtigste, das man die Sprache,wann man die Sprache nit beherrscht äh, kommt man auch nitweiter« (Z. 2527–2531). A. berichtet hier von der Zeit, als siein der Knopffabrik gearbeitet hat und noch schlecht deutschsprach; sie fühlt sich ausgegrenzt und nicht als Deutsche an-erkannt, weil sie nicht in deutscher Sprache kommunizierenkann. Da sie sich aber das Defizit der mangelnden Sprach-kenntnisse selber zuschreibt, legitimiert sie damit auch einStück weit die Aberkennung ihres Deutschseins seitens derKollegen. A’s Selbstverständnis als Deutsche steht und fälltmit ihrer äußerlichen und sprachlichen Anpassung.

Sie gibt sich viel Mühe, um bessere Sprachkenntnisse undIntegration zu erreichen und es sind gerade diese Charakterei-genschaften – Fleiß und Kampfgeist – die in ihrem Selbstbildviel stärker im Vordergrund stehen als die Zugehörigkeit zurdeutschen Ethnie. Das letzteres nicht so entscheidend für sieist, zeigt sich auch in ihrer Wortwahl; des Öfteren bezeichnetsie russlanddeutsche Aussiedler als Russen, so zum Beispielwenn sie sagt: »Meine Tochter die jüngste die war alleine indie Schule Russin« (Z. 543) oder »Die Deutschen denken dieRussen sind alle hier bevorzugt ja, die kriegen alles, wie sagtman, in den Hintern geschoben bekommen ja« (Z. 2563–2565).Hier zeigt sich auch, dass sich A. an dem Kriterium Fleiß von(einheimischen) Deutschen distanziert. Am Beispiel ihrer Er-fahrung in der Berufsschule hebt sie die eigene Strebsamkeitund Opferbereitschaft zwecks Erreichung des Ausbildungs-abschlusses und damit der Möglichkeit zu arbeiten hervor.Diese geht soweit, dass sie sogar ihre Familie vernachlässigt:»Ich hab keine Wochenenden gehabt, kein nix, ich hab keineFamilie, hab ich gesagt: ›Ich muss lernen!‹ Tag und Nachtnur gelernt! Ja, Besuch will kommen, ›nein, ich muss Arbeitschreiben!‹« Im Gegensatz dazu steht eine Mitschülerin, dieA. ihren Erfolg neidet und von der sie vermutet: »Aber wannman als Deutsche aufgewachsen und sitzt man da und weißes nicht um was es geht, und denkt man kommt ja durchweil man Deutsche is« (Z. 2555–2557). A. führt das fehlendeEngagement der Mitschülerin darauf zurück, als Deutsche inDeutschland aufgewachsen zu sein. Sie grenzt sich somit vonarbeitsscheuem Verhalten und damit offenbar einhergehen-dem Deutschsein ab.

Dies bedeutet jedoch keine Abgrenzung im Sinne eines feh-lenden Integrationswunsches; A. ist sowohl an der eigenenals auch der Integration der Kinder sehr gelegen, jedoch be-nötigt sie keine Selbstidentifikation als Deutsche um diese zuerreichen. Sie realisiert diese durch ihre Offenheit zur Kon-taktaufnahme:

[…] man wollte sich ja direkt dat Leben leben und nicht sichda abgrenzen, ja un nix zu tun haben oder wie auch immerja, haben wir uns nit so.. äh… wann man auch konnte nitso reden aber man is einfach gegangen ja, auf die Veran-staltungen oder wat da was da gegeben (S.103, Z.622–626)

Page 51: it - Gesellschaftbilder Und Selbstverst Russlanddeutscher Aussiedler in der Sowjetunion und in Deutschland

Analysen 41

Ihr Bestreben die Sprache zu lernen (sie absolviert mehrereSprachkurse) und in ihrem Bemühen um einen Arbeitsplatz.Um diesen zu finden muss A. viele Hürden nehmen; diverseabsolvierte Praktika und Maßnahmen von der Arbeitsagenturbilanziert sie folgendermaßen: »Aber wie blöd dat klingt, aberich hab dat alles mitgemacht« (Z. 1025–1026). Einer Arbeitnachzugehen und sich damit von der Gesellschaft gebrauchtzu fühlen ist auch für ihr Selbstverständnis sehr zentral: »Ar-beitslos zu sein, ich, dat hat mich so gedrückt, das, ich habmich so ä… nutzlos gefühlt« (Z. 1081–1082). »Dat [Arbeit] iswichtig das man muss sich fühlen dass die Gesellschaft dichbraucht und was du machst« (Z. 2607–2609).

GesellschaftsbilderA’s Bild ihrer sozialen Umgebung in Kasachstan ist überwie-gend von Zusammenhalt und Hilfsbereitschaft geprägt. Sonimmt zum Beispiel ihre Chefin Rücksicht, als A. alleinerzie-hend wird und Berufstätigkeit und Muttersein kombinierenmuss (vgl. Z. 223–228; Z. 1851–1858). Des Weiteren helfenauch die Nachbarn, indem sie nach den Kindern schauen,wenn diese nachmittags alleine zuhause sind, während A.arbeitet (vgl. Z. 1908–1913). Gegenseitige Krankenbesuche in-nerhalb des Kollegiums scheinen eine Selbstverständlichkeitzu sein: »Da hat man schon besucht Menschen mehr, wannwer krank war, die Arbeitskollegen haben immer besucht«(Z. 2471–2473), werden allerdings zentral – in diesem Fall vonA. – organisiert, sodass die Freiwilligkeit der Besuche nichtzweifelsfrei bleibt (vgl. Z. 2468–2471). Außerdem sorgt sie sichauch um weitere soziale Angelegenheiten am Arbeitsplatz; siehilft bei der Beantragung von Rente und trifft Vorbereitun-gen zu runden Geburtstagen, wenn eine Kollegin ein Kind zurWelt bringt oder sonstigen Veranstaltungen (vgl. Z. 1969–1977).Die in der Nachbarschaft erlebte und am Arbeitsplatz arran-gierte soziale Fürsorge stellt für A. gesellschaftliche Alltags-realität dar. Hilfsbereitschaft veranschaulicht sie ferner amBeispiel ihrer Familie – sie hilft ihrem Bruder beim Dach de-cken und er ihr beim Haus streichen – und verallgemeinertdieses Prinzip auf die Gesellschaft in Kasachstan:

Und, weil wir ganze Familie sind gekommen ja alle, unäh dass is ja und da is ja die Gesellschaft schon so einbisschen.. damals gewesen ja, das man hat schon einemandere… so, mehr.. dat geholfen ja. Du hast dann auchzurück wat gegeben geholfen dene Leute ja, wann wat beidene war. (S.113, Z.1887–1891)Auf Hilfe angewiesen zu sein ist folglich kein Zeichen von

Demütigung sondern gründet in der Selbstverständlichkeit dieempfangene Hilfeleistung zurückzugeben. »Eine Hand wäschtdie andere« (Z. 1969) ist der diesbezüglich gültige Grundsatzin der Gesellschaft und resultiert unter anderem aus der Ge-gebenheit einer gegenseitigen Abhängigkeit hinsichtlich desBezugs von Gütern, die allgemein schwer zugänglich sind(vgl. Z. 1969–1977).

Weiterhin beschreibt A. die unkomplizierte Kontaktpflegezu Nachbarn, die man spontan und ohne Termin jederzeitbesuchen konnte. Es bestehen keine »Hemmungen« in diePrivatsphäre bekannter Leute (Nachbarn) einzudringen; Ter-minabsprache erscheint in dieser von Offenheit gezeichne-ten Gesellschaft eine zu formale und unpersönliche Methode(vgl. Z. 1860–1864). Aus heutiger Perspektive jedoch betrachtetA. spontane Besuche auch kritisch. Denn »jetzt mit nach der

Zeit find[et] [sie], vielleicht is et besser nach dene Termine«(Z. 1864–1865).

Im Unterschied zur deutschen Gesellschaft sieht A. denZusammenhalt der Familie in Kasachstan stärker ausgeprägt(vgl. Z. 2589–2593); da ist nicht »jeder ja nur für sich« (Z. 1923),wie sie es bei der Verwandtschaft ihres Lebensgefährten be-obachtet und nach vielen Jahren in Deutschland auch bei dereigenen: »Langsam bei uns auch so.. das man sich auseinanderlebt« (Z. 2593–2594). In diesen Zusammenhang stellt A. auchdie unterschiedlich entgegengebrachte Gastfreundlichkeit beiBesuchen der Verwandtschaft, die sie als typisch für Russlandbzw. Deutschland ansieht:

[…] in Russland ist dat dann so, man stellt, wann jemandGast kommt stellt man alles auf den Tisch. Was man selber,man stellt alles zuerst in die Ecke wann jemand kommt, jaund dann du, ja. Und in Deutschland wann man zu denekommt, da kriegst du nur Tasse Kaffee, nix mehr dabei,nur Tasse Kaffee… (S.114, Z.1929–1934)An diesem Beispiel demonstriert sie das aus ihrer Sicht un-

terkühlte Verhältnis der deutschen (Groß-)Familie im Gegen-satz zum warmen, herzlichen Verhältnis der (Groß-)Familie inRussland, welches sie am Beispiel der eigenen (Klein-)Familiein Deutschland illustriert: »Und wann meine kommen, meis-tens, wir sitzen dann fangen wir an wat hinzustellen, ›wirtrinken Tee‹ sagen wir dann ja. Und dann wird immer watdabei gegessen ja« (Z. 1935–1938).

In großer Diskrepanz zur beschriebenen Hilfsbereitschaft,die A. in ihrem unmittelbaren sozialen Umfeld erlebt, stehtdas Alleingelassensein vom Staat bzw. Betrieb, als ihr Ehe-mann bei einem Arbeitsunfall umkommt und sie alleine fürdie Versorgung ihrer Familie kämpfen muss: »Jeden Tag Acht-Stunden-Job und zwei Kinder und alleine… (atmet schwer)naja, aber in Russland hat man dat einfach hingenommen,dat war so und das war’s, ne. Hat man nicht erwartet irgend-welche, große Hilfe« (Z. 198–201). Insgesamt drei Mal mussA. vor Gericht ziehen, um eine Waisenrente für die Kinder zuerkämpfen, die von Staat und Betrieb ausgezahlt wird.

Wie bereits oben ausgeführt, ist es A. sehr wichtig einerArbeit nachzugehen und sich so gebraucht zu fühlen. Eine ent-sprechende Erziehung macht sie in der Gesellschaft Kasachs-tans aus, welche sie auch persönlich favorisiert: »In Russlanddenk ich mir die Kinder wurden mehr gelernt zu arbeiten alshier […] und dat is besser« (Z. 2612–2614). Es ist so selbst-verständlich, dass junge Leute nach Schulabschluss (in dieStädte ziehen und) arbeiten gehen, sodass sich A. »geniertnach Hause zu fahren« (Z. 1288) als es ihr nicht möglich isteine Ausbildung in einer Käsefabrik einer entlegenen Stadtzu beginnen (vgl. Z. 1274–1293).

Des Weiteren sieht sie auf die Frage nach den »Verlierern«und »Gewinnern« der kasachischen Gesellschaft letztere un-ter den Kasachen. Denn für diese war eine Prozent-Quote anSchulen, Berufsschulen und Hochschulen (und evt. weiterenEinrichtungen) vorgesehen. In diesem Zusammenhang schätztsie Angehörige der deutschen Minderheit als benachteiligt ein:»Und die Deutschen, die mussten sich ja da ganz hinten an-stellen. (Ou ne) da mussten sie schon ganz gute Noten habenoder wat wie auch immer« (Z. 2280–2283). Im Vorzug warauch, wer der kommunistischen Partei angehörte, denn der/die »konnte auch besser dran an die Arbeit kommen äh.. undalles mögliche« (Z. 2301). Diejenigen unter ihnen, die »ein

Page 52: it - Gesellschaftbilder Und Selbstverst Russlanddeutscher Aussiedler in der Sowjetunion und in Deutschland

42 kapitel 4 Empirische Untersuchung

Namen oder ein Posten« (Z. 2340). hatten und nicht »einfa-che Arbeiter« (Z. 2319) waren, konnten ihre Kinder auf diebesseren Schulen schicken und zu ihren Gunsten Einfluss aufdiese ausüben (vgl. Z. 2277–2359).

Wenn auch in Deutschland zunächst »alles.. is anders dawat man sich erhofft hat« (Z. 398) und A. hier »bei die fremdeLeute [ist], weiß […] nicht wohin und was und so alles«(Z. 1982–1983), sie also einer ihr unbekannten Gesellschaftbegegnet, in der sie neue Orientierungs- und Handlungsmus-ter erlernen muss und erstmal den starken Wunsch verspürt,die Rückreise anzutreten, so will und wollte sie doch nicht »indat Leben zurück so wie dat war« (Z. 1983). Denn schließlichhat sie in Deutschland die Möglichkeit zu realisieren, was ihram wichtigsten ist; den Kindern eine bessere Ausbildung undZukunft zu bieten. Die um diese zu erreichen notwendige Inte-gration wird ihr durch Hilfsangebote vom sozialen Umfeld inNorddeutschland erleichtert. Das ehrenamtliche Engagementeines Schuldirektors, der russlanddeutschen Familien Sprach-unterricht erteilt, eine Frau vom Sportverein, die »dene Kinder[hilft], das[s] sie sich integriere« (Z. 606), indem sie diese zumTanz abholt und Spiel- und Bastelangebote der Kirche, die dieKinder besuchen, zeichnen ein positives Bild der Gesellschaft,die von Hilfs- und Aufnahmebereitschaft geprägt ist: »Uns hatdat auch so geholfen ein bisschen« (Z. 637; vgl. Z. 592–638).Aber A. erlebt auch Ablehnung aufgrund ihrer mangelndenSprachfähigkeit; so bekommt sie von Kollegen in der Knopffa-brik zu hören: »Wat seid ihr für Deutsche, versteht ja nix!«(Z. 2526) und wird, als sie in einem Kaufhaus ein Praktikummacht, von einer Kundin, der sie behilflich sein will, verlacht.Diese spricht A. aufgrund ihrer fehlerhaften Aussprache auchdie Kompetenz ab, helfen zu können (vgl. Z. 2516–2524). Dasie derartige Zurückweisung nur im Zusammenhang ihrer an-fangs unzureichenden Deutschkenntnisse beschreibt, führt siejene auch allein auf diese Ursache zurück und nicht etwa aufihre Herkunft oder Person. Dieses Defizit kann A. mit Hilfemehrerer Sprachkurse, vielen Gelegenheiten sowie Notwen-digkeiten in deutscher Sprache zu kommunizieren, und nacheiniger Zeit beheben, sodass sie in Bezug auf ihr jetziges Lebenkeinerlei Ausgrenzungserfahrungen benennen kann. Heutesteht sie in gutem Kontakt zur Nachbarschaft: »Ich rede schonmit jedem undmit allen und er [Lebensgefährte] sagt: ›Du bistja schon hier bekannt, wie ein bunter Hund.‹ […] Ich bin ebenso, ein bisschen offener zu den Leuten« (Z. 1954–1955, 1957)und ist – wie der Passus zeigt – in die Dorfgemeinschaft gutintegriert.

A. erlebt als Aussiedlerin Ausnutzung (unangemessene Be-zahlung vom Bauern; vgl. Z. 833–843), Neid (»Deutschen den-ken die Russen sind alle hier bevorzugt«; Z. 2563–2565) undBetrug (als ihr Bruder ein Haus kauft, wird seine Unwissen-heit ausgenutzt: »Weil das auch Anwalt is, kannst aber nichnachweisen, das du aus Russland kommst und bist bekloppt,kennst die Gesetze ja nit«; Z. 1800–1802). Die einzelnen ne-gativen Erfahrungen überträgt A. zwar nicht auf die gesamteGesellschaft, aber ihr deutsches Gesellschaftsbild erscheintinsgesamt dennoch in einem schlechteren Licht als das kasa-chische. Denn hier ist der familiäre Zusammenhalt »verlorengegangen« (Z. 1924), der für sie persönlich einen sehr hohenStellenwert besitzt, und die Erziehung von Kindern, die A’sHauptaufgabe als Mutter darstellt, ist aus ihrer Sicht falsch.Kinder und Jugendliche würden in Deutschland zu wenig zu

Leistung, Selbstständigkeit und Ordnung erzogen, stattdessenführten sie ein sorgenloses, hedonistisches Leben, das vonEltern und Sozialamt finanziell getragen und somit auch ak-zeptiert wird (vgl. Z. 2589–2643).

Biographische ProzessstrukturIn Anbetracht A’s gesamter Biographie lässt sich keine eindeu-tige einheitliche Prozessstruktur ausmachen. Bis zur Familien-gründung erfährt A. ihr Leben nach einem institutionellemAblaufschema; nach Schulabschluss »flieg[t] [sie] raus ausdem Nest, in die Städte und.. in die große Welt« (Z. 1290), umeine Ausbildung in einer Käsefabrik zu beginnen. Als dieserPlan nicht aufgeht, nimmt sie es als persönliches Scheiternwahr, denn sie geniert sich zurück nach Hause zu fahren. Da-nach wird sie von ihrer Mutter überzeugt eine Ausbildungzur Bibliothekarin zu absolvieren; eine Arbeit »für Frauen«(Z. 1308). In dieser Zeit lernt sie ihren späteren Ehemannkennen, heiratet und bekommt Kinder. Als ihr Mann bei ei-nem Arbeitsunfall tödlich verunglückt, lähmt sie dieses über-mächtige Ereignis nicht, sondern bewirkt die Entfaltung vonwahrscheinlich vorher nicht gekannten Potentialen. Sie ver-wirklicht was in erster Linie der Wunsch ihres Ehemanneswar, aber auch der eigene (geworden war); A. kann ihr un-gleich erschwertes Leben als Witwe so organisieren, dass sieihren Kindern dennoch viel Förderung zuteil werden lässt. Fürdie bessere Zukunft und Ausbildung der Kinder beschließt siedie Auswanderung nach Deutschland und setzt auch hier allesdaran, diesen Plan zu realisieren – mit Erfolg. Auch in Bezugauf das eigene Leben hat sie den Eindruck, es ›in der Hand‹ zuhaben. Um sich zu integrieren, geht sie mutig zu Veranstaltun-gen, während sie noch kaum deutsch redet (vgl. Z. 622–626),besucht mehrere Sprachkurse aus demselben Grund (vgl. An-hang B.7) und nimmt jede Hürde und Mühe auf sich, umArbeit zu finden (diverse Praktika, Maßnahmen; »Gelbe Sei-ten genommen, überall rumgefahren: ›Brauchen Sie, brauchenSie, brauchen Sie?‹«; Z. 1087–1088) – ebenfalls mit Erfolg. FürA’s Leben nach dem Tod ihres Ehemannes, zeichnet sich dieProzessstruktur biographischer Handlungsschemata ab.

4.8.5 Peter Berndt

Peter Berndt (im Folgenden nur noch mit B. abgekürzt) ist1948 als zweites von fünf Kindern in Krasnoturinsk geboren.Dort lebt er mit seiner Familie in einer Baracke. 1956 wird B.eingeschult, nach acht Klassen beginnt er im Technikum eineAusbildung zum Wärmetechniker, die er nach dreieinhalb Jah-ren beendet. 1968 wird er zum zweijährigen Militärdienst imFernen Osten, in Chabarask einberufen. Als B. zurückkommt,fängt er an bei einem Aluminiumbetrieb zu arbeiten und par-allel dazu Vorbereitungen für Prüfungen zum Eintritt in dieHochschule zu treffen. Diese besteht er nicht, wird aber kurzdarauf von einem Freund überzeugt nach Chilabinsk zu kom-men, um gemeinsam an den dortigen Fakultäten Turbinenbauzu studieren. B. kündigt seine Arbeitsstelle und begibt sichnach Chilabinsk, besteht aber auch hier die nötigen Prüfun-gen nicht, woraufhin er als Maschinist in der Elektrozentraleder Stadt Arbeit findet und über eine Art Fernstudium ver-sucht sichweiter fortzubilden. Nach einem halben Jahr wird erzum Schichtführer befördert. Als er in dieser Zeit seine Elternbesucht, stellt sich heraus, dass der Vater schwer krank im

Page 53: it - Gesellschaftbilder Und Selbstverst Russlanddeutscher Aussiedler in der Sowjetunion und in Deutschland

Analysen 43

Krankenhaus liegt, infolgedessen B. erneut kündigt und nachKrasnoturinsk zurückkehrt, um die Mutter zu unterstützen.Hier bewirbt er sich zunächst bei der Pipeline, lehnt aber dasAngebot ab, auf einer (Vergütungs-)Stufe unter seiner Quali-fikation zu arbeiten. Schließlich findet er eine Anstellung alsLehrer in einer Berufsschule, die Montageschlosser, Stucka-teure und Schweißer ausbildet und arbeitet dort zehn Jahrelang. In dieser Zeit lernt B. seine Frau kennen und heiratet1977. Im selben Jahr wird sein Sohn geboren. 1981 folgt erder Einladung eines Freundes nach Urengoi, um gegen guteBezahlung in der Gaswirtschaft zu arbeiten. Dort bleibt erfür ein Jahr, in welchem er bei einem Freund und dessenFamilie in sehr beengten Verhältnissen wohnt und während-dessen versucht, eine Wohnung für sich und seine Familie zuorganisieren. Da die Wohnungsnachfrage sehr groß ist undes ihm missglückt eine Wohnung zu finden, kehrt er nachKrasnoturinsk zu seiner Familie und in eine von der Berufs-schule gestellte Wohnung zurück. Mit der Vermittlungshilfeseiner früheren Direktorin von der Berufsschule wird B. beider Gaspipeline angestellt. Er fängt dort als Maschinist an,wird nach drei Jahren Schichtführer und nach zwei Jahren»Oberdispetscher«; als solcher trägt er Verantwortung für 115Arbeitnehmer. 1986 schreibt B’s in Deutschland lebende Tanteeinen Brief, in dem sie den Wunsch äußert, ihren Bruder (B’sVater) in Sotschi (ein Urlaubsort) zu treffen. Sie treffen sichund vereinbaren, nachdem sich B’s Vater von einer Auswande-rung nicht überzeugen lässt, dass sie die Tante in Deutschlandzunächst nur besuchen kommen. Nach dem Besuch im Jahr1988 lässt sich der Vater überzeugen, sodass die Eltern, B. undseine Familie, sowie zwei seiner Geschwister jeweils mit Fa-milien in den Jahren 1989 und 1990 in die Bundesrepublikausreisen. Hier leben sie die ersten zwei bis drei Wochen ineinem norddeutschen Auffanglager und ziehen dann in dieNähe der Eltern nach Koblenz, wo B. und seine Familie dreiMonate bei seiner Cousine wohnen und dann eine Wohnungmieten. Das Ehepaar besucht einen Sprachkurs und B. hilftbeim Hausbau der Cousine. Nach sechs Monaten Sprachkurs,bemüht sich der Sprachkurslehrer um die Vermittlung seinerSchüler für ein Praktikum; für B. und vier weitere Mitschülerfragt er einen großen Betrieb für Weißblechherstellung an.B. wird als einziger eingestellt, da er eine für die Ansprüchedes Betriebs passende Ausbildung hat. Die Firma stellt ihnfest an und er arbeitet in dieser bis zur Rente, in die er seiteinem halben Jahr eingetreten ist. Die letzten drei Jahre seinerBeschäftigungszeit arbeitet er in Altersteilzeit. 1996 nimmtFamilie B. einen Kredit auf, kauft ein Grundstück und fängtein Jahr später an darauf ein Haus zu bauen. In dieses ziehenzuerst B’s Eltern ein, kurz darauf folgt er mit seiner Familie.Heute wird das Haus von ihm und seiner Frau sowie seinemSohn, dessen Frau und zwei Enkelinnen bewohnt.

4.8.5.1 Selbstverständnis und Gesellschaftsbilder PeterBerndts

SelbstverständnisDie zentralste Bedeutung in Peter Berndts Selbstverständnisnehmen Beruf und Arbeit ein; die Erzählung seiner Lebens-geschichte besteht überwiegend aus seiner Arbeitsgeschichte,sodass Arbeit das identitätsstiftende Moment in B’s Leben ist.Nach einer kurzen Erzählung der Umstände seiner Geburt, der

Migrationsgeschichte seiner Eltern, Beschreibung der familiä-ren und Wohnverhältnisse sowie seiner Schulzeit, beginnt B.mit der Schilderung seines beruflichen Werdegangs. Sehr be-wusst und zielgerichtet entscheidet er sich für eine Ausbildungzum Wärmetechniker, die in intellektueller, finanzieller undzeitlicher Hinsicht aufwendiger ist als derWille des Vaters, dereine halbjährige Ausbildung zum Traktoristen befürwortet.

Nach laangen Gesprächen mit den Eltern – das war, war jaso eine Zeit, komische – Vater wollte das ich ginge sofort zuKursus, Kursus halbes Jahr so, und als Traktorist arbeite wei-ter. Und ich hab den doch überredet, wenn ich das schaffe,die Eintrittsexamen abgeben, das er mir erlaubt und finan-ziert die Lehre. Und ich hab das geschafft (S.121, Z.80–86)Bereits im Alter von etwa 16 Jahren weiß B. offenbar sehr

genau welchen Beruf er erlernen möchte und folgt nicht demWunsch seines Vaters, sondern überzeugt ihn davon die Lehrezu finanzieren. Er erläutert nicht die Beweggründe, die dazuführen, dass er ausgerechnet diesen Beruf wählt und sich ge-gen den Kurs zum Traktoristen entscheidet; jedoch wird hierdeutlich, wie wichtig es für B. ist diese Ausbildung zu machen.Die Wertschätzung der absolvierten Lehre wird ihm auch imLaufe seines weiteren Berufslebens immer wieder vor Augengeführt, wenn er aufgrund dieser eingestellt oder befördertwird.

Als B. schon berufstätig ist, ist seine Ambition sich fort-zubilden weiterhin groß; zwei mal bereitet er sich auf dasEintrittsexamen vor, um zur Hochschule zugelassen zu wer-den, besteht sie nicht, gibt aber nicht auf und plant eine ArtFernstudium. Da zu dieser Zeit sein Vater krank wird, kanner dieses nicht absolvieren (vgl. Z. 248–315). Beim zweitenVersuch eine Hochschule zu besuchen, kündigt B. sogar seineArbeitsstelle, um in die Stadt des Hochschulstandorts zu zie-hen. Anhand dieser Bestrebungen zeichnet sich B’s großerEhrgeiz ab, über Weiterbildung den Weg zur Karriere einzu-schlagen. An dieser Stelle führt ihn dieser Weg jedoch nichtüber die Zurückstellung seiner Familie; als sein Vater krankwird, bricht B. Arbeit und das Vorhaben des Fernstudiumsab, um die Mutter in dieser Zeit zu unterstützen. Als ihnaber ein Freund 1981 einlädt zum Arbeiten nach Urengoi zukommen, wo das Gehalt um ein Vielfaches über dem Durch-schnittsgehalt liegt, folgt er dieser Einladung und lässt seineEhefrau mit dem vierjährigen Sohn zurück. Diese finden inder gesamten Erzählung wie auch in diesem Zusammenhangund der damit verbundenen Entscheidungsfindung – wennüberhaupt – nur marginale Erwähnung. Inmitten der Schil-derung seiner Pläne nach Urengoi zu fahren, führt B. kurzan: »Im Jahre siebenundsiebzich hab ich auch geheiratet imJanuar (5) und dann, schon einundachtzich hab ich zugesagtdem das ich komm auch nach Urengoi« (Z. 412–414). Einflussauf diese Entscheidung haben – B’s im Interview gemach-ten Aussagen folgend – nur der Freund, der ihn einlädt undüberzeugt sowie der ›traumhafte‹ Verdienst (vgl. Z. 410–415).Grund für die Rückkehr nach Krasnoturinsk sind einerseitsdie beengten Wohnverhältnisse und das Unbehagen, die auf-nehmende Gastfamilie zu stören (vgl. Z. 457–461) sowie dieTatsache, keine Wohnung für sich und seine Familie erste-hen zu können (vgl. Z. 441–444). An späterer Stelle und aufdie Aufforderung diesen Lebensabschnitt noch einmal unterBerücksichtigung dessen zu erzählen, dass B. zu diesem Zeit-punkt verheiratet war, nennt er noch den weiteren Grund,

Page 54: it - Gesellschaftbilder Und Selbstverst Russlanddeutscher Aussiedler in der Sowjetunion und in Deutschland

44 kapitel 4 Empirische Untersuchung

dass seine Frau während seiner Abwesenheit nach Krasno-turinsk ziehen musste (vorher lebte sie mit ihrem Bruder inChilabinsk, dieser drängte sie aber aus der Wohnung) undin der neuen Stadt Niemanden kannte; er kommt also auchzurück, damit sie nicht allein in der Stadt ist (vgl. Z. 1134–1139).Dieses Motiv scheint jedoch nicht das ausschlaggebende zusein, sondern vielmehr die widrigen Bedingungen in Urengoi.

Schließlich kann B. auch ohne zertifizierte Fortbildung nochKarriere bei der Gaspipeline machen; hier wird er vom Ma-schinisten nach drei Jahren zum Schichtführer und zwei Jahrespäter zum »Oberdispetscher«, dem die Führung von 115 Ange-stellten anvertraut ist (vgl. Z. 480–489). Dass das in Russlandgelernte Prinzip, Verbesserungsvorschläge am Arbeitsplatz zumachen, die gern gehört werden und zu Beförderung führen(vgl. Z. 281–286), nicht funktioniert muss B. schmerzlich fest-stellen, als er sich in Deutschland damit »Feinde auf[…]baut«(Z. 710) und »gewaltiger, gnadenloser Mobbing« (Z. 717) er-fährt. Infolgedessen strebt er hier keine Karriere mehr an: »Nahat geklappt, mit die Arbeit hat es geklappt. Ich hab keine Kar-riere hier auch versucht zu machen. Verbesserungsvorschlägehab ich gemacht, aber die Verhältnisse waren auch… sehr trüb(5)« (Z. 701–705). B. bleibt bis zuletzt bei demselben Betriebund beendet sein Arbeitsleben mit einem Altersteilzeitvertrag,der es ihm ermöglicht früher in Rente zu gehen. Diese, füreine Person, die sich über Arbeit definiert, untypische Entschei-dung ist auf die schwer erträgliche Situation am Arbeitsplatzzurückzuführen. Nichtsdestotrotz distanziert sich B. von sei-nem Selbstverständnis als Wärmetechniker nicht, da Arbeitnach wie vor den Kern seiner Erzählung bildet.

Für B’s Selbstverständnis ebenfalls wichtig und in seineArbeitsbiographie immer wieder eingeflochten sind die Be-ziehungen zu guten Freunden. Auf die Frage, ob sich grund-sätzliche Einstellungen oder Prinzipien im Laufe des Lebensverändert haben, gibt er eine Antwort, die seine Vorstellun-gen von Freundschaft und deren Stellenwert in seinem Lebenwiedergibt: »›Einer für alle, alle für einen‹ [von AlexandreDumas]. Und das sind die Ideen welche trieben eigentlich dasganzes Leben« (Z. 1747–1751). Daraufhin liest B. ein russischesGedicht vor, in dem es um Vertrautheit und Vertrauen in ei-ner Freundschaft geht und nennt einen Freund, auf den dieBeschreibungen des Gedichts zutreffen, auf den er sich verlas-sen kann und mit dem er »Verhältnisse [hat].. hm, naja, ob-wohl das wird auch nicht ganz richtig sein, aber besser als mitmeine Verwandte.. Ich traue dem mehr als meine Verwandte«(Z. 1779–1782). Er schätzt sich sehr glücklich diesen Freund zuhaben und sieht sich in der Rolle eines ebenso guten Freundes:»A die wissen das auch, dass ich bin immer dabei wenn esnötig ist, ich bin dabei, mein Schulter haben sie, können sieruhig rechnen, das wissen sie auch« (Z. 1804–1807). Im Inter-view berichtet B. wiederholt von Freunden, die mit Namenund (Kennenlern-)Geschichte eingeführt werden und seine(Arbeits-)Biographie beeinflussen, indem sie ihn einladen (inihrer Stadt) ein berufliches Ziel gemeinsam weiter zu verfol-gen. Im Laufe des Gesprächs erwähnt er viele Freundschaftenund Bekanntschaften; so zum Beispiel die Freunde, die B’sWiederkehr nach dem Militärdienst feiern (vgl. Z. 209–211)und ihn bei der Ausreise nach Deutschland verabschieden(vgl. Z. 607–613) sowie Bekannte, die ihm bei der Vermittlungzu einer Arbeitsstelle verhelfen (vgl. Z. 470–472) und vor Sank-tionen des KGB schützen (vgl. Z. 1402–1410). B. nimmt sich als

kontaktfreudige, gesellige und anerkannte Person wahr, diein vielerlei Beziehungsgeflechten lebt. In Deutschland nimmtdieser Aspekt ab, denn obwohl die »Meiste aus naheliegendeFreundschaftskreis, die sind alle hier«, sind sie »sehr stark ver-streut […]. Ab und zu telefoniert man, aber wir haben schonweniger Zusammenhalt, die Themen haben sich geändert«(Z. 1216–1218).

Ebenso sieht sich B. als wichtiges Mitglied in der Gemein-schaft seiner Familie, deren Zusammenhalt in Deutschlandnicht die gleiche Qualität aufweist, wie in Russland: »Abersehr sehr auch Zusammenhalt. Die ganze Familie hält bisheute bis heute noch, bisschen nicht so warm nicht, an-ders. Hier anders. A dort haben wir bis zuletzt alles zusam-men gemacht, gefeiert, gearbeitet, alles war mehr zusammen«(Z. 1008). In dieser nimmt B. eine verantwortungsvolle Posi-tion ein; er ist derjenige, der zurückkommt, um die Mutterzu unterstützen und für die jüngeren Geschwister zu sorgen(vgl. Z. 291–298) während der Vater krank ist, ohne ihn wollendie Eltern nicht nach Sotschi fahren (»A Mutter sagt: ›Ohnedich fahren wir nicht!‹«; Z. 512) und er ist es, der die Initiativezur Ausreise nach Deutschland ergreift und den Vater vondiesem Vorhaben überzeugt (Z. 574). Es scheint als hätte B.die Perspektive der Eltern übernommen, so als stünde er mitihnen auf einer ähnlichen Stufe über den Geschwistern, wasauch in seiner Wortwahl zum Ausdruck kommt: »Dort sindauch alle fünf Kinder von meiner Mutter geboren, ältester warvor dem Krieg, ich war kurz nach dem Krieg und dann nochdrei Kinder kamen zur Welt« (Z. 56–58). Es sind die Kinderseiner Mutter und nicht seine Geschwister.

Die Tatsache, Angehöriger der deutschen Minderheit inRussland zu sein, ist für B’s Selbstverständnis wenig relevantund hat keinen Einfluss auf seine Handlungsorientierung. Inder Hintergrunderzählung um seine Geburt erwähnt er le-diglich, dass sein Vater aus einer »wolgadeutschen Republik«(Z. 27) stammte, macht aber sonst keinerlei Angaben, die aufeine Besonderheit der Lebensumstände aufgrund seiner ethni-schen Zugehörigkeit hindeuten. Auf die Nachfrage, warum dieFamilie in Baracken lebte, stellt sich jedoch heraus, dass dieserUmstand dem Sachverhalt geschuldet ist, dass es russlanddeut-sche Familien sind, die in diesen wohnen. Obwohl Zwangsar-beit und Kommendatur das Leben seiner Eltern und die erstensieben Jahre seiner Kindheit prägen, die Familie in einer deut-schen Siedlung wohnt und B. bis zum fünften Lebensjahr nurdeutsch spricht und versteht, scheinen diese Umstände (dieer nur auf Nachfrage erzählt) keine Auswirkungen für seinweiteres Leben und Denken zu haben. Denn innerhalb seinerthematisch frei gewählten Lebenserzählung macht er an kei-ner Stelle deutlich, dass das Deutsch-Sein irgendeine Relevanzfür ihn besitzt. Selbst die Entscheidung zur Auswanderungnach Deutschland wird in keinster Weise mit ethnischen Zu-gehörigkeitsgefühlen begründet, sondern damit, dass sich diepolitischen und wirtschaftlichen Gegebenheiten in Russlandverschlechtern (vgl. Z. 576–592). B. und seine Eltern haben beiihrem Besuch in Deutschland die besseren wirtschaftlichenVerhältnisse gesehen und diese durch mitgebrachte »Kleidung,Spielzeug, Bonbons und alles mögliche« (Z. 570) auch denGeschwistern vor Augen geführt. Mit diesen zwei Gründenüberzeugt er seine Eltern sowie zwei Geschwister samt derenFamilien zur Ausreise. Erst auf die Frage, ob es irgendwie be-sonders war als Deutscher in Russland zu leben, sagt er: »War

Page 55: it - Gesellschaftbilder Und Selbstverst Russlanddeutscher Aussiedler in der Sowjetunion und in Deutschland

Analysen 45

immer besonders. Ich war schon sechsunddreißig Jahre alt..und mein Chef.. schon letzte Arbeit.. ich war schon, Oberdis-petscher war ich, der hat mir ins Gesicht gesagt: ›Du bist einFaschist. Und kennst du die Telefongesetze?‹« (Z. 1500–1503).Diese beinhalten das ungeschriebene Gesetz, dass ›störende‹Arbeitnehmer durch telefonische Absprache innerhalb der Be-triebsführung (oder dieser und der kommunistischen Partei-führung; dies bleibt in B’s Ausführungen unklar) ohne Angabevon Gründen entlassen werden können. Da es für Deutscheverboten war eine Spitzenposition im Betrieb zu besetzenund B’s Vorgesetzter um seine Machtposition bangt, drohter B. und seinem deutschen Kollegen, mit welchem er »vielMacht […] aufgebaut [hat] zwischen den Leuten« (Z. 1529),mit diesem Gesetz (vgl. Z. 1500–1546). Somit sieht er sich inseinen Karrieremöglichkeiten als Deutscher eingeschränkt. Inder durch die Interviewerin erzwungenen Reflektion über dasLeben der Deutschen in Russland, versteht B. sich und seineGeneration, die »sich klein bisschen schon etabliert [hat] zwi-schen den Russen« (Z. 1548), in »ständiger ewiger […] Konkur-renz welche sagt, dass du bist akzeptabel, bist du besser oderbist du schlechter« (Z. 1551–1554), bei der B. zufolge Russenfast immer schlechter abschneiden (vgl. Z. 1554). Da dies aberoffiziell nicht sein darf, bleiben Deutsche (bis auf wenige Aus-nahmen) im Hintergrund, treten einen Schritt zurück (an diezweite Stelle), während sie wissen, dass sie die ›Besseren‹ sindund die Entscheidungen ihrer Vorgesetzten vorbereiten unddamit beeinflussen bzw. manipulieren (vgl. Z. 1561–1601) – ver-mutlich ist es diese Rolle, in der sich B. auch persönlich sieht.

Auch in Deutschland scheint für B’s Selbstverständnis seineethnische Zugehörigkeit bzw. die Besonderheit seiner Migra-tionsgeschichte keine Relevanz zu besitzen; er macht keinerleiÄußerungen, die den Rückschluss zulassen, dass er Wert dar-auf legt als Deutscher anerkannt zu werden, oder dass er sichals Aussiedler einer (negativen) Sonderbehandlung ausgesetztfühlt bzw. sich deshalb in besonderer Position sieht. Indem erden Begriff »Einheimische« gebraucht, grenzt er sich als ›Nicht-Einheimischen‹ ab und stellt somit eine Trennlinie her. Diesewird besonders deutlich wenn er sagt: »Wenn hier das ist dieglücklichste Gesellschaft ist, die Einheimische glauben darannicht« (Z. 1675–1677). Insofern sieht sich B. als Zugewanderten,der sich von der hiesigen Bevölkerung unterscheidet, also keinTeil von dieser ist und somit eine Außenperspektive auf siehat. Davon zeugt auch die Übernahme der Perspektive seinesneidischen einheimischen Arbeitskollegen, in der er sich alsRussen sieht, dem unverdientermaßen alles geschenkt wird:»Bei dem klappt das nicht, aber bei mir oder bei dem anderenRusse da, da hat er auch gebaut« (Z. 1646–1648). Diese Tren-nung, die B. selber vornimmt, stellt er zu keinem Zeitpunktals problematisch dar.

GesellschaftsbilderB. findet in Russland eine Gesellschaft vor, in der die Struktu-ren gegeben sind, die ihm das Ausleben seiner Berufsidentitätzu einem Großteil ermöglichen. Er kann eine Lehre machen,findet immer wieder (leicht) eine Anstellung und kann Kar-riere machen; allerdings nicht bis zum höchsten Posten. Denndieser bleibt ihm verwehrt, weil er Deutscher ist (es bleibtunklar, ob B. einen solchen jemals angestrebt hat).

Sein soziales Umfeld beschreibt er mit: »Die Gesellschaft,Strauß, ein richtig bunter Strauß Blumen, das ist die Gesell-

schaft welche hat mich so rundum begleitet dieses Stück Le-ben« (Z. 1201–1203) und bezieht sich damit auf die unterschied-lichen Berufe, Schichtzugehörigkeiten und Lebensläufe seinerBekannten und Freunde in Russland (vgl. Z. 1204–1213). Erhat das Bild einer heterogenen Gesellschaft, in der jeder dieChance hat, zu erreichen, wonach er strebt; hier sind beson-ders diejenigen im Vorteil, welche »kommunikabel [sind] undohne äh böse so.. Hintergrund, hätten nicht den bösen Hinter-grund« (Z. 1339–1340). Wer also redegewandt, aufgeschlossenund kontaktfreudig ist – Eigenschaften, die auf B. selber zu-treffen – von dem sagt er: »Ich schätze, dass sie haben dochmehr, mehr von dem Leben gehabt und, ob sie immer denbesseren Job hatten, nein das ist nicht wahr« (Z. 1340–1342);wenn auch nicht immer, so doch meistens, denn schließlichversteht B. unter »mehr vom Leben«, seinem Selbstverständ-nis folgend, auch einen guten Arbeitsplatz zu haben.

Weiterhin beobachtet er eine nach Macht und Geld stre-bende Gesellschaft; Ziele die über den Weg der Parteizugehö-rigkeit erreicht werden konnten:

Zwischen den Russen, aber Deutsche auch genauso, es gabganze Menge Leute welche haben sich angestrebt an dieMacht und klammerten sich an die Macht, das Macht das istüber alles. Es gab diejenige welche haben sehr stark verfolgtGeld, nichts außer Geld, alles Geld…I: Und Macht, nochmal kurze Zwischenfrage, in welcherForm?P. B.: Macht, zu die Macht, es gibt ja verschiedene Wegezu die Macht zu kommen. Und der einfachster Weg dortdrübenwar es, in die Partei reingehen.. (S.130, Z.1220–1229)Diese überwacht die Gesellschaft und schreibt den Men-

schen vor, was sie tun und denken dürfen und sanktioniertAndersdenkende bzw. Handelnde; die persönliche Freiheit desIndividuums ist stark eingeschränkt:

Ja, man musste immer so einen halbumgedrehten Kopfhaben, egal was du, das war schon so gewöhnt, lebst dichein. Und das ist fast normaler Zustand, merkst es kaum,sogar merkst du gar nicht das du das machst. Aber dasist so, das war so. Und man musste immer sich umdrehenwem was du erzählst. (S.132, Z.1438–1443)Wachsamkeit in allen Handlungen und Äußerungen, die

gegenüber der Partei in irgendeinerWeise illoyal sein könnten,stellt in Russland notwendige Alltagsnormalität dar. Als B.einen Witz über Breschnev erzählt, wird er am folgendenTag vom KGB verhört und als er deutsche Fachwörterbücherfür die Arbeit bestellt, taucht dieser ebenfalls bei ihm aufund erfragt die Gründe für das Interesse an ausländischerLiteratur.

In Deutschland trifft B. auf eine Gesellschaft, die ihm dieStrukturen bietet, schon sehr bald nach der Einreise einerArbeit nachgehen zu können, die seiner Qualifikation ent-spricht und ihm ermöglicht ein Haus für sich und seine Fami-lie zu bauen. Jedoch gilt hier ein anderes Verhaltensprinzip fürAufstiegswillige als das bisher gekannte. Indem B. Verbesse-rungsvorschläge macht, macht er sich unbeliebt und wird zumOpfer von Mobbing am Arbeitsplatz. Aus dieser Erfahrungheraus resultiert seine Gesellschaftsbeschreibung. Die Fragenach seinem Gesellschaftsbild in Deutschland beantwortet B.mit folgendem Satz: »Ich wusste auch früher das die Neideine starke Kraft ist. Hier muss ich mit Bedauern sagen dases gewaltige Kraft hat, Neid« (Z. 1608–1610). Diesen habe

Page 56: it - Gesellschaftbilder Und Selbstverst Russlanddeutscher Aussiedler in der Sowjetunion und in Deutschland

46 kapitel 4 Empirische Untersuchung

er in der Nachbarschaft vorgefunden, die ihm die offenbarerfolgreichen Bemühungen an Haus und Garten missgönnt(vgl. Z. 1611–1620). Weiterhin sei aber Neid auch in der gan-zen Gesellschaft sehr weit verbreitet (vgl. Z. 1674) und inDeutschland »wesentlich gefährlicher« als in Russland; mitschlimmeren Folgen und ungewissem Ausgang (Z. 1623–1624).Dies veranschaulicht er an Beispielen aus seinen Erfahrungenim Arbeitsleben (vgl. Z. 1632–1662, 1705–1725). So auch die Be-schreibung der deutschen Gesellschaft als einen »Maskenball«(Z. 1694), in der zwar ein »sehr höfliches und sehr freundli-ches Gesicht« (Z. 1714) gezeigt würde, aber böse Absichtendahinter stünden; anders als in Russland, wo Konflikte offenund unmittelbar ausgetragen würden (vgl. Z. 1701–1704). B’sCharakterisierung der Gesellschaft erfolgt fast ausschließlichaus seinem Blickwinkel als Arbeitnehmer und fällt entspre-chend seiner Erfahrung als solcher sehr negativ aus.

Biographische ProzessstrukturIn Anbetracht der gesamten Biographie erfährt B. sein Lebenals planbar und seinerseits steuerbar. Insbesondere seine be-rufliche Laufbahn kann er in Russland durch das Einbringenseiner Potentiale aktiv gestalten. Dies ist ihm in Deutschlandin demMaße nichtmehrmöglich, da er mit den hiesigen Hand-lungsmustern nicht vertraut ist bzw. sich ihnen nicht anpasstoder anpassen will. In Bezug auf die Auswanderung sowiedie Gestaltung des neuen Lebensraumes in Deutschland (z. B.Hausbau, das Finden einer Arbeitsstelle) hat B. jeweils denEindruck es ›in der Hand‹ zu haben.

4.9 Typen

4.9.1 Typus 1: Deutsche Identität

Dieser Typus stellt einen von zwei maximal kontrastierendenFällen dar. Er basiert auf der Biographie Hermann Deckers.

In diesem Fall ist die deutsche Volksangehörigkeit das zen-trale Element der Identität, das in großem Abstand zu ande-ren (möglichen) Identifikationen steht und maßgeblich dasDenken und Handeln des Individuums beeinflusst. Die dereigenen ethnischen Zugehörigkeit beigemessene Bedeutungwirkt sich auf das Gesellschaftsbild aus, das ebenfalls nachethnischer Zugehörigkeit geordnet wird. Da aber in der Gesell-schaft Kasachstans die Gruppe der deutschen Minderheit imAllgemeinen als »Faschisten« (Volksfeinde) rezipiert wird, istes schwierig ein positiv besetztes Selbstbild zu entwickeln bzw.aufrecht zu erhalten. Im Fall HermannDeckers wird das Selbst-verständnis als Deutscher bereits in der primären Sozialisationausgebildet und in der sekundären Sozialisation fortgeführt,es ist also gefestigt und nicht (leicht) veränderbar. Um beider Identität als Deutscher zu bleiben ohne als solcher in derkasachischen Gesellschaft ausgegrenzt zu sein bzw. sich auchpositiv betrachten zu können, konstruiert er das Selbstbildseiner ›Normalität‹ in Zusammenhang mit einem Bild der Ge-sellschaft, in dem ihm aufgrund seiner deutschen Nationalitätkeine Sonderbehandlung oder gar Unterdrückung zuteil wirdund in dem er sich – der aus seiner Sicht positiv konnotiertenGruppe der technikbegabten Deutschen zurechnend – vorteil-haft verorten kann. Die Vorstellung der ›Nicht-Unterdrückung‹kann er aber auf der zwischenmenschliche Ebene (im Gegen-

satz zur strukturellen) nicht aufrecht erhalten; als Deutscherkommt ihm die gewünschte Anerkennung undWertschätzungseiner Person in der Gesellschaft Kasachstans nicht zu.

Diese – so seine Perspektive bei der Auswanderung – hoffter in Deutschland, als Deutscher unter Deutschen lebend, zuerlangen. Aber auch hier wird ihm diese verwehrt; diesmalweil er aufgrund seiner Migration und nicht 100-prozentigenSprachkenntnisse nicht als Deutscher anerkannt wird. SeineVorstellung, als deutscher Volksangehöriger (unbeachtet des-sen, wo er geboren und aufgewachsen ist) von der deutschenGesellschaft auch anerkannt und integriert sein zu müssen, fin-det in der Realität keine Verifikation. Seine deutsche Identität,die er in Kasachstan unter Einschränkungen und »Unterdrü-ckung« aufrecht erhalten hat, um in Deutschland einst dafür›belohnt‹ zu werden, indem er als solcher Wertschätzung undGleichbehandlung erfährt, kann er nicht erfolgreich fortfüh-ren. Folglich versteht er sich der Gruppe russlanddeutscherAussiedler zugehörig, die er durch handwerkliches Geschickund gute Arbeit kennzeichnet; Merkmale, die auch seinemSelbstbild entsprechen. Allerdings ist diese Zugehörigkeit nurgefühlt und nicht durch Beziehungen zu anderen (außerhalbder Familie) Aussiedlern real existent.

Seine Identifikation als guter und handwerklich geschick-ter Arbeiter ist in Deutschland allerdings keine Ressource fürsozialen Anschluss. Das in Kasachstan (durch die gesellschaft-lichen Bedingungen der Güter- bzw. Dienstleistungsknapp-heit) entwickeltes Selbstverständnis als Geber und Nehmervon Hilfe und darunter verstandene Freundschaft kann D. inDeutschland nicht fortführen. Er entfaltet ein entsprechend –auch im Gegensatz zu Kasachstan – negatives Bild der deut-schen Gesellschaft hinsichtlich ihrer sozialen Merkmale (ge-ringe Ausprägung von Hilfsbereitschaft, Freundschaft etc.).

4.9.2 Typus 2: Soziale Identität; Deutschsein irrelevant

Dieser Typus stellt den von Typus 1 maximal kontrastierendenFall dar. Er basiert auf der Biographie von Elvira Claus.

Bei diesem stellt der Sinn für Gemeinschaft und dessenAusleben in sozialen Beziehungen das zentrale Moment derIdentität dar, das Denken und Handeln steuert. Weiterhinsind die Charaktereigenschaften Optimismus und Sicherheits-bestreben für das Individuum kennzeichnend. Alle Merkmalekönnen sowohl in Kirgisien als auch in Deutschland gelebtwerden. Die Gesellschaften beider Länder bieten die dazu not-wendigen Strukturen. Allerdings weist die kommunistischgeprägte Gesellschaft Kirgisiens mit ihren tendenziell kollek-tivistischen Wertmaßstäben und der staatlich geplanten Wirt-schaft in stärkerem Ausmaß die Bedingungen für sozialenZusammenhalt und (wirtschaftliche) Sicherheit auf. DiesesBild ergibt sich auch aus Cs Gesellschaftsbeschreibung, in dersie glücklich ist, weil sie ihre Identität voll entfalten kann.Obwohl auch hier eine Identifikation als deutsche Volksange-hörige vorliegt, so ist diese doch nicht handlungsweisend undbesitzt für die alltägliche Lebensführung keine Relevanz. Sowird auch die soziale Umgebung, im Gegensatz zu Typus 1,nicht nach ethnischer Zugehörigkeit geordnet und beurteilt,sondern nach sozialen Gesichtspunkten bewertet.

Auch in Deutschland kann also das Ausleben besagter Iden-titätsmerkmale fortgeführt werden, jedoch in abgeschwächterForm. Hier können die bereits in Kirgisien hergestellten Be-

Page 57: it - Gesellschaftbilder Und Selbstverst Russlanddeutscher Aussiedler in der Sowjetunion und in Deutschland

Typen 47

ziehungen gleichermaßen weitergelebt werden, zumal auchder Freundes- und Verwandtschaftskreis in geographischerNähe angesiedelt ist. Allerdings sind weitere Kontakte zu Ein-heimischen in Quantität und Qualität nicht so ausgeprägtwie in Kirgisien, sodass das dort erreichte Wohlbefinden inDeutschland nicht in demselben Maße erlangt werden kann.Das Gesellschaftsbild ist von einer individualistischen Grund-haltung geprägt. Dennoch fühlt sich C. heute integriert, wasnicht zuletzt ihrem Optimismus geschuldet ist, und schätztsich glücklich, weil Eigenheim und Arbeit Sicherheit bieten.Da es ihr Selbstbild nicht erfordert als Deutsche anerkannt zuwerden und sie ihre Wertschätzung durch andere über das vor-handene Beziehungsgeflecht schöpft, kann sie dieses positivbesetzen und ein zwar etwas distanziertes aber freundlichesBild von der deutschen Gesellschaft entwickeln.

4.9.2.1 Untertyp: Deutsche Identität und andere

Dieser Fall wird als Untertyp vom Typus 1 dargestellt. Erbasiert auf der Biographie von Jakob (und Lydia⁷) Egert.

Bei diesem Untertyp handelt es sich um eine Identität, fürdie drei Identifikationen von zentraler Bedeutung sind; ne-ben der deutschen Volksangehörigkeit, auch die als Musiker/Ästhet und Ehemann/Familienvater. Das Selbstverständnisals Deutscher scheint erst dann relevant zu werden, wo es inKonkurrenz mit der Entfaltung der musischen Identität tritt.Letztere wird darauf hin zurückgestuft und erstere entwickelt,umso mehr als das Ausleben der Identität als Ehemann undFamilienvater hinzukommt. Die Identifikation als Deutscherbestimmt das Handeln hinsichtlich Familiengründung, derSorge um die Kinder (die »Deutsche bleiben« sollen), sozia-ler Kontakte und nicht zuletzt des Ausreisewunsches. Dieses,scheinbar erst in sekundärer Sozialisation ausgebildete Selbst-bild als Deutscher, vermag E., trotz vereinzelten Fällen vonDiskriminierung seitens des sozialen Umfeldes und auf poli-tischer Ebene institutionalisiert, positiv zu besetzen. Denn erfühlt sich als solcher von der Gesellschaft nicht ausgegrenztund bedarf somit keiner Konstruktion seiner ›Normalität‹, ver-bunden mit einem Gesellschaftsbild, in dem er als Deutschernicht unterdrückt wird – im Gegensatz zum Typus »DeutscheIdentität«. Vielmehr sieht er sich von seinem sozialen Umfeldals ›gut arbeitender Deutscher‹ geschätzt und geachtet; also ei-ner Gruppe zugehörig, die die moldawische bzw. sowjetischeGesellschaft aufgrund der ›deutschen Tugenden‹ honoriert.Entsprechend der dem Selbstbild als deutscher Volksangehöri-ger beigemessenen Bedeutung entwirft auch dieser Untertypein Gesellschaftsbild, das nach Gesichtspunkten ethnischerZugehörigkeit geordnet ist.

In Deutschland kann der musikalischen Identität und derdes Familienvaters und Ehemannes weiterhin Ausdruck ver-liehen werden. Problematischer ist hier jedoch – und das auchim Vergleich zu Moldawien – das Selbstverständnis als Deut-scher. Denn, so wie beim ersten Typus, wird auch diesem dasDeutschsein (anfangs) nicht anerkannt und damit verbundengeglaubte Wertschätzung wird ihm von der einheimischenBevölkerung nicht entgegengebracht. E. empfindet sich in ih-ren Augen als »Menschen zweiter Sorte«, weil er »nit echterDeutscher« ist. Diesem Gefühl zuträglich ist die Versagungder beruflichen Anerkennung. Er identifiziert sich (folglich)als zielstrebigen Russlanddeutschen und wirbt mit Kampfgeist

und Durchhaltevermögen um Wertschätzung; orientiert sichalso weiterhin an der hiesigen Bevölkerung, von der er Aner-kennung wünscht und somit auch in diesem Sinne Integrationanstrebt. Die Möglichkeit des Auslebens seiner Identität alsMusiker und Familienmensch relativiert die beschriebene ne-gative Erfahrung. Dennoch ist das Gesellschaftsbild der deut-schen Gesellschaft an der versagt gebliebenen Anerkennungals Volksangehöriger orientiert; in diesemBild sind Ethnie undHerkunft die Kriterien, um Menschen beurteilen. In Bezug aufsoziale Merkmale (Hilfsbereitschaft, Freundschaft etc.) bestehtdie Vorstellung einer individualistisch geprägten Gesellschaft.

Sofern aus dem Interview und den Gesprächen davor unddanach rekonstruierbar, pflegt das Ehepaar gute Beziehun-gen zu Aussiedlern (Verwandtschafts- und Freundeskreis) undsteht durch die Einbindung auf der Arbeit (im Orchester) undin der Nachbarschaft in Kontakt zu Einheimischen. Die Qua-lität dieser Kontakte lässt sich aus dem gegebenen Materialschwer beurteilen. Jedoch kann aufgrund der Vorstellungenüber die deutsche Gesellschaft vermutet werden, dass es zu-mindest keine engen Kontakte oder Beziehungen zu Einhei-mischen gibt.

4.9.2.2 Untertyp: Identität Ehefrau und Mutter;Deutschsein annähernd irrelevant

In diesem Fall bewegt sich der Untertyp zwischen dem Typus1 und Typus 2, ist aber dem letzterem näher. Seine Grundlageist die Biographie von Irina Albert.

Dieser Untertyp identifiziert sich zuallererst als Ehefrauund Mutter und damit in Zusammenhang stehend als ›kämp-fende‹ Persönlichkeit. Denken und Handeln werden davonbestimmt die Kinder zu fördern und ihnen eine gute Zukunftzu ermöglichen. Um dies zu realisieren muss A. viele Hürdennehmen, sodass sie sich als eine um ihre Ziele ringende Personwahrnimmt. Damit verknüpft ist ihr Bestreben zu arbeitenund Leistung zu erbringen; auf diese Weise befriedigt sie dasBedürfnis von der Gesellschaft gebraucht zu sein. Aus die-sem Selbstverständnis heraus wird das Bild der kasachischenGesellschaft (aber auch der deutschen, nur mit umgekehrtemInhalt) konstruiert, in dem ein starker Zusammenhalt undein herzliches Verhältnis innerhalb der Familie besteht undKinder verstärkt zu Leistung, Selbstständigkeit und Ordnungerzogen werden. Außerdem besteht in ihrem sozialen Umfeldein hohes Maß an Hilfsbereitschaft, sodass A. bei der Bewälti-gung ihrer Aufgaben als berufstätige Mutter Unterstützungerfährt. Dazu im Gegensatz stehen staatliche Institutionen,bei denen sie um (finanzielle) Hilfe schwer kämpfen muss.Die Identifikation als deutsche Volksangehörige ist für diesenUntertyp nahezu irrelevant. A. registriert diese Zugehörigkeit,lässt sich aber in ihrem Empfinden und ihrer Handlungsori-entierung von ihr kaum beeinflussen. Sie erlangt nur in demMoment Bedeutsamkeit als sich A. in ihrer Kindheit gegenden Wunsch der Eltern, die deutsche Kultur (Sprache) an dieKinder weiterzugeben, durchsetzt, um sich nicht von anderenKindern abzugrenzen und angenommen zu sein. Als die Aus-wanderung bevorsteht konnotiert sie ihr Deutschsein positivund führt dieses unter anderem als Ausreisegrund an. Viel zen-

⁷Der Lesbarkeit halber wird von E. nur im Singular gesprochen, es ist aber anallen E. nicht allein betreffenden Stellen auch der Plural mit gemeint.

Page 58: it - Gesellschaftbilder Und Selbstverst Russlanddeutscher Aussiedler in der Sowjetunion und in Deutschland

48 kapitel 4 Empirische Untersuchung

traler ist hier aber der Wunsch, den Kindern in Deutschlandeine bessere Zukunft bieten zu wollen.

In Deutschland kann A. ihr Selbstverständnis als Mutter er-folgreich fortsetzen, indem sie die Ziele, ihre Kinder zu fördernund ihnen eine bessere Zukunft zu ermöglichen, realisierenkann. Mit viel Initiative und Durchhaltevermögen findet sieauch eine Arbeitsstelle, wo sie bis heute tätig ist. Der Wunsch,als Deutsche anerkannt zu werden steht nur in dem Zusam-menhang –wie in umgekehrterWeise in ihrer Kindheit – nichtauffallen zu wollen und als Person angenommen zu sein. Inso-fern liegt es in ihrer Hand die nötige Anpassungsleistung (inForm angepasster Kleidung und Sprache) zu leisten und sichsomit akzeptiert zu fühlen, auch ohne die deutsche Volksange-hörigkeit zuerkannt bekommen zumüssen. Sie distanziert sichsich sogar anhand des Kriteriums Fleiß von Deutschen, die inDeutschland aufgewachsen sind und deshalb, so A., glaubenkeine Leistung erbringen zu müssen. Diese Abgrenzung istjedoch keine im Sinne eines fehlenden Integrationswunsches,an der A. sehr gelegen ist. Vielmehr bezeigt sie damit, dasssie die Anerkennung als deutsche Volksangehörige nicht be-nötigt, um sich integriert zu fühlen. Als Migrantin erlebt siesowohl eine aufnahmebereite Gesellschaft, die ihr die Inte-gration erleichtern will, als auch eine, die ihre Situation deranfänglichen Unwissenheit ausnutzt. So fällt auch ihr Gesell-schaftsbild diesbezüglich entsprechend differenziert aus. Wieim oberen Abschnitt bereits angedeutet, entwickelt sie ihreVorstellungen über die Gesellschaft vielmehr in den Katego-rien Familie, Erziehung und Hilfsbereitschaft und beurteilthier die deutsche im Vergleich zur kasachischen negativer.

A. lebt in einer Lebenspartnerschaft mit einem einheimi-schen Mann und hat guten Kontakt zur hiesigen Nachbar-schaft. Wie es um Kontakte und Beziehungen zu Aussiedlernaußerhalb des Familien- und Verwandtschaftskreises bestelltist, geht weder aus dem Interview, noch aus dem Vorgesprächhervor; allerdings ist A. eine Bekannte der Eltern der Inter-viewerin und steht somit mindestens in einer Verbindung zuAussiedlern. Es kann vermutet werden, dass die Beziehungensowohl zu Einheimischen als auch zu Aussiedlern in einemausgeglichenem Verhältnis stehen.

4.9.2.3 Untertyp: Identität Arbeit und Freund;Deutschsein irrelevant

Dieser Untertyp liegt ebenfalls zwischen dem Typus 1 und 2.Er basiert auf der Biographie Peter Berndts.

In diesem Fall wird Identität stark über Arbeit definiert.

Zusätzlich besteht auch die Identifikation als guter Freund.Diese Selbstbilder bestimmen hauptsächlich Bs Denken undHandeln sowie seine Vorstellung von der russischen Gesell-schaft. Diese nimmt er als sehr heterogen wahr und sieht fürjeden die potentielle Möglichkeit zu erreichen, wonach er/siestrebt; kommunikative Menschen – so wie B. – sind dabeiim Vorteil. Allerdings lässt es das kommunistische politischeSystem nicht zu, dass Deutsche den höchsten Posten inner-halb eines Betriebes einnehmen können. Davon ist B. poten-tiell persönlich betroffen, sofern er einen solchen angestrebthat. Dies bleibt aber im Interview unklar. Obwohl sich B. alsDeutschen ausmacht, ist diese Zugehörigkeit für sein Selbst-verständnis nicht signifikant und für seine Handlungsorientie-rung somit irrelevant (So wie bei Typus 2). Die Auswanderungnach Deutschland ist von der Aussicht auf Verschlechterungder politischen und wirtschaftlichen Bedingungen in Russlandsowie der guten wirtschaftlichen Verhältnisse in Deutschlandmotiviert.

In Deutschland kann B. seine im Beruf gegründete Identi-tät zwar fortführen, jedoch nicht in zufriedenstellender Weise.Schon kurz nach der Einreise kann er einer Arbeit nachge-hen, die seiner Qualifikation entspricht. Doch gilt hier nichtdas in Russland bewährte Prinzip für Aufstieg, sodass sich B.mit dessen Anwendung in eine unbefriedigende beruflicheSituation manövriert. Aus dieser Perspektive entwickelt er einBild von der deutschen Gesellschaft, das vor allem von Neidund Falschheit gekennzeichnet ist. In seiner problematischenSituation sucht B. die Begründung aber nicht etwa in der ver-weigerten Anerkennung seiner deutschen Volksangehörigkeit.Deutscher mit einem Migrationshintergrund zu sein, hat fürihn keine weitere Bedeutung, außer der, dass er in Bezug aufdie deutsche Gesellschaft eine Außenperspektive einnehmenkann. Er stellt eine Trennung zwischen ›Einheimischen‹ und›Nicht-Einheimischen‹ her; bleibt damit aber auf einer deskrip-tiven Ebene und problematisiert diese nicht oder versucht siegar aufzuheben.

(Gute) Freunde und Bekannte, die B. im Interview anführtund die (verstreut) in Deutschland leben, sind Aussiedler, dieer (wohl zu einem Großteil) noch aus Russland kennt. DerKontakt zur hiesigen Nachbarschaft ist distanziert, da B. vondieser sagt, dass sie ihm neidvoll gegenüber steht. Dasselbegilt für die Arbeitskollegen, von denen er schikaniert wird.Ob er auch freund(schaft)liche Beziehungen zu Einheimischenpflegt, benennt er nicht es bleibt somit ungewiss. Dies istaber aufgrund des negativen Gesellschaftsbildes nicht anzu-nehmen.

Page 59: it - Gesellschaftbilder Und Selbstverst Russlanddeutscher Aussiedler in der Sowjetunion und in Deutschland

49

Kapitel 5

Integration

Integration ist ein schillernder Begriff. Eine allgemeine undumfassende Begriffsdefinition ist in Anbetracht der vielenAspekte, die berücksichtigt werden müssten nicht möglich.Folglich soll hier ein ausgewähltes Integrationsmodell ent-wickelt werden, das für die Fragestellung der vorliegendenArbeit relevant ist und ihr zugrunde gelegt werden soll.

»In der Allgemeinen Soziologie bezieht sich der Begriffauf abgrenzbare soziale Einheiten und bezeichnet die (Wie-der-)Herstellung eines einheitlichen Ganzen« (Strobl/Kühnel2000, S. 41). Darunter kann die spezielle Form der Sozialinte-gration gefasst werden, die als »mehr oderminder umfassendeEinbindung von Personen in relativ dauerhafte Kommunikati-ons- bzw. Handlungszusammenhänge über die Orientierungan deren zentralen Werten und Normen« verstanden werdensoll (ebd., S. 42). Sozialintegration weist unterschiedliche Di-mensionen auf. Sie kann als Orientierung des Handelns ander normativen Struktur eines sozialen Systems (Assimilati-onskonzept) betrachtet werden; hierbei kann es problematischsein, wenn der Aufnahmegesellschaft ein Konsens über zen-traleWerte undNormen unterstellt wird, die den unhinterfrag-ten Bezugsrahmen bilden. Weiterhin erfolgt die Einbindungvon Personen in die aufnehmende Gesellschaft unter dem Ge-sichtspunkt sozialer Teilhabe; der gleichberechtigte Zugangzu Arbeitsplätzen, Bildung, politischer Macht etc. ist demnachdie Voraussetzung für kulturelle Assimilation.

Schließlich ist auch die Dimension der Integration als perso-naler und relationaler Gleichgewichtszustand zu nennen, diefür die gegebene Fragestellung maßgeblich relevant ist. Die-ses von Esser entwickelte Konzept setzt das Individuum alsReferenzrahmen der Betrachtung. Die Bewertung der Integra-tion wird vom Bezugspunkt der Gesellschaft abgekoppelt undzu einer Frage des psychischen Wohlbefindens oder Selbst-wertgefühls, damit einhergehender Zufriedenheit sowie derQuantität undQualität interethnischer Kontakte. »Der Aspektdes Gleichgewichts umfasse dabei ebenfalls unterschiedlicheDimensionen: das individuelle Gleichgewicht, die gleichge-wichtige Verflechtung einer Person in relationale Bezüge unddas Gleichgewicht eines Makrosystems als spannungsarmes,funktionales Verhältnis der Subeinheiten zueinander« (Esser1980, S. 23). Im Zusammenhang der Untersuchung bildet dieseBetrachtungsweise von Integration den Bezugsrahmen, weilvor dem Hintergrund unterschiedlicher Selbstbilder auch un-terschiedliche persönliche Erwartungen und Ziele bestehen,die hier zum Maßstab einer erfolgreichen Integration gemachtwerden sollen.

Gute Chancen sozialer Teilhabe sind möglich, ohne dassnotwendigerweise auch eine Handlungsorientierung an dernormativen Struktur der Aufnahmegesellschaft vorliegenmuss. Besteht also zu einem gewissen Grad die Möglichkeitsozialer Teilhabe in Form eines angemessenen rechtlichenStatus, ökonomischen Ressourcen, Gelegenheiten in der ma-teriellen und sozialen Umwelt sowie individueller Kompeten-

zen (vgl. Kaufmann 1982, S. 67 f.), so kann die Handlungsori-entierung von den Normen und Werten der aufnehmendenGesellschaft abweichen, bzw. an der Herkunftsgesellschaft aus-gerichtet sein oder gar an beiden und dennoch Inklusion zurFolge haben. Rückt man dabei die Person des Einwanderersin den Mittelpunkt der Betrachtung, muss die Frage nach derBefriedigung seiner Bedürfnisse nach Wertschätzung und An-erkennung gestellt werden, um so dessen Sichtweise auf dieeigene Inklusion und damit zusammenhängendes psychischesWohlbefinden herauszufinden. »Da die Sicherung der physi-schen Existenz und der wichtigsten materiellen Bedürfnissein modernen westlichen Gesellschaften in der Regel gewähr-leistet sind, geht es in diesem Zusammenhang in erster Linieum soziale Wertschätzung und Anerkennung, ohne die einePerson kein Selbstwertgefühl und kein positives Selbstbildaufbauen kann« (Strobl/Kühnel 2000, S. 57). Der Aufbau ei-nes positiven Selbstbildes ist dem möglich, der seiner IdentitätAusdruck verleihen kann, und in diesem Wertschätzung undAnerkennung seitens seines sozialen Umfeldes erlangt. DieAusbildung der Identität ist wiederum ein Stück weit diesemzu verdanken (vgl. Krappmann 1975, S. 35).

5.1 Identität(en) und Integration

Im Fall der untersuchten Personen wurde ihre Identität inder sowjetischen Gesellschaft geprägt und weist somit im Ver-gleich zur Bundesrepublik andere kulturelle Merkmale auf.Die Frage nach dem psychischen Wohlbefinden in Deutsch-land wirft also die Frage nach der Anschlussfähigkeit der inder Sowjetunion ausgeprägten Identität(en) im kulturell ab-weichenden Kontext der Bundesrepublik auf; kann sie hiererfolgreich fortgeführt und ein positiv besetztes Selbstbild er-reicht werden? Anerkennung und Wertschätzung kann dabei– je nach persönlicher Ausrichtung – sowohl in der Aufnah-megesellschaft als auch (hier wird Essers Konzept erweitert)in den sozialen Kontakten zu Mitgliedern der in Deutschlandlebenden Herkunftsgesellschaft gesucht und gefunden werden(vgl. Strobl/Kühnel 2000, S. 57).

Die spezifisch deutsche soziokulturelle Identifikation derAussiedler ist im vorliegenden Zusammenhang besonders re-levant, da anzunehmen ist, dass sie für den Erfolg der Inte-gration eine besondere Rolle spielt und die Ausprägung derIdentifikation als Deutsche/r ihren Verlauf beeinflusst. Der»kulturellen Identität« kommt also eine besondere Aufmerk-samkeit zu; sie bedeutet, »daß soziale wie personale Identitä-ten sich im Medium kultureller Symbolisierungen ausbildenund objektivieren. Ferner ist die Selbstzuschreibung der Zu-gehörigkeit zu einer kulturell definierten und abgegrenztenGruppe wichtiger Bestandteil der sozialen Identität« (Ass-mann 1994, Bausinger 1978, 1986, Krewer 1992, Weiß 1991zit. nach Silbereisen/Lantermann/Rodermund 1999, S. 204).

Page 60: it - Gesellschaftbilder Und Selbstverst Russlanddeutscher Aussiedler in der Sowjetunion und in Deutschland

50 kapitel 5 Integration

»Personale Identität« bezieht sich dabei auf die individuelleVerarbeitung sozialer Identifikationszumutungen oder -op-tionen (Goffman 1967, Jacobson-Widding 1983, Krappmann1971 vgl. ebd.). In Abgrenzung zur »kulturellen Identität« be-deutet »Identität« im Allgemeinen die Dimension der »so-ziale[n] Identität als Selbstzuordnung zu bestimmten Grup-

pen, gruppentypischen Wertorientierungen und Lebensfor-men bzw. die Abgrenzung von anderen Gruppen« (ebd.) so-wie die Dimension der oben beschriebenen personalen Iden-tität.

Auf der Basis dieser Ausführungen werden im nächstenKapitel die empirischen Ergebnisse diskutiert.

Page 61: it - Gesellschaftbilder Und Selbstverst Russlanddeutscher Aussiedler in der Sowjetunion und in Deutschland

51

Kapitel 6

Auswertung und Schlussbetrachtung

Die Ausgangsfrage dieser Arbeit hatte zum Ziel die Gesell-schaftsbilder und das Selbstverständnis russlanddeutscherAussiedler vor und nach ihrer Ausreise aus der Sowjetunionzu ergründen. Anhand der Analyse von fünf narrativ geführ-ten Interviews wurde im einzelnen dargelegt, wie diese Indi-viduen mit den gemeinsamen Merkmalen hinsichtlich ihrerAlterskohorte, der 30 bis 40 Jahre dauernden Sozialisationin der sowjetischen Gesellschaft und Zugehörigkeit zur deut-schen Minderheit, ihrer Migrationsgeschichte und dem Lebenin Deutschland seit rund 20 Jahren, sich selbst und ihre sozialeUmwelt wahrnehmen. Daraus gewonnene Erkenntnisse führ-ten zu der Frage, wie sich das Selbstverständnis und die Ge-sellschaftsbilder auf die Integration der Individuen im Sinneeines personalen und relationalen Gleichgewichtszustandesauswirken. Auf der Grundlage der Ergebnisse wurden Typengebildet, deren Gemeinsamkeiten und Unterschiede in Bezugauf die in der Sowjetunion ausgebildeten Identität(en) und dieMöglichkeit ihrer Fortführung in Deutschland untersucht wur-den. Besonderes Augenmerk lag dabei auf der Identität bzw.Identifikation als deutsche/r Volksangehörige/r. Die Anschluss-fähigkeit dieser Identität(en) im neuen kulturellen Kontext derBundesrepublik kann – so meine These – Aufschluss über dieIntegration der Individuen im besagten Sinne geben. Um denpersonalen und relationalen Gleichgewichtszustand, also daspsychische Wohlbefinden einer Person zu beurteilen und so-mit eine Aussage treffen zu können, werden im Folgendendas jeweilige Gesellschaftsbild (der deutschen Gesellschaft)und Selbstbild sowie die sozialen Kontakte und Beziehungenherangezogen.

6.1 Auswertung des Typus 1: Deutsche Iden-tität

Typus 1 beschreibt den Fall einer ausgeprägten kulturellenIdentität. Die Identifikation als Angehöriger der deutschenMinderheit ist im Herkunftsland stark ausgeprägt, währendandere für das Individuum (so stark) handlungsweisende Iden-titäten nicht ausgemacht werden können. Das Selbstverständ-nis als Deutsche/r ist bereits in der primären Sozialisationentwickelt worden und folglich »viel fester im Bewusstseinverschanzt« als wenn es in der sekundären Sozialisation aus-gebildet wird (Berger/Luckmann 1969, S. 145). Insofern kannes in der Sowjetunion aufrecht erhalten werden, obwohl diedortige Gesellschaft dieses nicht mit Anerkennung und Wert-schätzung bestätigt. Des Weiteren ist diese Möglichkeit aberauch dem Umstand geschuldet, dass die (engeren) sozialenKontakte überwiegend zu Deutschen bestehen.

Da das Ausleben der kulturellen Identität in Deutschlandaufgrund der Nicht-Anerkennung als solcher von der deut-schen Gesellschaft nicht möglich ist, die Wertschätzung vondieser Identität also nicht erfolgt und andere Identitäten, die

Potential zur Fortführung hätten, nicht ausgeprägt sind odernicht bestehen, kann psychisches Wohlbefinden nicht erreichtwerden und Integration in diesem Sinne ist misslungen. Diesbestätigt sich in den wenigen oder nicht vorhandenen sozia-len Kontakten zur Aufnahmegesellschaft als auch zu anderenAussiedlern. Zu letzteren besteht zwar ein Gefühl der Zuge-hörigkeit, dieses findet aber keinen Ausdruck in Beziehungen.Zusätzlich dominiert ein negativ konnotierten Bild von derdeutschen Gesellschaft.

6.1.1 Auswertung des Untertypen: Deutsche Identitätund andere

Dieser Untertyp kommt Typus 1 am nächsten. Auch hier istdie deutsche kulturelle Identität im Herkunftsland ausgeprägt,allerdings wird sie hauptsächlich in der sekundären Sozialisa-tion ausgebildet und, aus Sicht des Betrachters, von der sowje-tischen Gesellschaft überwiegend geschätzt (in Verbindungmit ›deutschen Tugenden‹). Auf der ethnischen Zugehörigkeitbasierende Diskriminierung wird nur vereinzelt registriert, istaber für das Selbstverständnis als Deutscher nicht bedrohend.Neben der deutschen Identifikation bestehen zwei weiterehandlungsweisende Identitäten; Musiker/Ästhet sowie Ehe-mann und Familienvater.

Die deutsche kulturelle Identität erfährt – wie beim Typus 1– in der deutschen Gesellschaft keine Anerkennung, sodassdiesbezüglich keine Zufriedenheit erlangt werden kann. Je-doch können die letztgenannten Identitäten fortgeführt und er-folgreich ausgelebt werden. Dadurch kann die Frustration dererstgenannten im Hinblick auf das allgemeine Wohlbefindenkompensiert werden. Die Identifikation als Aussiedler und be-stehende Kontakte du diesen können den Frust über die ›Nicht-Anerkennung‹ als Deutsche/r in der hiesigen Gesellschaft einStück weit ausgleichen und somit das Selbstwertgefühl heben.Die negativ konnotierte Vorstellung von der deutschen Ge-sellschaft zeigt aber das Unbehagen in dieser. Somit kann dieIntegration dieses Untertypen wohl am ehesten als ›geteilt‹bezeichnet werden; in Bezug auf die Identitäten Musiker undVater besteht Wertschätzung und Wohlbefinden, während dieIdentität als deutscher Volksangehöriger in der Aufnahmege-sellschaft zu Frustration führt aber durch die Identifikationals Aussiedler und die soziale Einbettung in diesen Kontextaufgewogen werden kann.

6.1.2 Auswertung des Untertypen: Identität Ehefrauund Mutter; Deutschsein annähernd irrelevant

Für diesen Untertypen wird die Zugehörigkeit zur deutschenMinderheit im Wesentlichen nur dann relevant und wird ent-sprechend wichtig oder negiert, wenn es darum geht, sich inder jeweiligen Gesellschaft dazugehörig fühlen zu können.Ansonsten ist sie aber für das Denken und Handeln nicht

Page 62: it - Gesellschaftbilder Und Selbstverst Russlanddeutscher Aussiedler in der Sowjetunion und in Deutschland

52 kapitel 6 Auswertung und Schlussbetrachtung

bedeutsam. Vielmehr ist die Identität als Mutter und damitzusammenhängend das Selbstbild einer fleißigen Person hand-lungsweisend.

Diese Identitäten können in Deutschland erfolgreich fort-gesetzt werden und führen zu psychischem Wohlbefinden.Außerdem wird Eingliederung durch Kontaktsuche zur Auf-nahmegesellschaft gezielt angestrebt, was nicht zuletzt daraufzurückzuführen ist, den aus der Mutter-Identität resultieren-den Wusch zu realisieren, den Kindern eine gute Zukunft zuermöglichen. Die Anerkennung als Deutsche steht (kurz nachder Einreise) nur in dem Zusammenhang sich als Person an-genommen fühlen zu können. Dies gelingt schließlich auch;Wertschätzung kann erfahren, ohne dafür zwangsläufig alsDeutsche bestätigt zu werden. Anerkennung als Deutsche undals Person bedingen sich bei diesem Untertypen – im Gegen-satz zum Typus 1 – nicht. Wie die ausgeglichenen Kontakteund Beziehungen zu Einheimischen als auch zu Aussiedlernbestätigen, kann Integration im Sinne eines personalen und re-lationalen Gleichgewichtszustandes erreicht werden. Das Bildvon der deutschen Gesellschaft fällt differenziert aus; wenn-gleich das recht spezifische Thema Erziehung in der deutschenGesellschaft eher negativ konnotiert wird, so ist es doch keinHinweis dafür, die bilanzierte Integration anzufechten.

6.1.3 Auswertung des Untertypen: Identität Arbeitund Freund; Deutschsein irrelevant

Bei diesem Fall stellt die Zugehörigkeit zur deutschen Min-derheit keine Handlungsorientierung dar. Vielmehr geben dieüber Arbeit definierte Identität und das Selbstverständnis alsguter Freund die Richtung für sein Denken und Handeln vor.Die auf der deutschen Volksangehörigkeit beruhende Unmög-lichkeit den höchsten Posten innerhalb des Betriebes einzuneh-men, wirkt sichweder positiv noch negativ auf ein potentiellesSelbstbild als Deutscher aus.

Insofern besteht auch inDeutschland keinerlei Ambition alssolcher anerkannt zu werden. Er nimmt zwar eine Trennungzwischen Einheimischen und Aussiedlern vor; diese bleibtaber auf deskriptiver Ebene und wird nicht als Eingliederungs-problem thematisiert. Da die über Arbeit definierte Identitätaber nicht erfolgreich Anschluss findet und damit sonst ein-hergehende Wertschätzung seitens der sozialen Umwelt amArbeitsplatz versagt bleibt, hat dieser Untertyp eine sehr ne-gative Sicht auf die deutsche Gesellschaft. Entsprechend be-stehen keine (engen) Kontakte zu Einheimischen. Jedoch er-möglichen die guten Beziehungen zu anderen Aussiedlern dasAusleben seines Selbstverständnisses als guter Freund und da-mit Anerkennung als Person. Folglich kann in diesem Bereichpsychisches Wohlbefinden hergestellt werden, indessen dieBetrachtung der arbeitsdefinierten Identität auf keine erfolg-reiche Integration schließen lässt. Die Situation ist mit demUntertypen »Deutsche Identität und andere« unter Austauschder handlungsweisenden Identitäten vergleichbar.

6.2 Auswertung des Typus 2: Soziale Identi-tät; Deutschsein irrelevant

Die Identifikation als Volksangehörige der deutschen Minder-heit ist bei diesem Typus für Denken und Handeln irrelevant.

Es wird lediglich registriert, dass diese besteht. Dagegen stel-len die Identifikationen als Person mit Sinn für Gemeinschaftsowie dem Bedürfnis nach Sicherheit wichtige Handlungsori-entierungen dar und können im Herkunftsland unter sehrguten Bedingungen ausgelebt werden.

In der Bundesrepublik können diese Identitäten Anschlussfinden. Wenn auch nicht in eben demselben Ausmaß. Die Be-ziehungen zu den einheimischen Arbeitskollegen sowie zurNachbarschaft sind zwar gut, erreichen aber nicht den Gradder Wärme und Herzlichkeit wie diese im Herkunftsland er-lebt wurde. Wertschätzung und Anerkennung werden haupt-sächlich aus den engen Kontakten im großen Freundes- undVerwandtschaftskreis, der aus anderen Aussiedlern besteht,bezogen. Da das Ausleben aller Identitäten möglich ist unddie Identifikation als Deutsche folgenlos ist, besteht in hohemMaße psychisches Wohlbefinden und Integration in diesemSinne ist in jedem Lebensbereich (jeder Identität) erreicht.Dies bestätigt auch die positive Vorstellung von der deutschenGesellschaft.

6.3 Schlussbetrachtung

Die in der Untersuchung vorgefundenen Fälle weisen bezüg-lich ihrer Identitäten eine hohe Heterogenität auf. Folglichsind fünf verschiedene (Unter)Typen entstanden, die keineVerifikation durch eine höhere Anzahl an gleichen oder ähn-lichen Typen aufweisen könnten. Dennoch kann bereits indiesem kleinen Rahmen demonstriert werden, wie differen-ziert russlanddeutsche Aussiedler, die die oben beschriebenenGemeinsamkeiten aufweisen, die Gesellschaft betrachten undhöchst unterschiedliche Selbstbilder entwerfen. Daraus kanndas erste Ergebnis gefolgert werden, Aussiedler in der For-schung wie im Alltag in ihrer Individualität wahrzunehmen.

Dennoch konnten auch Gemeinsamkeiten in den Betrach-tungen zu beiden Gesellschaft festgestellt werden. Alle Be-fragten betonten die im Vergleich zu Deutschland ausgepräg-teren sozialen Merkmale in der sowjetischen Gesellschaft;wenn auch in verschiedenen Zusammenhängen und unter-schiedlicher Intensität, so wurde doch von jedem das größereMaß an Hilfsbereitschaft, (Familien-)Zusammenhalt, Gast-freundschaft und Offenheit erwähnt. Diese Eigenschaftenseien, so konstatierten Einige, nach der langen Aufenthalts-zeit in Deutschland bei ihnen selber abnehmend, sodass siesich diesbezüglich – zu ihrem Bedauern – als der deutschenGesellschaft anpassend erleben.

Das zentrale Ergebnis der vorliegenden Arbeit besteht indem vorgefundenen Zusammenhang von den in der Sowjet-union entwickelten Selbstbildern und Integration im Sinneeines personalen und relationalen Gleichgewichtszustands.Angesichts der privilegierten Immigration von Aussiedlern,die unter besonderen rechtlichen und politischen Gegeben-heiten erfolgt ist, bestehen gute Chancen sozialer Teilhabe,die in den untersuchten Fällen zum Großteil auch realisiertwurden (Im Fall Lydia Egert konnte keine zufriedenstellendeberufliche Position erreicht werden, da ihre Ausbildung nichtanerkannt wurde. Im Fall Hermann Decker wurde ebenfallseine Arbeit ergriffen, unter der in Kasachstan erworbenenQualifikation liegt; hier bleibt aber unklar ob eine Anerken-nung der Ausbildung versucht wurde). Folglich war die Frage

Page 63: it - Gesellschaftbilder Und Selbstverst Russlanddeutscher Aussiedler in der Sowjetunion und in Deutschland

Schlussbetrachtung 53

nach Integration in dem besagten Sinne interessant; bestehtin der untersuchten Gruppe, die auf struktureller Ebene in-tegriert ist, darüber hinaus auch psychisches Wohlbefindenund Zufriedenheit? Es hat sich herausgestellt, dass diejenigen,die alle in der Sowjetunion entfalteten Identitäten auch in derBundesrepublik erfolgreich fortführen konnten, diese also an-schlussfähig waren, auch einen entsprechend hohen Grad anIntegration aufwiesen. Bei der gelungenen Anschlussfähigkeiteinzelner Identitäten, während andere nicht ausgelebt werdenkonnten, war auch die persönliche Zufriedenheit nur in demLebensbereich vorhanden, in dem die Identität fortgesetztwurde. Wenn das in der Sowjetunion ausgebildete Selbstver-ständnis (in der Untersuchung ist es der Fall der deutschenIdentität, die in dem Zusammenhang der Integration eine Be-sonderheit darstellt) in Deutschland keinen Anschluss findet,kann persönliche Zufriedenheit (trotz sozialer Teilhabe) nichterreicht werden.

Es hat sich gezeigt, dass ein ausgeprägtes Selbstverständnisals deutsche/r Volksangehörige/r in keinem der vorliegendenFälle anschlussfähig war. Die Fortführung dieser Identität istbesonders problematisch, weil russlanddeutsche Aussiedlervon der autochthonen Gesellschaft nicht als Deutsche wahrge-nommen werden und dieses Selbstbild somit nicht bestätigtwird. Mit der Verweigerung der Anerkennung als Deutschefühlen sich diejenigen, die ihre Identität darin gegründet ha-ben, auch als Personen nicht anerkannt und wertgeschätztund können folglich diesbezüglich kein positives Selbstwert-gefühl entwickeln.Wenn aber gute Beziehungen und Kontaktezu anderen Aussiedlern bestehen, so kann die durch die au-tochthone Gesellschaft erfahrene Frustration ein Stück weitrelativiert werden.

Die beschriebene Verweigerungshaltung der autochthonen

Bevölkerung gegenüber (russlanddeutschen) Aussiedlern zeigteinerseits die fehlende Sensibilität gegenüber dieser Gruppevon MigrantInnen auf, andererseits aber auch eine verengteSichtweise auf Nationalität bzw. Ethnizität, die offenbar häu-fig ein Kriterium für die Beurteilung von Menschen darstellt,welches gegenüber allen MigrantInnen Anwendung findet.Die Ursache für solche Denkmuster liegt aus meiner Sicht zueinem Großteil in der medialen Meinungsbildung sowie in(z. T. daraus resultierenden) festgefahrenen Denkweisen, diesich an Nationalität bzw. Ethnizität orientieren und an dieseBewertungen und Möglichkeiten der Zugehörigkeit knüpfen,begründet. Die Gegenwart von MigrantInnen kann die eigenePerson bzw. die Selbstverständlichkeit der Gesellschaft, in diesie eingebettet ist, in Frage stellen (vgl. Mecheril 2004, S. 42ff.), sodass aus meist unbestimmten Ängsten häufig eine Ab-wertung der Zugereisten erfolgt. Um besagten Denkmusternund Bewertungen vorzubeugen eignet sich unter anderem dieErziehungsinstitution Schule. Dort könnte der Sinn für Tole-ranz, Solidarität und Gleichberechtigung sowie Anerkennungund Gerechtigkeit »als Grundlage des Zusammenlebens vonkulturell (und anders) verschiedenen Personen« (Hamburger2002, S. 36) ›geschult‹ und Reflexivität über (sonst fixe) Vorstel-lungen von Nationalität bzw. Ethnizität und Kultur gefördertwerden. Dies sollte allerdings nicht institutionalisiert werden,sondern situativ erfolgen (vgl. ebd., S. 31 f.).

Schließlich sei noch festgehalten, dass die Ausbildung meh-rerer handlungsweisender Identitäten im Leben von Migran-tInnen, die in einem relativ hohem Alter ihren Lebensmittel-punkt in einen fremdkulturellen Kontext verlagern, von Vor-teil ist. Denn so stehen im Fall der ›Nicht-Anschlussfähigkeit‹einer Identität Alternativen bereit und es kann zumindestpartiell Zufriedenheit erlangt werden.

Page 64: it - Gesellschaftbilder Und Selbstverst Russlanddeutscher Aussiedler in der Sowjetunion und in Deutschland
Page 65: it - Gesellschaftbilder Und Selbstverst Russlanddeutscher Aussiedler in der Sowjetunion und in Deutschland

55

Literaturverzeichnis

Bade, K. J. (1994): Ausländer, Aussiedler, Asyl: eine Bestands-aufnahme. München.

Berger, P. L/Luckmann, T. (1969): Die gesellschaftliche Kon-struktion der Wirklichkeit. 21. Auflage, Frankfurt am Main.

Brüsemeister, T. (2008): Qualitative Forschung. Ein Überblick.2. überarb. Auflage, Wiesbaden.

Dietmaier-Jebara, S. (2005): Gesellschaftsbild und Lebens-führung. Gesellschaftspolitische Ordnungsvorstellungenim ostdeutschen Transformationsprozess. 1. Auflage, Mün-chen.

Dietz, B. (1988): Lebensbedingungen in der Sowjetunion imStadt-Land-Vergleich. Ergebnisse einer Befragungsstudiemit deutschen Spätaussiedlern aus der Sowjetunion. For-schungsprojekt »Deutsche in der Sowjetgesellschaft«. Ost-europa-Institut München (Arbeitsbericht Nr. 11).

Dietz, B. (1990): Deutsche in der Sowjetunion und Aussiedleraus der UdSSR in der Bundesrepublik Deutschland. Deut-sche Aussiedler in der Sowjetunion. Sozialer Hintergrundund Ausreisebedingungen am Ende der achtziger Jahre.Forschungsprojekt »Deutsche in der Sowjetgesellschaft«.Osteuropa-Institut München (Arbeitsbericht Nr. 3).

Dietz, B., Hilkes, P. (1988): Deutsche in der Sowjetunion.Zahlen, Fakten und neue Forschungsergebnisse. In: AusPolitik und Zeitgeschichte B 50, S. 3--13.

Dietz, B., Hilkes, P. (1992): Deutsche Aussiedler aus derSowjetunion. Sozialer Hintergrund. Ausreise. Integration.In: Althammer, W., Kossolapow, L. (Hrsg.): Aussiedlerfor-schung. Interdisziplinäre Studien. Köln, S. 49--76.

Dietz, B., Hilkes, P. (1993): Rußlanddeutsche: Unbekannte imOsten. Geschichte, Situation, Zukunftsperspektiven. Mün-chen.

Dreitzel, H. P. (1962): Selbstbild und Gesellschaftsbild. In: Eu-ropäisches Archiv für Soziologie, 3. Cambridge, S. 181--228.

Eisfeld, A. (1992): Die Russlanddeutschen. München.

Esser, H. (1980): Aspekte derWanderungssoziologie. Assimila-tion und Integration von Wanderern, ethnischen Gruppenund Minderheiten. Eine handlungstheoretische Analyse.Darmstadt.

Flick, U., Kardorff, E v. Steinke, I. (Hrsg.) (2000): QualitativeForschung. Ein Handbuch. Reinbek.

Geulen, D./Hurrelmann, K. (1980): Zur Programmatik einerumfassenden Sozialisationstheorie. In: Hurrelmann, K., Ul-

rich, D.: Handbuch der Sozialisationsforschung. Weinheim,S. 51--70.

Glaser, B.G./Strauss, A.L. (1967): The discovery of groundedtheory. Strategies for qualitative research. New York.

Grobecker, C., Krack-Rohberg, E. (2008): Auszug aus demDatenreport 2008. Kapitel 1. Bevölkerung. Verfügbar unter:http://www.destatis.de/jetspeed/portal/cms/Sites/destatis/Internet/DE

/Content/Publikationen/Querschnittsveroeffentlichungen/Datenreport

/Downloads/Datenreport2008Bevoelkerung.psml. Abgerufen am13.11.2009

Hahn, A. (2000): Konstruktionen des Selbst, der Welt und derGeschichte: Aufsätze zur Kultursoziologie. Frankfurt amMain, S. 97--115.

Hamburger, F. (2002): Migration und Jugendhilfe. In: Sozial-pädagogisches Institut im SOS-Kinderdorf (Hrsg.): Migran-tenkinder in der Jugendhilfe. München.

Hermanns, H. (1992): Die Auswertung narrativer Interviews.Ein Beispiel für qualitative Verfahren. In: Hoffmeyer-Zlot-nik, J. (Hrsg.): Analyse verbaler Daten. Opladen, S. 110-141.

Ingenhorst, H. (1997): Die Russlanddeutschen. Aussiedlerzwischen Tradition und Moderne. Frankfurt am Main.

Kaufmann, F.-X. (1982): Elemente einer soziologischen Theo-rie sozialpolitischer Intervention. In: Kaufmann, F.-X. (Hg):Staatliche Sozialpolitik und Familie. München, S. 49--86.

Kluge, S. (1999): Empirisch begründete Typenbildung. ZurKonstruktion von Typen und Typologien in der qualitati-ven Sozialforschung. Opladen.

Krappmann, L. (1975): Soziologische Dimensionen der Identi-tät. Strukturelle Bedingungen für die Teilnahme an Inter-aktionsprozessen. 4. Auflage, Stuttgart.

Küsters, I. (2009): Narrative Interviews. Grundlagen und An-wendungen. 2. Auflage, Wiesbaden.

Mead, G.H. (1968): Geist, Identität und Gesellschaft. Frankfurtam Main. (amerikan. Original 1934)

Mecheril, P. (2004): Einführung in die Migrationspädagogik.Beltz Verlag. Weinheim.

Przyborski, A./Wohlrab-Sahr, M. (2008): Qualitative Sozi-alforschung. Ein Arbeitsbuch. Oldenbourg.

Sandberger, J-U. (1983): Gesellschaftsbild. In: Lippert, E.:Handwörterbuch der politischen Psychologie. Opladen,S. 112--124.

Page 66: it - Gesellschaftbilder Und Selbstverst Russlanddeutscher Aussiedler in der Sowjetunion und in Deutschland

56 Literaturverzeichnis

Schütze, F. (1983): Biographieforschung und narratives Inter-view. In: Neue Praxis. Kritische Zeitschrift für Sozialarbeitund Sozialpädagogik Jg. 13, S. 283--293.

Schütze, F. (1987): Das narrative Interview in Interaktions-feldstudien I. Studienbrief der Fernuniversität Hagen.

Silbereisen, K./Lantermann, E.-D./Schmitt-Rodermund,E. (Hrsg.) (1999): Aussiedler in Deutschland. Akkulturationvon Persönlichkeit und Verhalten. Opladen.

Strobl, R./Kühnel, W. (2000): Dazugehörig und ausgegrenzt.Analysen zu Integrationschancen junger Aussiedler. Wein-heim.

Weihrich, M. (1998): Kursbestimmungen. Eine qualitativePaneluntersuchung der alltäglichen Lebensführung im ost-deutschen Transformationsprozess. München.

Westphal, M. (1997): Aussiedlerinnen. Geschlecht, Beruf undBildung unter Einwanderungsbedingungen. Bielefeld.

Page 67: it - Gesellschaftbilder Und Selbstverst Russlanddeutscher Aussiedler in der Sowjetunion und in Deutschland

57

Anhang

Vorüberlegungen zum Gespräch und exmanente Fragen 59

Interviews und Gedächtnisprotokolle 61

B.1 Interviewprotokoll: Hermann Decker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61B.2 Interview: Hermann Decker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61B.3 Interviewprotokoll: Elvira Claus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69B.4 Interview: Elvira Claus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70B.5 Interviewprotokoll: Jakob (und Lydia) Egert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79B.6 Interview: Jakob (und Lydia) Egert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80B.7 Interviewprotokoll: Irina Albert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97B.8 Interview: Irina Albert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98B.9 Interviewprotokoll: Peter Berndt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120B.10 Interview: Peter Berndt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120

Page 68: it - Gesellschaftbilder Und Selbstverst Russlanddeutscher Aussiedler in der Sowjetunion und in Deutschland
Page 69: it - Gesellschaftbilder Und Selbstverst Russlanddeutscher Aussiedler in der Sowjetunion und in Deutschland

59

Anhang A

Vorüberlegungen zum Gespräch und exmanente Fragen

Erzählstimulus

Wie ja schon angesprochen, interessiert mich Ihre Lebensge-schichte; also wie das Leben für Sie in der Sowjetunion warund wie es für Sie hier in Deutschland war und heute ist. Michinteressiert also ihre ganze Lebensgeschichte; erzählen Sie al-les was Ihnen einfällt und wichtig ist; das ist auch für michinteressant. Lassen Sie sich dabei Zeit!

Ich werde Sie nicht unterbrechen und wenn ich ’ne Fragehabe, werde ich mir die aufschreiben und dann im Anschlussan ihre Geschichte fragen. Ich höre Ihnen jetzt erstmal einfachnur zu.

Forschungsleitendes Interesse

• Verständnis, Vorstellung von der Gesellschaft in der So-wjetunion (das jeweilige Land): Aufbau, Möglichkeiten,Leitbilder, Kultur, Werte …

• Evt. Perspektive auf die eigene deutsche Minderheitenge-sellschaft (als Teil davon): Aufbau, Möglichkeiten, Leitbil-der, Kultur, Werte …

• Selbstbild (als Angehöriger der deutschen Minderheit),Verortung in der Gesellschaft, Handlungsorientierung

• Sicht auf Deutschland, deutsche Kultur noch in der Sowjet-union lebend

• Verständnis, Vorstellung von der deutschen Gesellschaft:Aufbau, Möglichkeiten, Leitbilder, Kultur, Werte …

• eigene Verortung darin als Person, evt. als Aussiedler;Handlungsorientierung

Mögliche Themenbereiche der biographischen Erzäh-lung

• Geburt• Schulzeit• Ausbildung, Berufsergrei-

fung• Familiengründung

• Ausreise• Erste Zeit in Deutschland

(Wohnraum, Arbeit, Bil-dung der Kinder)

• Situation heute

Fragen nach dem Gesellschaftsbild in der Sowjetunion

Wenn Sie sich nochmal zurückerinnern an Ihr Leben in …(entsprechender Staat der Sowjetunion) und die dortige Ge-sellschaft denken; was für ein Bild haben Sie von dieser Ge-sellschaft? Was war den Menschen wichtig? Was war wichtig,es zu erreichen?

Was glauben Sie, nach welchen Regeln/Prinzipien die Men-schen gelebt und gehandelt haben?

Wer waren die »Gewinner« und wer die »Verlierer« in derGesellschaft?

War es den Menschen in der Sowjetunion möglich/wichtig,politisch oder sozial/gesellschaftlich aktiv zu sein? (in welcherForm?)

Wie war das Leben für die Deutschen in der Gesellschaft …?

Fragen zum Selbstbild in der Sowjetunion

Wo glauben Sie, war Ihr Platz in der Gesellschaft? Was warIhnen wichtig bei Ihrer Lebensgestaltung? Was (welche Ziele)war Ihnen wichtig zu erreichen?

Hatte die Tatsache, dass Sie Deutsche sind, Auswirkungenauf Ihren Ihr Leben in …?

Fragen nach dem Gesellschaftsbild in Deutschland

Sie leben ja schon eine ganze Weile in Deutschland; was den-ken Sie über die deutsche Gesellschaft? Was ist den Menschenwichtig? Was ist ihnen wichtig zu erreichen?

Was glauben Sie, nach welchen Regeln/Prinzipien die Men-schen hier leben und handeln?

Wer sind hier die »Gewinner« und wer die »Verlierer« inder Gesellschaft?

Ist es besonders als Aussiedler in Deutschland zu leben?

Fragen zum Selbstbild in Deutschland

Wo glauben Sie, ist Ihr Platz in der Gesellschaft? Was ist Ihnenwichtig bei Ihrer Lebensgestaltung? Was (welche Ziele) sindIhnen wichtig?

Wie wichtig ist es für Sie hier in Deutschland politisch odersozial/gesellschaftlich aktiv zu sein?

Hat die Tatsache, dass Sie Russlanddeutscher/Aussiedlersind, Auswirkungen auf Ihr (tägliches) Leben hier?

Zusammenfassende Fragen

Was sind für Sie bedeutende Unterschiede zwischen der Ge-sellschaft in Deutschland und der Gesellschaft in … (jeweiligerStaat der Sowjetunion)?

Wenn Sie nochmal auf ihr ganzes Leben zurückblicken;könnten Sie sagen, ob sich grundsätzliche Einstellungen oderPrinzipien im Laufe Ihres Leben verändert haben? (WelchesEreignis führte dazu?)

Soziodemographische Daten

• Geburtsort- und Jahr• Bildungsabschluss• Familienstand• Bildungsabschluss

• Berufliche Situation• Jahr der Ausreise• Länge des Aufenthalts im

Auffanglager

Page 70: it - Gesellschaftbilder Und Selbstverst Russlanddeutscher Aussiedler in der Sowjetunion und in Deutschland
Page 71: it - Gesellschaftbilder Und Selbstverst Russlanddeutscher Aussiedler in der Sowjetunion und in Deutschland

61

Anhang B

Interviews und Gedächtnisprotokolle

B.1 Interviewprotokoll: Hermann Decker

Um 18:30 Uhr holt mich Herr D. mit dem Auto vom Bahnhofab und wir fahren ca. 10 Minuten zum seinem Haus. Das Autoist ein sehr sauberer und gepflegter BMW und Herr D. fährstsehr vorsichtig. Ich erzähle ihm von meiner stressigen Anfahrtund er mir von einem sehr unangenehmes Erlebnis mit derBahn, das er mal hatte. Er fragt mich nach dem Studium undin welchem Beruf ich mal damit arbeiten werde …

Am Haus angekommen bemerke ich den schönen Apriko-senbaum. Daraufhin sammelt Herr D. die reifen Aprikosenvom Boden um sie mir anzubieten. Das Haus erstrahlt in Sau-berkeit! Er bietet mir Kaffee an; als er sich auch selber einenmacht, nehme ich das Angebot an. Dazu stellt er gezuckerteKondensmilch (in Russland und bei Aussiedlern sehr verbrei-tet) auf den Tisch. Als ich die russische Bezeichnung dafürsage, stellt er fest, dass auch ich Aussiedlerin bin. Er fragtwo ich geboren bin, wo meine Eltern jetzt leben und ob dieganze Verwandtschaft in Deutschland ist. Dann informiereich ihn über die Tonbandaufnahme, welcher er ohne Weitereszustimmt. Kurz äußert er den Zweifel, ob er der Richtige fürmein Vorhaben sei, da er nur eine »ganz normale« und keinespannende Geschichte hat; wohl mit der vieler russlanddeut-scher Aussiedler vergleichbar.

Herr D. scheint in guter körperlicher als auch psychischerVerfassung.

Nach dem Abschalten der Tonbandaufnahme scheint HerrD. erleichtert zu sein. Wir reden weiter über die Geschichteder Aussiedler im Allgemeinen und die persönliche.

Als er mich wieder zum Bahnhof bringt, macht er nochfolgende Aussagen, die ich mir später im Zug notiere; sieseien hier stichpunktartig und sinngemäß genannt:

Seine Generation unter den Aussiedlern ist die Verlierer-generation; die Alten haben gute Renten bekommen und diejungen Leute haben hier die besseren Zukunftsperspektiven.

Seine Generation hat verloren, weil deren Berufe oft nichtanerkannt werden (oder man muss sehr darum kämpfen) unddie Sprache nicht mehr in dem Maße beherrscht werden kann,sodass sie immer als »Russen« erkannt werden.

Die Motivation nach Deutschland auszureisen war nichtmaterieller Art (dies wird den Aussiedlern vorgeworfen), esging ihm und seiner Familie sogar überdurchschnittlich gutin Kasachstan. Mann konnte die Deutschen an den gepflegtenHäusern und Grundstücken erkennen. Ebenso die Russen unddie Kasachen (jeweils im negativen Sinne absteigend).

Er hat wenig Kontakte zu anderen Aussiedlern und redetnicht über die gemeinsamen Erlebnisse (dort wie hier).

Sechs Leute von der Arbeit sind auch Russlanddeutsche(diese sind die handwerklich begabteren). Es leben wenig Aus-siedler in seiner Kleinstadt.

In Kasachstan waren die Menschen offener, freundlicher,ehrlicher/authentischer. Man hat mehr Freundschaften ge-

pflegt, man war auch mehr darauf angewiesen, das man sichgegenseitig hilft (eine Hand wäscht die andere). Hier verdientman das Geld und kann sich kaufen was man will – brauchtFreundschaften nicht zu pflegen.

Er fragt mich, was die anderen Befragten erzählt haben undob sie Unterdrückung erlebt haben.

Andere Leute anderer Nationalitäten werden in Deutsch-land besser behandelt, denen geht es besser als den eigenenLeuten (Russlanddeutschen).

Er will und wollte nicht zurück nach Kasachstan, weil ernicht jemand ist, der etwas anfängt und dann aufhört/aufgibt.Will auch nicht zu Besuch dorthin, weil er nicht nochmal mitder Geheimpolizei in Kontakt kommen möchte (Angst).

Er ist froh, dass es so schlecht angefangen hat, so konnte esnur noch ›nach oben‹ gehen und besser werden. Bei anderenläuft es andersrum…

Er hat bis vor kurzem noch auch an Wochenenden schwarzgearbeitet (Automechanik) um »das alles« (Haus, vielleichtauch Auto) zu bezahlen. Jetzt baut die Tochter am Eigenheimund er hilft dort an den Wochenenden auf dem Bau aus.

Er braucht ein eigenes Haus, weil es sonst langweilig ist,wenn man nicht an irgendwas rumwerkeln kann.

Der Sohn kommt jedes zweite Wochenende aus Münchenüber das Wochenende nach Hause. Er fragt mich, wie oft ichnach Hause zu meinen Eltern fahre.

Herr D. begleitet mich bis zum Gleis und wartet mit mir bisder Zug kommt. Ich bedanke mich mehrmals zum Abschied,er sagt, dass wenn ich mal wieder in die Stadt komme, ichdoch zu Besuch vorbei kommen sollte.

B.2 Interview: Hermann Decker

I: Also wie ja bereits angesprochen geht es um Ihre Lebens-geschichte, und zwar wie das Leben für Sie war in der So-wjetunion und wie es in Deutschland war und heute ist. AlsoIhre ganze Lebensgeschichte und ähm, ja erzählen Sie einfach

5alles was äh, was Ihnen wichtig ist und was Ihnen einfälltund, und ich werd Sie jetzt erzählen lassen und Sie erstmalnicht unterbrechen und Ihnen einfach nur zuhören und wennich ne Frage habe hab ich diesen Block hier und werd mir dasnotieren und werd Sie aber jetzt erstmal nur erzählen lassen

10und dannH.D.: ( ) bin ich kein großer Erzähler und deswegen mirwäre lieber wenn Fragen und Antworten. Aber ich ( )..I: Fangen Sie einfach mal an und dann ähm.. gucken wirH.D.: Ja gut, (der vierte) geboren bin ich in Kirgistan, Kirgi-

15sien und nach paar Jahre sind wir ausgewandert nach Kasachs-tan. Freiwillig ohne gezwungen und so weiter, damals sechs-undfünfzich fünfundfünfzich wurd das aufgehoben und dannhaben die Leute Pässe gekriegt und dann durften sie ausreisen.Und deswegen sind wir nach Kasachstan, hat Vater einfach

Page 72: it - Gesellschaftbilder Und Selbstverst Russlanddeutscher Aussiedler in der Sowjetunion und in Deutschland

62 anhang b Interviews und Gedächtnisprotokolle

20 andere Lebensraum gesucht oder (lacht) Arbeitsraum gesucht,ist dann nach Kasachstan ausgewandert.. Dort sind wir, habenwir gelebt bis ich dreiunddreißich wurde ungefähr, ja.So ganznormale, keine große Geschichte, waren Familie, Vater Mutter,Oma war bei uns, noch fünf Geschwister, Schwester und zwei

25 äh vier Brüder waren wir.. Nix besonderes, jeder ist in dieSchule gegangen und dann (lacht), alle haben eigentlich, dieSchwester hat dann in Hochschule gegangen, hat studiert prak-tisch, hat auch gut in der Schule gelernt dann, Goldmedaillengekriegt, die Goldmedaillen, ( ) Abitur gemacht, dann hat sie

30 studiert, die Brüder haben alle auch gelernt im Technikum, ichweiß nicht wie das heißt jetzt hier genau,Berufsschule odersowas oder (Hochschul) oder wieI: Ja ja. Hm.H.D.: Und alle verheiratet glücklich, leben alle hier ganze

35 Familie und.. was besonders was, was als Deutsche in Ka-sachstan oder so was als Unterdrückung oder so was, hat manpraktisch nix gemerkt, ja gut zwischen den Jungs bloß so hatman gehetzt ein bisschen, das du Deutsche warst oder bist.Aber sonst, (ist) eigentlich kein großer Unterschied, deswegen

40 sag ich auch die Schwester hat, manche sagen: »Wurde manda unterdrückt, als Deutsche kannst du nicht studieren«, odersowas. Find ich alles Quatsch, weil Beispiel unsere Familie dieSchwester älteste, die war gut in die Schule, hat auch Studiumgemacht ohne Probleme.

45 I: Hm.H.D.: Hm. Gearbeitet pff, Job, wegen Job auch kein Problemwar, also keine Unterdrückung als Deutscher oder sowas. Ha-ben wir eigentlich ganz gut gelebt, wir waren in so einemDorf oder Stadtmitte, so wie Kreisstadt ungefähr mit dreißich

50 tausend Einwohner… hm, eigentlich ( )mein Leben keinegroße Geschichte. Letzte Zeit hab ich sogar bei der Armee dagearbeitet, als Deutscher war auch kein Problem.I: Hm.H.D.: Als Einzigste, als ich in der Armee war, als Pflicht,

55 Pflichtdienst, und dort dürfen die.. nicht, ich hab eigentlichwar ich in so eine Schule und dann wollten sie uns in Ausland,was heißt Ausland, damals war Tschechei DDR und so weiter,und wir als Deutsche dürfen nur direkt in Russland, Ukraineoder Kasachstan so, nach DDR zum Beispiel oder Tschechei

60 dürfen wir nicht.I: Hm.H.D.: Das war bei mir sogar persönlich passiert, ich warin der Schule gut, in der Armee und aus Versehen wolltendie mich, also die Besten waren dann ausgewählt für Aus-

65 land praktisch, also Tschechei und DDR, und dann haben siemich noch rechtzeitig gestoppt (lacht) (andere gehen lassen).Da sind die Deutschen nicht rausgekommen, ich weiß nichtwarum wie auch immer. Aber auf jeden Fall, das war ein-zigste Unterschied, sonst kein Problem. Und bei die Kinder

70 sowieso nicht, also, weil wir sind da geboren, wir haben auchSprache hundertprozentich gekannt klar, so wie deine Elternwahrscheinlich auch. Und… ne, war alles okay… In welcheRichtung schreiben Sie, allgemeine?I: Dann, wie, ich mein wie kam es zur Entscheidung dann

75 auszuwandern?H.D.: Wie kam es zur Entscheidung zur auszuwandern, äh..als erste unsere Großmutter, ja gut die Oma von die MamiSeite, Mamas Mutter, die hat immer gesagt, die hat auch kaumRussisch gesprochen, sie hat gesagt: »Irgendwann fahren wir

80nach Hause.« Und nach Hause war immer nach Deutschland.Ja, und von daher schon von Kindheit waren wir schon sogeprägt.. Also das war immer Omas Traum, klar die konntedamals nicht, und konnt das vergessen damals konntest dunicht auswandern. Und äh.. dann hat sie aber immer gesagt:

85»Irgendwann fahren wir nach Hause, irgendwann fahren wirnach Hause nach Deutschland.« Und.. dann ist sie, dreiund-sechzig glaub ich gestorben.. dann ist andere Oma, von Vaterseine Mutti praktisch, die ist zu uns gezogen und sie hat auchimmer geträumt von Deutschland, und dann Jahre.. oh acht-

90undsiebzig oder so was ja, ist die Oma nach Deutschlandgezogen hier, nach DDR.I: Hm hm.H.D.: Dann ist sie nach Deutschland gezogen und dann imJahre… neunundsiebzich oder achtzich wir wollten auch nach-

95ziehen, also unsere Familie, ganze Familie nach Deutschland.Äh, die Oma hat uns Einladung geschickt oder sowas, wirhaben damals erste mal Antrag gestellt und das wurde unsabgelehnt, gleich total, uff Aussprache oder wie, auf jedenFall auf abgelehnt und haben gesagt: »Nee, die Familien mit

100Mädchen« zum Beispiel »oder gar keine Kinder haben, diedürfen ausreisen, die Familien mit viel Jungs dürfen nichtausreisen.« War so ne unoffizielle Aussage ja, warum auchimmer. Das hat man damals gesagt. Und damals wurde unsabgelehnt Antrag, achtzich einundachtzich haben wir Antrag

105gestellt ja zum ersten Mal. Und da wurde alles abgelehnt total,und dann erst im achtundachtzich oder sowas hat die Omadann schon über andere Wege und so weiter wieder Antraggeschickt und dann hat’s geklappt.I: Hm.

110H.D.: Aber auch, was heißt geklappt ja auch.. hehe sagt manso (schwarze Gänger) bisschen beigeholfen, mal da Bekanntemal da und so weiter, deswegen (7). Sonst, bei der Ausreise jagut, Zoll und als wir unterwegs waren, wir dürfen von Geldhier nix mitnehmen, neunzich Rubel waren damals glaub ich,

115waren noch eins zu drei, ein Rubel hat damals drei Markgekostet. Und wir dürfen bloß pro Person neunzich Rubelmitnehmen, nix mehr, ja. Neunzich Rubel, wir dürfen abernoch vorher so ne Container abschicken, das haben wir auchgemacht, wir haben zwei Container abgeschickt mit Geschirr,

120verschiedene Sachen.. Kleider, Bettwäsche und so Zeug, undKlavier haben wir auch mitgenommen, das dürfen wir. Bloßam Zoll war streng klar, haben sie alles durch gecheckt dasam Zoll wenn du die Container abgibst, dass nix Verkehrtes,keine Fotos von der Armee und so weiter dürfen dabei sein,

125ja. Waren da paar Tage auf dem Zoll haben wir geguckt wasman darf, was man darf nicht.I: Meine Güte.H.D.: Hm, warum auch immer. Hm, aber bei der Einreisesag ich, wir haben bloß Koffer gehabt, das Nötigste und neun-

130zich Rubel pro Person. Dann sind wir gekommen, waren wirim Übergangslager in Wallenhorst, ungefähr eine Woche biswir alle Papiere so gemacht haben und so weiter, und dannzwei Wochen Durchgangslager, die haben uns von Wallen-horst weggefahren nach Pfalz eigentlich sollten wir, und dann

135war hier kein Platz und dann sie uns im Hartz von zwei Wo-chen gehalten, bis, wir durften aus dem Lager nicht raus biswir irgendwo nicht beweisen können das wir eine Wohnunghaben oder sowas.I: Hm.

Page 73: it - Gesellschaftbilder Und Selbstverst Russlanddeutscher Aussiedler in der Sowjetunion und in Deutschland

Interview: Hermann Decker 63

140 H.D.: Dann hat der Bruder hier Wohnung gemietet für uns.Und dann hat er uns abgeholt, sind wir nach Rülzheim unddann nach einem Jahr nach Speyer gezogen. Als wir da anka-men, haben wir eigentlich super angefangen, damals war graddie Zeit äh sind viele eingereist, da war auch Schwierigkeiten

145 mit der Wohnung sowieso. Und der Bruder hat in Rülzheimeine ältere Wohnung so gefunden, haben wir viel erlebt, alswir kamen natürlich haben wir, unsere Container mit der Bett-wäsche und so weiter waren noch nicht da, und dann habenwir vom Rathaus so paar Bette gekriegt und Matratzen, und

150 Matratze ja, und haben wir die Bette aber nicht aufgestelltweil das war altes Zeug aus dem Keller mit entsprechendemGeruch und Aussehen natürlich, und sind wir einfach auf denMatratzen hingelegt und auf dem Boden geschlafen. Da wa-ren wir, ein Jahr haben wir gelebt ja, circa ein Jahr haben wir

155 gelebt in Rülzheim und da waren Ratten alles Mögliche, daswar alte Wohnung mit Holzboden und als wir dann in einemZimmer Boden aufreißen, aufrissen da waren Rattennester.I: AhhH.D.: Das war eklich, ganz ehrlich. Meine Frau hat damals

160 schon gesagt: »Hättenwir nochwas in Russland gehabt, hättenwir hätte ich sofort zurückgefahren.« Also so was ekligesweißt, dort eigentlich haben wir ganz gut gelebt, durchschnitt-lich oder überdurchschnittlich ein bisschen, haben wir beidegearbeitet wie jeder andere, haben nicht schlecht verdient und

165 war alles okay und hier in so ein Loch reinzukommen daswar schon ein bisschen hart. Aber okay wir haben dort Strickeabgeschnitten, Haus, Auto verkauft, alles verkauft, natürlichGeld haben wir da gelassen, was willst damit anfangen? Dawar noch die Verwandtschaft von der Frau da, haben wir alles

170 da gelassen. Wie gesagt bloß mit vierzig Rubel dahergereist.Und äh.. ja… da haben wir was erlebt in der Wohnung, aberich finde das auch gut so, das wir so angefangen haben, soschlecht. Wir haben uns langsam, dann sind wir ein Jahr dagewohnt in Rülzheim, waren noch Schwiegereltern dabei.. Ja,

175 die Tochter ist gleich in die Schule gegangen, Sohn in Kin-dergarten, im September sind wir reingekommen, dann wa-ren wir Monat oder sowas waren wir frei, dann haben wirSprachkurse gekriegt, sechs Monat haben sie uns Sprachkursegegeben, ich war dann eineinhalb Monate oder ein Monat auf

180 Sprachkurse bin ich gegangen.. War aber ein tappischer Lehrer,hat er nix beigebracht, deswegen war das verlorene Zeit, habich lieber Bewerbungen geschrieben, hab ich Job gefunden,bin ich gleich arbeiten gegangen, obwohl ich Deutsch, na dieSprache war noch natürlich ganz schlimm, als noch Oma lebte

185 – wie in jede andere Familie wahrscheinlich auch – als dieOma noch lebte haben wir Deutsch n bisschen gesprochenoder auf deutsch gehört, russisch geantwortet. Und dann alsOma starb eine, da war fertig mit Deutsch.I: Hm.

190 H.D.: Nach so viele Jahre klar, kannst dich nicht so erinnernund noch dazu die Sprachkurse ( ) Bekloppter. A gut, gab’sauf der Arbeit hier, als ich angefangen hab… als Straßenkehrer(lacht verlegen) ja bin ich gegangen, ja dat is mir egal was undso weiter, ich geh arbeiten ich kann das nicht mehr aushalten

195 nix machen und so weiter. Und äh, hab ich angefangen ja erst-mal, zwischen Arbeitskollegen war, sag ich, keine Unterdrü-ckung oder sowas, weil als ich kam waren nur Einheimischein dem Betrieb, wir waren circa zwanzich Mann im Betriebund äh waren nur Einheimische. Und gelacht oder sowas hat

200keiner und… inzwischen bin ich ja bisschen gewachsen, binich in dem gleichen Betrieb schon seit zwanzich Jahre fast, najetzt ist überhaupt kein Problem klar, aber gab’s auch keineUnterdrückung. Natürlich.. was ich, was ich nicht mag, sagenwir egal was du machst oder bist, ja keine Unterdrückung

205offene aber gegen Russe haben sie doch was, Russ bleibst duRuss, oder bist von Russland bist du Russe, die machen keineUnterschiede große zwischen Russen und Aussiedler oder so,Deutschrussen und so weiter. Intelligente Leute machen schonUnterschied, die wissen bescheid, die sagen auch nicht was

210aber normale so Arbeiter manchmal kommt auch doch raus.Beim Streit oder sowas weißt du, und dann kommt doch rausdas du aus Russland bist, vergessen tut das Keiner. Und wegender Aussprache natürlich klar, das hört man und Fehler sindda, die kann man nicht mehr beheben (lacht). Hoffen wir bloß

215das das bei den Kindern anders ist. Naja aber, siehst du einbisschen fühlst du dich schon unterdrückt, du gewöhnst dichlangsam daran, aber irgendwo ist doch was.. weil solang dunix sagst vielleicht naja gut und (es sieht man auch), solangdu nix sagst und wenn du Ro, Mund aufmachst hörst das du

220nicht da geboren bist (lacht verlegen).I: (lacht) Hm.H.D.: Aber so allgemein ist kein Problem… Eigentlich (lacht).Und eigentlich von der Familie.. sind alle gut hier, ein Bru-der ist ja selbstständig, der hat Küchengeschäft.. der jüngste,

225ist gut ja. Zwei Brüder arbeiten auch.. handwerkliche Berufeaber okay sind zufrieden. Also war kein Nachteil weil, die,Aussiedler oder Deutsche sind manchmal doch handwerklichgeschickter wie, sagen wir Einheimische hehe oder die reineRussen so, sagen wir. Die Aussiedler können etwas handwerk-

230lich mehr, also sind geschickter, egal wo du nimmst, egal ( ).I: (lacht) Hm (erstaunt).H.D.: Ne das merkst du. Wir haben inzwischen auch in unse-rem Betrieb so fünf sechs auch Aussiedler, die arbeiten auchgut.

235I: AhaH.D.: Nee das merkst du, in handwerklichen Betriebenmerkst du das, das die Leute geschickter sind. Und arbeitenauch viel gerner als Andere. Ich sag nicht das die Einheimi-sche faul sind oder sowas, nee, aber wenn äh so zwanzich und

240zwanzich nimmst, zwanzich von dene zwanzich von dene,unsere Leute sind doch, stabiler haI: HeheheH.D.: Geschichte (ja).. Nun äh, die Schwester die war da gutund hier ist sie auch, wer was machen will, der macht was

245aus sich, die hat auch hier super Job gefunden, erstmal aufvierhundert Euro da Beihilfe als Teilzeit und so weiter unddann hat ein Betrieb sie übernommen und dann war sie letztefünf Jahre praktisch in Russland, von hier dahin geschicktund dort hat sie ein Betrieb aufgemacht und war zuständig

250praktisch für bestimmte Sachen zu verkaufen von Geräte imOstblock. Bis die Wirtschaftskrise kam ja, jetzt ( ) zumachenweil jetzt kauft keiner solche Sachen wegen Wirtschaftskrise,aber die ganze Zeit ist super gelaufen.. Also die hat auchKarriere hier gemacht praktisch.

255I: Hm.H.D.: Na gut der Vorteil, die hat Deutsch auch in der Schuleund im Institut in der Hochschule gelernt und Englisch lerntesie. Englisch, Russisch, Deutsch und hat sie jetzt auch Überset-zung gemacht in der Firma, von Betriebsanleitung (von die

Page 74: it - Gesellschaftbilder Und Selbstverst Russlanddeutscher Aussiedler in der Sowjetunion und in Deutschland

64 anhang b Interviews und Gedächtnisprotokolle

260 Geräte) und so weiter, und dann haben die sie übernommen.Erstmal war sie hier, hat sich hochgesteigert langsam in derFirma und dann haben sie sie als Direktorin dahin geschickt.Also, auch kein Nachteil, sagen wir mal so, komplette Unter-drückung oder so weiter. Wenn jemand was will das aus sich

265 machen dann macht er auch.I: Ja… Ja, also mal zu Ihrem Leben dort in.. KirgisienH.D.: Kasachstan.I: Kasachstan. Es war von Kirgisistan ist nach Kasachstan IhrVater ausgewandert. Und warum?

270 H.D.: … Um einfach sag ich mal, so der wollte entweder je-mand hat gesacht in Kasachstan ist besser oder irgendwie, weiler, viele Familien waren doch, die waren da alle Wolgadeutsch-land oder wir waren aus Wolgadeutsche, Wolgadeutsche undvon dort von Wolga haben sie unsere Eltern praktisch.. ausein-

275 ander geschickt vorm Krieg noch, und viele Familien waren,Teil Tadschikistan, Usbekistan, Kirgistan, Kasachstan und zuirgendwelche Bekannte wollt er dahin fahren. Früher darf ernicht, und da hat er sich mit jemand Briefe geschrieben undso weiter und dann hat er gehört das da etwas besser ist, und

280 deswegen hat er dahin, weil vor neunzehn hundert fünfund-vierzig durfte er nicht wegfahren, weil gabs auch, Deutschehaben auch keine Pässe gehabt und so weiter, darfst du nichtrausfahren. Und dann wurde frei fünfundfünfzich glaub ichdat, haben die Pässe gekriegt, dann dürfen die ausreisen und

285 dann ist er gleich losgezogen.I: Ah, und wohin da?H.D.: In Kasachstan?I: Hm.H.D.: Äh bei, das war Hauptstadt Almata und von Al-

290 mata Richtung China zweihundertfünfzich Kilometer, das war(Pauldikurgan).I: Eine große, kleine, mittlere Stadt?H.D.: Ja gut, wir waren in Karagulak, so wie hier eine Kreis-stadt sagen wir so. Und dreißich tausen Einwohner ungefähr.

295 Damals heißt das Passölak Garadskowa Tipano. So wie Rülz-heim das war keine große Stadt, keine kleine Stadt, das warauch so ungefähr.I: Ja, und ähm die Stadt war, lebten da viele Deutsche oderH.D.: Da lebten viele Deutsche ja, lebten viele Deutsche und

300 Kasachen. Kasachen und Deutsche, Russen waren auch vielaber etwas weniger. Un äh, wie dort war auch, hauptsächlichin jedem Betrieb oder in äh.. Verwaltung nimmst, Kasachenund Russen waren da hauptsächlich, später waren auch Deut-sche, aber ganz ganz ganz selten, das war ganz selten. Und

305 die Deutsche unseren, die haben immer ( ) hauptsächlich inder Landwirtschaft oder so irgendwelche Betriebe, wie gesagt,handwerklich hauptsächlich. Ganz (auch) andere, mein Bru-der zum Beispiel, der hat Technikum äh… Technikum hat ergemacht ja, und danach hat er als Ingenieur gearbeitet in Land-

310 wirtschaft Firma. Gings auch. Es kommt drauf an, weil dortim Dorf wir haben da als junge schon gearbeitet in der Land-wirtschaft hier und so weiter und jeder hat uns gekennt undso weiter. Als er nach der Armee als äh, ja, nach dem Pflicht-dienst zurückgekommen ist, haben sie gleich eingeladen, als

315 Ingenieur eingestellt.. Weil.. uns kannten die Leute einfach,da muss nicht unbedingt, das es Unterschied zu hier, du mussthier zum Beispiel unbedingt Ausbildung haben. Dort war dasnicht so wichtig, das war das wichtiger das was du kannst.Musst nicht unbedingt die bestimmte Ausbildung haben oder

320Diplom oder sowas, wenn du die Arbeit packst, machst das.Wenn die meinen du packst du Arbeit, die stellen dich ein,zahlen die gleiche Lohn was dazu gehört und du machst dieArbeit, ohne Diplom oder sowas.I: Hm hm.

325H.D.: Es ist etwas lockerer wie hier, wenn du hier zumBeispiel.. die Ausbildung nicht hast.. wenn zum Beispiel duhast hier keine Schweißerprüfung, darfst auch nix besondersschweißen, schweißen kannst du natürlich, aber nicht tra-gende Teile oder sowas. Und da in Russland war das etwas

330lockerer. Also gab’s keine TÜV, weniger nicht so streng. Gab’sTÜV auch natürlich aber das war alles weniger, nicht so streng,wenn du machen kannst, dann machst das. Und wie gesagtunsere Aussiedler, dort Deutsche waren geschickter als dieRussen, die Kasachen sowieso. Die waren hauptsächlich in

335Handwerker Betrieb oder so. Als Mechaniker, so Mittelange-stellter, nicht ganz wie ( ) aber Mittelangestellter gab’s auchviel Deutsche.I: Hm. Und äh haben die Deutschen dort deutsch gesprochen?H.D.: Äh draußen nicht, also die Ältere ja, gab’s auch wenn

340man die Nachbarn, die Ältere Leute, die haben deutsch gespro-chen. Auf die Straße auch, sagen wir nit so frei aber daheimoder wenn sie sich treffen, haben sie deutsch gesprochen. Wirin die Familie wie gesagt, als die Oma noch da war die habendeutsch gesprochen zu uns und wir haben als junge natür-

345lich russisch geantwortet, das war uns leichter. Haben wiralles verstanden ja okay Aber geantwortet haben wir dochauf russisch weil es irgendwie leichter war, weil wir habenimmer, auf der Straße oder egal wo du hast russisch gespro-chen. Und zwar Kasachstan aber trotzdem ( ) war auf die

350Straße Hauptsprache war russisch…I: Hm. Und Sie hatten auch keinen deutschen Unterricht?H.D.: Doch, dann Deutschunterricht ab fünfte Klasse in derSchule war, du konntest wählen, Auslandssprache, du konn-test wählen bei uns zum Beispiel Englisch oder Deutsch. Und

355die war zwei Stunden in die Woche a fünfundvierzig Minuten,so Stunden, zwei mal in die Woche war Deutschunterricht.Wer wollte der konnte Deutsch lernen oder, ich war tappisch,ich dacht deutsch kann ich sprechen, ich geh mal Englischlernen. Hab ich Englisch ausgewählt und zum Schluss war

360nix. (15)Aber so wie gesagt… hier sagen wir, das du unter-drückt warst, nee. Hat man, sag ich doch, zwischen Jungs odersowas äh und ich war dann später in der Armee, als Erwach-sener schon, nach der Armee hab ich in der LandwirtschaftFirma gearbeitet und dann hab ich mich noch für fünf Jahre

365verpflichtetI: HmH.D.: ging’s auch natürlich, natürlich waren die Leute etwasüberrascht wenn du, Name hab ich dann nicht geändert, alsomein Name und Vorname, wenn ich das gesagt hab war klar,

370deutsch, rein deutsch.I: Achso, hm hm.H.D.: Waren schon Überraschung wenn ich in der Uniformkomme und normal sprichst und so weiter und wenn sichvorstellst mit Namen, haben schon n bisschen blöd geguckt,

375aber war okayI: Hm hm.H.D.: Sag ich doch keine offizielle Unterdrückung oder sowas,auf jeden Fall hab ich sowas nicht gemerkt..I: Hm hm.. Und über Ihre Schulzeit haben Sie noch nicht so

Page 75: it - Gesellschaftbilder Und Selbstverst Russlanddeutscher Aussiedler in der Sowjetunion und in Deutschland

Interview: Hermann Decker 65

380 viel erzählt, wie, wie war das?H.D.: Hm, was in Bezug auf deutsch oder nicht deutsch, oder?I: Nee, einfach.. das..H.D.: A ja gut Schulzeit, war eigentlich nix besonders (5).Schulzeit okay, wir hatten waren in der Klasse also, waren

385 viel deutsche Jungs dabei, auch bei uns in der Klasse, ich habbis jetzt noch jede Kontakt, sind auch Klassenkameraden hierin Deutschland.. Hm, also, war ganz normale Schulzeit, wiebei jedem Kind natürlich, natürlich gab’s manchmal als, wenndie Jungs, bei denen ist sowieso nicht so böse gemeint, aber

390 manchmal sagen die: »Oh du bist Faschist«, und so weiter unddann haben sie eine auf’n Deckel gekriegt und Ruhe war’s(lacht).I: Hm. Und wieviel Klassen haben Sie da gemacht?H.D.: Ich hab acht Klassen gemacht und dann bin ich in

395 Technikum gegangen. Noch vier Jahre in Technikum, Land-wirtschaft Technik da studiert oder gelernt.I: Hm. Und wie kam die Entscheidung das Technikum dannzu machen?H.D.: Hmhmhm, das weiß ich nicht, wie die Entscheidung

400 war, das war einfach so, mein Vater hat immer in der Land-wirtschaft Firma gearbeitet und irgendwie, man konnte nixanderes, ich weiß nicht, war ich Technik begabt, also mit Au-tos und Traktoren hab ich gern was gemacht und deswegensind so die Hände, Bruder war dort noch, und das hat mich

405 auch hingezogen, wir haben in der Nähe so, in dem nächs-ten Dorf auch dem Technikum gehabt, war nicht so weit hier.Wahrscheinlich das alles zusammen. Und studieren wollt ichnicht, weil so begeistert von der Schule war ich auch wiedernicht (lacht).

410 I: (lacht) Hm.H.D.: Und deswegen, bin ich zu Technikum, und danachwieder auch in der Firma wo der Vater gearbeitet hat, das wardie größte Landwirtschaft Firma bei uns, waren noch paar,aber dort war unser Vater, das hat man jeden gekennt und

415 so weiter, dann bin ich auch dahin. Hab ich dort paar Jahregearbeitet und dann wie gesagt hab ich mich für fünf Jahreverpflichtet in die Armee. Da war ich fünf Jahre da.I: Und, Sie wurden aber einberufen oderH.D.: Nee, freiwillig.

420 I: Sie haben aufgehört zu arbeiten und sind in die Armee?H.D.: Ja.I: Und wie kam das?H.D.: ( ) Truppental, das Truppental war bei uns im Dorfpraktisch, hab ich auch die Jungs gekennt, und da war grad so

425 eine Stelle frei, mit meinem Beruf was ich (gern) mach und soweiter und was ich bei der Armee in Pflichtzeit gelernt hab,da war die Stelle frei und da hab ich mich beworben.I: Hm.H.D.: Hab ich eigentlich, ja gut äh, man kennt sich in der

430 Stadt so, da bin ich eigentlich locker reingekommen.I: Hm hm. Und diese Pflichtzeit haben Sie vor dem Technikumgemacht?H.D.: Die Pflichtzeit nach dem Technikum. Naja, ich war fer-tig mit Technikum, ich war neunzehn Jahre alt und Pflicht ist

435 ab achtzehn, aber wenn du schon in Technikum zum Beispielbist und hast schon zwei Jahre durch, dann schicken sie dichnicht in die Armee sonst, die warten bis du fertig bist. Wenndu fertig bist, musst aber. Und deswegen wurd ich angerufennach Technikum.

440I: Hm.H.D.: Gleich nach Technikum, hab ich gar nicht gearbeitet,naja sofort ( ) in die Armee, zwei Jahre..I: Und dann haben Sie aber gearbeitet und dann sich nochmalH.D.: Dann hab ich in der Landwirtschaft Firma gearbeitet

445und dann hab ich mich freiwillig verpflichtet, für fünf Jahre,das war mindest, nach fünf Jahren konntest du weitermachenoder aufhören, das war bis neunzehn hundert achtundacht-zich oder sogar neunundachtzich, dann hab ich aufgehört weilich wollte schon eigentlich weg von da irgendwie (lacht), na

450und dann hab ich wieder in der Privatfirma so e bisschen ge-arbeitet und dann hab ich Antrag gestellt, wurde blöd das ichvon der Armee gleich Antrag auf Auslandsausreise. Weil äh,da warst du doch äh, sagen wir Geheimdienst macht da seineArbeit wie auch hier wahrscheinlich, anständig. Ich wurde

455auch da mehrmals angesprochen, weil die wussten schon Ge-heimdienst das meine Verwandten hier in Bundesrepubliksind.I: Achso, achso, aha. Und Sie wurden vom Geheimdienstangesprochen auf was?

460H.D.: Befragt ja. Ja ob ich Kontakte hab, oder ob ich michtreffe mit dene oder wie auch immer, was die hier machenund ja so allgemeine Fragen.I: Hm. (6) Und Sie haben da in den fünf Jahren haben Sie,haben Sie auch dieselbe Arbeit gemacht, die Sie auch in der

465Firma gemacht haben, war die selbe Arbeit, oder?H.D.: Äh nicht gleich. Na gut, das war auch so ein automa-tisierter Trupp, wir sind viel rumgefahren, was mit Autos jaund ich war praktisch auch Fahrlehrer, hab ich die Jungs, dieSoldaten als Busfahrer ausgebildet.

470I: Hm. Hm. Und zu der Zeit hatten Sie dann schon Familie?H.D.: Ja ja, klar. Geheiratet hab ich gleich nach der Pflichtzeit,Pflichtjahre als ich in der Landwirtschaft wieder gearbeitethab, hab ich schon geheiratet ja. Kinder waren schon beideKinder, hab ich zwei Kinder hab ich gehabt ja. Das war Pflicht,

475hat ich mich verpflichtet das war, war so wie Arbeit weilder Truppental war bei uns im Dorf, wenn grad kein Diensthat dann warst du daheim. Also übernachtet hab ich öftersdaheim.I: A aha.

480H.D.: Das war nicht weit von zuhause, also in einer Stadtpraktisch, das war kein Problem. Bloß natürlich wenn Dienst-reise dann warst du paar Monate nicht da, aber dann bistspäter wieder nach Hause gekommen und daheim übernach-tet, mit Familie hehe. Es war so wie Arbeit ja, mehr oder

485weniger, normale Arbeit.I: Hm… Und woher kam Ihre Frau? Und woher kannten Siesich?H.D.: Äh die Frau hab ich zufällig mal gesehen und dann, diewohnte im gleichen Dorf, in die gleiche Stadt hat sie gelebt.

490Bloß, ich hab gedacht ich kenn jedem aber die hab ich späterentdeckt.I: (lacht) Hm.H.D.: Na hab ich gesehen und dann, ja… unsere beide Fa-milien waren in einer Stadt gelebt, hab ich zufällig getroffen..

495haben wir geheiratet (lacht).I: (lacht) Ihre Frau ist auch Deutsche?H.D.: Ist auchDeutsche ja. Ja gut war auch, es kam auchnie indie Frage irgendwas anders bei zu heiraten oder sowas. Jedervon uns, wir haben uns nicht versteckt das wir Deutsche sind,

Page 76: it - Gesellschaftbilder Und Selbstverst Russlanddeutscher Aussiedler in der Sowjetunion und in Deutschland

66 anhang b Interviews und Gedächtnisprotokolle

500 haben wir auch die Namen nicht geändert und nicht andersvorgestellt oder sowas. Eigentlich von der ganzen Familiehaben wir nur deutsche Namen, alsoI: Hm hm.H.D.: Manche heiraten, dann nehmen extra heiraten Russin,

505 nehmen russische Frau, es gab’s auch sowas. Wir haben auchsolche Leute gekennt dann.. bei uns war das nicht der Fall,bei uns war der Fall dass sehr, haben wir gleich, von Anfangwie gesagt, von der Oma Zeit gesprochen das wir irgendwannausreisen. Und der Vater und die Mutti und so weiter, alle ha-

510 ben gesagt müssen wir in die eigene Schlitten bleiben (lacht).Also kam nicht in die Frage Kasachin oder Russin oder noch ir-gendwas. Also, ganze Familie ist nur deutscher Abstammung.Und alle Verwandte auch… Das war auch irgendwie bei unsim Blut, wir haben auch nicht gesucht zwischen Russin oder

515 sowas. Ja gut, als Junge gab’s Freundinnen oder sowas.. aberzum Heiraten oder sowas, es kam nicht in die Frage. Sag ichauch, alle Verwandte sind deutscher Abstammung.I: Hm… Und, Sie haben gesagt das die Großmutter und El-tern auch ein Stück weit, die hatten so diesen Wunsch nach

520 Deutschland auszureisen. Sie hatten zu der Zeit ja schon Fa-milie und da, so wie ich das heraushöre, n Leben, etabliertirgendwie schon was aufgebaut, und ähH.D.: Und trotzdemI: und trotzdem, ja wie wie, das kann ich noch nicht ganz

525 nachvollziehen. Hat man da nicht Bedenken das man..H.D.: Jaa, ich hab doch gesagt, nach außen merkst dunix, nach außen ja. Dir sagt direkt ins Gesicht nicht oderwenn du in der, in die Verwaltung kommst, sagt dir keiner insGesicht: »Du bist ein scheiß Faschist oder sch ein Deutscher.«

530 Grob, grob, offiziell nicht, hinten rum ja. Und das merkstdu hier, auch hier in Deutschland du merkst, hier sagt ja auchkeiner offiziell ins Gesicht: »Du bist Russ, du kriegt das nichtoder du darfst das nicht«, oder sowas weißt »Du bist ausRussland«, sagt keiner offiziell.. Aber irgendwo hängt das

535 bei jedem. Irgendwie merkst du doch, weißt das äh Abstandirgendwie halten oder.. das die Leute, ich weiß nicht, wennäh zum Beispiel für die Einheimische meiner Meinung nachderTürk der hier geboren ist, ist näher als wir, komischerweise,für die Einheimische hehe. Der hier geboren ist, der spricht

540 deutsch, der ist zu dene näher als wir, die Eingereiste…I: Hm.H.D.: … Das irgendwie, es ist keine Unterdrückung, nein,aber irgendwie merkst du immer das das bleibt, das ist auchimmer da. Du merkst, also in sich merkst du das du, das du

545 nicht vollständig dahergehörst.Wir sind eigentlich schlimmsteHeimatlose. Weil nee, das ist so, weil richtige Heimatlose,weil dort haben wir, haben gesagt: »Hey du bist Faschist, fahrdoch nach Hause! Du bist Deutsche fahr doch nach Hause, ja.Verschwinde!« Und hier fragen sie:»Warum bist du gekommen,

550 du gehörst hier nicht her!« Hehe.I: Hehehe, ja, das ist wohl so.H.D.: Ja. Von Anfang hab ich noch Geschichte erzählt: »Wirsind doch Deutsche, alle Verwandte sind Deutsche und soweiter.« Und jetzt hab ich aufgehört. Bringt nix! (4)

555 I: Hm. Naja, und das war letztendlich Grund genug Haus undalles da zu lassen, Familie zu packen undH.D.: JaI: und herH.D.: Ja

560I: herzukommen.H.D.: Weil dort da war, wir sind, manche sagen: »Oh wirfahren nach Deutschland, da ist besser oder so was«, klar ir-gendwas war da besser in Deutschland, hat man gehört oderso was, ja klar. Aber trotzdem sag ich doch von Omas Zeiten

565noch wir fahren nach Deutschland ( ), das war einfach drin,da hat keiner widersprochen oder sowas. Ich sagte in Russ-land, wir sind noch weggefahren, wahrscheinlich dein Elternauch, in diese Zeit war noch nix, das war alles hundertpro-zentig, war alles okay in Russland. Wenn du gute Arbeitsplat

570Arbeitsplatz hast, war alles okay Hast Auto gehabt, du hastgut verdient, auf dem Tisch war auch alles. Ich war in derArmee, das das war jeden Tag auf den Tisch, Sguschonka (ge-zuckerte Kondensmilch), das hat nicht jeder gehabt, Butter hatnicht jeder auf dem Tisch gehabt letzte Zeit, bei uns war das

575alles, weil wir waren gut versorgt.. Durch die Armee die letztefünf Jahre, früher in der Landwirtschaft Firma, also Fleischoder Lebensmittel so das war, gab’s kein Problem… War beiuns eine riesige Landwirtschaftsfirma, du kannst dort zumEinkaufspreis alles holen. Fleisch oder jeder hat Vieh daheim

580gehabt, brauchst Futter, konntest auch einkaufen da. Alles gutund wie gesagt, die ganze Familie war, überdurchschnittlichgelebt alsoI: Hm.H.D.: Manche haben Häuser, manche haben Wohnung ge-

585habt. Die Schwester hat Haus gehabt, zwei Brüder haben Häu-ser gehabt, ich hab Haus nur gekauft und dann hab ich ihnverkauft, weil da war da ein neues Haus gebaut, haben wirHaus verkauft, haben wir Wohnung genommen. Weil irgend-wie besser war, bequemer für uns, na braucht man auch nicht

590heizen, ist alles da. Also von daher.. keinen Nachteil, ichmeinevon vom Essen oder von der Arbeit her, bloß irgendwie dasinnere Gefühl oder wie das war nicht okayI: Hm, hm.H.D.: Aber nicht gesagt das wir wegen nem Stück Brot oder

595sowas gefahren sind, nein. Nein. Jeder von uns, jede Familiehat Auto gehabt, weil Auto ist wichtiger, hat nicht, nicht sowie hier ist Auto unwichtig, dort war Auto schon wichtig, hatdort nicht jeder gehabt. Wie gesagt..I: Hm. Wo hat Ihre Frau gearbeitet dort?

600H.D.: Die Frau hat in Verwaltung gearbeitet.I: Hm, als Deutsche?H.D.: Ja. Ne sag ich doch, manchmal, gab’s nicht oft, abergab’s.I: Ausnahmefälle.

605H.D.: Ja, in Personalabteilung hat sie gearbeitet in der Ver-waltung. Und das war schon bisschen heheI: Hm. Und was macht sie hier?H.D.: Hier als Buchhalterin… Die hat hier auch als wir kamenhat die auch Sprachkurse gemacht sechs Monate, gut die hat

610auch in die Schule dort Deutsch gelernt. Und daher mehrgesprochen, Deutsch konnte sie mehr als ich. Frauen sindsowieso schlauer.I: (lacht)H.D.: (lacht) Und äh, ja dann hat sie hier Sprachkurse ge-

615macht, dann hat sie auch Umschulung gemacht, als Büro-kauffrau, und dann hat sie die Stelle gefunden in eine Steuer-berater Firma, als Steuerberaterin ist sie, is okay Schon auchseit fünfzehn Jahren. Wie lang, Jahr nach der Umschulunghat sie gleich n Job gefunden, ist auch, die gleiche Stelle…

Page 77: it - Gesellschaftbilder Und Selbstverst Russlanddeutscher Aussiedler in der Sowjetunion und in Deutschland

Interview: Hermann Decker 67

620 Bei den Kindern, als die in Russland, die haben noch kein,sagen wir noch kein Deutsch gesprochen, der Junge sowiesoder war sechs Jahre alt, der kleine, und als wir daher kamen,der hat überhaupt kein Wort gesprochen, der ist gleich aberin Kindergarten un äh, nach paar Tagen hat er angefangen,

625 gab’s kein Problem. Sogar später nach paar Jahre, oder nacheinem Jahr sagen wir, der, wir haben extra in der Familie hierin Deutschland auch so wie wir können so haben wir gespro-chen, Deutsch aber, die Schwiegereltern waren im Haus unddie sprechen Deutsch gut und wir haben im Haus nur deutsch

630 gesprochen prinzipiell das die Kinder besser alles mitkriegenoder mitkommen. Und sagen wir mal nach ein paar Jahre, einzwei Jahre, hat der Kleine schon russische Sprach vergessen.Und dann später wollte er nix mehr hören, von Russland odervon russische Sprache paar Jahre später.

635 I: Wie alt war er damals?H.D.: Sechs. Mit sechs (sind wir) reingekommen. Und sagich nach paar Jahre, und wir haben auch, damals auch, ja bisjetzt auch nit groß mit den Aussiedlern so mit Russen keinKontakt gehabt praktisch, wir waren in dem Dorf sowieso in

640 dem, einzigste Familie. Wir haben keine Möglichkeit russischzu sprechen gehabt. Bloß mit Verwandten wenn man sichtrifft und so. Und damals bin ich gleich arbeiten gegangen,war in der Firma wie gesagt auch alle Einheimische, hab ichnicht russisch gesprochen, nicht viel. Und mit den Kindern

645 wie gesagt daheim dann Deutsch und nach paar Jahre hat erRussisch vergessen, wollt er nix mehr mit Russland zu tun.Jetzt steht er schon, jetzt ist äh, fängt, ja gut sagen wir so nachfünfzehn sechzehn Jahre in Deutschland, hat er angefangenmit russischer Sprache, hat er mal Freundin kennengelernt

650 aus Russland und der sprach russisch mehr und mehr, unddann hat er angefangen, also daheim später hat man natür-lich auch mit der Frau russisch gesprochen, verstehen kanner, er hat angefangen zu verstehen ja wieder, und dann hater auch wieder angefangen zu sprechen. Hm, fangt jetzt an,

655 jetzt spricht er mittlerweile, hört man Akzent natürlich to-tal, komisch, kannst dich totlachen wie von mir wenn ich (dasprech). A jetzt hat er sogar angefangen lesen zu lernen, kanner schon russisch lesen ja. Die Tochter okay, bei der ist andereGeschichte, die ist gekommen, die ist die war in dritte Klasse

660 und, wie lang eigentlich, ein Monat hat sie kein Ton gesagt, istimmer nach Hause gekommen, die ist sowieso ruhig, kein Tongesagt. Nach Monat oder zwei hat sie angefangen Deutschrauszulegen ohne Akzent ohne gar nix.I: Hm.

665 H.D.: Nee is super. Und die hat da Schule und dann hat sieAbitur gemacht mit eins Komma zwei glaub ich zum Schluss.I: Hui.. Die studiert jetzt auch in Frankfurt oder wie ist das?H.D.: Ja, bisschen hinter Frankfurt, ja. Die hat auch Berufs-akademie, Berufsakademie das ist Hochschule ja, hat sie ge-

670 macht.. nee is.. kein.. Sag ich doch sie hat auch super Abiturgemacht, also die is gleich nachgezogen dann und die hat aberauch russische Sprache behalten. Weil die hat noch Freundingehabt in Kasachstan, hat sie noch Briefe geschrieben, hatFreundin dort gelassen, also da war eine Freundin, hat sie mit

675 der Briefe ausgetauscht, hat sie das extra auch gemacht weildas die die Sprache nicht vergisst.I: Hm hm. Die kann auch noch ( )?H.D.: Die kann auch noch sprechen und schreiben kann sierussisch ja, nix verloren gegangen. Aber Sohn wie gesagt nach

680paar Jahre hier konnte überhaupt nicht, null. Wenn wir nur,zuhause wenn du was sprichst dann versteht er’s ja, aberhast von dem kein Wort auf russisch gehört. Bis er seineFreundin irgendwo getroffen hat und dann hat er angefangenzu sprechen, n bisschen jetzt spricht er mittlerweile, kann

685sogar lesen wie gesagt.I: … Und Sie hatten in dieser schrecklichen Wohnung in Rülz-heim gelebt und dann sind Sie gleich hierher gezogen, oderwie war das?H.D.: Dann hab ich doch da hier in Speyer Arbeit gekriegt

690und dann hab ich mich umgeguckt nach der Wohnung, habeneine Wohnung gemietet hier in Speyer dann, und dann sindwir von der Wohnung.. Das war, deswegen sag ich doch, habich gesagt das gut, mir gefällt das wir so angefangen haben.Manche kommen rein und äh, kenn ich viel Familien, die neh-

695men gleich superWohnung, rechnen damit gar nicht, nicht auswas das kostet und so weiter.. und dann können sie die Woh-nung nicht behalten weil es im Endeffekt zu teuer ist, fangenan irgendwo zu arbeiten, kriegen nicht so viel Geld wie dievorstellen und dann wird die Wohnung zu teuer, dann geben

700sie die Wohnung auf und gehen sie in eine schlechteste Woh-nung rein und dann fangen sie an zu mosern, dann kommtUnzufriedenheit. Wenn du von Schönem weg absteigst, wasverlierst und das ist nicht gut, bei uns es war umgekehrt, wirsind in Deutschland praktischso langsam langsam hochgestie-

705gen, ganz schlechte Wohnung so wie gesagt waren Rattenrumgelaufen im Haus. Das war (ekliges) Haus ja klar, aberdas haben wir alles erlebt. Und äh, dann sind wir, haben wireine andere Wohnung genommen, schon etwas besseres, soSozialbau aber trotzdem, war schon, die Wohnung war okay

710Und danach, da waren Nachbarn n bisschen komisch und habich gesagt: »Nee auf die Dauer geht das so nicht, weil«, eswar für mich sowieso langweilig, als Handwerker nach Hausezu kommen und nix machen und in Dreizimmerwohnung zusitzen, das kann nicht jeder aushalten, das muss man noch

715können.I: (lacht) Hm.H.D.: Und deswegen haben wir was gesucht.. Äh, dann habich, haben wir hier angefangen zu bauen. Hab ich damalsschon, ich habe gleich eigentlich ganz von Anfang an erst mal

720schwarz gearbeitet n bisschen, dann hab ich noch gleich Ne-benjob gemacht, also vor einem Jahr hab ich aufgehört, sonstbis jetzt hab ich kein, praktisch keine Wochenende gehabt.Seit wir in Deutschland sind hab ich noch kein Wochenendegehabt weil ich hab noch Nebenjob gehabt ja, jedes Wochen-

725ende, also fünf Tag in dem Betrieb und ein zwei Tage nochoder nachts wo anders, als Schlosser, Autoschlosser.. Ja gut,das hat auch viel geholfen, deswegen können wir uns dasleisten.I: Hm… Und Sie arbeiten jetzt aber noch in dem äh

730H.D.: Ja, ich hab bloß den Nebenjob aufgegeben. Nee weil dieTochter gebaut hat und ich hab das, beides ziehen wir nichtdurch, das geht nicht. Am Wochenende musst du hinfahren,Tochter was helfen, willst du auch, und deswegen hab ichNebenjob aufgegeben.

735I: Hm hm. (8) Ja.. Wenn Sie sich nochmal an Kasachstanzurückerinnern und an die Gesellschaft dort ähm denken undsich das nochmal so vor Augen malen, was kommt Ihnen dafür n Bild in den Kopf, was war den Menschen wichtig, wasgalt es zu erreichen, was könnten Sie sagen, was sozusagen

Page 78: it - Gesellschaftbilder Und Selbstverst Russlanddeutscher Aussiedler in der Sowjetunion und in Deutschland

68 anhang b Interviews und Gedächtnisprotokolle

740 erstrebenswert war?H.D.: (5) Weiß nicht was, was da erstrebenswert… was (je-mand wie) einfach Leben war da leichter, irgendwie,einfacher,nicht leichter sondern einfacher… Was als wir herkamen, dasmit den Terminen und so weiter ja, wenn du jetzt jemanden

745 besuchen willst, du rufst erstmal an oder machst ein Terminvorher aus. Das hat man dort nicht gekannt, bist einfach hin-gegangen egal wann du willst, (gehst) zu den Nachbarn odergehst zur Verwandtschaft und äh was noch mehr war, warauch Freundschaft enger dort, weil dort sind die Leute mehr

750 angewiesen auf die Hilfe von einem anderen. Nicht unbedingtdas ist Geld. Das Geld hat zwar Rolle gespielt, aber nicht sogroße. Dort war wichtiger was für ein Job hast du, wie kannstdu dem anderen helfen oder wie auch immer ( ). Und wiegesagt, Zusammenhalt war da besser.. weil in Geschäfte ich

755 sagte, zum Beispiel letzte Zeit Butter oder sowas ja, kriegstdu nicht so einfach, gehst hin und kaufst, wenn du Geld hast.Da kann sein das du Geld hast, wenn du keine Bekannte hast,dann kaufst du nix hehe, oder nicht das was du willst.I: Hm.

760 H.D.: Hast du aber trotzdem alles gehabt, weil du hast Be-kannte gehabt irgendwo und der.. du hast Bekannte zum Bei-spiel in dem einen Geschäft, in einem Lebensmittelgeschäftund der Andere hat Bekanntschaft in dem Klamottengeschäftund dann hat man einander geholfen. Oder wie zum Beispiel

765 wenn du daheimwas machst, beim Bau oder sowas, da kommtdie ganze Verwandtschaft und die Nachbarn und so weiter,was hier seltener ist. Und auch wir als, als dort jetzt her, dieAussiedler.. wer reinkommt.. der ist noch so hilfsbereit und soweiter, mehr, wenn die Leute schon länger hier in Deutsch-

770 land leben, dann ändern sich auch.I: Hm. Hm.H.D.: Du machst dich irgendwie geschlossener und dannguckst du bloß das du deine Familie versorgst, weißt du..Schon jemandem zu helfen oder so, dem Bruder oder sowas,

775 machst du’s, erste machst du aber nicht unbedingt so freiwilligwie dort oder so viel wie dort. Du bist irgendwie mehr… ichweiß nicht, geschlossen oder wie gesagt.. weiß nicht. Aber esändert, Menschen ändern sich hier in Deutschland, weil dukannst die Leute nicht vergleichen die rein rübergekommen

780 sind, erste paar Jahre sind sie total freundlich und noch lustigund so weiter und dann später irgendwie, schließen sie sichzu oder ich weiß nicht.I: Hm… Haben Sie eine Idee womit das zusammenhängt?H.D.: Hmm, das weiß ich nicht. Ich sag doch deswegen, mein

785 ich, weil die Leute sind hier nicht angewiesen auf die Hilfevon den Anderen.. Mein ich mal so. Weil dort musst du je-mandem helfen, wenn du willst das jemand dir hilft. Hiermuss das nicht unbedingt sein, wenn du n Job hast, verdienstGeld, du kannst alles kaufen, kannst Handwerker Betrieb be-

790 stellen, die machen dir alles und so weiter, wenn du Geld hastdann brauchst praktisch keine Freundschaft, wenn du so sa-gen willst. Dort geht es nicht, du bist aufeinander angewiesen.Oder warst ja, mehr oder weniger… Und deswegen war daeinfacher, offener sag ich ähh was ich, was mir zum Kotzen

795 war hier zum (erste mal) äh wenn dort, wenn du immer miteinem befreundet bist, dann bist du befreundet, weißt. Duschwätzt nicht hinne rum über dem Mann und so weiter, esist einfach dein Freund, du nimmst ihn so wie es ist, allesoffen, wenn was nicht gefällt, sagst einfach offen. Hier ist es

800nicht, hier pappelt jeder hinne rum, wenn der Mann nicht daist, dann ist er schuld weil wenn es was passiert ist. Das hatmich erschreckt. Ich hab gedacht, ach Gott in Russland äh inKasachstan da machen bloß die Frauen, weißt so ( ) undpappeln

805I: (lacht)H.D.: Hier machen auch die Männer das. Das war erschre-ckend, (ein bisschen) und so, das gefällt mir hier nicht. Sag ichimmer: »Wenn du was sagst, wenn du was hast, sag’s mir insGesicht, kann man darüber reden.«

810I: Haben Sie auf der Arbeit so erlebt oder was?H.D.: Jaa ständig. Ständig ja ja. Inzwischen bin ich da totalin dam Betrieb drin, also kenn ich jeden und jedes Eck und soweiter und das gefällt mir bis jetzt nicht das die Leute hinnerum, mehr sagen wie ins Gesicht.

815I: Hm. Ja. (6) Hm.. Wer, wenn Sie, nochmal so ne Gesellschafts-frage hehe, wer war in Anführungszeichen Gewinner und werwaren die Verlierer in der Gesellschaft da in Ihrer Umgebungin Kasachstan wo Sie aufgewachsen sind, also sprich, wer warvielleicht von vornherein ähm besser gestellt und jemand von

820vornherein schlechter gestellt?H.D.: …Äh von vornherein pff kann man so nicht sagen,also die, was mich gewundert hat die Kasachen im eigenenLand waren unterdrückt en bisschen. Weil die hat man für nbisschen zurück.. geblieben gehalten ja, man sagt die Kasachen

825die haben bloß, können bloß mit Vieh sich umgehen und soweiter und deswegen, von vornheraus zurückgestellt wennzum Beispiel einen anstellst zur Arbeit und dann musst dugucken schon äh wer für was. Zum Beispiel wenn wirklichirgendwo in der Landwirtschaft Firma mit Vieh umgehen

830da waren die Kasachen.. besser. Technik null, da waren dieDeutsche wieder… Russen dazwischen.. ja.I: Hm. Und von wo kam das äh oder wer sagte das die Kasa-chenH.D.: Das war einfach so (lacht). Das war, du kannst in jeden

835Kolchos in Deutschland, fast in jeden erleben das der Direktorwar Kasach, sein Vertreter war Russ – wie normal ja – in dieTechnik war in die Garage wo Autos und Traktoren, war Me-chaniker da war so ein Job, das war ein Deutscher und äh beidem Vieh waren Kasachen, das war so. Also meistens. Gab

840es auch natürlich alles, gab es auch Deutsche als Viehtreiber.Auch gut, ja. Aber hauptsächlich sag ich, größtenteils war dasso.I: Hm. (4)H.D.: Wenn zu dir ein Kasach kommt und sagt der will ein

845Fahrer oder Traktorfahrer sein oder arbeiten, guckst schonkomisch.I: Hm. (6) Die wollten auch nicht, oder?H.D.: Hmm ja gut, manche wollten schon aber, ich weißes nicht warum, aber es ist bei jedem Volk wahrscheinlich

850seine Begabung eigentlich. Also gab’s natürlich auchKasachenFahrer, gab’s natürlich Traktorfahrer aber im größten Teil so(6) Ich sag nur (dir) wenn du, wenn die sich sich bewerbst undda steht ein Kasach zum Beispiel, du wählst als Mechanikerein Kasach und ein Deutscher, der (hät) den dann Deutschen

855genommen, weil es doch geschickter in dem Fall war. Sag ichdoch, es kommt drauf an für was, was für Arbeit du oder wasfür Richtung und so weiter hast.I: Ja. Aber keine generell ne Gruppe wo man sagt das ist, dieschaffen’s nie oder andere, da ist von vornherein klar ähm die

Page 79: it - Gesellschaftbilder Und Selbstverst Russlanddeutscher Aussiedler in der Sowjetunion und in Deutschland

Interviewprotokoll: Elvira Claus 69

860 werden n super Job haben und was auch immer, Ansehen?H.D.: Nee… nee kein großer.. Hab ich zumi, könnt ich nichtsagen das bestimmte Gruppen werden unterdrückt, nee. Sagich doch, in die bestimmte Richtung, aber, bestimmte Richtungja sag ich doch, wenn du als Deutscher, als Mechaniker Arbeit

865 finden willst dann findest du und dich stellen schneller ein alsKasachen, technische Sachen weißt. Es war einfach so das dieirgendwie.. Nach der Erfahrung her mein ich.I: Ja.H.D.: Offiziell natürlich war keine Unterdrückung oder Ver-

870 teilung oder sowas, nee. Aber in Kasachstan zum Beispiel inder Verwaltung.. war immer erste Kasach weil das Kasachstanist, in die Partei zum Beispiel ja, erste Kasach, sein VertreterRuss.. Das war so ein wie Muss. Und sonst keine nationaleTrennung oder so sowas ( ).

875 I: Der erste war Kasache und der zweite war Russe aber, werhatte mehr zu sagen?H.D.: Äh wer hatte mehr zu sagen. Ei gut in der allgemeinso Verwaltung Kasach. Ja gut sagen wir alles wurde gesteuertdamals noch von die Partei und die Partei war Zentrale in

880 Moskau, die Russen haben schon mehr was zu sagen.I: Ja. Ja.H.D.: Deswegen war doch in Kasachstan Aufstand und soweiter gegen Russland. Das war eigentlich in jede Republik ja,dann als wir wegfuhren war in Usbekistan was, Unruhe, des-

885 wegen ja.. weil die Russen haben doch Macht überall gehabt,deswegen war auch überall russische Sprache, war kasachi-sche Sprache aber keine offizielle. In Kasachstan, kasachischeSprache, wir haben bloß in der Schule zwei mal in der Wo-che auch so wie Deutsch, war bei uns zwei mal Kasachisch,

890 zwei mal in die Woche zwei Stunden Deutsch zwei StundenKasachisch. Alles anders auf russisch, war offizielle SpracheRussisch…I: Ja… Und war das ähm den Menschen in Kasachstan, in derSowjetunion, war es denen wichtig irgendwie politisch, sozial,

895 gesellschaftlich aktiv zu sein?H.D.: .. Ähh, sagen wir, wenn du in der Partei bist, bist duvorgezogen. Ja, wenn du in die kommunistische Partei warst,hast schon Vorteile, klar, unoffizielle. Aber Vorteile hast du.Deswegen sind viel Kasachen, viel Russen auch in die Partei

900 gegangen, extra das die, wenn was, wenn irgendwo sagen wiräh was angestellt haben wird immer Auge zugedrückt bei derPolizei oder überall wenn du in der Partei bist. Vorteile hastdu gehabt, unoffizielle. Bloß von den Deutschen von uns warganz selten war jemand

905 I: Weil?H.D.: Weiß ich nicht. Weil, es war lächerlich hehe, also nachmeiner Sicht. Das war weil, zwischen normale Volk, so untermVolk hat auch geheißen, wenn du in die Partei bist, bist extrareingegangen das du bloß Vorteile kassierst oder so. Weißt

910 du, aus Überzeugung kannst vergessen, die Überzeugung warnicht mehr, das war vielleicht in dreißiger Jahre oder vor’mKrieg.I: Hm… In den sechziger Jahre war niemand mehr überzeugt?H.D.: Ja gut, in den sechziger Jahren kann ich nicht beurteilen,

915 ich bin erst geboren zwischen fünfzich und sechziger Jahre.I: Ja, dann waren siebziger Jahre wahrscheinlich ihre Zeit so.H.D.: Nee, von Überzeugung nee, keine Spur. Das die Parteiokay ist, das die alles richtig macht, nein. Das war schoneigentlich Gewohnheit, das war so, aber überzeugt das die

920Partei richtig ist und gab’s nix besseres.. das war schon rumin der Zeit…I: Und hat man das auchmal geäußert, hat man sich irgendwiegewährt?H.D.: Nee, natürlich nicht, nee nee. Auf keinen Fall, so laut

925sowas aussprechen, hast nicht gemacht, hat auch keiner ge-macht. So zwischen Freunde und sowat oder so… Ich warsogar in die Pflicht, wenn ich die zwei Jahre Dienst Pflichtgemacht hab, wir wurden mal eingesperrt (lacht) von Chef,ja was heißt eingesperrt, im Zimmer eingeschlossen zwölf

930Mann, wir waren so Führungsteam sozusagen ein bisschen,und hat er gesagt: »Ich geh raus, ich komm zurück und sindzwölf Bewerbungen da in die Partei.« Das war modern das inder Armee viele eingetreten sind in die Partei ja. Der wurdegelobt, der hat so viel Leute beworben ( ). Und dann hat

935er uns eingesperrt da, wir saßen zwei drei Stunden, ich weißnicht, ist er zurückgekommen waren bloß zwei Bewerbungen.I: Hm. Und dann hatten die die sich nicht beworben hatten nNachteil?H.D.: Nee, nee nee. Damals nicht, nein. (5) Nee, sag ich doch,

940deswegen sag ich, von Überzeugung her, ich war da, zwischendene zwölf war ich ein Deutscher, alle anderen waren Russen,Ukrainer und trotzdem ist keiner, hat keiner nachgegeben. Sagich doch, für was⁈ (jagt mit der Fliegenklatsche eine Fliege,die um uns herumfliegt)

945I: Hm… Naja, dann danke ich für das Gespräch, wenn Siekeine Ergänzungen mehr haben, dann.

B.3 Interviewprotokoll: Elvira Claus

Pünktlich um 10:30 Uhr klingel ich an Frau C’s Tür. Ihr Mannöffnet sie. Frau C. führt mich in das geräumige Wohnzimmer,wo wir an einem Tisch Platz nehmen. Ich erkundige mich nachihrer Gesundheit (aus den vorausgegangenen Telefongesprä-chen weiß ich, dass sie krankgeschrieben ist und beim Arztwar), kommentiere die schöne Umgebung, in der die Familewohnt … Frau C. geht nicht darauf ein; mir scheint, sie möchtesofort mit dem Gespräch beginnen und ich frage sie, ob wiranfangen sollen. Dem stimmt sie ohne weiteres zu.

Abgesehen von ihrem dauerhaft angeschlagenem Gesund-heitszustand (Lungenleiden) scheint sie in guter physischerwie psychischer Verfassung zu sein.

Zu Beginn des Gesprächs ist ihr Blick meistens RichtungFenster gerichtet, während ich den Augenkontakt zu ihr suche.Später erwidert sie diesen häufiger.

Während des Gesprächs werden wir mehrmals durch da-zukommende Personen (Herr C. und eine Verwandte) gestört.Frau C. geht immer kurz auf sie ein. Zu den letzten etwa zehnMinuten des Gesprächs kommt Herr C. in das Wohnzimmer(vorher war er im Schlafzimmer) und schaltet den Fernseheran. Ich empfinde das als sehr störend und auch als Hinweis,das Gespräch bald zu beenden. Als ich das Tonaufnahmegerätausschalte, bietet mir Frau C. ein Glas Wasser an und bittetihren Mann, dies zu holen. Dann fragt sie mich nach meinemStudium und nach meiner Familie. Wir unterhalten uns nochetwa 15 Minuten bis mich Frau C. schließlich zur Tür begleitet.

Page 80: it - Gesellschaftbilder Und Selbstverst Russlanddeutscher Aussiedler in der Sowjetunion und in Deutschland

70 anhang b Interviews und Gedächtnisprotokolle

B.4 Interview: Elvira Claus

I: Also wie schon angesprochen interessiert mich Ihre Lebens-geschichte, also wie das Leben für Sie so war in der Sowjet-union und hier in Deutschland war und heute ist. Und ähm,Ihre ganze Lebensgeschichte also, alles was Ihnen einfällt, was

5 interessant ist, was Ihnen wichtig ist, das ist dann auch fürmich interessant. Und ich möcht Sie bitten einfach zu erzählenund ich werd sie nicht unterbrechen erstmal, sondern erzäh-len lassen und Ihnen zuhören und wenn ich ne Frage habe,dann werd ich die notieren hier und werd sie dann am Ende

10 stellen, nachdem Sie fertig erzählt haben, fertig sind mit IhrerGeschichte.E. C.: Achso ich dachte Sie stellen Fragen, ja gut, ja was sollich denn anfangen, wie was wann?I: Wie Sie meinen, das ist völlig Ihnen überlassen und, Ihre

15 Lebensgeschichte eben zu erzählen und, am EndeE. C.: Ja was äh, geboren bin ich in Sibirien und.. weil un-sere Großeltern und Eltern ja vor dem Krieg aus äh, aus derUkraine von Saratow-Gebiet ausgewiesen wurden äh nachSibirien, weil der Krieg angefangen hat und weil sie Deutsche

20 waren und wurden die nach Sibirien, wie sagt man das denn,nicht umgesiedelt sondern verwiesen oder wie weiß ich nicht.I: HmE. C.: Ja, und da sind wir auch geboren, einundfünfzig binich geboren und, damals war das in Russland nach dem Krieg,

25 die Deutschen die durften ja überhaupt nirgendwohin, ähich meine die wohnten da im Dorf da so in diesem Gebiet,die durften nit auswandern oder in anderes Gebiet fahren sound dann sechsundfünfzig war ja dieses Gesetz. Gesetz vom,ich weiß nicht von, wer war da damals da, keine Ahnung,

30 weiß ich nicht, wusst ich aber jetzt, die haben ja das Gesetzneunzehn hundert sechsundfünfzig, das jetzt die Deutschenauch die jetzt alle aus ihrem Gebiet verwiesen wurden wegenKrieges, konnten jetzt auch frei, ja, da auswandern oder sichneues Wohngebiet suchen und so.

35 I: HmE. C.: und dann, wir haben auch ne bekannte Frau gehabt,die war nit verwandt sondern bekannt, die wohnte auch indiesem Dorf und die hat n Bruder gehabt, zwei Brüder oderdrei sogar, und die waren schon äh.. nit vor dem Krieg noch

40 früher, das war, das war wahrscheinlich so in den zwanzigerJahren em haben die, das war ja auch äh, das hat ja auch fürdie Russen gegolten und für Deutsche die em etwas besser äh,ich meine reicher waren als die andere oder wie man sagt ja.I: Hm

45 E. C.: Die waren ja, die haben die, ich weiß nicht wie das aufDeutsch, ausgewiesen, ja raskulatschiwali, ausgewiesen zumBeispiel: »Ah du bist, du hast das, du bist reich und du so undso!« Und da haben die, diese Leute haben die in so Gebietegeschickt, da ähm.. also da wo noch quasi nix war, ja. Und die

50 kamen, ich weiß nicht, die wohnten auch wahrscheinlich dairgendwo Ukraine oder Saratow und dann wurden die nachMittelasien, Tadschikistan, und das äh haben die gewohnt.Aber die durften da ja auch nirgendwohin, da haben die auch,und da hat die immer gesagt äh immer erzählt, die haben

55 sich dann em geschrieben einander und »ja, wenn das malgeht, wenn sie das mal erlauben nach dem Krieg, das wirzusammen, dann kommt her nach Tadschikistan, hier ist sowarm, hier ist so schön« und so. Und dann hat die gesagt, die

Frau: »Ja wollt ihr da (dann) sind wir alle zusammen.« Äh wir60haben zwar kein Vater gehabt, meine Mutter, die waren drei

Kinder und äh Oma Opa und ne Tante und meine Mutter diewar auch im Arbeitslager während des Krieges, sie hat äh, vordem Krieg war die, hat die äh – ich war ja zwei Jahre – hatdie schon Ausbildung äh als Krankenschwester gemacht und

65dann fing der Krieg an und dann musste sie in Arbeitslager.I: HmE. C.: Und das war auch in Sibirien und da mussten die..äh die Bäume fällen. So im Schnee vierzich Grad, fünfzichGrad. Und meine Tante die war auch, meine Tante die hat,

70die war Lehrerin, etwas älter wie meine Mutter und die hatdas schon vor dem Krieg geschafft das die jetzt hät den Ab-schluss gemacht hat, die war Lehrerin, aber die war auch imArbeitslager, und die war irgendwo in… in Kasachstan.. wosie Kohle abgebaut haben. Ja und jetzt nach dem Krieg wa-

75ren ja alle zusammen wieder, jetzt in Sibirien da wo meineGroßeltern waren und dann sind wir dann alle nach Tadschi-kistan ausgewandert und ich war damals sieben Jahre. Daswar, weiß ich noch, im März Monat und da kamen wir an undda war tatsächlich so sehr warm. Da haben wir uns, da hat

80Opa ein kleines Häuschen gekauft und, ja klar war das schönäh Weintrauben und Pfirsiche so richtig richtig große und warschön. Aber heiß. Und da sind wir da zu diesen Leuten, daswaren auch Plattdeutsche auch wie wir, aber wir waren ineine Kolchose und da waren nur Hochdeutsche, da waren ein

85oder zwei Familien nur Russen, anders waren alle Deutsche.I: AhaE. C.: Und, ja und so sind wir da umgezogen von Sibirienda nach Tadschikistan. Ja meine Mutter hat gearbeitet in eineKolchose auch in eine, so ne in Garten oder wie haben die da

90Garten gepflegt und Bäume und das Obst gepflückt und daso. Meine Tante war nit lange bei uns, dann is sie in einenanderen Ort gefahren und, weil die hat ja auch gelernt und hatsich dann da.. wie hieß das früher in einem Kontor gearbeitetwie ne Buchhalterin und (atmet ein und aus). Ja, wir waren

95dann zehn Jahre in Tadschikistan, zehn Jahre sind wir zurSchule gegangen da, ja, war schön. Äh ja, das einzige war daswir, als Kinder das war damals so, im September den erstenhaben wir angefangen zu lernen und bis Ende September unddann sind wir äh mussten wir Baumwolle rupfen, da wuchs

100ja Baumwolle, und dann sind wir dann Ende September unddann Oktober November, ja bis Ende November haben wirda, mussten wir, aber uns wurde das auch so bezahlt, genausowie den Erwachsenen, und wir haben uns damit immer ver-dient Geld für, für Schulkleider da für alles Mögliche. Ja, und

105dann sind unsere Großeltern gestorben und dann, und dannmeine Mutter, die hat n Bruder gehabt, der ist mit uns nachTadschikistan ausgewandert, der ist n paar Monate später, ha-ben die dann auch mit äh, mit äh Verwandten da, Bekannten,ist auch einer gefahren auch nach Kirgisien, hat auch die Ge-

110gend angeschaut so und ihm hat das da auch sehr gefallenund sind die auch mit zehn zwanzich oder wieviel da Fami-lien sind die ausgewandert nach Kirgisien und dann ist mein,mein Onkel da nach Kirgisien. Und dann als die Großelterngestorben waren dann, ja meine Mutter war ja allein mit uns

115und äh ich hab auch zehn Jahre, hab ich zehn Klassen ge ge-schafft gelernt und gemacht. Und meine Schwester die ältestedie hat in Duschanbe hat die dann, hat die dann ein Berufgemacht als technische Zeichnerin, so was. Und dann sind wir,

Page 81: it - Gesellschaftbilder Und Selbstverst Russlanddeutscher Aussiedler in der Sowjetunion und in Deutschland

Interview: Elvira Claus 71

hat äh (Ehemann kommt rein) »Alex was rennst du rum?«120 »(Was soll ich denn jetzt machen?)« und dann sind wir »Alex

nu geh doch weg, was willst du? Guckst mich an (aber) duweißt diese Geschichte!« »Dann geh ich ins Schlafzimmer«»Okay, ins Schlafzimmer.« Dann sind wir, ist der Onkel danngekommen aus Kirgisien, hat uns ähm.. hat uns abgeholt dann,

125 mit der ganzen Familie und äh, das war… achtundfünfzichsind wir dahin und sind, das war achtundsechzich sind wiraus Tadschikistan nach Kirgisien umgewandert dann wieder,umgezogen, das war schon umgezogen dann.I: Hm

130 E. C.: Ja. Ist meine Mutter dann wieder zur Arbeit gegangen.Ich bin dann auch, ich war dann siebzehn, dann bin ich auchzur Arbeit gegangen, ich wollte nit mehr, hab ich nix gemachtso mit Schule und Lernen. Mir kam das »wei fremde Stadt,alles so ganz anders wie in Tadschikistan und so« und dann,

135 wir haben da ne große Fabrik gehabt und dann sind wir mitmeinem Onkel dahin und dann hat er mich da, ich, wie sagtman, vorgestellt und so und dann bin ich dann da gelandet inder Fabrik da, aber da war schön, das waren sehr viele jungeMädels auch, dann haben wir, ein halbes Jahr mussten wir

140 da, wie man sagt, haben uns alles da beigebracht, jeden Näh-maschine, das war Fabrik wo sie Sportanzüge genäht habenund Verschiedenes und.. ja da hab ich dann gearbeitet, dannhab ich geheiratet, naja wie, neunzehn hundert siebzich…und, ja da so lebten wir auch in Kirgisien, die ganze Jahre bis

145 neunundachtzich. Jahr neunundachtzich dann sind wir nachDeutschland umgezogen, gewandert, umgezogen, ah habenwir vorher auch gar nit, gar nit gewusst und gewollt das wir,wir haben überhaupt keine Rede gehabt, ja gut wir wusstendas die, das mehrere fahren und von meinem Mann die Tante

150 die war schon auch, zehn Jahre war die schon damals hier, ichweiß nicht von den ersten ist die hierhin gekommen, aber unskam das so unendlich weit und überhaupt wir haben gar nit,Deutschland das kam uns so weit so..I: Hm

155 E. C.: und dann war alles Überraschung, schnell schnellschnell, dann sind alle gefahren und wir mit (lacht).. Jetztsind wir schon zwanzich Jahre hier… Gut, haben wir Glückgehabt das wir alle beide Arbeit haben, bis jetzt noch. Und,auch gute Arbeit… (räuspert sich) Bis jetzt das ging jetzt noch

160 alles, die zwanzich Jahre wer weiß. Ich hab noch jetzt zweiJahre muss ich noch n bisschen weniger und dann bin ichfertich mit dem Schaffen (lacht).I: Hm. (8) Wie war das da mit der Entscheidung em nachDeutschland zu fahren und wie war das dann als Sie dann

165 hier angekommen sind?E. C.: Ja, ich sag ja, wir haben uns gar nit wie, haben niegedacht das wir überhaupt mal nach Deutschland kommen,weil früher war das auch so, wir haben ja überhaupt gar keineInformation gehabt überhaupt, wir wussten ja überhaupt nit

170 wie das, wurde ja nirgendwo geschrieben, nirgendwo geschil-dert wie was wann, wir wussten überhaupt gar nix. Ja gut dieTante die hat da, meine Schwiegermutter hat die da Briefe ge-schrieben aber das war ja alles so geheim, ja gut und da, da istgut, aber das war für uns so unendliche Weite, wer weiß. Und

175 haben wir dann auf einmal, sind alle nach und nach und nachsind alle weg und dann auf einmal (Frau kommt ins Haus)»Hallo Lena« (spricht kurz auf Russisch mit ihr). Ja und dannja alle, alle, auf einmal war das so, das war überhaupt uns

sehr so’n richtig äh ich meine für uns und für mich und für180meinen Mann und so, das war richtich schlimm, auf einmal

alle nacheinander da wie immer so eine, äh ich meine meinMann hat viele Cousens und Cousinen und so und wir warenimmer so alle eng zusammen und die Freunde und so, undauf einmal waren so nach der kurzen Zeit, einer nach dem an-

185deren weg, ja.Oh dann haben wir uns so, weißt du das warein so, so ein Gefühl wie, wie jetzt sind all, wie, das wardas war tatsächlich schlimm. Ja und dann waren meinemMann seine Eltern ein halbes Jahr weg und dann haben dieuns auch ein Visum gemacht, der kam auch schnell und dann

190ah und dann das Haus, wir haben so ein schönes Haus gehabtund so, verkaufen und (wieviel haben) und dann stand manda mit Geld und dacht: »Wie das ist jetzt alles? Haben wirgeschafft und gearbeitet und gemacht und so und jetzt habenwir« wir haben das gar nit so kapiert, weißt du das war so

195schlimm für uns,wie? Und wir wussten ja überhaupt auch nitwie das da jetzt in Deutschland sein wird, ja und wir habennur gedacht: »Ach naja, wir sind noch, ja gut, wir sind nochjung und wir müssen ja noch arbeiten« und wir haben uns garnit auch vorgestellt damals das hier doch auch schwer mit der

200Arbeit oder so, weil in Russland war in der Zeit ja noch genugArbeit und so, das haben wir, das war für die Menschen soeine Beruhigung ja, das, die Arbeit, war waren, wir haben sone Stadt gehabt, oi wieviel waren da ( ) tausend, musst meinenMann fragen der weiß das ja, und äh, hat jeder Arbeit gehabt,

205da waren so viel Fabriken und für Frauen und äh Nähfabriken,Oberbekleidung, da war Fabriken wo sie Bettwäsche genähthaben, wo sie Kleider genäht haben, wo sie Schuhfabriken wosie Schuh, also Arbeit hat jeder gehabt.I: Hm hm.

210E. C.: Und deswegen waren die Leute auch so, ich meine soausgeglichen und ruhig und äh, da hat jeder hat gearbeitet, hatGeld verdient, konnte sich kaufenwas er wollte.Wenn jemand(will, sagte) wir haben Haus gebaut, haben Haus gehabt undauch bisschen im Garten angebaut, also war alles gut, war

215richtich schön.I: Hm hm.E. C.: Und das alles dann auf einmal: »Wie, warum fahrendie denn alle, wie!« Das war, das war für uns war das schwerzum Beispiel, ich weiß nit. Ja und dann hier, ja hier haben wir

220uns gefühlt wie vom Himmel gefallen, das stimmt. Und wirhaben ja auch noch äh.. wir dachten, wir kennen ja Deutsche,ist doch kein Problem, ja aber anscheinend war das nit so, dasdie Sprache vor zweihundert Jahre von unsere Großeltern wiedie umgesiedelt sind, die sind ja auch freiwillig von Deutsch-

225land nach Russland umgesiedelt, als der, der Peter der Zar derhat ja mit dem deutschen Kaiser hat er so verabgemacht, ja,weißt ja die GeschichteI: Ja, jaE. C.: und das sind ja unsere Urgroßeltern gewesen.. Ja und

230dann sind wir zurück, ja war, klar hier war alles aber wir ha-ben uns schrecklich schrecklich fremd gefühlt, obwohl, ichweiß nit, wir haben ja auch mit deinen Eltern haben wirSprachkurs gemacht und wir haben so eine schöne Lehreringehabt, schöne (lacht), gute. Und die war ja auch zu uns, die

235hat uns alles so beigebracht und erklärt, klar war das, daswar, ich sag immer zu meinem Mann: »Wenn wir es da ge-wusst hätten, ähm wäre die Hälfte Russlandsdeutsche nit nachDeutschland gekommen.«

Page 82: it - Gesellschaftbilder Und Selbstverst Russlanddeutscher Aussiedler in der Sowjetunion und in Deutschland

72 anhang b Interviews und Gedächtnisprotokolle

I: Hm240 E. C.: Wegen, ich meine wegen diese ähm.. diese, überhaupt

Umstellung und diese seelische alles, weißt du, wir habenhier auch, wir wurden versorgt ja im Lager da.. und äh wirhaben auch zu Essen gehabt und alles das Notwendigste. Aberdas alles, ja wie, ohne alles, ohne Wohnung, ohne alles

245 standen wir da und uäh, und das ist noch gut das wir soviele Verwandte gehabt haben, die haben uns alle geholfenda, und Wohnung zu suchen und in der Zeit war so schwer,neunundachtzich, weil so viel umgesiedelt sind und, aber. Ja,war(sch) mir klar, ich meine, diese ganze Umstellung und

250 ganze, anderes Land und andres, klar ist das schwer. Das istäh, das war ja auch selbstverständlich nur das wir nix gewussthaben. Anscheinend war das (oft) so.I: (lacht) Hm.E. C.: .. Das war ich meine für jeden, obwohl jeder war ir-

255 gendwie anders geprägt oder wie man sagt ja, aber klar.. Jaund so jetzt sind, ja, haben Haus gebaut und jetzt denken wirdas musste so sein und sind auch, ich meine.. froh darüber,weil das hat sich in Russland auch alles geändert und ist auchda sehr schwer. Gestern ist mein Cousen, von meinem Mann

260 der Cousen gekommen, der war da eine Woche zu Besuch, hatäh, die haben da noch n Freund gehabt n russischen, der istgestorben und wie der das jetzt erzählt das die Leute da sosch, so wohnen so.. Haben gestern Fotos angeguckt, ganz äh,die sind em.. die sind so arm und ohne jede Hoffnung und

265 äh das ganze überhaupt System und wer irgendwas äh, jederwie wer etwas Geld verdienen und die ganze Fabriken undalles die die da gehabt haben. Jetzt ist nix im Betrieb mehr ja,jetzt steht alles still und die Leute die, jeder muss dat wissenwie er zurecht kommt, ohne Arbeit ohne, das eigentlich sehr

270 schlimm! Ich dacht, ich wusste das das schlimm, aber das dasso schlimm ist..I: HmE. C.: Ja klar dann, wir sind wir sind auch so froh das wirhier sind und so aber, weil das war ja so wie zwei Welten, als

275 wir noch weg sind war noch alles gut da und, und war überallOrdnung, und jetzt.. jah (9)I: Sie sind ja jetzt, Sie haben gesagt zwanzich Jahre die siehier in Deutschland leben und, ja wie war das als Sie dannherkamen und, von diesen zwanzich Jahren sozusagen haben

280 Sie noch nicht erzählt.E. C.: Ah eigentlich die sind so im Flug vorbeigegangen daswir gar nit gemerkt haben, nur jetzt auf einmal, wo jetzt dieKrankheiten kommen, gekommen sind und so »Wie, was istdas jetzt schon«, weil die ganze Zeit, ja gut, bis äh die Kinder

285 auch, zwei Töchter, bis die dann, die haben geheiratet dannKinder dann das dann das, wir haben gearbeitet dann habenwir »Ja, wir müssen was eigenes vielleicht oder ne Wohnungkaufen«, haben wir uns entschieden für Haus bauen. Dannhaben wir Haus gebaut, dann haben wir immer, mein Mann

290 auch immer fast alles, na gut wir haben von Verwandten vielHilfe gekriegt und so und, ja und so die Zeit ist in einemFlug vorbeigegangen. Wir sind zwar auch in Urlaub gefahrenund so und haben uns alles n bisschen so angeschaut und,und wenn wir zurückkamen nach Deutschland haben wir uns

295 immer gefreut: »Wie schön.«.. Ja, die Zeit ist äh, da kann man,ich weiß nit, gar nit so viel wie, diese zwanzich Jahre hättich nie gedacht das die so schnell.. weil wir immer was am,am machen waren und äh das machen muss man noch und

das und das und dann Arbeit und dann äh Wochenenden und300dann (atmet aus), äh weil wir, wir haben viel Freunde, die

ganze Freunde mit denen wir da zusammen waren sind auchhier, aber nit alle äh wohnen hier in userm, aber viele auch.Und dann mein Mann hat sechs Geschwister, mit meinemMann sie sind zu sechst und wir sind alle auch sehr nah zu

305und dann hoa gut immer dann, wenn was ist, dann Feier oderwas und Kinder und alle, wir sind, eigentlich mein Mann hatso ne Familie die sind immer zusammen. Mein Bruder hatauch als äh, das war jetzt die Schwägerin (bezieht sich aufdie Frau, die kurz reingekommen war), mein Bruder hat die

310Schwester auch von meinem Mann geheiratet.I: Ach (lacht)E. C.: Ja, und, also dann sind wir ja auch viel immer zusam-men und (räuspert sich).. ja, so haben wir uns son bisschenso integriert, ja wie man sagt… mit äh ja, auf die Arbeit so

315äh ist eigentlich auch gut, ich habe gute Arbeitskollegen ähFrauen und so und, em ja die sind jünger und waren auch nbisschen auch paar Jahre älter und einige, ich bin jetzt fastachtzehn Jahre auf die Firma. Und äh, sind gute Arbeitsko,überhaupt das ganze Klima, ja das ändert sich immer ein biss-

320chen aber so, ich meine, war alles gut und so und wir habendann auch erzählt die wussten ja überhaupt nit, die dachtenwas heißt Russen oder Russlandsdeutsche, die Leute habenja überhaupt, überhaupt keine Ahnung, weil die habengenau wie wir keine Informationen gehabt, überhaupt

325wie das, was heißt Russlandsdeutsche, was heißt Russen,wieso ist das so, wieso, die die haben ja das auch, na hab ichauch immer, ich bin so überhaupt, ich les viel Bücher und sound ich mag das ja auch dann erzählen, wenn die was gesagthaben oder was ist das, ich sag: »Warum fragt ihr nicht?« Das

330ist ja dann, dann hab ich das ihnen erzählt, wie das überhaupt,was ist das überhaupt Russlandsdeutsche, wie sind die nachRussland gekommen, (aber) warum die sich Deutsche nennen,weil die sind da ja geboren sind und so. Dann, und jetzt äh,die wissen schon alles, die kennen ja dann, dann lachen die

335schon: »Aha, ihr seid Russlandsdeutsche, ihr seid Russen dann,Russen dann wenn die Ehen, gemischte Ehen sind« und oderso. Überhaupt dann haben die gedacht: »Ja von wo wissenwir, du erzählst das war da warm, ihr habt Bauwolle geropft,wie kann man da Baumwole ropfen, da ist ja kalt!« Ich sag:

340»Ja, wie wie kennt ihr auch so, ihr denkt auch Russland«, ichsag: »Jedes Land hat ja Norden und Süden und so auch (wowir wohnten).« (lacht)I: Ja, ja (lacht)E. C.: Ja, schon, nee wir haben gutes Verhältnis überhaupt

345auf der Arbeit und ist gut (6). Ja da, ich weiß nit so, klar ist dashier, hier war ja ganz überhaupt ganz anders und die Leute die,das war bestimmt gut.. im Vergleich hier mit damals als wirkamen bestimmt hundert Jahre, nu nicht hundert, ich meineUnterschied.

350I: Achso achso, hm hmE. C.: Wir haben uns auch über Vieles immer gewundert undso, aber jetzt wenn uns mal, jetzt wenn du mich fragst, ist allesnormal. Ja gut, weil da war ja das ganz anders, die Kinderwurden anders erzogen und überhaupt alles, wir haben auch

355auf unsere Eltern immer Sie gesagt, nicht du oder was, daswar so oder auf ältere Leute oder auf ältere Nachbarn oderwas immer Sie und so. Und dann: »Ha, was habt ihr immermit diesem ›Sie‹?« Wir sind eben so erzogen worden und

Page 83: it - Gesellschaftbilder Und Selbstverst Russlanddeutscher Aussiedler in der Sowjetunion und in Deutschland

Interview: Elvira Claus 73

wie wie, ich weiß nit. Das war so, klar war das ganz anders,360 überhaupt alles ganz anders. Und die Sprache.. hier sind ja

so viel, da waren ja so viel Umgangswörter und alles, dieauch vom Englischen waren und so und wir haben ja da keineAhnung gehabt was das ist. Ich hab auch ein – wir habenSprachkurs gemacht ein ganzes Jahr und dann hab ich noch

365 ein Jahr gemacht wie in äh das hieß DAA, deutsche vom vondeutsche Akademie irgendwas, so’n Kurs hab ich gemacht einJahr das war so wie Verkäuferin so äh so’n TrainingsverkaufKurs oder was, dann hab ich hier bei uns in Koblenz auf derMittelstraße das äh Kaufhaus Karstadt hab ich auch ein ganzes

370 Jahr und dann haben wir auch so ein Monat gearbeitet unddann ein Monat haben wir Unterricht gehabt, dann war ichdrei Monate noch in der Berufsschule auf dem HeddesdorferBerg, da haben wir Examen gemacht und.. Ja war interessant,war, die erste ja gut, n bisschen wie man sagt ähm, ja gut

375 schwer nit, aber ja, am Anfang ja, bis man das alles da kapierthat wie und was und , ja.. ja und die zwanzich Jahre sind soschnell vorbei wie, ich sag ja wie in einem Flug, da kann man,wenn wir haben mit meinem Mann wenn wir so ( ), zwanzichJahre ja, das Haus haben wir jetzt schon, zwölf Jahre wohnen

380 wir hier im Haus.. und so geht die Zeit.. Gut wir haben uns ja,jetzt können wir uns das nicht mehr vorstellen, wir denkenimmer zurück: ›Ach‹, denken wir so es war, aber zwanzichJahre, da hat sich in Russland schon, zehn mal alles verändert.I: Ja. Ja.

385 E. C.: Und nicht zum Besseren.. Deswegen so ein.. geht sehrschlimm den Leuten da. Das zeigen die nur in den Filmendas die, die Reichen dann oder was, ja das sind ja das ist einProzent oder wieviel und die andere Leute wie die wohnen,das das weiß ja keiner.

390 I: Ja.E. C.: Und deswegen wenn jemand jetzt, jetzt dann die wiedu jetzt auch fragst, klar wir sind, ich meine wir sind glü, wirmüssen uns, wir müssen uns und sind auch glücklich das wirso wohnen, wie der Cousin gestern erzählt hat wie schlimm

395 und Fotos gezeigt wie unordentlich und alles das ist schlimm!I: Hm hm.E. C.: Das ist richtig schlimm! Und wir, das Banale das wirins Bad morgens gehen, in die Dusche und den Hahn aufma-chen und duschen mit warmen Wasser, du denkst nie daran

400 aber gucke mal wie, der Cousin hat gesagt, ja ich wollte michda duschen und erstens, jetzt ist Sommer, ist kein Wasser inden Leitungen. Ja, dann haben die da draußen so’n Behältergemacht äh und ja gut so, wie n kleines Häuschen, vier Seitenmit Brettern zugemacht oder mit Paneelen so und dann von

405 der Sonne wird das Wasser warm – wir haben das auch, imSommer haben wir so eine Dusche auch im Garten gehabt, soich sag ja, aber dann im Winter, naja im Winter, die habensich jetzt auch ein Bad im eigenen Haus gemacht und so, aberso wenn, in der Stadt okay, da ist ja die Versorgung besser,

410 aber in eigenem Haus musst du ja alles selber machen, musstdu im Winter ja selber heizen dann und so und, als ich weißnit. Klar, das gibt auch hier Schwierigkeiten und so, aber ichmeine dieses Soziale jetzt dieses und so, dieses Ganze.. Undäh, Gott sei Dank, ich meine zu Essen haben wir ja auch ja,

415 jeden Morgen wir gucken: »Ach, ich ess heute das esse dasund oder.« Und da sind die ja, besonders die ältere Leute, weidie haben ja, (flüstert) die haben gar nix ( ), schlimm. Unddann denkt man schon, ich sag das die Zeit hat sich verän-

dert, ich sag die Leute ähh, nach zwanzich Jahren, ich sag,420(ihr müss) ja das ist, das hat, das war eben so, das ist eben

eine Geschichte, wir haben, wir kennen die Geschichte nuraus aus ähm Schulbüchern zum Beispiel als wir in die Schulegingen oder wenn wir Bücher lesen überhaupt Geschichte vonda, von Krieg und von so und das ist genauso die Geschichte,

425diese Umsiedlung wieder zurück nach Deutschland ( ) sound so, das war, wann war das dann als der Zar, der Peter derErste, das war.. tausend siebenhundert achtzichI: dreiundsechzich mein ich.E. C.: Oder so, irgendwo da ja, ich weiß es nit genau, gucke

430mal wieviel Zeit schon vorbei ist Geschichte und das ist genaudie Geschichte, nur die geschieht jetzt mit uns, weißt du. Undem die Leute, naja klar, Leute sind, einer denkt so, einer denktso, einer, aber im, ich meine im Ganzen ah, zusammen daso so, wir müssen uns äh, ich meine äh, ja glücklich, naja

435gut glücklich ja das ist ein anderes Wort aber, ja glücklichschätzen das wir bis jetzt noch auch, ich meine Dach über’mKopf, Essen und so, weil ich meine das ist das Wichtigste unddie Arbeit ja, und dann kommt erst mal alles andere.I: Hm

440E. C.: Ich weiß nicht, wir denken so, vielleicht die haben,ja jeder, ich meine, jeder Mensch naja gut, ich äh, wir denkenso und die andere kommt drauf an wie, wie die Leute jetztstehen, jetzt sind ja auch Leute die ein bisschen besser stehen,was heißt besser, die vielleicht bessere Arbeit gehabt haben

445und besser, aber so wie ich meine, aber für uns reicht das alles,Hauptsache Gesundheit und so. Ich meine besseren Standhaben oder wie oder.. jah (seufzend)I: Hm. (9)E. C.: Wir haben auch ein sehr schönes Dorf hier. Ich sag ja

450nur der einzige Nachteil, es kann ja auch nit alles äh, das wirfahren müssen aber och wir haben uns schon dran gewöhntund, ja…I: Hm… Sind Sie denn gleich nach Koblenz gekommen?E. C.: Ja wir sind nach Koblenz her gekommen und äh haben

455wir da sieben Jahre, haben wir ne Wohnung gehabtI: In der Stadt?E. C.: Hm, in der Stadt und dann haben wir gebaut, wir habenauch überall gesucht, da in der Zeit war so schlimm mit denWohnungen und überhaupt und wir haben geguckt, und mein

460Mann hat gesagt, vielleicht kaufen wir uns schon ein älteresHaus, wie deine Eltern zum Beispiel, aber ich weiß nicht sohaben wir geguckt, hat uns so eigentlich nix gefallen. Erstenswollten wir überhaupt nit aus der Stadt raus. Und dann habenwir geguckt und dann war da in der Stadt sowieso alles teuer

465und so und dann haben wir das Grundstück hier gefundenund, wir haben angefangen zu bauen mein Mann war schonfünfzich.I: Hm, hm.E. C.: Ja, fünfzich. Sagt er: »Wenn wir das jetzt nit machen

470dann schaffen wir das nit mehr.« Mit fünfzich (lacht). Unddann haben wir Grundstück gekauft, haben wir angefangenzu bauen.I: Hm. (8)E. C.: Ja klar war das schwer, Arbeit und Bau und wir wollten

475ja auch mehr selber machen, das man weniger Geld brauchund gemauert, das kann mein Mann alles, gemauert und hatauch mein Bruder geholfen und seine Brüder und gemauerthaben wir selber, das Dach haben wir auch selber gemacht.

Page 84: it - Gesellschaftbilder Und Selbstverst Russlanddeutscher Aussiedler in der Sowjetunion und in Deutschland

74 anhang b Interviews und Gedächtnisprotokolle

Ja gut, verputzt, so verputzen konnten wir ja nit und so die480 Fliesen gelegt das haben wir alles selber gemacht, aber mit

Hilfe von unseren Verwandten.I: Hm. HmE. C.: … Ja zwanzich Jahre sind wie ein Hauch, sie sind soschnell vorbei.. Aber jetzt denken wir auch gar nit, naja schon

485 lange aber so das äh.. nee wir haben überhaupt nit das wir zu-rück wollten oder was, nein, aber musste doch ne bestimmteZeit bis wir uns da so eingewöhnt haben, ja deine Elterngenauso wissen die auch, aber bei jedem anders weißt du,das kommt noch an auf die Menschen überhaupt wie die ein-

490 gestellt sind und wie, wie was, das jeder hat seine eigeneMeinung dazu.I: Hm. Die Menschen, wie wer eingestellt ist meinen Sie?E. C.: Ah eingestellt meine ich, wie du selber, zum Beispielsind ja Menschen die immer was zu meckern haben: »Aha

495 das gefällt mir nit, das gefällt mir« und sind ja Menschen dieso positiv, die mehr positiv denken: »Ja«, ich weiß nicht, wirsind mehr optimistisch und so ich warI: Hm hm. Sich selber meinen Sie?E. C.: und so überhaupt als wir ja.. alle die ganze Papiere

500 gemacht haben als wir kamen und so und äh, wie immerso die Behörden und wie die Leute immer, ich weiß nit, zuuns waren alle immer ganz normal, ja kann ich nit sagendas jemand uns da äh ausgeschimpft nee nicht ausgeschimpft,überhaupt, jah ich versteh, ich weiß nit, haben immer erklärt,

505 haben immer äh, eigentlich war, da kann ich nix sagen. Warimmer alles gut und die haben sich auch so viel Mühe mit unsgegeben, weil wir auch mit unserer Sprache und mit unseremVerständnis, weißt selber wie wir da gesprochen haben unddie mussten dann auch rätseln was wir gewollt oder gemeint

510 haben.I: Hm.E. C.: Also wir können uns nit beschweren, ich weiß nit, waralles okay Gut das hat die, immer was und da gegeben, wir,vielleicht das und das aber im Grunde, im ganzen Grunde war

515 ja alles gut. (6)I: Em, Sie haben gesagt Ihre Mutter war mit ihnen alleine?E. C.: Ja.I: Und ab wann und was war mit dem Vater?E. C.: Wir haben kein Vater gehabt. Ja gut, ich habe n Vater

520 gehabt, aber… Unsere Mutter hat uns – das war ja früher so –gar nichts erzählt. Und wir wissen auch gar nit, gar nix. Undjetzt derzeit will ich auch nix mehr wissen.. Wir haben immermit Großeltern zusammengewohnt eigentlich so.. so weißt du,so behütete Familie waren wir, wir hat von keinemwas, haben

525 keine Scherereien dann mit Männer oder mit was gehabt, nee.Wir haben nur zwei Männer gehabt (lacht), unsern Opa undunsern Onkel, dann, der wohnt jetzt auch hier in Lemgo beiBielefeld.I: Hm, hm.

530 E. C.: Ja was heißt, weißt du, als dann, als diese unsere äh,meine Mutter und die alle andere dann meine Tante, die schonvom Krieg, vor dem Krieg verheiratet waren, da war ja gut,dann sind die, mussten die dann nach Sibirien, aber mit derFamilie ja. Ja gut, einige Männer sind auch die, kommt drauf

535 an, aber diese junge Mädels die dann in diese Zwangsarbeit,dann diesen Arbeitslagern waren. Die kamen dann zurück,nach dem Krieg und ähm, Männer in so einem Alter wo jetztdiese Mädels waren, waren ja keine da, die waren ja nit da.

Das war so eine richtig schwierige Zeit, dann ich hab auch540von so Tanten, das waren alles Cousinen von meiner Mutter

äh, die haben auch alle keine Männer gehabt. Weil derzeit,das war genau so die Zeit wo keine Männer da waren, diejunge Männer, die wie meine Mutter alt waren, die waren jaauch im Arbeitslager, da waren ja sehr viele auch vor Hunger

545umgekommen und so, ja.I: Hm hm.E. C.: Und derzeit waren überhaupt sehr wenig Männer, undso. Weißt du das war so, ich kann das nit, das, das war da sodie Zeit damals so.. Meine Tante die war auch nit verheiratet

550und meine Mutter hat auch und keine.. kein Mann gehabt..wir sind drei Kinder. Oder wie, ichweiß nit da, wie das damalswar, die Eltern haben, das war ja so die äh, nit so wie jetzt dasdie alles erzählen oder was, das war eben nit äh und wenn dieMutter das nit erzählt hat dann haben wir auch nit gefragt.

555I: Hm. HmE. C.: .. Klar haben wir n Vater gehabt.. ja.. Ja so sind auchmeine Mutter, die war auch immer krank weil die haben sichja da so erkältet, die war immer krank und die ist mit ein-undfünfzich gestorben und dann ist meine Tante gestorben

560und die anderen Tanten die auch da in diesem Arbeitslagerwaren, die sind alle sehr sehr früh gestorben, weil die allekrank waren.I: Hm. Im Arbeitslager in Tadschikistan?E. C.: Nee nee, Arbeitslager war in Sibirien, ja das war in

565Sibirien…I: Und in Tadschikistan ähE. C.: Da waren wir schon, das war schon dann Kriegendeund dann, da war schon.I: Wo haben Sie da gelebt, in der Hauptstadt?

570E. C.: Nein, wir waren da nit, wir haben in eine Kolchose dagelebt. Hauptstadt war von uns – ich weiß nicht – achtzichKilometer Duschanbe…I: Weil in Duschanbe haben Sie gesagt, haben Sie gelernt?E. C.: Nee, meine Schwester. Ich hab nur zehn Klassen ge-

575macht und meine Schwester die hat, die ist vier Jahre älterals ich, die hat zehn Klassen gemacht und dann ist sie nachDuschanbe und hat da ein Beruf gelernt noch.I: Hm. Hm.E. C.: Und mein Bruder der ist vier Jahre oder fünf Jahre noch

580jünger wie ich. Der wohnt jetzt auch hier in Vallendar undmeine Schwester wohnt in Andernach.I: Hm, alle beisammen.. Also sind Sie, in Tadschikistan habenSie an diesem Ort wo die Kolchose war gelebt, die zehn Jahreauch? Und snd da zur Schule gegangen?

585E. C.: Hm. Ja ja, war auch sehr schön.. Ja gut, wir als Kinder…I: Können Sie noch etwas über die Schulzeit erzählen?E. C.: Schulzeit? I: Ja.E. C.: (6) Ja was, Schulzeit war eigentlich ganz gut, ich warfaul zwar, konnte gut lernen, aber immer keine Zeit, weil ich

590bin immer auch zuhause, ja gut, zuhause müssen wir Mutterimmer helfen nach der Schule dann, die Mutter war auf derArbeit, sie war auchkrank und dann kamenwir von der Schulealles, mussten wir auch, ich hab auch so früh kochen gelerntund alles. Und, ach gut dann sind wir dann abends dann wie

595immer rumgesprungen, dann waren wir auf dem Sportplatzdann dann.. äh, waren immer draußen mit den Freundinnendann immer pff, die meiste Zeit waren wir – wir haben jadamals kein Fernsehen gehabt, nix.

Page 85: it - Gesellschaftbilder Und Selbstverst Russlanddeutscher Aussiedler in der Sowjetunion und in Deutschland

Interview: Elvira Claus 75

I: Hm.600 E. C.: Awar schön die Schulzeit, schon in der Schule habenwir

auch zweimal ähm äh, überhaupt die Kinder, das hab ich sogut gefunden, überhaupt trotz dem wir deutsch waren habendie, weil wir fast äh alles Deutsche waren, haben die äh, habendie uns, das Ministerium hat erlaubt diesen Kindern von der

605 zweiten Klasse an deutsch zu lernen. Und wir haben richtigdann Grammatik, wir haben zwei Bücher gehabt, Grammatikund äh diese Geschichte haben wir gelernt. Und äh, weil ähdie Deutschen und dann die, die anderen haben auch Deutschgehabt einmal oder zweimal in die Woche, die haben nur,

610 so weißt du, wie Fremde, oberflächlich so, aber die deutscheKinder die, die konnten, die mussten dann, Deutsch lernenrichtich. Haben wir dann auch ganz anders gelernt wie dieandere weil wir sind Muttersprache dann.I: Hm hm.. War eine deutsche Siedlung? Oder gemischt?

615 E. C.: Ja, das war gemischt aber ganz wenig, russische Fami-lien haben wir ganz wenig gehabt. Das waren alles Deutsche,alles Hochdeutsche und dann, dann paar Familien Plattdeut-sche wie wir sind.I: Hm. Und wurde auch Deutsch gesprochen dann?

620 E. C.: Überhaupt klar.I: Immer?E. C.: Ja. Nur draußen, draußen wenn wir ins Kino gegangensind oder draußen da wo haben wir russisch gesprochen, weilwir auch Russisch in der Schule gehabt haben so und dann äh,

625 ich war noch paar Monate im Kindergarten und so, da habenim Kindergarten haben die Frauen, die Kindergärtnerinnenalle mit den Kindern alles immer deutsch gesprochen. Dietadschikische Kinder, die Tadschiken waren damals noch ganzzurückgezogen, die wohnten etwas weiter als das, als diese

630 Deutschen, die haben eigenes Dorf immer gehabt da weil dieunter sich immer waren, und.. Dann da waren, damals derzeitwaren ja selten, da waren ja keine, selten mal eine Familie viel-leicht die ihr Kind in Kindergarten, aber so nit, die haben ihreKinder selber erzogen. Und haben auch Deutsch gekonnt. Und

635 ne Zeit lang haben wir sogar Tadschikisch gehabt bisschenUnterricht, aber dann.. Ja, das war, ich hab das gut gefundendas wir in der Schule so viel Deutsch gehabt haben und sodann.. Ja, ( ) die Schul ja, wie immer, wie alle Kinder, das warauch damals so, wir mussten zwar viel lesen, viel Geschichte,

640 viel auswendig lernen, viel Aufsätze haben wir geschriebenund ähm, das Programm war überhaupt sehr, wie man sagt so,richtig dicht aneinander alles weil, weil wir diese Zeit, diesezwei Monate diese Baumwolle ja geropft haben.I: Hm hm.

645 E. C.: Und dannmussten wir alles nachholen, und dann habenwir von der vierten Klasse an dann haben wir jedes, wennzum Beispiel das Schuljahr zu ende ging, dann haben wirimmer Examen gemacht. Weil das wir tatsächlich diesen Stoffdann begriffen haben und alles da, das war bei uns so. War

650 eigentlich, die Schule war gut. Ja derzeit noch, weißt du daswir dann immer Weihnachten hat ähm von der Kolchose vonder Schule dann, haben wir ein großen Sportsaal gehabt dain der Schule, dann haben wir ne riesig Tannenbaum unddann hat, hat ja noch diese, die Schule und die Kolchose, dann

655 haben die für die Kinder, da waren Leute zuständig für dieKinder dann, umsonst ohne was zu bezahlen haben die allenso Tüten gemacht, mit Süßigkeiten, mit Äpfel da alles, daswar..

I: Hm, war schön.. Und wie kam die Entscheidung nach Kir-660gisien zu ziehen? Ihr Bruder

E. C.: Nee, der Onkel von meinem Ma, der Bruder von mei-nem, von meinem. Ja weil äh, ja klar die Mutter war alleine jaund das, das hat er auch gesagt: »So weit von der Hauptstadtihr wohnt, die Kinder vielleicht lernen, müssen dann auch

665noch«, obwohl meine Schwester ja schon in Duschanbe warund äh, und so das meine Mutter nit so alleine da, sagt er:»Hier sind die ganzen Verwandten und so.« Und dann sindwir, ist er gekommen und haben wir gepackt und sind dann– früher war das ja nit so kompliziert wie jetzt alles ja – und

670dann sind wir nach Kirgisien gefahren..I: Ihre Schwester auch?E. C.: A die hat, die kam dann nach, die hat ja noch gelernt,die kam nach.I: Achso, die kam später. Hm.

675E. C.: .. Ja und dann ging schnell dann.. haben wir geheiratetmit meinem Mann. Mein Mann hab ich geheiratet der, mitdem haben wir da in Sibirien noch als Kinder haben wir auchals Nachbarschaft gewohnt. Dann sind wir nach Tadschikistanausgesiedelt und er ist dann später mit seinen Eltern und mit,

680auchmit, mein Onkel undmeinemMann sein Vater das warenFreunde, und die sind auch nach Kirgisien, dann kamen wirnach Kirgisien, haben wir uns da wieder getroffen (lacht).I: Ah (lacht).E. C.: Ja wir kennen uns von klein an und sind auch in einem

685Krankenhaus geboren, alles.I: (lacht) Und über Umwege dann wiedergetroffen.E. C.: Ja… Ja, dann geheiratet dann, ja was dann wieder, jamüssen doch wo leben dann, ich hab gearbeitet, er hat gear-beitet, dann haben wir uns n Grundstück auch gesucht und

690dann haben wir wieder gebaut und ah..I: Und Ihr Mann ist auch Deutscher?E. C.: Ja, hm. Auch Plattdeutscher.I: Hm. Und Sie haben in der Nähfabrik gearbeitet? Und IhrMann?

695E. C.: Ja. Ah mein Mann der hat äh, der hat zwar n Berufgemacht als äh, als diese Landwirtschaft und LandwirtschaftMaschinen da hat er ein Beruf gemacht. Ja ich weiß gar nit,drei Jahre oder wieviel, und äh, ja dann, gut der hat auch nbisschen gearbeitet und dann wurde er in Militärdienst ein-

700gezogen, das war damals dreiundhalb Jahre, und als er dannzurückkam, dann hat er, dann hat – ich weiß nicht – nee,als er den Beruf gemacht hat dann hat er schon den Führer-schein gemacht, und dann hat er, ist er, Reisebus gefahren,nach Taschkent, nach Isikul, Almata überall da, hat n Reise-

705bus und so is er, der hat ja auch im, im da in Russland warenso Arbeitsbücher, da hat er nur, ich meine nur eine Eintra-gung, dann und dann ist er gekommen, dann und dann (lacht)neunundachtzich hat er, ist er entlassen worden. Aber sonsthat er immer da gearbeitet. Hat auch gut verdient, nur der

710einzige Nachteil, der war sehr selten zuhause, vielleicht zweidrei mal die Woche.I: Hm. Hm.E. C.: Der war immer unterwegs. Hat gut Geld verdient aber,ja… Haben uns auch ein großes Haus gebaut, haben wir so

715richtig schöne Möbel gehabt und so, (naja) wie so junge Leuteso, weißt du wenn man, ach das braucht man, das brauchtman und hier (lacht) jetzt haben wir alles, jetzt brauchen wirnix, nur Gesundheit.. naja

Page 86: it - Gesellschaftbilder Und Selbstverst Russlanddeutscher Aussiedler in der Sowjetunion und in Deutschland

76 anhang b Interviews und Gedächtnisprotokolle

I: .. Wo haben Sie dann in Kirgisien gelebt, was war das?720 E. C.: Da haben wir auch, da haben wir in, da waren wir

Hauptstadt und äh.. vielleicht äh, wie so, das hieß bei uns Dorfaber wir waren so, wie das hier in Deutschland heißt Stadtteilvon Frunse da, wir haben, ich hab auch in der Stadt gearbeitet,mein Mann auch und wir haben auch diese Stadtbusse, sind

725 bei uns da. Und dann die letzte Zeit acht Jahre hab ich da imRathaus gearbeitet.I: Hm. Und das war wieder eine deutsche Siedlung dann, woSie dannE. C.: Nein, da war schon dann, da waren auch viel Deutsche,

730 besonders auch Plattdeutsche unsere dann viel und Hochdeut-sche waren auch und Russen und Kirgisen und Türken, dawar schon sehr viel auch… Aber eigentlich, ich weiß nicht, wirhaben, sind alle so gut miteinander ausgekommen. Jeder hatzwar zuhause die Sprache gehabt, die äh wie man sagt die

735 Mentalität, aber so auf der Arbeit und so und in der Schulewaren wir immer… jah (18)I: Wenn Sie sich die Gesellschaft dort, in, die meiste Zeithaben Sie in Kirgisien gelebt, noch mal so vor Augen haltenund.. ja, was für ein Bild von dieser Gesellschaft haben Sie,

740 was kommt Ihnen hoch em, was war’s wichtig den Menschen,was war ihnen wichtig vielleicht zu erreichen oderE. C.: Ach was kann ich sagen, eigentlich da im Rathaus alsich gearbeitet habe, wir waren da zehn Mann und alle habenFamilie gehabt und äh, eigentlich die Leute waren alle so, ich

745 meine jeder hat dann äh.. ich meine, da waren die Leute ähmirgendwie anders wie hier zum Beispiel, die waren, da warenwir so äh, mehr zusammen mit den Leuten, ich meine äh zumBeispiel wenn, sogar zum Beispiel wenn morgens haben wirauch Frühstückspause gehabt und haben wir gefrühstückt, wir

750 haben nit so gefrühstückt zum Beispiel wie hier, jeder holtäh das Frühstück raus was du da gebracht hast, isst selberund das war’s. Damals war das, das war, ich meine wirhaben, wir waren immer so zusammen wie eine Familie,wir haben, jeder hat was mitgebracht, aha dann haben wir

755 geguckt die Zeit, haben wir äh Elektrokocher aufgestellt, dannhaben wir alles auf den Tisch gestellt, dat hat alles, ich habzum Beispiel das, ich hab Marmelade mitgebracht, die andere:»Ach ich geh mal schnell Brot kaufen«, das war jetzt, habenwir hier in der Nähe, die andere hat Wurst mitgebracht, die

760 andere hat Speck mitgebracht, die andere hat ein paar Eiermitgebracht. Wir haben dann alle immer zusammen, das gabes nit bei uns so das einer selber isst. Wir haben, da war jaalles Gemeinschaft, da haben wir alle zusammen gegessendann haben wir schnell alle zusammen abgeräumt und das

765 war’s.I: Hm.E. C.: Und die Leute waren, wie waren die Leute, die Leute,jeder hat äh äh, ja jetzt diese Zeit haben die Leute sich auchganz verändert aber die Leute waren, ich meine wie man

770 sagt… naja anständig, ja wie, wie man sagt ja anstä, ich meineanständig, jeder hat gesorgt für die Familie das, das die Kin-der in die Schule, das besser das die zuhause helfen, weißtdu jeder hat sich bemüht ähm.. immer was zu machen, jederhat, einer hat von den anderen ab, ah was machst du, zum

775 Beispiel wir Deutsche wir haben das von klein an gelernt zu( ), zum Beispiel wenn wir Schwein geschlachtet haben, dannhat Opa das, dann haben wir alles vorbereitet, alles gemacht,dann hat Opa Schwein geschlachtet dann haben wir Schmalz

ausgelassen, dann haben wir Griebenschmalz gemacht, dann780haben wir Hackfleisch gemacht, Frikadellen gemacht, dann

haben wir das gemacht, dann, alles verarbeitet so. Als wirnach Kirgisien kamen und die Russen die haben eine ganz an-dere Mentalität, die haben das ganz anders, dann haben wir,von Anfang an war – ich war ja noch ein junges Mädel, (mir

785kam das auch vor) – äh Schwein geschlachtet. A wir habenheute auch n Schwein geschlachtet und dann haben wir schonFleisch so, ich dachte: » Oh, wie kann man so schnell Schweinschlachten?« Bei uns hat das ein ganzen Tag gedauert. Ja ichsag: »Wie habt ihr denn?« »A ja wie, wir haben das Schwein

790geschlachtet und haben wir das aufgehangen in äh«, die habenso Scheunen gehabt aber zu mit. Ich sag: »Wie aufgehangen?«Haben die das Fleisch abgehangen, ja. Nicht aufgehangen, ab-gehangen so das Fleisch das Schwein. Und dann wenn sie dasFleisch – ja der Schwein wurde ja immer im Winter, zum

795Winter geschlachtet – ja das Fleisch gefroren, dann wenn dieFleisch gebraucht haben sind die einfach, haben sich n Stückabgeschnitten. Bei uns, ich hab mich immer gewundert unddann die Mädels und dann hab ich, wenn wir Schwein – ichwar die, nee wir waren zwei Deutsche da im Rathaus – und

800dann haben und ich sag: »Ah und wir schlachten dann Wo-chenende Schw«, wir haben immer Wochenende geschlachtet,Samstag: »Ah Olga wann«, dann haben wir alles gemacht undhaben wir Wurst gemacht und Leberwurst gemacht und inden Gläsern haben wir Fleisch gemacht und alles haben wir

805dann Frikade, und dann hab ich Montag immer auf die Arbeitalles gebracht, dann haben wir gegessen, dann haben die sichgefreut und dann haben die gesagt: »Und so jetzt, wenn wirnächstes Mal schlachten, dann kommst du und dann zeigst duuns das alles.« Dann sind wir gekommen, äh wir haben – ich

810hab auch ne Freundin gehabt die ist auch Deutsche und ihrMann ist meinem Mann sein Cousin und wir waren ja alleda befreundet und so und dann kamen wir, dann haben wirgezeigt, dann haben wir die Därm mussten wir die, den Darmvom Schwein mussten wir ja sauber erstmal machen um zu,

815und so und dann haben wir alles, und eigentlich waren dieFrauen uns sehr dankbar das, sagt sie: »Siehst du, wir habendas immer so gemacht und ihr habt das ganz was anderesgemacht, ihr habt alles alles verwertet«, ja, das man das nach-her, zum Beispiel Schmalz ausgelassen, dann in Gläser, dann

820haben wir die mit Deckel zugemacht und das konnte ja dannn ganzes Jahr stehen, sogar länger und das ist ja nit schlechtgeworden. Eigentlich so, und jeder hat voneinander was ge-lernt, ach einer, und ich koch das und ich mach das, nicht nurvon Kochen meine ich und ähm, was ja bei den Russen so ist,

825die sind sehr gastfreundlich und ähm, wenn du zu denen zuBesuch kommst, dann geben die dir das letzte Stückchen das,die verstecken das nicht im Kühlschrank für sich, dann kriegstdu das, weil du zu Besuch gekommen bist. Ja, und.. also, warschon, oder wenn zum Beispiel äh nach der Arbeit jemand

830auf den Basar gefahren ist oder zum Beispiel »Ah wir müssenjetzt pflanzen Paprikapflänzchen oder noch was«, dann hatjeder, dann kam jeder dann: »Brauchst du welche, brauchstdu welche?« »Ja.« »Wieviel soll ich mitbringen?« Dann hat,zum Beispiel, ich hab das dann nit nur für mich gekauft, dann

835haben wir dann zusammengelegt und dann hab ich anstattzwanzich Pflänzchen hab ich dann hundert Stück gekauft, je-dem dann, dann hat jeder abends dann gepflanzt und so unddann waren alle glücklich (lacht).

Page 87: it - Gesellschaftbilder Und Selbstverst Russlanddeutscher Aussiedler in der Sowjetunion und in Deutschland

Interview: Elvira Claus 77

I: (lacht)840 E. C.: Doch, das war ne gute Zeit und eigentlich die Menschen

die waren auch und.. wenn du dann zum Beispiel äh, das warja auch nit so wie hier, das Brot oder Wasser ging man zumNachbarn: »Ach hör mal, ich hab Besuch gekriegt, kannst dumir dann ein Leib Brot leihen oder noch Wasser?« Also jeder

845 war freundlich und das, kann man nit sagen, ich hab das niterlebt, ich weiß nit. Vielleicht war das bei jemand auch anders,ich sag ja alles wer, bei einem so, bei einem, eine haben imOrt gewohnt, die andere haben in der Stadt gewohnt, da warja auch ganz anders in der Stadt.

850 I: Hm.E. C.: Ich weiß das nit, aber bei uns hier war schonI: Gearbeitet haben Sie in der Stadt?E. C.: Ja früher als ich noch ja, und dann hab ich, ja gutals die Kinder dann zur Schule gingen, dann hab ich ja da

855 umgewechselt in Rathaus. Rathaus war von unserm Hausfünf Minuten musst ich nur zu Fuß gehen. Und dann hab ichin unserem Ort wo wir gewohnt haben dann im Stadtteil dawar das Rathaus und da hab ich gearbeitet. A war interessantda mit Leuten zu arbeiten, da kamen ja die ganze Einwohner

860 die da im Stadtteil wohnten, und einer braucht das, wir habenja da alles, wir haben da diesen Steuer berechnet und allesund die haben da das Geld gezahlt für was da für Gebäude,für Haus, für Grundstück. Dann haben wir Abteilung gehabtwo man die Geburtsurkunde, Sterbeurkunde, Heiratsurkunde

865 gemacht hat, dann haben wir ne Abteilung gehabt da habenwir die Anmeldung Abmeldung gemacht, dann haben wir neAbteilung gemacht äh, das war wo sich zum Beispiel die Jungszum Militär anmelden mussten da ja, nu Verschiedenes habenwir da, das haben wir alles da im Rathaus gemacht. Da war

870 eigentlich, das war interessante Arbeit, haben wir sehr vielmit Leuten zu tun gehabt…I: Hm.. Ja von Ihren Kindern haben Sie erzählt, aber wannsind die geboren undE. C.: Kinder. Ja ich hab zwei Töchter, eine ist äh neunzehn

875 hundert siebzich geboren, die wohnt bei uns im Haus hier, jadie hat als wir nach Deutschland kamen war die neunzehn,die hat auch zehn Klassen gemacht und dann hat die ein Jahrda gearbeitet, auch in einem Büro, und dann kamen wir nachDeutschland und dann haben wir Sprachkurs gemacht, die

880 war ja auch mit Mama Papa, wir waren ja alle zusammen unddann hat die als Köchin gelernt in der, bei uns hier in Koblenzin der Friedrichstraße oder wo das war und äh, ja gut die hatnur Praktikum gemacht so nach der Ar, nach der, und dannäh hat sie sich mit nem Mann bekannt gemacht und und äh,

885 ja ist schwanger geworden und.. hat auch quasi in dem Berufgar nit so gearbeitet, weißt du.I: Hm hm.E. C.: Und jetzt sind die Kinder ja schon dreizehn und vier-zehn. Und, ihr Mann (ihr) der war auch Koch, der hat auch als

890 Koch gelernt, der ist n hiesiger Deutscher ihr Mann, und jetztarbeitet er mit meinem Mann auf der Firma Bauer in Koblenz,weil als Koch.. verdienen die gar nix, ehrlich zu sagen gar nix.Nur wenn du dein eigenes Geschäft hast, aber so, und dasist auch ne sehr schwere Arbeit aber, und eine Tochter war

895 siebzehn, die hat auch, die war hier in der Berufsschule inKoblenz, ja, ist auch verheiratet aber hat keine Kinder undist jetzt auch in Koblenz und arbeitet in Metternich und ihrMann, der arbeitet auch bei meinem Mann, die arbeiten alle

zusammen.900I: Hm (lacht).

E. C.: Weil das war ja damals die Zeit so da haben die nochArbeit gehabt und ja bis jetzt ist, sind die noch dran. MeinMann ist jetzt, der wird jetzt im September zweiundsechzich,wer weiß, ja gut bis fünfundsechzich muss man aber das ist

905ja jetzt schon, ich meine für ihn kein Problem wenn er auchjetzt, die haben voriges mal, (Jahr) bei denen dreißig Leuteentlassen, aber er ist ja geblieben und wenn er auch entlassenwird dann, das ist ja jetzt, der ist ja schon zweiundsechzich.Das wird keine Tragödie sein, deswegen sag ich ja mit der

910Arbeit. Aber bis jetzt sagt er: »Ja, vielleicht mach ich noch einJahr bis dreiundsechzich, was die sagen dann«, sagt er: »Jetztich kann ja noch arbeiten und bin ja noch«, mein Mann kannauch nit ohne Arbeit und.. JaI: (lacht) Hm (5). Nochmal zurück zur äh.. Gesellschaftsort äh

915also in Kirgisien dann, wie war das, könnten Sie sagen werwar da in Anführungszeichen Verlierer, wer war Gewinner inAnführungszeichen auch in dieser Gesellschaft, wer hat, werhatte von vornherein vielleicht auch die besseren Chancen imLeben?

920E. C.: Hm, ja ich meine, meine Meinung das das hing ja allesvon zum Beispiel von dir ab, wenn du dich selber bemüht hastund äh Beruf gelernt hast, studiert hast, ja, aber ja, das warfrüher ein bisschen ähm.. von meine Zeit kann ich nit sagen,weil ich hab nit studiert und ich hab das auch nit probiert,

925vielleicht, aber viele die, aber ja, ja gut wenn man, wenn manStudium, dann haben die schon geguckt oder n Beruf, einigewaren ja auch nit so sehr freundlich dann haben die geguckt:»Ach Deutsche, ja!« okay, ja gut, aber.. so sehr gravierend wardas auch nit, wenn du gewollt hast und, ja dann hast du das

930auch gemacht. Und waren viele von unsere Deutsche die, aberklar, wenig. Genauso wie jetzt hier als wir nach Deutschlandkamen hat sich ja auch fast keiner nit getraut und so ja auch,das waren auch Schwierigkeiten mit der Sprache und so. Aberjetzt gucke mal von unseren Bekannten, von euch, gucke mal,

935ihr Kinder und so, wieviel studiert schon! Das ist ja wennman hört: »Das ist ja wenn man hört, die studiert, die, die.«Das haben wir ja früher, die erste Zeit haben wir das gar nitgehört. Guckmal wie das, und das war auch, ja gut in, das warja, aber in unsere Zeit konnte man schon wenigstens Beruf

940so, konnte man machen und haben auch viele gemacht. DeineEltern haben ja auch, Mama hat ja Krankenschwester, Papahat ja auch gemacht, ja.I: Hm.E. C.: Ich hab das nit gemacht. Mein Mann hat ja auch wenigs-

945tens Beruf dann, haben die Leute ja mein, meine Schwesterdie hat n russischen Mann, der hat auch n Beruf und meineSchwester auch und äh, ja. Kommt drauf an wie du, überhauptdas hängt ja alles auch noch, gut vom Menschen auch ab. I:Hm hm.

950E. C.: .. Ja gut, aber die, die Deutschen sowieso, besondersdie Eltern so, wir haben uns sowieso wie die zweite Sorte vonMenschen gefühlt. Äh.. ja das war ja, das war ja alles immer,das war ja immer dazwischen stand ja der Krieg. Obwohldie Russlanddeutschen nix damit zu tun gehabt haben. Aber

955weil die Deutschen ja äh.. Russland überfallen haben. Diehaben ja angefangen.. Ja klar, und wir Deutschen dann mittenin Russland ja. Klar, das hätte ja, jedes Land mein ich hättedas so gemacht dann ja, äh Hass auf die Deutschen. Das ist

Page 88: it - Gesellschaftbilder Und Selbstverst Russlanddeutscher Aussiedler in der Sowjetunion und in Deutschland

78 anhang b Interviews und Gedächtnisprotokolle

selbstverständlich.. Ich meine das so ja, das wenn man sich960 auf der, dann sind auf einmal, kamen Deutsche und haben da

angefangen die Leute zu äh erschießen und so ja, »Was wolltihr denn im fremden Land?«, da kann man ja auch so logischdenken. Aber das ist auch Geschichte, das ist alles Geschichte.Da kann man nix machen, das ist Geschichte.. Klar früher, ich

965 kann das nit erzählen weil das war ja, du hättest, weißt du, dieetwas älter sind ähm, die konnten dann erzählen wie schwerdie das gehabt haben, siebenunddreißig neununddreißig wodie die ganzen Männer abgeholt wurden und dann sind dieverschwunden auf Niemehrsehen. Ich weiß nit, wir haben ja

970 das nit erlebt.I: Hm.E. C.: Den Großvater von meinem Mann haben die auchsiebenunddreißig eingezogen und der wurde, und der warauch, der ist da im Gefängnis gestorben, für was, wozu, hat

975 hier keiner gewusst. Und das war ja so. Deswegen sag ich ja,deswegen haben die Leute, die Deutsche – wir sind dann jaschon die Nachkömmlinge – aber die haben ja auch von allesdann Angst gehabt, die Deutschen ja, nur in kein Konflikt,kein nix, nix sagen, nix, ja das, aber ich meine das war ja

980 überall so, während des Krieges, vor dem Krieg und so.I: Hm (7). (Der Ehemann kommt rein)E. C.: Was ist (lacht)?I: … Also war’s äh, ja in gewisser Weise war es schon beson-ders irgendwie auch als Deutscher dort zu leben?

985 E. C.: Em, bei uns war das nit so schlimm, weißt, bei uns war,die haben das weil, ich sag ja, weil wir immer in so Gebietengewohnt haben wo viel Deutsche waren und dann, da habenwir das nit so gemerkt ja, wie einige erzählen: »Ach das«,vielleicht war das auch so, ich weiß das nit, aber bei uns äh…

990 eigentlich sogar die Russen und die Kirgisen und so, die habensogar immer: »Ah die Deutschen die haben immer Ordnung,die haben immer«, weißt du so, ja das war wahrscheinlichüberall so.I: Hm.

995 E. C.: Nein, uns hat da keiner nit wie, wir waren da auchsehr glücklich.. Bis da jetzt alles da umgestellt wurde und so.Waren ja auch alle zusammen immer, und dann als das anfingmit dem Auswandern, ja dann klar, dann haben alle Halsüber Kopf: »Schnell schnell so, bleiben wir hier alleine und

1000 die Verwandte sind schon alle weg und..« Ja jeder hat, jederhat dann was anderes zu erzählen, weißt du. Einer wollteschon ein paar Jahre vor dann fahren, hat sich da schon alles,der andere hat, zum Beispiel wir haben uns überhaupt nie wasgedacht. Und das kam so plötzlich zu uns und dann waren wir

1005 so, war, ja gut wir dachten: » Ach, die andere fahren, ach, dasist ja, ach«, ja, und dann auf einmal sind alle weg, ja dann..aber waren ja Leute die schon, so wie wir gehört haben, diehaben schon zehn Jahre gekämpft und soo das die raus, unddas war ja nit so einfach früher, die Grenzen waren ja alle zu,

1010 und die wollten und so, und dann haben wir das auch (nit) pff..Und obwohl die Tante von meinem Mann da war schon zehnJahre und wir haben, wir haben gar nix, gar nit, gedacht daswir mal zu Besuch oder, für uns war das unendliche Weiteund wer weiß wo das war. (Enkeltochter kommt rein) »Hallo.«

1015 »Hallo mein Schatz. Willst du wieder (reiten) Jeanette?« »Nein,ich geh zuhause.« (geht wieder)I: Und war es den Menschen da wichtig irgendwie politisch,sozial, gesellschaftlich aktiv zu sein?

E. C.: (4) Ja äh, ja bestimmt irgendwo, ich weiß nit, ich war1020ja nit so mit de.. sozial, ähm wat meinst du jetzt sozial das,

das die sich so eingesetzt alle haben oder was? (4) I: Also ähE. C.: .. Ich weiß nicht, das war zwar da, ich hab zum Beispielim Rathaus gearbeitet und äh, zum Beispiel da waren ja auchLeute die zum Beispiel, jeder hat n bestimmtes äh.. bei uns

1025war das immer so Straßen oder was gehabt, ja. Du bist dannverantwortlich, wenn diese zum Beispiel die Leute dann mitden Nachbarn Konflikte haben oder so, dann kommen die imRathaus, dann musst du bist zuständich für denQuartal,Quar-tal hieß das bei uns, und du musst dann das alles regeln, und

1030das die sich nicht streiten und das, weißt du so. Doch, warumnit, das war so, das war ja sogar, das war ja unsere Arbeit auch,da im Rathaus, das äh, wenn du da gewählt wurdest und dashieß da im Rathaus so, und dann haben die auch und dann,oder jetzt ist das ja ich weiß nit, aber früher dann zum Bei-

1035spiel waren ja auch so, die getrunken haben Männer und (dienit), aber gearbeitet haben fast alle. Dann kamen die, dannsind die nach Hause gegangen zu denen und gefragt: »Warumarbeitest du nit?« und so. Und dann sind die mit ihm auf neFirma gefahren und haben gesagt: »Ja, Sie müssen den Leuten

1040helfen.« Die Firma hat die sofort eingestellt und haben gear-beitet, dann sind diese Verantwortliche sind dann nach Monatoder sind die dahin gefahren, haben gefragt: »Kommt der zurArbeit, was macht der, wie führt er sich auf, was macht?« Jadas äh, naja gut, das war alles im Laufe der Arbeit so, weißt

1045du.I: Hm. Die Verantwortlichen, wer waren das?E. C.: Ja die Arbeiter die da im Rathaus gearbeitet haben. Diehaben ja auch so ( ), ich war nit bei dene in dem drinnenweil, und sie waren ja, dann waren viele dann ähm, da haben

1050auf unserem, auf unserem Territorium waren ja auch Firmen.Diese Firmen, die bei uns auf diesem Territorium, die waren,die kamen ja auch immer alle zusammen zu Sitzungen undalles, und jede Firma hat dann Aufgaben gehabt, ja das unddas und das, da das zum Beispiel wenn auf der Straße da, das

1055ist ja nit so wie hier, da ist äh, da liegt n Haufen Schutt und daund da und dann, wenn dann Frühling dann, aja müssen wirdann wieder die Straße entlanggehen dann sagen dem unddem was da, das sie alles aufräumen, weißt du, so war das so.I: Hm. Hm.

1060E. C.: Das war schon auch ne Aufgabe für, für die Leute unddann, die gewählt wurden oder wie das da war, und dannhaben die das auch das alles einigermaßen in Ordnung istund die Straßen aussehen, dann haben die geguckt, da war ja,die Straßen waren ja nit Asphalt oder mit Steine belegt oder

1065so, da musste man schon selber sorgen für das Ordnung oder,dann ein Nachbar bringt ein Sack und schüttet das auf dieStraße und die andere dann noch n Haufen und noch, dannkann kein Auto vorbei, weißt du so. So Ordnung und so, klar,da haben die immer gemacht.

1070I: Hm, hm.E. C.: … Doch ich kann nix von unserer Zeit kann ich keineInzidenten erzählen (weiß ich nit), die haben so viel Nationa-litäten und immer gut alle miteinander ausgekommen (7).I: Hm

1075E. C.: Aber wie man sagt ja, die Leute sind eigentlich allegleich. Deutsche, Russen, bei jedem – klar die Mentalität istanders – bei jedem sind auch solche Leute auch solche Leute,weißt du, das ist bei jedem Volk so…

Page 89: it - Gesellschaftbilder Und Selbstverst Russlanddeutscher Aussiedler in der Sowjetunion und in Deutschland

Interviewprotokoll: Jakob (und Lydia) Egert 79

I: .. Wie wurden bei in Ihrem Leben wichtigen Angelegenhei-1080 ten die Entscheidungen getroffen?

E. C.: Was meinst du jetzt wichtige (Sachen)?I: Naja, oder mehr oder minder wichtige.. Umzüge, Arbeits-stelle, Schule der Kinder und.. Heirat.E. C.: So wie, ach das war ja, selbstverständlich so die Schule

1085 war eine, wir haben im Dorf zwei Schulen gehabt, zwei große,meine Kinder sind in die Schule, die war bei uns direkt ge-genüber, sind die da zur Schule gegangen da, das war ja keinProblem… Das hat man alles gemacht wie, ja gut.. klar habenunsere Eltern zu uns auch immer gesagt: »Mädels, wenn ihr

1090 heiratet, heiratet Deutsche, keine Russen!« Das war der Spruchallen Eltern. Die russischen Eltern haben gesagt: »Jungs, hei-ratet nur nit deutsche Mädels!«I: Hm (lacht).E. C.: (lacht) Aber keiner hat darauf gehört und deswegen

1095 waren auch so viel Mischehen und… Das hat schon jeder, kei-ner hört auf die Eltern, jeder hat seine Entscheidung getroffen,meine Schwester zum Beispiel hat n russischen Mann gehei-ratet, ich hab ja n Deutschen, mein Bruder auch und.. Ja, wasEntscheidungen, wir haben immer zusammen mit meinem

1100 Mann, ja das machen wir und, klar haben wir immer zusam-men. Weil alleine, was kannst du alleine schaffen oder was,nein das muss man ja alles immer bereden und besprechenund wie und was, is nit so einfach.I: Hm (10). Jetzt Sie ja, wie gesagt zwanzich Jahre schon hier

1105 und haben ja die Gesellschaft hier nochmal kennengelernt.Und Sie haben schon angedeutet das es große Unterschiedegibt oder gab und wie würden Sie die Gesellschaft hier be-schreiben?E. C.: Wenn man ehrlich sagt, wir sind äh, auch selten mit so

1110 in so Gesellschaften äh, wir sind meistens unter uns. Gut äh,nee gut, auf der Arbeit und so, doch, aber… eigentlich ganznormal.I: Naja vielleicht, könnten Sie die bedeutenden Unterschiedezwischen den verschiedenen, hier in Deutschland und dort?

1115 E. C.: Naja, jetzt so viel Zeit ist schon vorbei, ich weiß garnit… Ja klar, wir haben ja ganz andere, ich meine, haben ge-habt vorher, früher auch äh, weil wir ja anders erzogen sind(Ehemann kommt ins Zimmer und schaltet den Fernseher an)Wir, und das bleibt ja in einem drin, weißt du diese dieses äh,

1120 das prägt ja einem wie zum Beispiel unsere Kinder oder Enkel-kinder die sind ja auch ganz, die sind ja schon hier integriert,die Enkelkinder die, genauso wie ihr schon.I: HmE. C.: Und so, für uns ist das ja klar ganz anders. Aber jetzt

1125 derzeit kann ich gar nix sagen warum, ich weiß nit.. eigentlich(Fernseher wird lauter gestellt) (20)I: Also wenn Sie da nicht, nichts weiter zu sagenE. C.: Ah nee, ich weiß ja gar nit, naja gut du stell dann,keine Ahnung, ich weiß das nit.

1130 I: Nee, ist ja auch okay, ist ja auch ne schwierige Frage.E. C.: Weil ich sag ja, wir sind äh, wir haben sehr viel Ver-wandte und sehr viel Freunde und äh, sind auch meistensimmer zusammen. Und ja gut, wenn wir was feiern oder wasoder so, wir laden ja, sind ja auch hiesige Deutsche immer

1135 dabei, weil wir ja auch n Schwiegersohn haben und so, keinProblem und laden auch von der Arbeit ein oder so oder zumBeispiel vom Sprachkurs diese Lehrerin als ich fünfzich warhaben wir auch eingeladen und so. Ganz normal.. alle auch

nett und keine ( ), kein, weiß ich nit.1140I: Gut das.. soweit äh.. wenn Sie nicht noch irgendwas zu

ergänzen haben..E. C.: Nein.I: Hab ich keine weiteren Fragen mehr und bedanke mich fürdas Gespräch.

B.5 Interviewprotokoll: Jakob (und Lydia)Egert

Bei der telefonischen Anfrage für einen Gesprächstermin istHerr E. gern zu einem Gespräch bereit; er ist sehr offen undzuvorkommend und meint dass es ein interessantes Gesprächwerden würde. Schon während des Telefonats fragt er auchnach meiner Herkunft und erkundigt sich nach meinen Eltern;wo sie herkommen, wie alt sie sind, wo sie arbeiten…

Wir vereinbaren einen Mittwoch als Termin für das Ge-spräch. Da die Verkehrsanbindung mit öffentlichen Verkehrs-mitteln nach Friesenheim ungünstig ist, schlägt Herr E. mirvor, mich nach der Arbeit mitzunehmen. Wir machen einenTreffpunkt im Zug aus, der etwa eine halbe Stunde bis zumnächstgelegenen Bahnhof fährt. Dort steigen wir ins Autound fahren nochmal fünfzehnMinuten nach Friesenheim zumHaus von Familie E.

Im Zug erkennen wir uns auf Anhieb (nach einer kurzen Be-schreibung am Telefon). Herr E. sagt, er habe mich aufgrundseiner Intuition erkannt; er würde sehen, dass ich eine Aus-siedlerin bin, da ich ihm zugelächelt hatte und damit Offenheitgezeigt habe. Das sei für »unsere Leute« typisch. Wir unter-halten uns über Herrn E’s. Arbeitsweg mit Zug und Auto.Dann fordert er mich auf, etwas über mich zu erzählen. Icherzähle ihm von meinem Studium und er fragt mich nachden Berufsmöglichkeiten, die ich ihm ziemlich breit darlege.Daraufhin stellt er fest, dass ich beruflich viel mit Menschenzu tun haben werde und sagt, er habe da etwas für mich, dasmich interessieren könnte; er würde es mir aber erst zu Hauseerzählen (neben uns sitzt im Zug auch ein Arbeitskollege vonHerrn E.). Damit könnte ich auch »unseren Leuten« etwasGutes tun. Während der Autofahrt reden wir u.a. über übereine Fernsehsendung, die Herr E. gelegentlich anschaut undin der Familien gezeigt werden, die auswandern. Er erzähltvon einer Familie, die nach Australien und einer Familie dienach Paraguay ausgewandert ist. Beide haben dort gut Fußgefasst und sehr schöne Häuser gebaut.

Als wir ankommen sagt er kurz vor der Haustür, dass ichjetzt auch seine Frau kennenlernen würde; er habe lange nachihr gesucht (hat mit 29 Jahren geheiratet) und die Beste gefun-den.

Als wir reinkommen, begrüßt uns Frau E. sehr freundlich.Sie bietet mir etwas zu trinken an und stellt mir Fragen zumKennenlernen, während Herr E. sich umzieht. Sie hat Lasa-gne gemacht, die sie nun auftischt; ich bin satt, aber esse einStückchen mit, wozu ich sehr gedrängt werde. Das Ehepaarbietet mir (auch schon beim Telefonat mit Herrn E.) das Duan, worüber wir uns noch eine Weile beim Essen unterhalten(Frau E.: Früher hat man auch die Eltern gesiezt, was sie derMutter gegenüber bis heute noch macht – »so hat man dasgelernt.« Sie hatte mit ihrer Mutter mal darüber gesprochen,sie zu duzen, aber diese habe mit den folgenden Worten ab-

Page 90: it - Gesellschaftbilder Und Selbstverst Russlanddeutscher Aussiedler in der Sowjetunion und in Deutschland

80 anhang b Interviews und Gedächtnisprotokolle

gelehnt: »Ich hab doch nicht mit dir zusammen die Schweinegehütet, dass du mich jetzt duzt.«). Das Du ist ihnen viel lieber,weil es auch wärmer und näher ist.

Nach dem Essen beginnen wir mit dem Interview. Herr E.holt dazu einige Unterlagen von der Rentenkasse hervor, umsich scheinbar daran zu orientieren. Dort ist aufgelistet, wel-cher Beitrag ihm von den jeweils verschiedenen Arbeitsstellenfür die Rente zuerkannt wurde. Daraus kann er ableiten, wanner wo gearbeitet hat. Er konzentriert sich so sehr darauf, dassihm grobe Fehler unterlaufen. Ich habe den Eindruck das dieseUnterlagen ihn sehr ablenken und ihn auch an einer Erzäh-lung hindern. Herr E. versteckt sich hinter den Unterlagen,die ihm offensichtlich zum Abbau von Nervosität dienen.

Während des Gesprächs sitzen wir am Esszimmertisch. Zu-nächst sitzt Frau E. dabei und wirft hier und da etwas ein,dann setzt sie sich im selben Raum auf ein Sofa, das um dieEcke steht. Später setzt sie sich wieder zu uns an den Tischund steht wieder etc. Nach einer Weile kommt die Tochtervon der Arbeit und geht ein paar mal rein und raus. Frau E.geht mit ihr eine Weile aus dem Raum, kommt dann aberwieder, setzt sich erneut zu uns und schaltet sich dann stärkerins Gespräch ein.

Das lange Sitzen, der intensive unangenehme Geruch desHundes (der zu meinen Füßen liegt), die beschriebene un-ruhige Atmosphäre und das Gefühl, dass Herr E. leicht ab-schweift und für das Thema mir nicht relevant erscheinendeGeschichten erzählt, machen mich ungeduldig. Folglich unter-breche ich ihn hin und wieder und stelle die nächste Frage.Er fühlt sich aber offensichtlich auch wohler, wenn ich ihmkonkrete Fragen stelle, wenngleich er das zunächst nicht sothematisiert.

B.6 Interview: Jakob (und Lydia) Egert

I: Em also wie schon angesprochen interessiert mich IhreLebensgeschichte, und zwar wie das Leben für Sie war in derSowjetunion und wie es war in Deutschland für Sie hier undwie es auch heute ist und Ihre ganze Lebensgeschichte, also

5 alles was Ihnen einfällt und äh was Ihnen wichtig ist, dasist für mich auch dann interessant, und ich werde äh Ihneneinfach nur zuhören und erstmal ähm Sie auch nichts weiterfragen und Sie ausreden lassen und wenn ich ne Frage habensollte dann werde ich sie mir aufschreiben und sie dann em

10 stellen, wenn Sie fertig sind mit Ihrer Geschichte. Lassen Siesich Zeit.J. E.: Ja okay Kann man Pause machen, kurz?I: Ja klar. Was ähJ. E.: Ich wollte meinen, ich hab das alles aufgeschrieben

15 (steht auf und holt Unterlagen von der Rentenversicherung).Schon auch lange Zeit ( ) und für was, wo ich war undwannI: Aber es geht darum das was Sie erinnern können, es gehtnicht

20 J. E.: Ja ja, schon klarI: Sie müssen da jetzt nicht, was Ihnen nicht einfällt, fälltIhnen nicht einL. E.: Eben. Eben.I: das ist nicht weiter tragisch.

25 J. E.: Ja ich heiße Jakob Egert, ich bin geboren fünfundzwan-

zigster Juni neunzehn hundert zweiundfünfzich im damaligeSowjetunion, in die Stadt Krasnojarsk. Schöne, wunderschöneStadt, auch eine Brücke, Marmorbrücke über Jenissei, da gibt’so Fluss Jenissei.. und am Abend das ist so wunderschöne Aus-

30sicht über den Fluss. Ja, und wie gesagt die Marmorbrücke diewar was besonders schönes gewesen, wir sind viel spazierengegangen, an einem Ufer am Fluss, am anderen ( ), die Stadthat sich auf zwei Teile aufgeteilt, ähm lewi Bereg, prawi Beregja.

35I: Hm. Links und rechts.J. E.: Links und rechts, so haben sie gesagt und so haben sieauch genannt ja. Ja und wir haben auf der rechten Seite gelebtvom Fluss. Ja, nicht weit.. Ja das ist so eine russische Siedlunggewesen damals, Saton hat geheißen, ja und da wohnenmeine

40Eltern noch, da is so in Baracken haben sie dann gewohnt, jamit dem Großvater, meine Eltern und dann haben sie auchuns bekommen, die Kinder, das warL. E.: Moment mal, war das russische Siedlung oder deutscheSiedlung in Russland?

45J. E.: Na das ist deutsche ja ich mein, russlanddeutsche russ-landdeutsche, ja russische kann man sagen, das heißt russ-landsdeutsche Siedlung.I: Hm.J. E.: Ja, die Deutschewie hier dort gewohnt haben. Ja und.. in

50diese Baracke haben wir gewohnt mit den, wie gesagt, mit denGroßeltern, den Eltern zusammen. Ja, und dort, mit Kinderalle zusammen und Geschwister, ich hab drei Brüder und eineSchwester, ja sind jünger wie ich, muss man die Jahrgängeauch?

55I: Sagen Sie einfach wasL. E.: (flüstert ihrem Mann etwas zu)J. E.: Ich meine mit mir drei sind wir. (zur Frau: Stör du michnit doch) So, ja ich hab noch zwei Brüder Abraham Egert,Weriand Egert und Hannah Egert, das ist meine Schwester,

60ja die jüngste… So, der Weriand ist in vierundfünfziger Jahrgeboren, Abraham achtundfünfzich und die Hannah einund-sechzich. Ja.. so sind wir aufgewachsen in dem Barack ja, unddann sind in die Schule gegange.. und später hat der Vaterbekommen eine Wohnung, das war dann schon in Platten-

65haus kann man sagen ja. Mit Betonwände so zusammen ( )stehen heut in DDR auch so Plattenhäuser. Stehen leere auchviel. In so einem Haus haben wir gewohnt auch. Haben wirDreizimmerwohnung gehabt.. ja, und da haben wir dann dieSchul angefangen. Ha, das war um.. Schulausbildung vierund-

70zwanzigsten sechsten neunundsechzig hab ich angefangenbis dreiundzwanzigster sechster einundsiebzig das war meinSchulausbildung.L. E.: Wann hast neunundsechzig angefangen?J. E.: Steht druf ja. Zweiundfünfzich bin ich geboren ja. Bring

75mich nicht durcheinander Lydia.L. E.: Zweiundfünfzich plus sieben ist neunundfünfzich.J. E.: Ah warte mal, ja stimmt ja.L. E.: (lacht)J. E.: Ja neunundfünfzichwar das, neunundfünfzich dann hab

80ich angefangen ja… Jedenfalls da steht bis einundsiebzig habich die Schulausbildung gemacht, das heißt ich hab, ich sagma ähm acht Klassen zuerst gemacht, normal in der Schule,und dann war ich in so eine Abendschule, hab ich noch, nachachte Klasse bin ich gleich in die elfte.

85I: Hm.

Page 91: it - Gesellschaftbilder Und Selbstverst Russlanddeutscher Aussiedler in der Sowjetunion und in Deutschland

Interview: Jakob (und Lydia) Egert 81

J. E.: Ich war in diese Zeit grad im Militär, Orchester hab ichangefangen, mit fünfzehn Jahre, das war so, das wir, in Kras-nojarsk das war so eine Militär na Offizierschule, sagen wir so,wo die Offiziere ausgebildet haben. Und die Offizierschule die

90 hat da so Militärorchester gehabt, und die haben genommenso junge Leute, ja mit fünfzehn Jahre kann man da eintreten,im Orchester, die haben da ausgebildet. Und da war ich nochzwei Jahre bevor ich noch in meine Wehrdienst eingetretebin, war ich schon in dem Orchester und hab ich schon Musik

95 gemacht, gespielt, ja mit fünfzehn bis siebzehn Jahre so un-gefähr ja. Dann hab ich ein Jahr war ich zuhause, zwei Jahre,einundsiebzich hab ich die Schule geendet ja, Schulausbildunggemacht und so zweiundsiebzich hab ich im Militär, hab ichschon äh Wehrdienst gemacht, schon dann richtig. War ich

100 dann, wie gerufen schon zum Militär ja. Ja im Mai Monatzweiundsiebzich bis Mai bis Mai Monat vierundsiebzich warich dann ich Tschitaa, das war im Norden ja, ist ( ) Uralja.. See Baikal vielleicht sagt das was, das liegt ganz hinten,Tschitaa und dann, dort hab ich, nit weit von Tschitaa hab ich

105 meine Militär, vierundzwanzig Monate war ich dort im Mili-tärdienst, zusätzlich. Zwei Jahre war ich früher, von siebzehnbis neunzehn, und da dann von neunzehn dann bis einund-zwanzich war ich dann im Militärdienst nochmal zwei Jahre.Insgesamt war ich vier Jahre im Militär, im Orchester ( ), in

110 Parade und so mitgespielt, das war auch sehr schöne Zeit.. ichkann mich ganz gut erinnern, wir mussten immer spielen anso Weihnachtsfesten oder so, wenn die großen Paraden sindja, dann muss man immer so laufen ( ), und die Militär-orchester isch auch eine besondere Sache gewesen, da musst

115 man auch laufen so wie Militär, so wie Offiziere, marschierenund Musik spielen. Und dann mussten wir dreißig Marschauswendig kennen und das haben wir auswendig gelernt undPrüfung gemacht, für jeden Marsch müssen wir beim Dirigentunsere Partitur, was wir spielen sollen, müssen wir ihm das

120 vorspielen und er hat das kontrolliert ob man das richtig spie-len kann. Das war (ne schwere und alles laufen). Das war sehrinteressante Zeit auch und lustige ja, natürlich wir haben bisMittag, von morgens früh, von neun Uhr bis ein Uhr habenwir Musik gemacht, ( ) Musikorchester und Probe gehabt,

125 wir waren dann die welche schon im Militär haben sich so,nach dem Militär noch sind sie geblieben, so wie Berufssolda-ten ja, die haben dort gearbeitet, haben da auch ganz gutesGeld verdient und Musik gemacht auch.I: Hm hm.

130 J. E.: Und das wäre auch mein Weg vielleicht (schön). UnserDirigent damals der wollte sehr gerne das ich auch die… ja indie Dirigentenschule in Moskau eintrete und das ich das auchwerde. Später auch ( ) Militärdirigent ja. Des isch auch sehrschöner Beruf, damals in Russland das war einer von intelli-

135 genteste im Militär, zuerst gut du verdienst ja, isch klar dieverdienen fast doppelt wie normal ja, Sarah kommt (Tochterkommt von der Arbeit nach Hause), ja, und wenn die Offiziereja (Tochter kommt ins Zimmer, unterhält sich kurz mit uns)..Ja mit dem Militärorchester das war auch irgendwie auch eine

140 so Ziel, etwas in Musik in diese Richtung machen, Dirigentwerden oder so, im großem Orchester spielen ( ). Ich habversucht, drei mal hab ich probiert im Konservatorium eintre-ten ja.. aber.. es wird doch nit weitergegeben oder (lacht), ischnur doch für dich Aufnahme?

145 I: Ja ja a ja, und ist anonym und sowieso, ja.

J. E.: Das isch so gewesen damals wenn ich, haben sie mirgesagt, auch im Duschanbe hab ich wollt ich eintreten, ja, unddie haben mir gesagt: »Wenn du wechselst die Nation, Na-tionalität russische dich einschreibst, kein Deutscher, das du

150deutschewegmachst, das du sichwie russische ( ) einschreibst,ja bist du Russ, dann können wir dich aufnehmen.« So un-gefähr ja. Aber mir war auch Wunsch natürlich irgendwannausreisen nach Deutschland, oder auch irgendwann sehen un-sere Vaterland, mal.. was das ist überhaupt, unsere geliebte

155Deutschland, wie das aussieht und alles. Ja, und dann habich… hab ich natürlich mir gekämpft zwölf Jahre, ja habe wirjedes Jahr Visum müssen wir machen und zwölf Jahre hat’sgedauert bis wir die Visum bekommen haben, das wir ausreisedürfen ja, nach Deutschland. Aber bis dorthin, was war da

160noch so, Militär waren wir schon ja, ja bis vierundsiebzichwarich im Militär in Russland, dann bin ich nach Hause gekom-men, ja und grad von dem Militär von dem, zweiundsiebzichwar ich ein Jahr, einundsiebzich bis zweiundsiebzich war ichin Duschanbe, diese Zeit, in Mittelasien.

165I: Hm.J. E.: Ja, das isch grad die Zeit wo ich ein Jahr dort gearbeitethab, das war auch so ein Scholkawi Kombinat, wie heißt dasLydia, das isch so wie Textilfabrik oder so. Dort hab ich jagearbeitet Dreher auch ein Jahr und hab gewohnt bei meine

170Tante ja… Haben wir auch ähm, hab ich Musik auch weiter-gemacht, ich hab meine so Schüler gehabt und dann Chorso bisschen im Kulturheim hab ich so bisschen musikalischmich arrangiert mit junge Leute, dann haben sie gesungen soim Chor, ja. Kleiner Chor war das ja und haben Musik auch

175gemacht. Ja und dann zweiundsiebzich bis vierundsiebzichwie gesagt war ich beim Militär und dann vierundsiebzich imMai Monat bin ich dann zurückgekommen nach Hause.. jaund da waren schon.. ja.. nach Hause ja, zu meinen Eltern inKrasnojarsk. Hab ich überhaupt gesagt das ich in Krasnojarsk

180geboren bin?I: Ja ja.J. E.: Krasnojarsk ja, da bin ich wieder zu meinen Eltern ge-kommen und dann haben wir gehört schon das unsere Onkelder wollte ausreisen nach Deutschland.. Ja, der isch auch frü-

185her ausgereist nach Deutschland. Ja und dann hab ich dannnoch, nach dem Militär hab ich mich noch so auch im Kultur-heim äh gespielt, Musik gemacht.L. E.: Dann bischt du nach Moldawien gezogen.J. E.: Tanzmusik hab ich gemacht, dann war ich, in Molda-

190wien sind wir umgezogen. Das war auch (5) was war dasfünfundsiebzich.. nee Kamarad hab ich gearbeitet dochL. E.: Das isch doch Moldawien, Kamarad.J. E.: Das isch Kamarad, ja stimmt.I: Fünfundsiebzig sind Sie nach Moldawien?

195J. E.: Ja da sind wir dann nach Moldawien hergezogen da,nach demMilitär, ja bin ich zumeinemOnkel gezogen, stimmt,fünfundsiebzich. Und da hab ich angefangen arbeiten, da habich angefangen zu arbeiten in Moldawien, in Kriekau, ja heißtdas Dorf Kriekau. Kriekauer Champagner machen sie da auch,

200verkaufen sie in Deutschland, sehr guter auch. Ja und da habich gearbeitet dann Schreiner, in einem Sowchose ja, sagen wirso. Mehrere Schreiner waren dreißich Leute, Tischler, Schrei-ner waren wir alles zusammen, haben wir Möbel gemacht,Fenster, Türen, alles so, produziert ja (22). Da passt was nit,

205ich glaube das war noch vor dem Militär, fünfundsiebzich war

Page 92: it - Gesellschaftbilder Und Selbstverst Russlanddeutscher Aussiedler in der Sowjetunion und in Deutschland

82 anhang b Interviews und Gedächtnisprotokolle

ich schon in Deutschland.L. E.: Nein du warst in Moldawien.J. E.: Ja gucke ma, da steht schon D-Mark hab ich bekommen,kann nit sein… Achso das kann sein das sie schon übersetzt

210 haben.I: Ja ja.J. E.: Die haben übersetzt das ja in D-Mark, das könnte sein,ja. Stimmt, wir sind doch achtundsiebzich sind wir nachDeutschland gekommen ja.

215 L. E.: Siebenundachtzich. Eu Jakob.J. E.: Siebenundachtzich stimmt.I: (lacht)J. E.: okay Ja, hab ich dort gearbeitet, dann einundachtzichhab ich geheiratet, meine Frau, Lydia Egert.

220 I: In Moldawien dann?J. E.: In Moldawien ja.. Dann, in zweiundachtzich schon dieSarah auf die Welt gekommen, unsere erste Tochter, .. ja…dann, vierundachtzich war der Abraham auf die Welt gekom-men, unsrer Sohn, da haben wir uns natürlich gefreut sehr,

225 auch die Sarah natürlich. Sarah war überhaupt besonders, daserste Kind, das kann ich auch nicht vergesse, war in dem Kran-kenhaus da abholen meine Frau und meine Tochter und danndie Hebamme gibt mir das Mädchen in die Hand, und danngibt sie mir die Sarah in die Hand ja und die hat so geweint

230 ja, auf einmal hat sie auf mich geguckt hat sie angefangen zulachen ja.I: Ohh.J. E.: Sag: »Gucke mal wie goldig, die hat mich gleich erkannt,ihre Papa.« (lacht)

235 I: (lacht).J. E.: Das Mädchen ja, hat sie gleich angefangen zu lachen.Das war so komisch, damals erstes Kind, das ist was besonde-res ja.I: Ja.

240 J. E.: Ja, und dann wie gesagt, vierundachtzich war der Abra-ham gekommen ja, und dann die Hannah, wann isch die Han-nah gekommen Lydia? Drei Jahre später ja, oder zwei?L. E.: Jakob (vorwurfsvoll), siebenundachtzich.J. E.: Siebenundachtzich ja, stimmt siebenundachtzich und

245 die war, ja, und da fängt’s an. Wenn die Hannah schon sie-ben Monat alt gewesen war,sieben Monat war sie alt und dahaben wir bekommen unsere Visum nach Deutschland. Dasind wir ausgereist nach Deutschland. Ja.. das war auch ganzneue Abschnitt, für uns natürlich.. neue Überraschungen.. wie

250 damals auch mit neunzich Rubel ja, haben sie uns für jedengegeben, und dann können wir hier umtauschen und allesund so, haben sie umgetauscht noch drüben in Russland. Unddas war damals eins zu eins, das war neunzig D-Mark ja, Kin-der haben sie noch was gegeben ( ). Aber gut, wir haben

255 gewohnt äh gelebt erste Zeit im Hotel, in Schierstein Wiesba-den, aber das war so ganz alter Hotel und oben im Dach Stuhlkann man sagen, ein Zimmer mit drei Kinder ja. Ja (5) undnach zwei Monate haben wir Wohnung bekommen, Dreizim-merwohnung auf dem Sonnenberg, und dann sind wir schon

260 eingezogen in die Wohnung, ich habe Arbeit bekommen. Ichhabe angefangen auch Tischler Schreiner dort.. WiesbadenSonnenberg, aber da hab ich nit lang gearbeitet, das war nichtso tolle Bezahlung, so wenig (wie mehr) so provisorisch dasich bisschen bekommen hab.

265 I: Hm.

J. E.: Ja, und dann bin ich zu Firma X mit achtundachtzigOktober Monat bin eingetreten zu Firma X in Wiesbaden. Ja,da hab ich die erste zwei Jahre hab ich schichtweise gearbeitetfür ( ).. und dann hab ich mich bekannt gemacht auch in

270diese Zeit das gibt es auch Orchester in Firma X in Wiesbaden,und die haben mich eingeladen und dann haben sie auchgesehen das ich spielen kann und, mehrere Instrumente kannich spielen auch, Saxophon, Klarinette, Akkordeon, KeyboardI: Hm, ach ja, ganze Palette

275J. E.: Ja isch meine Hobbies kann man sagen ja. Ja, und diehaben das entdeckt und dann haben sie mich angeboten beiihnen zu spielen ja. Angefangen zu spielen und dann meinLebensstil hat sich ganz auch geändert. Von meine Arbeitszeitdurch Bekannte, durch den Dirigent haben sie mir beschaffen

280dann normale Schicht arbeiten auch, so das ich auch immerfrei bekomme wenn wir spielen irgendwo in die Stadt ischleichter mit normale Schicht, wie so von der Schicht is sehrschwer dann rauskommen. Aber so wenn man normal Schichtmacht dann, haben sie mehr sagen wir so Kontakte gehabt,

285mehr Beziehungen, kann man besser freistellen mich. Und bisheute dann stellen sie mich frei wenn ich irgendwo spiele inWiesbaden oder in X-Hof oder, anderes mal können wir dichauch einladen wenn du Interesse hast uns zu hören. Wir sindauch sehr beliebt in der Stadt, machen auch, in X-Halle spielen

290wir, X-Hof, X-Schloß. Lydia war auch dort, geht sie auch gernewenn sie Zeit hat. Ja, wo sind wir stehen geblieben? BeiI: X-Firma haben Sie angefangen zu arbeiten und äh sinddann ins Orchester eingetretenJ. E.: Ja und seitdem, wo ich eingetreten bin dann mach ich

295jetzt normale Dienst, jetzt bin ich Siebdruckschablonfertiger,heißt das Beruf.. ist ganz langes Wort, aber es heißt so ja, wirmachen die Schablonen ja, für den Siebdruck, ja.. willst dasauch wisse oder, brauchst du das?I: (lacht)

300L. E.: Nein das ist nicht Sinn der Sache.J. E.: Na gut, okay Auf jeden Fall isch auch nicht schlechte Ar-beit und bisschen leichter sagen wir so, nit so schwere Arbeitaber muss man bisschen sich anstrengen und kontrollierenund nachgucken und (Ablass) schaffe ja, ( ) die Schablone

305dann die ganze Serie ist abhängig, wenn irgendwelche fehltdie Schablone dann muss man neu machen ja. Das isch so einProzess wo muss man n bisschen achten und akkurat machen.Aber is.. die Arbeit ist ganz gut bis jetzt ja und hoffen wir dases so bleibt, wir sind sehr zufrieden bis jetzt.

310L. E.: Seit wann lebst du in Friesenheim.J. E.: Seit dreiundneunzich.L. E.: Ja warum lebst du in Friesenheim?J. E.: Wie warum leb ich in Friesenheim?L. E.: Na warum?

315J. E.: Na wir haben gebaut ein Haus.L. E.: Das musst du erwähnen.J. E.: Wir haben zweiundachtzich, naja gut, ich komm schonzu ( ), lass mich doch einfach sprechen, tust mich immerstören.

320L. E.: (lacht)J. E.: Ich will was anderes sagen aber muss, muss immer hö-ren auf die Frau (lacht).I: Sagen Sie was Sie meinen.J. E.: Gut, okay Ja, jetzt hascht du mich rausgebracht, jetzt

325hascht du gewonnen (lacht). Und zweiundachtzich ja haben

Page 93: it - Gesellschaftbilder Und Selbstverst Russlanddeutscher Aussiedler in der Sowjetunion und in Deutschland

Interview: Jakob (und Lydia) Egert 83

wir das Grundstück gefunden hier in FriesenheimL. E.: Zweiundachtzich?J. E.: Zweiundneunzich, ja zweiundneunzich haben wir hierdas Grundstück gekauft. Ja und dann haben wir mit der Firma

330 Rohbau aufgebaut und dann hab ich den Ausbau und alles,Fliesen, Teppich und oben, Verkleidung alles, mit Holz, habich dann selbst mit meine Kinder, mit Abraham, Lydia, werwas kann hat mitgeholfen ja, deswegen schätzen sie auch dasHaus bisschen, wissen sie ( )

335 L. E.: Der Abraham hat das Haus ausgebaut ( )J. E.: Ja du hast auch geholfen, hast vergesse?L. E.: Ja aber (lacht) der Abraham hat meistens gemacht.J. E.: Ich hab doch gesagt das der Abraham hat, Abraham undalle zusammen, ich will doch niemanden ausschließen oder

340 beleidigen. Wenn ich jetzt nix gesagt hätte über sie, dann wirdsie sagen: »A warum sagst du nicht.«L. E.: Für dich war wahrscheinlich wichtig, was für Erwartun-gen hatten wir gehabt als wir nach Deutschland gekommensind, ja?

345 I: Mir war wichtig das es erstmal ähmJ. E.: Lass du mich aussprechen, sie holt sich raus was siebraucht.I: Das ist richtig ja. Sonst frag ich nach wie gesagt.J. E.: Sehr gut, aus. Ja, ja… Jetzt bleib ruhig.. Ich war schon

350 dreimal ( ) das Haus gebaut (lacht). Zweiundneunzich ha-ben wir das gebaut ja, wie gesagt, und so langsam nach dreiMonate, wie das Rohbau abgeschlossen war, dann sind wirdann, haben wir da unten tapeziert und die ganzen Sachennach oben gebracht und sind wir praktisch eingezogen in das

355 Rohbau. Und so ein Zimmer nach dem anderen haben wirdann fertig gemacht, das ist auch Geldfrage gewesen, Woh-nung bezahlen und Haus bezahlen, das war für uns doppelteBelastung gewesen. Wir können das nit ( ) machen, wenn wirschon, wie gesagt das Ziel gehabt haben ein Haus, dann woll-

360 ten wir auch schneller rein in das Haus ja, isch klar. Deswegensind wir auch reingezogen und dann so langsam langsam, einsnach dem anderen haben wir das ausgebaut. Bis jetzt habenwir noch Baustellen.. gibt’s immer Arbeit. Im Haus das hörtniemals auf.

365 I: Ja.J. E.: Auch wenn das Haus fertig ist, wird wo anders kaputtgehen, dann muss man wieder von vorne anfangen. Ist derNachteil. Aber, Haus isch, so sage, sagen wir so, du bischt nbisschen freier wie in die Wohnung ja, du hast bisschen Luxus

370 dann. Diese Arbeit, aber der Luxus kostet natürlich Kraft undGeld. So sieht alles gut aus, freut man sich ja, aber muss manauch natürlich nit vergessen das muss man arbeiten und wasmachen für das ja. Wenn man was erreichen will, dann mussman was tun. So ist das im Haus und überall so denk ich.

375 I: Hm.J. E.: Ja (5) was kann man noch sage. Ja und seitdem, seitdreiundneunzig jetzt, was haben wir jetzt schon zweitausendneun, ja fast neunzehn Jahre wohnen wir hier. Ja, die Kinder,sind auch froh natürlich… jetzt ziehen sie langsam aus wieder,

380 wo sie erwachsen sind, die Hannah zieht nach Bayern, najader Abraham studiert in Wiesbaden und die, ja was kann mannoch sagen.. Wir sind zufrieden, eigentlich sind wir zufriedendas wir da sind in Deutschland und das wir unsere Ziel er-reicht haben, ja, und wenn ich jetzt das so andersrum drehen

385 werde ja, und stelle ich mir vor das ich noch in Russland wäre

und hätt ich jetzt mit meinen Freunden äh jemand Nachbarngesprochen in Russland und gefragt dem oder sagen wir sogesagt dem, dass ich wollte irgendwann nach Deutschlandfahren, ja, und dort ein Haus bauen.. (Da werden mir wahr-

390scheinlich die anderen da stehen in Russland) ( ): »Der ischn Dummer.« Der isch noch hier in Russland aber er will schonnach Deutschland und dort ein Haus bauen, ja. Und das war,das sind meine Ziel, und das, ich hab die Ziele immer verfolgt,erste Ziel war nach Deutschland zu kommen, das hat gedau-

395ert zwölf Jahre, aber wir haben das geschafft, zweite Ziel dasHaus zu bauen, haben wir auch Ziel gestellt, das haben wirauch geschafft, ja.I: Hm.J. E.: Nächste dritte Ziel haben wir auch, wir wollen auch für

400die Zukunft das unsere Kinder versorgt sind, das wir natürlichauch versorgt sind das das Leben bisschen besser für uns istund wird. Natürlich wir versuchen auch noch nebenbei wasmachen ja, arbeiten… Und da haben wir dann entdeckt einsehr gutes, lukratives Geschäft, ja ganz tolles, was ich grad

405erzählen wollte dir, oder sollen wir das später?I: Das äh, das erzählen Sie mir später besser vielleicht.J. E.: Gut. Ja.. wie gesagt, naja, wir sind sehr zufrieden daswir die Ziele erreicht haben, das wir in Deutschland sind aberes gibt auch Vorteile und Nachteile ja, in Deutschland. Das

410weißt du auch ja, bestimmt. Is nit alles so wie man denktmanchmal ja, denkt man soI: Werden Sie konkreter.J. E.: Naja wie wir so daher gefahren sind ja, da hat man ge-dacht: »Naja, fahren wir nach Deutschland, da braucht man

415nit viel tun und da ( ) alles von sich selbst.« Ja, ich meinearbeiten sollt man schon, aber so wie man das immer drübegearbeitet hat, das hat man bisschen lockerer genommen dieArbeit, das war nit so Kontrolle sagen wir so ja, drübe warensie bisschen.. freier auf der Arbeit ja, da hat der Chef gesagt,

420morgens früh isch gekommen: »Ja okay, mach mal das, machmal«, dann isch er weg. Naja dann guckt man wie man dasmacht, ob man Material hat oder, ja haben wir nix gehabt, dahaben wir nix gemacht. Und dann über die ( ) am Ende Mo-nat muss man auch bezahlen ja die Leute. Und wenn wir was

425gehabt haben dann haben wir geschafft, gearbeitet ja, und obeinem das gefällt oder das, isch klar was in Russland war, war( ) Defizite was, das kann man nit mit Deutschland verglei-chen ja. Und hier gibt’s so viel in Deutschland, da kann manalles kaufen alles, und, aber dann muss man auch arbeiten ja.

430Damuss man sich so vorstelle, wie in Russland ( ) arbeitet, damuss man hier zwei drei mal .. schwerer arbeiten ja. Natürlichdu hast auch Geld ja, isch klar das ist nicht umsonst aber du,der Mensch der wird von der Arbeit und von dem Stress wirder mehr belastet hier in Deutschland wie zum Beispiel damals,

435in Russland ja..L. E.: Das kann man auch nicht vergleichen, das sind ganzandere Bräuche, andere Sitten ja, Russland und Deutschland.J. E.: Ja das sindL. E.: Wir hatten nur dort so eine Einstellung, wir wollen nach

440Deutschland das unsereKinder Deutsche bleiben. Ja drum sindwir nach Deutschland gekommen.I. Hm.J. E.: Ja das war auch der einzige, der wichtigste Grund sagenwir so.

445L. E.: Das war der Grund, wir lebten auch dort sehr gut. Uns

Page 94: it - Gesellschaftbilder Und Selbstverst Russlanddeutscher Aussiedler in der Sowjetunion und in Deutschland

84 anhang b Interviews und Gedächtnisprotokolle

fehlte an nix ja, uns fehlte in Moldawien an nix.J. E.: Ja gut ich hab dort viele Bekannte gehabt, ich hab gear-beitet beim (Chef) bei einem zuhause ja.L. E.: ( ) Wahrscheinlich deine Eltern in Tadschikistan auch

450 ja. Weil wir waren alle Arbeitstiere Deutsche, wo Deutschegearbeitet haben, sie hatten auch immer was gehabt.J. E.: Wir haben drüben auch gearbeitet ja. Ich war damalsSchreiner und hab bei dem selbst Direktor zuhause gearbeitet,so die Schränke gemacht, die Türen verkleidet alles mit Leder

455 mit allem, das kann man hier gar nicht bezahlen ja. Aberso richtig bei intelligent großen Leuten musst ich da sowasmachen ja.I: Hm hm.J. E.: Dann Schränke und Terrasse, Balkonen und alles so äh

460 umgebaut oder verglasert ja so wie.. sind so Lodgia und dannwollen sie das mit Glas zumachen und dann haben wir Rah-men gemacht und Glas zugeschnitten, alles selbst gemacht ja,und dann haben wir Boden gemacht, Bodenverkleidung, alleswas.. In Russland gibt es keine (Intellekte) so zum Beispiel wie

465 hier Tischler und dann fertig oder Schreiner und fertig. Dortbist du Tischler, Schreiner ja du machst alles. Ja und Glaser ja,Glas zuschneiden für die Fenster, Boden mach ich und auf dieBaustelle muss man Beschallung machen irgendwo ja, habenwir alles selbst gemacht, ist alles unsere, du bist, sagen wir mal

470 so, mehr flexibel gewesen ja. Isch einer Beruf aber du kannstvier fünf Stück in einem verbinde ja. Ich kann Glas schneiden,ich kann Boden legen, ich kann Paneelen legen und alles ja,ich kann alles theoretisch machen, alles (im Kosmos ) (lacht).I: (lacht) Hm.

475 J. E.: Ja, wenn man jetzt übersetzt mich, was ich alles machenkann ja, dann muss man sagen elektromusikalischer Schreiner(lacht). Und jetzt noch Siebdruckschablonfertiger dazu.. alleszusammen ist (lacht).I: Ja, und trotzdem hat man noch nicht alles damit.

480 J. E.: Ja. Ja. Und trotzdem der Mensch kann niemals alles wis-sen, der Mensch lernt immer weiter und bildet sich immerweiter.. und das isch auch gut so ja, wir können immer wasdazulernen und immer was neues machen und probieren undmanchmal ist gar nicht so schlecht wenn man sichweiterbildet

485 und entwickelt, das haben wir auch verstanden ja und deswe-gen machen wir das auch. Versuchen wir halt so bisschen wasmachen und.. ja (atmet aus).I: In der Siedlung in der Sie geboren sind, das war gleich nedeutsche Siedlung, hab ich das richtig verstanden?

490 J. E.: Ja das sind russlandsdeutsche.I: Naja aber Deutsche haben da gelebt?J. E.: Ja ja, unsere Deutsche ja, Russlanddeutsche ja, die habendort gelebt ja.I: Aber war ne russische Stadt?

495 J. E.: Das isch ne richtige russische Stadt, Krasnojarsk ja, sau-ber russische Stadt. Aber dort habenDeutsche gelebt ja, die wa-ren damals ausgewandert ja, meine Eltern waren ausgewan-dert, sind sie verschleppt gewesen ja nach Sibirien, mein Vaterkommt aus Selz meine Mutter aus Kutschigan, das isch nit

500 weit von Odessa, vom Schwarzem Meer.. da kommen meineEltern her. Ja, die Häuser, da steht jetzt nix mehr dort, allesschon kaputt gemacht, früher haben sie große Bauernhöfegehabt auch. Mein Opa der hat früher noch im Bahnhof dieKamine gebaut, ja die großen, richtig das das nur geheizt wird

505 mit Kohle und so..

I: Wie war das Leben da in der Siedlung, wie lang haben Sieda gelebt, wie alt waren Sie als Sie da weg sind?J. E.: Achso, wie alt war ich. Ja das war, da war klein Kind jaund die erste Schuljahre war ich, hab ich dort gewohnt, in dem

510Barack und dann später wie gesagt haben wir die Wohnungbekommen, ichweiß jetzt nicht genau wann wir dieWohnungI: Ja, das ist nicht genauJ. E.: aber das isch auch wahrscheinlich sieben acht Jahre spä-ter.

515I: Aber die Wohnung war in derselben Siedlung? Das war nbisschen weiter, das war n bisschen raus von diesem.. ja, aberda sind auchdann dazu gezogenwieder, die habenwahrschein-lich die Wohnungen gegeben ja, mein Vater war Chauffeur,Lastwagenfahrer, Holz hat er gefahren und dann Beton und so

520im Baustellenbereich, aus dem Wald auch Holz rausgefahren,so Stämme große. Natürlich hat er auch verdient n bisschenmehr wie andere ja, war immer viel unterwegs. War auchmanchmal Monat weg so in dem Kolchose, wenn so Erntezeitwar mussten sie viel wegfahren, Weizen und Getreide, aber

525die haben dann auch gut verdient die Zeit ja. Ja und dannentsprechend haben sie die belohnt, am Ende der Zeit habensie auch bisschen bekommen was von dem Getreide und javon Honig und so, hat der Vater so große Alufässer Honigmitgebracht, und wir sind natürlich alle zu viert, meine Brü-

530der und die Schwester mit Löffel hinter’m Honig (lacht). Daswar so Maihonig ja, so aromatisch, wenn er aufgemacht hatduftet das ganze Zimmer. So richtig große Fässer, kannst dirvorstellen kleine Kinder, so große Löffel jeder und esse, er hatsich gefreut natürlich ja, hat seine Kinder gesehen und wir

535haben nur den Honig gesehen. Ja und die Mama hat, meineMutter hat gearbeitet im.. im wo Brot backen.I: Bäckerei.J. E.: Ja, Bäckerei kann man sagen, kleine. Die haben so Ge-schäft gehabt und die haben dann verkauft, die haben wahr-

540scheinlich irgendwo bekommen das und die haben noch dazugebacken, da Sträußchen und alles ja, ich weiß es nicht genau,die haben verkauft mehr, so wie Cafeteria so.. wie sagt manzu sowas?I: Bäckerei mit Stehcafé.

545J. E.: Ja so ähnliches so. Ja und dort hat sie gearbeitet ja. Na-türlich hat sie dort auch Schokolade gehabt und alles. Unddann haben sie geliefert und wir haben auch Kontakte gehabtmit dem Chauffeur welche das geliefert haben und dann ha-ben sie das abgesprochen und auf einmal haben wir zuhause

550so’n Stück Schokolad, so Backschokolade so dicke, bis heuteesse ich die gern, wahrscheinlich aus der Kindheit noch…I: Hm. Und deutsche Siedlung hat dann auch bedeutet dases auch Schule und viele Einrichtungen in deutscher Sprachewaren?

555J. E.: Nein, das war schon russisch.I: Oder zuhause was hat man gesprochen?J. E.: Zuhause hat man deutsch gesprochen ja, mit die Elternhaben wir auch versucht deutsch, unser deutsch ist dann (er-halten) ( ), nur in der Schule mussten wir dann russisch lerne

560und ja wie gesagt, dort isch nur russische Sprache vorgezogengewesen.I: Kein Deutschunterricht oder sowas?J. E.: Doch, ab fünfte sechste Klasse haben wir dann Deutsch-unterricht einmal oder zweimal in der Woche.

565I: Wie war die Schulzeit?

Page 95: it - Gesellschaftbilder Und Selbstverst Russlanddeutscher Aussiedler in der Sowjetunion und in Deutschland

Interview: Jakob (und Lydia) Egert 85

J. E.: Die Schulzeit? Ja die Schulzeit die war interessant.. Vonerste Klasse bis vierte Klasse war ich so in eine Grundschule…und da waren sozwei hübsche Mädels gewesen in der Schuleund die haben sich verliebt in mich

570 I: (lacht) Hm.J. E.: beide (lacht). Weiß noch eine ( ) war, Petrowa.. JuliaPetrowa, eine war Ärztin geworden später, weiß ich, danngab’s noch eine Artichowa Natascha, die war auch in, Mutterwar Ärztin und die, »Na du musst jetzt alles hören jetzt was

575 ich erzähle. Da isch sie dabei.« (lacht) Ja und die Natascha diewar auch die, die haben gewusst das ich Deutscher bin in derKlasse ja und die, wahrscheinlich haben sie auch, irgendwie,ich weiß nicht warum aI: Und die anderen Kinder waren mehr russische Kinder?

580 J. E.: Ja, mehr russische waren ja. Waren so paar Familien daI: Die Schule war nicht in der deutschen Siedlung?J. E.: Nein das war so russisch mehr, aber wir müssen dairgendwo in die Schule gehen. Ja und ich glaube ich war auchallein in der Klasse damals. Ja und dann, was kann ich sagen?..

585 Gelernt hab ich so nicht schlecht, kann man sagenJ. E.: aber Ingenieur bin ich nicht geworden, warum kann ichdir auch sagen, ich habe mich mehr konzentriert in meine..sagen wir so, hobbymäßig hat mir mehr Musik gefallen. Ichwollte immer mehr musikalisch sowas machen ja, so irgendwo

590 I: Wie kam das?J. E.: Ja so wie James Last wie heute ja, so Orchester irgendwo,das wäre meine Welt, so Ziele. Ja, aber das hab ich nichterreicht, ja, leider noch nit (lacht). Aber wer weiß ja. Allesisch.. ja (atmet aus)

595 I: Wie kam diese Beschäftigung mit der Musik, oder wiekamen Sie zur Musik?J. E.: Achso. Ja, das isch auch so Sache, mit ähh.. mit vierteKlasse hat mich meine Mutter abgegeben, was heißt abgege-ben, in die Schul, wir haben in der Schule so ( ) Prüfung

600 müssen bestehen, jedes Kind muss irgendwo Prüfung zuerstmachen ja in Musikschule. Das heißt du musst gutes Gehörhaben, dann klopfst du (klopft auf den Tisch) und du musstwiederholen, oder genau singen a a a und dann musst du dasauch so wiederholen genau, ja und die Töne treffen und alles

605 so, ja die sind da erste Stufe wo, und so haben sie uns geprüftin der Musikschule. Dann haben sie festgestellt das ich bingeeignet.I: Hm.J. E.: Hehe, haben sie mich genommen, hab ich dann Akkor-

610 deon angefangen zu studieren, zu lernen. Und isch auch soGeschichte in Russland Akkordeon zu kaufen das war sehrschwer. Muss man große (Blatt) weißt du Beziehungen haben.Und ich wollte immer ein gute, deutsche oder was ja. Deut-sche war sehr schwer zu bekommen und mein Onkel, Bruder

615 von meinem Vater, der hat für sein Sohn gekauft tschechi-sche Akkordeon. Zuerst hab ich so auch kleine gehabt, hab ichangefangen zwei Oktav, ja so mit kleine Akkordeon hab ich an-gefangen zu lernen, aber es hat schon ausgereicht für die ersteZeit ja. Hab ich angefangen und dann, haben sie festgestellt,

620 mein Lehrer, das ich hab doch bisschen mehr Talent, habensie mit meinen Eltern gesprochen und beraten was kann manmachen das ich bisschen größere bessere Instrument kriege.Naja und dann, der Bruder von meinem Vater der isch na-türlich noch mehr Beziehungen gehabt, und der hat durch

625 Bekanntschaft dem tschechische Akkordeon gekauft für sein

Sohn. Und das war schon ein richtig großer schöner Konzer-takkordeon, das war so mit vierzehn Register, das war richtigso wie hier Mercedes ja. Und den Akkordeon wollte er für seinSohn, aber Sohn wollte nicht lernen Akkordeon, und dann,

630die haben da gesprochen, mein Vater und mit dem und derOnkel hat gesehen das ich hab Interesse und ich spiel schongut, na dann hat er vorgeschlagen meinem Vater: »Wenn duwillst, dann kauf den Akkordeon für dein Sohn, zahlst du mirbisschen weniger, schon gebraucht«, das isch ihre Sache wie

635die da gesprochen haben, jedenfall hab ich den Akkordeonbekommen. Da war ganz happy, da so schönes Instrument,das ist zweites schon Akkordeon gewesen ja.I: Hm.J. E.: Ja und dann, hab ich mit dem auch wahrscheinlich zehn

640fünfzehn Jahre gespielt, Musikschule, überall, das war schonschwer Akkordeon ja. Und das isch so damals, die Schülermüssen kommen in die Schule, in Musikschule müssen mit ei-genem Instrument kommen und ich bin damals Kind gewesenja, da vierte fünfte Klasse, so schepsich so ja, undmeineMutter

645musste immer mit mir gehen und wegen dem Akkordeon ( )schleppen.I: Achso.J. E.: Und die hat den getragen ja jedes mal, bis heute bin ichdankbar ja. Das sie das immer mitgemacht hat obwohl das

650war wirklich hier, heute setzt man sich ins Auto und fährt manja wo man will und dort musst sie dann mit der Straßenbahnfahren ja, zur Musikschule, sieben acht Stelle und dann nochzwei drei Kilometer laufe ja bis die Musikschule und dann hatsie getragen das alles ja selbst. Die Frau ja, die Mutter ja. Und

655bis heute ja, wenn ich mir das vorstelle, was das für Kräftemüssen sein bei dieser Frau ja, das sie das geschleppt hat zweidrei Kilometer hin und dann zurück ja. Nur das ich lerne, kannstudieren dann ja. Aber ich hab auch gelernt gut undwar guterSchüler auch, in Musik mein ich. Lehrer war sehr zufrieden

660mit mir, wir haben dort auch im Fernsehen Auftritte dann,schon die Kinder haben sie im Akkordeonorchester, haben wireinmal ein Auftritt gehabt, ich bin ganz aufgeregt gewesen,ja haben sie uns gebracht mit Wolga, damals die erste Wolgawaren noch die Autos. Kennst du die?

665I: Ah ja ja.J. E.: Und das war so hell, so Salatfarbe das Auto ja, hat meinLehrer gekauft, ganz nagelneu. Und dann hat er uns genom-men, zu dritt von unsere Schule, von ihm seine Klasse unddann noch von andere ja und dann sind ( ) Orchester mit

670dem Direktor Schule, waren schon so fünfundzwanzig dreißigmit Akkordeon zusammen und haben wir Auftritt gemacht,was heißt, eingeladen uns Fernseher, und haben wir Konzert,sollen wir spielen. Aber wir waren so aufgeregt, und habensie uns schon in die Studio rein eingeladen, haben sie alles

675vorausgesagt und wir gucken so, erste mal das die Kinder inein, gucken, schauen hin und her und es ist so interessant, dieKamera steht vorne oder Bild und da siehst du schon im Fern-seher dich, siehst du gleichAufnahme ist interessant. Naja undwir haben geguckt und ich hab vergessen am Akkordeon ja

680wenn man anfängt zu spielen muss man immer da aufmachenoben so zwei Riemen, aufmachen dann geht er auseinanderso das man spielen kann ja. Und das hab ich vergessen, obenhab ich aufgemacht a unten isch noch zu gewesen he, und daauf einmal isch das rotes Licht gekommen, ich spiele ja und

685geht’s los hehe, aja haben sie angefangen zu spielen und ich

Page 96: it - Gesellschaftbilder Und Selbstverst Russlanddeutscher Aussiedler in der Sowjetunion und in Deutschland

86 anhang b Interviews und Gedächtnisprotokolle

fang zu spielen und mein Akkordeon geht nicht und ich wusstnit was, peinlich war das, und dann hab ich, irgendwie habich doch gedreht unten dann ( ) aufgemacht unddann weitergespielt, musst du gucken auf die Note das nix,

690 damals hab ich nit so viel Ahnung wie heute gehabt…I: Hm. Haben Ihre Geschwister auch Musik gemacht oderirgendwas?J. E.: Ja der, mein Bruder, mit meine Brüder habe ich auchspäter auf Hochzeiten habenwir gespielt und dann Schlagzeug

695 gespielt.I: Die waren auch in der Musikschule dann?J. E.: Nee, die haben so dann sich selbst beigebracht n bisschenja.I: Achso.

700 J. E.: Einer hat so Schlagzeug bisschen Trommel gespielt jaund dann (boben), andere hat Gita gepielt und genau meineCousins haben so auch gespielt, so bisschen mit Gitarre, ge-sungen haben wir, und so schöne Zeit, sehr schöne Zeit so.Wir haben unsere Gruppe gehabt, unsere Deutschrussen, deut-

705 sche so Jugend, Jugend ja so dreißich vierzich Leute habensich zusammen getroffen, einmal auch in die Kirche warenwir auch zusammen, allerdings in die Kirche haben wir sichso bekannt gemacht mehr, waren auch viele dort von unsereLeute. Allerdings dort kann man sich am meisten so treffen

710 mit Russlanddeutsche, so weißt du nicht wo, wer isch da Russ-landdeutscher wer isch da Russe ja und so in die Kirche dahast schon gewusst, aha die kommen daher also.. am meistenvon Prozent sind schon Deutsche ja. Und so haben wir sichbekannt gemacht, mit Mädchen und Mädchen mit Jungs ja,

715 und so haben wir unsere Jugend Freundschaft gewesen.I: Kirche da in der Siedlung oder in dem Stadtteil?J. E.: In dem Stadtteil da ja.I: Hm. Und da gingen nur die Deutschen hin, in die Kirche?J. E.: Die Kirche, nein das war so deutsch und polnisch, eine

720 Messe polnisch anderes mal deutsch ja, waren auch viele Polenda in dem Kischinau.L. E.: Das war schon in Moldawien.J. E.: Moldawien, das war schon in Moldawien.I: Ja und.. zwischendurch waren Sie auch in Duschanbe in

725 Tadschikistan? Und wann war das und warum waren Sie da?J. E.: In Duschanbe? Ja das war grad vor dem Militär, gradwo ich, ich war doch mit fünfzehn Jahre bis neunzehn warich, Militärmusik hab ich angefangen ja. In der Offiziersschulemit eigenem Orchester, ja und die haben uns ausgebildet, dort

730 haben wir gespielt auch. Das waren so schöne Bälle auch,Katharina so was hübsches, hast du gesehen wie die Marinewenn sie ausgebildet werden? Hast noch nie gesehen?I: Hm, nee.J. E.: So schöne Uniformen, so dunkelgrüne so marinefarbe

735 haben wir so Sakko gehabt und dann dunkelbraune Hose ge-habt, aber schick tip top so. Wir dürfen kein Foto mitnehmen,hätte ich dir gern gezeigt alles. Aber durchGrenze damals darfman nicht vom Militär das mitnehmen, wegen der Sicherheitoder ( ) darf man das nicht. Schade natürlich, ich hab so

740 schöne Bilder gehabt, wie die ( ) so Kette so weiße jaund weiße Handschuhe gehabt, haben wir gespielt, und dannnatürlich schön Streifen und dann da haben wir Verdiensteund alles ja, Metall und so verschiedene Auszeichnungen ja.Schön war das ja irgendwo, dat Jugend damals ja, das so das

745 isch nit so jetzt in Krieg aber, so Auszeichnung wie n Musiker

ja, warst du mehr so. Ja, und wir haben sehr schöne Form.Hier gibt’s manchmal, einmal im Jahr das ganze Militäror-chester (öffnet sich so) ja, auch aus Deutschland, Frankreich,Russland und dann manchmal sieht man sowas ja, das isch

750auch sehr interessant, so was zu sehen, das isch wie Festival,das dauert den ganzen Tag und da tut sich immer abwechselndas Orchester. Dann guck ich auch sehr gern zuhause, ( )Jugend auch, das isch schöne Erinnerung ja. Die spielen auchwunderschön ja.

755I: Und was hat Sie dann nochmal nach Tadschikistan ge-bracht?J. E.: Ja und dann (lacht), ich hab doch Pause gehabt, zwi-schen neunzehn und… achtzehn musst ich gehen aber ich binirgendwo mit neunzehn gegangen, war ein Jahr zwischendrin,

760wo ich zuhause konnte bleiben ja, bis ich da.. achso, ich habSchule gemacht diese Zeit ja, stimmtI: AbendschuleJ. E.: Abendschule hab ich gemacht doch, nach achte Klassehab ich gleich elfte Klasse gemacht doch, ja, ist grad damals

765in den zwei wo ich Jahre, Musik wo ich angefangen hab mitdene fünfzehn Jahre, fünfzehn Jahre bis siebzehn ja und dieseZeit hab ich die Abendschule noch gemacht.I: Also so das Sie dann am Ende zehn Klassen gemacht haben,oder?

770J. E.: Ja hab ich die elf Klassen, das ist schon elfte Klassegewesen, hab ich Testat bekommen mein, das ich auch, wieheißt das, mittlere Reife oderI: Hm. Ja, ich glaub schon.J. E.: So ein ( ) ja, heißt das… Das steht alles drin ja, muss

775man suchen.I: Ja, es muss ( ) nicht sein.J. E.: Ja, okay Und dann hab ich grad das Jahr gehabt vor mei-nem Eintritt in den Wehrdienst ja, neunzehn Jahre ja, mussich dann noch zwei Jahre, und dann inzwischen hab ich dort

780das Jahr gehabt, dann bin ich runtergefahren zu meiner Tantenach Duschanbe. Ja und wollte dort bisschen was arbeitenund, was sehen so, die Tante hat mich eingeladenI: Sie da besuchen?J. E.: und schauen an.

785L. E.: Mädchen (zu gucken)J. E.: Ja Mädchen vielleicht auch (lacht). Meine Tante die warauch so, die wollte mich immer bekannt machen, aber die hatmich so bekannt gemacht das ich bis heute vergessen nichtkann ja. Das war so, das war ein Mädchen ja, hat sie mich zu

790ihre Freundin gebracht persönlich (lacht), die Freundin hat neTochter gehabt unddie Tochter war so hübsch ja und die spieltauch Klavier, kannst dir vorstellen!I: (lacht) Aha, hm.J. E.: Die setzt sich an Klavier, fängt an zu spielen und.. pro-

795bierst dir mal so ein Bild zu malen, sie spielt am Klavier undmir gefällt das Mädchen, ich setz mich neben ihr und spie-len wir zusammen, und das war mit irgendwo mit neunzehnJahre und die ( ) siebzehn Jahre so war, in dem Alter ja. Ischgrad die Zeit wo die erste Gefühle kommen ja und naja

800L. E.: War sie nicht fünfzehn Jakob?J. E.: Nein, dat isch, des isch andere (lacht)L. E.: (lacht)I: (lacht) Aha.J. E.: Das war, die Rosa war das. Wie heißt die, ich weiß gar

805nit wie die geheißt hat, Irma glaub ich. Schöne Frau war das,

Page 97: it - Gesellschaftbilder Und Selbstverst Russlanddeutscher Aussiedler in der Sowjetunion und in Deutschland

Interview: Jakob (und Lydia) Egert 87

Junge hat sich bestimmt verliebt jeder wer hat die gesehendamals. Das war so ja irgendwo, und das sind meine ersteauch Gefühle irgendwo gewesen, ich hab das Mädchen zweiStunden gesehen und bis heute ist sie geblieben bei mir ja, in

810 Erinnerung ja. Das wir damals gespielt haben, das isch so, wieTitanic sagen wir so, hast gesehen Titanic?I: Ja ja.J. E.: So ungefähr war das.I: Sie haben Sie aber nicht wiedergesehen oder?

815 J. E.: Nee, seitdem hab ich sie auch nicht gesehen. Und ich habihr noch gesagt, und nächste Tag, die Tante isch auch so schlau,hat sie mich grad bekannt gemacht und nächste Tag musst ichzurückfliegen, wieder in Militär bin ich da in Offiziersschule.Und natürlich bin ichschön angekleidet gewesen, noch Militär

820 so schöne paradni Uniform, und das Mädchen natürlich hatsich auch verliebt irgendwo n bisschen, was heißt verliebt,hat’s gefallen oder nit, weiß ich nit. Wir haben sich zweiStunden gesehen ja, und ich hab gesagt: »Kommst du zumFlughafen, ich flieg morgen, muss morgen weg.« Ja, und die

825 isch auch nicht gekommen. Ich hab sie nicht gesehen.I: Hm.J. E.: Naja.. So isch das Leben (lacht).I: Und ähm.. dieser Gedanke nach Deutschland auszureisen,woher kam der? Der war schon lange da, so hatte ich den

830 Eindruck aus Ihrer Erzählung.J. E.: Ja das kommt, ich sag dir von wo das kommt. Ich habedann im ( ) Geschäft eine Freundin gehabt.I: Wo?J. E.: Im Kamarad, das isch auch in Moldawien.

835 I: Ja gut, aber Sie sind ja, okay dann vielleicht ein Schrittzurück, wie sind Sie auf die Idee gekommen nach Moldawienzu fahren?J. E.: Ja, aus Sibirien wir haben gehört das in Moldawien ähm,kann man ausreisen nach Deutschland. Das war damals die

840 Grenze wo sie bisschen haben aufgemacht, sind viele Deutscheraus, weggefahren.I: Wer hat gehört, Sie und Ihre Familie? Also, Sie waren zuder Zeit ja noch nicht verheiratet?J. E.: Nee… zu der Zeit waren wir noch nit verheiratet, aber

845 ich hab schon vorgehabt so irgendwann wenn jemand wird..Und jetzt kommt der Punkt, ich hab das Mädchen kennenge-lernt, Paulina, und das war auchsehr hübsches Mädchen ja,die war auch ganz schlau, die hat mit uns drei Brüdern hatsie sich gleichzeitig getroffen (lacht)

850 I: (lacht)J. E.: niemand hat gewusst, ( ) auf die Nase getreten undniemand hat gewusst ja. Ich habe Tanze gespielt, das ist soSamstag und Mittwoch müssen wir Tanze spiele ja, wenn ichTanze gespielt hab, hat sie mit dem Abraham oder Weriand

855 getanzt ja und dann am Schluss isch sie gegangen mit jemandanderem nach Hause. ( ) nur nach Hause gebracht, ischnicht so das was passiert war, aber so hat sie rumgespielt mituns ja. Aber gefallen hat sie uns ja, allen drei. Ja natürlichhat jeder versucht damals mit ihr, nu, nach Hause bringen

860 und alles. Ja, aber es war auch ganz interessante Erinnerung.Das war einmal.. neue Jahr, die machen so großer Ball, feiernzusammen, mitOrchester so richtig schön so. Ich weiß nichtob du das kennst von Russland?I: Nein.

865 J. E.: In jedem Fall die machenso richtig schöne Party ja, zum

neuen Jahr. Und dann spielt Orchester und dann wird Essenvorbereitet von allen Seiten,kann man essen kann man tanzenund so richtig schön sich amüsieren ja. Naja, das war auch ein-mal so, das ich bin gekommen, ich habe Glück gehabt ja, ich

870habe eingeladen die Paulina und die hat ja gesagt, die geht mitmir zu diesem Ball. Naja gut.. ich hab wieder Nachteil, wennich zu so einem Ball gehe, ich muss dort spielen ja. Ich hab Mu-sik gemacht und die hat sich amüsiert und da hat sie bisschenmehr getrunken als normalerweise ja, junge Mädchen, hat sie

875gelacht so wie du, so hübsch war und alles, ja… aber die hatschon ziemlich viel getrunken muss man sagen (lacht) ja, aucheinmal ist sie verschwunden ja, und dann, ich gucke wo istsie die Paulina? Und ich hab doch die Eltern, vom Elternhausich hab sie abgeholt und die Eltern sagen: »Ja, du bringst sie

880nach Hause.« »Ja natürlich bring ich sie nach Hause, ( ) Gent-leman.« Ich musst sie nach Hause bringen ja. Und da wart ich,ich hab schon zu Ende und abgespielt schon alles, schon Endeja die Musik, (muss man) schon nach Hause gehen, Paulinais nit da. Wo ist die Paulina geblieben, muss ich sie suchen

885irgendwo. Und die hat sich dort mit einem Freund getroffen jaaus aus Moldawien, aber das war kein Russlanddeutscher, daswar von dort ja, aus Moldawien, Moldawan kann man sagenja. Ja und die hat mit ihm gesprochen und getrunken was mitihm ja. Und ich hab gedacht das so, bei mir isch Eifersucht ja,

890ein bisschen so rausgekommen, die hat mir so weh getan ja,den ganzen Abend spielen, Musik machen, die Leute lustigmachen und dann ( ) mein Mädchen lauft dann mit jemandja und auf einmal kommt sie besoffen, kannst dir vorstellenso’n bisschen ja, und ich muss sie nach Hause bringen, ich

895hab versprochen dene Eltern. Ja, gut, ich hab sie gefunden amSchluss, bring sie nach Hause und die lacht, kann sich nichthalten, ich sag okay, a bei mir kommen die Träne raus, ichsag: »So, du hast mir so weh getan«, ja »das gibt’s doch garnit, alle wissen das ich hab ein Mädchen gebracht und hab

900gedacht du wirst dich ein bisschen dran halten oder ( ) nitweit sein von mir«, ja, aber ( ) verspotten und dann sichdort weiß nit was.I: Hm hm.J. E.: Getanzt und bisschen getrunken was ja, und dann biss-

905chen bisschen und dann irgendwann sich ganz gut zu, washeißt zu, ich hab sie nach Hause gebracht (die isch), ja, und,zuhause natürlich die Eltern haben uns gesehen ( ) ja, diehaben natürlich gedacht ich hab sie jetzt besoffen gemacht,(das heißt) ich bin da nicht schuldig, und die lachte ja die kann

910nit sprechen ja, die wollte erst kommen ja, ich hab sie gebrachtund dann ( ), die Eltern natürlich auf sie: »Wo warst du undwas haben die gemacht?« Kommen gleich (andere) Gedankenja. Ich steh da wie ich weiß nicht was ich sagen soll: »Ja ichhab, ich hab Musik gemacht.« (lacht) »Wo sie war, weiß ich

915nit.« Naja nächster Tag, die Eltern haben erzählt auch, daswar ja ganz schlimm ( ). Aber die war auch eine Lustige,lustige Mädchen.I: Und das war noch in Sibirien oder war das in Moldawien?J. E.: Das isch in Moldawien…

920I: Aber wir waren da stehen geblieben wie der Gedanke nachDeutschland auszuwandern kam.J. E.: Ja.. Ja und dann hab ich, ich hab gemerkt das die Paulinadie hat Erlaubnis bekommen mit die Eltern, ausreisen, nachDeutschland. Natürlich bei mir hat dann die ganze Stimmung

925ist runter gegangen bei mir ja, ich versuch da mit ihr Kontakt,

Page 98: it - Gesellschaftbilder Und Selbstverst Russlanddeutscher Aussiedler in der Sowjetunion und in Deutschland

88 anhang b Interviews und Gedächtnisprotokolle

wollte ( ), die war auch hübsches Mädel und alles, ich habgedacht ja, vielleicht wird was ja, das wir irgendwann zusam-menkommen ja. Aber isch nix geworden, die is ausgereistnach Deutschland, die isch weg, ich bin geblieben. Ja, dann

930 hab ich anderes Mädel getroffen ja.. das war auch so, die ischauch ausgereist nach Deutschland ja… das war in Kuban, daswar am Schwarzen Meer, das isch so auch Siedlung wo dieDeutschen gewohnt haben. Und die – wir haben sich auchbekannt gemacht durch meine Verwandte – ein Bruder von

935 meinem Vater hat immer gesagt: »Jakob, das isch dasMädchenfür dich.« Wollte immer das ich sie kennenlerne. Dann bin ichhingefahren einmal und hab sie kennengelernt, Ola hat siegeheißen.. Das Mädchen hat sich verliebt in mich gleich, jaI: (schmunzelt)

940 J. E.: Nein das isch wirklich so, das war ( ) sauberes( )hübsches auch.. aber später hat sie auch Er-laubnis bekommen, isch sie weggefahren, schon zweite. Nulangsam hab ich mich Gedanken angefangen zu machen. Allefahren weg, ja und, dann hab ich gesagt: »Nee, musst was

945 machen, musst irgendwo.« Ich wollte auch irgendwie, ich habGedanken gemacht warum fahren sie alle raus ja. Ja und dannwollte ich auch die deutsche Sprache kennenlernen, DeutschekennenlernenI: Aber Sie haben deutsch gesprochen schon in der Familie

950 oder?J. E.: In Familie haben wir gesprochen ja, aber so bisschen, sobisschen ja soI: Also im Alltag haben Sie mehr russisch gesprochen oderwie?

955 J. E.: Ja, ja, mehr russisch gesprochen wie deutsch ja. Deutschist so wie hier wenn ich zwei drei Worte Englisch spreche, nitviel ja. Ja.. und dann hab ich Ziel gelegt natürlich uns wasaufbauen in Deutschland ja, unsere Heimat sehen, Deutsch-land, Deutschland sehen und das wir unsere ( ) wie Deut-

960 sche leben, was für Kultur, so deutsche Kultur, deutsche Mu-sik, deutsche Schlager, mir hat sehr gefallen ich hab auch vieldeutsche Schlager gespielt, auf Hochzeiten alle so mitgemachtfrüher, und bis heute mach ich auch gern ja, wenn einladenwenn wir doch spielen dann mach ich das auch gern. Ja, und

965 dann so hat sich entwickelt ähm, die neue Ziel das irgendwoauswandern, ja das wir wollen auch nach Deutschland kom-men.. jaI: Und das hat sich bei Ihnen so entwickelt oder waren dasauch die Eltern?

970 J. E.: Ja die Eltern auch ja, die wollen auch natürlich. Aberdie Eltern waren so mehr ruhiger, dene war schon ziemlich,das heißt die musst man schon bisschen antreiben ja zu dem..ich hab immer gedacht, mir Gedanken gemacht warum meinOnkel ausreisen will und dann hab ich gedacht da steckt was

975 drin mehr ja, und dann hat er mir geschrieben – er war jaschon früher ausgereist wie wir – hat er mir geschrieben inDeutschland gibt es zweiundzwanzig Sorten Wurst. Kannstdir vorstellen was das für Schlag war? In Deutschland wareine Sorte, Sasiski ja, kennst du die Würstchen?

980 I: Hm. Ich glaub ja.J. E.: Stehst du ein zwei Stunden ja wenn du ein Kilo kriegst,wenn keine da sind, kriegst du nix. Genauso anderes so, gab’sauch verschiedene (Tsatiki) verschiedene Wurste aber ischganz selten ja, das muss man viel Geld bezahlen oder mit

985 Beziehungen so was ja, kann man das kriegen. Und jetzt krieg

ich so ein Brief von meinem Onkel aus Deutschland, ich weißnicht wer die gezählt hat zweiundzwanzig Sorten (lacht)I: (lacht)J. E.: Zweiundzwanzig Sorten Wurst gibt’s, ich hab gedacht,

990wie gibt’s wie kann man so viel Wurst machen? Die kann mandoch gar nit alle mit Namen nennen ja oder wie. Weißt dudamals, weißt du wenn du siehst ein Kugelschreiber ja unddenkst naja das ist der Kugelschreiber, und der bleibt auchhundert Jahre Kugelschreiber ja, so so (Farbe) wird er auch so

995bleibe ja, ( ) nach fünfzich Jahre wird er vielleicht rote Kappekriegen oder andere was äh Form, aber am meistens so wennAxt oder Schaufel, ja ich hab noch russische Schaufel zuhauseja und die – allerdings ist n Defizit ja – hier kriegt man solchegar nit in Deutschland, so spitzige ja, der isch nit so grad, wenn

1000man jetzt im Garten schafft der isch so richtig schön spitzig ja,und da eine mitgebracht und ( ) so im Garten schaffe,grabt sich ganz leicht ja und viel leichter arbeiten, gibt auchVorteile ja, und einige Sachen haben sie auch gut gemachtja, auch Instrumenten gibt’s verschiedene gute ja oder.. zum

1005Beispiel Geige ja, das gibt’s sowas gute Instrumente ja, dashier verkaufen sie für sehr viel Geld ja. Es gibt schon schöne,gute Sachen ja, was sie gemacht haben, auch die Uhren, dierussische Uhren die sind auch hier viel wertvoll noch bis heute.Natürlich sind sie auch echte Mechanismus, die sind keine

1010mit Batterien oder was noch, aber richtig echte Mechanismuswelche du aufziehen kannst und (die Schrauben), ich hab auchnoch eine russische Uhr, die hab ich dem Abraham gegeben,ich weiß nicht wo er die hingelegt hat, aber ich hab nochrussische Uhr, muss man ihn fragen.. für diese Uhr hab ich

1015ganzen Monatsverdienst bezahlt.. das war damals.. das warnit wenig Geld, ja und ( ) Was wolltest du noch wissen?I: Ja der Onkel hat dann den Brief geschrieben und wie derWunsch gewachsen ist auszureisen (lacht).J. E.: Genau, nach Deutschland ja (lacht), stimmt ja. Naja,

1020dann haben wir gedacht wir müssen Visummachen, probierenwir’s aus ja. Meine Frau hat von ihre Seite von Verwandtschaftähm, ihre Schwester isch ausgereist zuerst ja und dann habenwir durch sie auch Visum bekommen. Ja.. und dann habenwir auch probiert, ausreisen. Das hat zwölf Jahre gedauert bis

1025wir bekommen haben Erlaubnis.. jaI: Zwölf Jahre in Moldawien oder zwölf Jahre in Sibirien?J. E.: In Moldawien schon. Moldawien, ja.I: okay Und nach Moldawien sind Sie gefahren weil?J. E.: .. Wir dachten aus Moldawien war damals so das man

1030darf ausreisen, aus Sibirien das war noch verboten alles ja.I: Also diese Visumsanträge haben aus Moldawien erst ge-stellt, oder schon vorher auch?J. E.: Nein aus Moldawien ja, aus Moldawien, da hat’s ange-fangen ja.. Unsere Verwandte erste sind ausgereist, und meine

1035Frau wie gesagt, die Eltern ja, und die ältere Schwester vonmeine Frau und dann haben wir durch die undmit ihre Mutter,sind wir dann ausgereist nach Deutschland.I: Hm. Und Ihre Frau haben Sie in Moldawien kennengelernt?J. E.: Moldawien ja, in Kischinau.

1040I: Und da hat’s dann geklappt letztendlich?J. E.: Ja da haben sich kennengelernt und hab ich gedacht jetztis schon die wollt ich jetzt nit das sie weg, ausreist, wollt ichsie nit weglassen allein. Was heißt allein, wir haben sich fünfJahre kennengelernt, wir haben sich gekannt fünf Jahre, in die

1045Kirche schon, von unsere Gruppe, deutsche Gruppe ja. Wir

Page 99: it - Gesellschaftbilder Und Selbstverst Russlanddeutscher Aussiedler in der Sowjetunion und in Deutschland

Interview: Jakob (und Lydia) Egert 89

sind dort deutsch gewesen, deutsche Gruppe so, so Jugend wiedu ja, so ähnlich zwanzig fünfundzwanzig bis dreißich so, wirhaben getanzt und Musik gemacht und waren wir immer so,früh imMai habenwir Zelte aufgestellt und imWald so richtig

1050 schön gesungen, gespielt, Gitarre gespielt, Feuer gemacht, daswar sowas was man nie vergessen, hier kann man das nichtkaufen, für kein Geld, das war wirklich schöne Jugend ja,deswegen ich sag dir ich kann dir erzählen, du musst mir nurAnhaltspunkte geben was du willst wissen. Dann kommt bei

1055 mir so langsam ja, alles. Und, das war wirklich schöne Zeit ja,wunderschöne Zeit war! Wir haben so Feuer gemacht, halbesZimmer da so große Feuer haben wir gemacht dort im Waldund da hat niemand geschrien niemand ja, und da warenkeine Besoffene ja, da war auch kein Wein oder.. wenn wir

1060 Wodka getrunken haben, aber klein Gläschen so getrunkenund fertig ja, das waren nit so besoffene Jugend oder was, dasman da die Nasen sich geschlagen haben oder was. Das waralles richtig schön, schöne so Gruppe ja.I: Hm, hm. Und da in Moldawien haben Sie zuerst mit Ihren

1065 Eltern da gewohnt oder auch mit der ganzen Familie, ihreGeschwister ihre Eltern alle sind dann nach Moldawien aus-gereist?J. E.: Ja, wir sind nach Moldawien ausgereist, richtig, dasstimmt, dann hab ich bei ihre, bei meinen Schwiegereltern

1070 gewohnt, die haben ein Haus gehabt, dort in Kriekauer habensie Haus gehabt und meine Frau dort, die war die Tochter diewaren auch vier, zwei Schwester und zwei Brüder hat sie, vier,zu viert sind sie. Ja, und der Bruder, der wohnt auch hier nitweit, Andreas, ja und der hat meine Cousine geheiratet und

1075 ich hab geheiratet seine Schwester (lacht) so kommt das. Ja,und damals waren wir Jugend so richtig schön, das war, daswar (wirklich) ganz toll.I: Und wann haben Sie geheiratet nochmal, in welchem Jahr?J. E.: Im einundachtzich. Einundachtzich.

1080 I: Achso. UndJ. E.: Und dreiundachtzich hab ich Führerschein gemacht undZähne meine reingestellt. Das war auch so Geschichte, wirhaben sich getraut in die Kirche, dann hab ich meine Fraugesagt: »Tschuldigung, ich muss zurückfahren« (lacht), an ihre

1085 Elternhaus das sind hundert Kilometer ja, bin ich immer zuihr gefahrenI: Ah doch so lange.J. E.: Ja, das ist (andere Dorf schon Siedlung), aber die hundertKilometer sind drei Stunden muss ich mit dem Auto, mit dem

1090 Bus fahren, gab’s kein Auto, hab kein Auto gehabt, gar nix.A Bus ist zwei mal am Tag gefahren zu ihr. Das kannst dichvorstellen am Samstag bin ich früh raus und hab gewunkenja das Bus anhält wenn vorbeifährt, das er mich mitnimmtja nach Kischinau. Und dann bin ich gefahren ja und bin zu

1095 meinem Mädchen gefahren, zu Lydia.. Und Samstag bin ichdort gewesen, ja bei ihr und die hat noch gearbeitet ja und(10) so Laborant war sie mit Wasser und alles so, muss sieAnalisis machen und so, hat sie dat Arbeit gehabt. Nu wenndie Schicht gehabt hat bin ich gekommen und bin mit ihr auf

1100 die Arbeit gegangen, die Zeit nit verlieren ja, was heißt nitverlieren, uns zu sehen auch. Und dann bin ich mit ihr auf dieArbeit gegangen, Salz musst ich ihr da helfen bringen und inden Kessel da rein schütten, haben sie ins Wasser Salz dazugegeben ja..

1105 I: A Sie kannten sich aus dieser Jugendgruppe ja, von der

Kirche?J. E.: Ja. Ja.I: Und haben Sie dann noch, einundachtzich haben Sie gehei-ratet und siebenundachtzich – sechs Jahre – haben Sie dann

1110noch ne Wohnung gehabt oder n Haus oder wo haben Siedann gewohnt?J. E.: Naja, in diese Zeit hab ich ähm, zuerst haben wir ge-wohnt bei den Schwiegereltern, und dann wo die Kinder ge-kommen sind, die Sarah, Hannah äh Sarah und Abraham,

1115Hannah isch dann später gekommen, wir haben schon un-sere, zuerst neue Wohnung haben wir bekommen so wie imHeim so, wie kann man sagen, nit Heim, Abschidschitia, wieübersetzt man das? I: Ähh.. Wohngemeinschaft.J. E.: Ja so richtig, Wohngemeinschaft genau, für Familien.

1120Dann haben sie mir so ein Zimmer gegeben, uns mit meineFrauI: Wer hat gegeben?J. E.: Vonmeiner Arbeit, das isch so eine Kriekauer Schacht soheißt das, so Bergwerk, da haben sie die Steine rausgeschnitten

1125für die Häuser zum Bauen, Kalksandstein so weißen habensie rausgeschnitten. Aber ich war dort Schreiner und Tischler,musste die Arbeit machen, die Baustelle und so mehr, Fensterreinstellen und Türen und Beschallung machen ja.I: Also in dieser Wohnung von der Arbeit haben Sie die ganze

1130Zeit gelebt?J. E.: In dieserWohnung ja, in dene Häuser da, aberWohnunghabe ich keine bekommen da, ich habe mich schon eingetra-gen da damals, war ich schon eingetragen das ich Wohnungbekommen sollte ja, und diese Zeit, das dauert lange Zeit bis

1135man dort so ne Wohnung bekommt ja, da stehen dort hun-derte Leute ja, muss zuerst immer der Erste dann wievielBeziehung haben die verschieden ( ) und du stehst undstehst und wartest fünf sechs Jahr ja und hast nit, aber ichhabe zweites Zimmer noch bekommen in dem Familienheim

1140I: Hm. Aber eine Wohnung haben Sie nie bekommen dann?J. E.: Nein. Ich habe so Sektie gehabt, das isch so ein Zimmerso mit kleiner Küche, Küche war wahrscheinlich ein Viertelvon dieser Küche, das war so ein Meter einhalb, so Küche wardas. Und dann war so ein Zimmer, das war so getrennt, ein

1145Zimmer und dann so ein kleines ja. Das war unser ganzerBereich.I: Zuletzt habt ihr zu fünft da drin gelebt?J. E.: Ja, dann ist die Hannah noch geboren, und das war un-seres Zimmer ja, da sind wir gut bedient gewesen ja. Und ich

1150hab noch den Luxus das ich hab den gut den Chef gekannt, ichhab immer bei ihm zuhause gearbeitet und dann hat er mirdas gemacht, das ich das Zimmer dazu kriege ja. Dawar ein Al-koholiker gewohnt und der isch dann, isch er rausgeschmissen,und dann haben, das ich in diese Sektie gewohnt hab, dann

1155haben sie mir gegeben das andere auch dazu.. Dann habennatürlich schön gemacht, rausgerissen und schönen Lenoliumso richtig so aus (Tschechien) oder wo, damals muss man fürdie reichen Leute auch was machen und dann hab ich gespro-chen mit dem Chef, darf ich mal paar Dinger da für mich für

1160die Wohnung nehmen? Ja, wenn Reste bleiben, nimmst nimm,okay Ich hab die Reste, so gemacht das die Reste gebliebensind ja (lacht), so ( ) hab ich sie mitgenommen und dannins Zimmer gelegt und schön gemacht so alles. War tip topdann die Wohnung, die haben alle geguckt, die wollten alle

1165dann später rein.Ich hab Kinderzimmer Kinderbett gemacht ja,

Page 100: it - Gesellschaftbilder Und Selbstverst Russlanddeutscher Aussiedler in der Sowjetunion und in Deutschland

90 anhang b Interviews und Gedächtnisprotokolle

isch auch sowas Möbel so Politur, so richtig schön Holz so habich gemacht ja so richtig schön, und dann haben wir gedrehtso Schraube aus Messing, selbst gemacht, ich war auch Dreher,hab ich gedreht so aus Messing dann wie Goldstücke ja, so

1170 verschiedene Köpfchen und so, so Bettchen hab ich gemachtfür meine, zweistöckiges Bettchen und dann, die Kleine warnoch in dem Wägelchen ja, sieben Monate ( ) dannhaben wir sie rausgeholt, bei uns hat sie geschlafen im Bett.A die zwei die haben schon in dem Bettchen geschlafen die

1175 beide ja, wie schön. Das Bettchen natürlich haben sie mir mitKusshand abgenommen ( ) und ganze Möbel allesda, wir haben keine Probleme gehabt das alles rausgeschenktabgegeben und sind wir weg…I: Und äh, aber da haben Sie schon gelebt immer mit dem

1180 Ziel ganz nah vor Augen da schon wegzufahren wieder, oder..wie?J. E.: Ja, ja. Wir wollen da schon raus ja. Wir haben schon des,die Jahre schon angefangen schon, die zwölf Jahre gedauerthaben ja, bis wir rauskommen.

1185 I: Und da haben Sie jedes Jahr oder ich weiß nicht wie oft soeinen Antrag da gestellt?J. E.: Jedes Jahr muss man neue Antrag stellen, und das gehtdurch KGB, durch ganze Ministerien ja und dann geht dasdurch die ganze Botschaften und das muss

1190 I: Und jedes Mal haben sie abgesagt, bis auf’s letzte Mal?J. E.: Ja, haben sie abgesagt. Und dann unter Gorbatschowder äh hat das aufgemacht. So, ja isch gekommen die Zeit daser hat gesagt hat verstanden: »Warum sollen wir die haltendie Russlanddeutschen, wenn sie wollen sollen sie doch fah-

1195 ren.« Der hat das bisschen lockerer gemacht. Und dann habenwir bekommen die Zusage das wir dürfen raus ja. Der ischeiner der intelligentesten gewesen welcher unsere Problemezu, aber der war zu intelligent, der hat uns rausgelassen unddann später hätte sollte bisschen das korrigieren ja, und dann

1200 sind auch, nach uns sind auch die so Mischlingsfamilien ge-kommen und dann später auch Russe angefangen ja, richtigauch so, ja die haben versucht Partner finden so ja Bekannteoder wie oder was und heute gibt’s auch viel Russe welcheauch rübergefahren sind dann, auch andere Nationalitäten.

1205 Ja, und das natürlich isch nit so gut ja von eine Seite, vonunsere jetzt, unsere Lage, verstehst du, wir haben noch unseredeutsche so bisschen sagen wir so gehabtAkkuratnast so, nitklaue so, zurückhalte sich n bisschen ja, aber heute wird vielgeklaut und, und das machen die ja meist die welche dann spä-

1210 ter gekommen sind und.. a warum wird so viel aufgebrochenund die Autos kaputt gemacht und alles ja, und Gefängnissesind sehr viel voll fast mit die Aussiedler, ich meine auch mitso mit Russen ja, welche das machen. Aber okay du, sag ichdoch, ichweiß nit was du willst wissen ja, ich erzähl dir sowas,

1215 ungefähr was mir jetzt reinkommt jaI: JaJ. E.: Deswegen musst mich immer frage, ich versuche dirdann Antwort geben ja.I: Ja. Ja, und wie war das dann als Sie hier angekommen sind,

1220 in Deutschland?J. E.: Ja, das war schon Schock, was heißt Schock, das warschön von erste Seite. Bin erste mal ausgestiegen in Flughafenin Frankfurt, mein Onkel hat mir so eine Dose Bier gegebenin die Hand, ich hab so geguckt hab ich gesagt: »Was ist denn

1225 das?« Weißt du, erste mal siehst du, du stehst wie ein Affe

jetzt und du weißt gar nit ( ), »Das isch Bier,mach’s auf und trink!« sagt er, das du in Deutschland bist. Ichsage: »Wie macht man das auf? Das isch doch eisernes Ding!Ich hab doch kein Schraubenzieher!« (sagt etwas auf Russisch)

1230weißt, du hast noch keine Ahnung ja, du kommst von andereWelt ja, isch wie aus die Afrika kommst du, in eine Stadt jaso ungefähr. Ja dann hat er mir gezeigt wie das aufgeht, dannhab ich verstanden, einmal siehst, dann weißt du. Aber so,wie soll ich das Ding da aufmachen (lacht), ja hab ich gar nicht

1235gedacht, das ziehst das Ding da auf und kannst trinken. Naja,dann haben wir probiert: »Oh das schmeckt gut.« Das ist wasanderes ja. Ja… das hat uns gefallen ja, ja sehr gefallen. MeinOnkel hat da Haus gebaut in Biebrich, Wiesbaden Biebrich,großes Haus, zweistöckiges Haus, hat da auch Kinder, dort

1240haben gewohnt am Anfang, jetzt haben auch Kinder Häuser…I: Am Anfang haben Sie bei dem Onkel gewohnt?J. E.: Ja, haben wir bei dem Onkel gewohnt ja. Zuerst in Fried-land haben wir eineWoche verbracht (wenn das brauchst) unddann haben sie uns geschickt nach Wiesbaden, weil da isch

1245ihre Schwester meiner Frau, die hat hier gewohnt in Dotzheim,und dann haben sie uns gefragt wohin wollen wir, und dannFrau hat gesagt ja die Schwester isch da und in WiesbadenBiebrich war mein Onkel, »Naja, nehmen wir Wiesbaden ja«,so sind wir in Wiesbaden gelandet ja (5).

1250I: Hm. Und wann äh im Hotel haben Sie auch noch gelebt,haben Sie gesagt?J. E.: Ja und dann, haben wir unsere Papiere, müssen wir dasalles äh… eintrage ja, müssen wir unsere Papiere machen,übersetzen alles ja, Registrierschein und alles, weißt du, und

1255haben wir das alles gemacht und dann irgendwann müssenwir, haben wir Gedanken gemacht wo wir wohnen werden,und dann hat (mein Onkel) auch uns gesagt, gibt’s so Leuteauch welche können helfen, die können uns die Papiere ma-chen besser als wir da wissen, und ja wir haben gefunden

1260so Leute dann die uns übersetzt haben alles und dann habenwir auch, sind wir gegangen haben angemeldet sich für dieWohnung mit einem Mal und gleich Antrag gestellt. Aber dasisch so, wenn du keine Arbeit hast kriegst du keine Wohnungja. Und Wohnung genauso ja, wenn du keine Wohnung hast

1265kriegst keine Arbeit, so ungefähr, wenn du nit eingeschriebenbist, dann wer will dich einstellen ja. Isch alles so Sache so, sowar als bisschen mehr in die Luft ja,aber langsam haben wirsich so durchgeboxt, ja mit dem Onkel, mit dem Bekannte jaund dem seine Bekannte und wo wir hingehen und so, einer

1270oder anderer hat hat so bisschen so beraten. Und so sind wirimmer weiter ja, gekommen. Und ja, dann haben wir uns,nach drei Monate haben wir bekommen Wohnung, drei Mo-nate haben wir im Hotel gewohnt, wie gesagt in WiesbadenSchierstein, da haben wir so über drei tausend sechshundert

1275D-Mark im Monat müssen wir zahlen zurück. Kannst dir vor-stellen? AberI: Achso, an das Hotel?J. E.: Ja, aber die haben uns ein Teil ver… sagen wir so, ge-schenkt, aber ein Teil, die Hälfte müssen wir dann – wenn ich

1280angefangen hab zu arbeiten – muss ich teilweise zurückzahlenja.I: Aber wie sind Sie zu dem Hotel gekommen?L. E.: (In Osthofen) war geschlossenJ. E.: Die ganzen Lager war voll.

1285I: Achso okay, die Behörden haben Sie dahin geschickt?

Page 101: it - Gesellschaftbilder Und Selbstverst Russlanddeutscher Aussiedler in der Sowjetunion und in Deutschland

Interview: Jakob (und Lydia) Egert 91

L. E.: Ja, die Behörden.I: Aber dann sollten Sie die Hotelrechnung zahlen?L. E.: Nit die ganze. Wahrscheinlich was über die Sozialleis-tung geht.

1290 J. E.: Wir haben doch Arbeitslose bekommen ja und dannhaben sie das so ausgerechnet ja, und die haben auch bezahlterste Zeit wie gesagt auch, aber wo ich dann nach die dreiMonate die vorbei sind, ( ) mit dreitausendsechshundert Mark jedenMonat zahlen, wie soll man da leben

1295 ja, und da haben wir sich Gedanken gemacht: »Wie kommenwir da schneller raus, von diesem Hotel?« Irgendwo mussman wohnen ja.L. E.: Das war so, im Hotel durften wir nix kochenJ. E.: Und kochen darf man nit

1300 L. E.: und wir hatten drei kleine Kinder gehabtJ. E.: und die Kinder waren klein nochL. E.: ja, und immer bei ihnen, also Vollpension, können wirauch nicht zahlen. Frühstück haben wir schon bekommen fürsieben D-Mark damals, Frühstück ja, aber dann, hab ich so ein

1305 kleiner Herd gehabt und so versteckt, ganz schnell Kartoffel-brei eingerührt oder noch, Zimmermädchen wusste davon ja,aber sie hat uns nicht verraten. Weil das war ja gefährlich, jakönnte Brand entstehen oder noch wieJ. E.: waren auf dem Dach noch ja, isch schon gefährlich alles.

1310 I: Hm. Und dann von dem Hotel sind Sie wohin dann?J. E.: In die Wohnung in Wiesbaden auf dem Sonnenberg.L. E.: Da haben wir ganz schnell Sozialwohnung bekommen.J. E.: Da haben wir Sozialwohnung bekommen. Aja das warInteresse auch

1315 L. E.: für den Staat war auch das interessant, das wir schnellerrauskommen.J. E.: ( ) so ein Haufen bezahlen, dann lieber haben sieuns Wohnung angeboten wie statt zu viel zahlen ja, das mussde Arbeitsamt alles übernehmen dann. Ja und dann haben sie

1320 uns gegeben die Wohnung, dann haben wir das renoviert soschnell wie möglich eingezogen, die Tapeten waren noch allesalt und haben gesagt: »Komm geh raus (lacht), machen dasschnell.«L. E.: Dann haben wir eins nach dem anderen renoviert

1325 J. E.: Ja und dann haben wir auch eins nach dem anderenrenoviert und Zimmer sich gemacht und so, haben sich dannaufgebaut n bisschen. Und wenn ich die Wohnung gehabt habL. E.: Wir sind eingezogen in die Wohnung da war der Stromabgeschaltet weil eine haben sie abgemeldet, und wir waren

1330 noch nicht angemeldet und wir haben eine tolle Nachbar ge-habt, besonders die Nachbarin, die kamen aus Ostberlin. Ja,und die Frau hat sich gleich als so, für uns eingesetzt. Ichhab gesagt: »Das ist ja Schweinerei! Drei kleine Kinder undwir können kein Glas Tee kochen.« Er hat gleich uns Kekse

1335 gebracht, hat gleich beim EWR angerufen, hat die Lage ge-schildert und ruck zuck in paar Stunden hatten wir Stromgehabt.J. E.: Haben wir Strom bekommen und alles..I: Und waren die Erwartungen dann erfüllt als Sie hier in

1340 Deutschland waren?J. E.: Naja das ist, wie gesagt das istL. E.: Das war so, wir haben uns dort für Deutsche, wir sindDeutsche ja, wir hatten in Schulzeit sogar, wurden unsereSchulranzen – deine Eltern könnten davon auch sprechen –

1345 so, Nazikreuz jemand gezeichnet oder noch wie ja, wir wur-

den als Faschisten genannt. Ja, zu dem Zeitpunkt. Und zumBeispiel, bei mir in der Familie war so, ich war als Deutscheerzogen, ja meine Oma und Opa haben mit uns nur deutsch ge-sprochen und, ja, ich hab als kleines Kind immer gesagt: »Ich

1350bin ein deutsches Mädel«, ja. Tja und mit diese Einstellungsind wir nach Deutschland gekommen. Als wir nach Deutsch-land kamen da war die kalte Dusche gleich, wir wurden alsRussen genannt, ja. Und da, das zu verkraften das war schwer..I: Und das war, war das bei Ihnen auch so, ich mein?

1355J. E.: Naja, das war schon n bisschen komisch ja, drüben wa-ren wir Deutsche ja, haben sie immer Deutsche zu uns gesagtL. E.: Wir hatten deutsche Namen und alles, und hier, ja klar(lacht)J. E.: Und hier sind wir rübergekommen und sind Russe, ja

1360wir kommen aus Russland und sind wir Russe, hat nit jederverstanden ja. Das isch genausoL. E.: Zu diesem Zeitpunkt überhaupt nicht ja. Jetzt wissensie deutsche Russen oder wie werden wir genannt ja.J. E.: Jetzt wissen sie, einige, das Aussiedler gibt’s

1365L. E.: oder Russlanddeutsche ja, Russlanddeutsche werdenwir genannt, bei Deutschen. Das war schon etwas bisschenSchlag aber wieder die Nachbarn, der Mann zum Beispiel hatso gesagt, er hat gesagt: »Frau Egert, Sie zählen sich doch zuDeutsche?« Ich hab gesagt: »Ja.« Er hat gesagt: »Wissen Sie

1370was, sprechen Sie nicht mehr russisch.«I: Hm.L. E.: »Sprechen Sie nicht mehr russisch, dass Sie schnellschneller die Grenze (überschwung) bekommen, dass Sieschneller besser deutsch sprechen können.« Ich hab, wir ha-

1375ben deutsch ja gesprochen ja, aber trotzdem, auch heutzutagemerkt man von wo wir kommen. Aber tja, damals war es so.Und die Schullehrerin, die Kinder sind in X-Schule in Wiesba-den gegangen, das ist eine private Schule von der katholischenKirche, und die Lehrerin, Sarah ist gleich in die erste Klasse,

1380wollten wir aber sie haben sie nicht angenommen weil warennoch Sprachschwierigkeiten , sie war in der Vorschule unddann kam sie in die erste Klasse nach einem Jahr und dieLehrerin, Frau Runkel, sie hat mir gesagt: »Wissen Sie wasFrau Egert, sprechen Sie mit Kinder nur deutsch zuhause, das

1385der Sarah es leichter geht zu lernen. Aber in der Mathematikhelfen Ihrem Kind nicht, weil Sie dort haben andere Weisegelernt das und wir lernen hier etwas anderes und Ihr Kindnicht stören dann«, naja dann hab ich umgelernt auf deutsch,mit meinem Kind zusammen.

1390I: Hm. Deutsch rechnen.L. E.: Aber wir haben’s geschafft, mittlerweile sag ich: »Michkönnen sie nennen wie sie wollen, hauptsache ich fühl michwohl in Deutschland.«J. E.: Als wir

1395L. E.: Ja.. ja, und meine Kinder fühlen sich wohl, jeder konntedie Ausbildung machen was er wollte, fertich.. ja.I: Hm. Was meinen Sie?J. E.: Ich meine in Deutschland ja, das isch wunderschönerStaat und da muss man sich auch durchkämpfen ja, wie über-

1400all wenn man jetzt nach Japan fährt oder nach Australien, damuss man auch neu anfangen. Überall ja gibt’s Schwierigkei-ten, wie jeder Aussiedler oder Auswanderer ja. Wenn manjetzt guckt im Fernsehen wie viel Leute, einige haben Glück,die finden Arbeit, die haben, die Sprache können sie beherr-

1405schen gut, oder Spanisch oder Englisch oder was ja, aber muss

Page 102: it - Gesellschaftbilder Und Selbstverst Russlanddeutscher Aussiedler in der Sowjetunion und in Deutschland

92 anhang b Interviews und Gedächtnisprotokolle

man auch die Arbeit und die ganze, die Arbeitsverhältnisseoder sagen wir so, die Instrumente auf der Arbeit musst könneauch, wie das heißt auf Englisch oder was. Das isch nit nurspreche: »Ich geh nach Hause«, oder, muss schon wissen was

1410 ich will ja, oder »Gib mir den Schlüssel« musst auf Englischsagen, oder was du brauchst dort ja. Und äh genauso müssenwir unsere Barriere auch wieder hier nehmen, das war fürmich nicht so einfach.. Damals war ich Schreiner in Russland,ich weiß was Malatok, das isch Hammer ja und Säge und Ho-

1415 bel ja, das waren unsere Instrumente drei Stück. Aber hierda Fräsmaschine und hier Papiermaschine und verschiedene,wer weiß da alles gibt ja. Ja, und da musst du alles wissen wiedas heißt.L. E.: Und da zum Beispiel die Ausbildung dort, und hier es

1420 wird ja nix anerkannt. Ja, zum Beispiel ich hab dort gearbeitetin Gesundheitsamt, bei Gesundheitsministerium und hier binich nix, wurde überhaupt nicht anerkannt. Hier haben gesagt:»Sie können gehen und als Krankenschwester wieder eineAusbildung machen.« Ja

1425 I: Hm hm.L. E.: ich war viel, viel größer ausgebildet als hier die Kran-kenschwester, ich hatte breitere Ausbildung gehabt, aber hiermachen sie so eine Ausbildung aber gehen sie in die Tiefe ja,hier spezialisieren sie sich nur auf einem, und wir waren weit

1430 spezialisiert…J. E.: Du bist flexibel drüben gewesen ja.L. E.: Wenn ich dort irgendwo auf einem ( ) so wie Friesen-heim, wo kein Arzt ist, der ist, da ist der Fältscher, Fältscherist übersetzt Unterarzt. Ja, es waren früher in Deutschland im

1435 zweiten Weltkrieg auch solche Berufe, aber dann waren sieabgeschafft. Ja dann ist geblieben Krankenschwester, Arzthel-ferin, Arzt. Ich würde sagen so ähnlich wie hier Medizintech-nische Assistentin würd man sagen dann ja.I: Haben Sie damals gemacht?

1440 L. E.: Ja, ich hab Labor und alles gemacht, hier kann ich nix..hier muss ich mich so durchsetzen wie ich es kann, fertich.I: Hm..L. E.: So (ähnlich), oder wenn dort eine Ärztin war, sie kannhier nicht mehr anfangen wie eine Krankenschwester… ja,

1445 erste Zeit, dann muss sie zwei drei Jahre kostenlos arbeitenim Krankenhaus, dann vielleicht wird ihr Beruf anerkannt..und die muss dann von Anfang anfangen ja.J. E.: Aja hier isch ganz andere Ausbildung, das muss manschon

1450 L. E.: Ja ja, aber damit muss man rechnen wenn man in an-deres Land kommt, ist ganz normal. Drum haben, also wirhaben unser alle Mögliche gemacht das die Kinder ihre Wegfinden ja.. ihre AusbildungJ. E.: das sie ihre Ausbildung machen

1455 L. E.: ja deine Eltern bestimmt auch so.. ja, haben bestimmt inder Schulzeit schon gesagt: »Lerne bitte, dass du was wirst!«..Ja, so ist es.J. E.: Ja.I: Hm. Gut, ähm, noch ein paar speziellere Fragen.

1460 J. E.: Ja bitte schön!I: Wenn Sie, naja Sie haben.. die Gesellschaft in Sibirien Russ-land kennengelernt, Moldawien, Sowjetunion sagen wir malum’s allgemein zu fassen. Ähm, wenn sie nochmal, ja an dieGesellschaft dort denken, wie, was für’n Bild kommt Ihnen da

1465 von dieser Gesellschaft in den Kopf, äh was war den Leuten

wichtig, was galt es vielleicht zu erreichen? Oder ja, was warso zentral in dieser Gesellschaft?J. E.: Sie meinen drüben oder hier?I: Drüben, Sowjetunion.

1470J. E.: Ja… Ja, ich denke die Leute die haben auch ihre Wün-sche gehabt, auch ihre Familie versorgen in jedem Fall, aber eswar ganz andere Situation in dem Moment drüben. Zuerst ha-ben die Leute unterbezahlt alle, die haben nit bekommen daswas sie bekommen sollen, manchmal drei vier Monate haben

1475sie überhaupt kein Geld bekommen, ja, und dann natürlichkommt andere Interesse dann: »Für was arbeiten wir?« Unddann versuchen sie durch die Kolchose was, was nit so festkriegt, mitnehmen ja, das heißt es klauen. Drum sagt man:»Die (Kühe) die Russland das wäre viel reicheres Land, wenn

1480sie nit geklaut hätten und nit getrunken hätten, so stark.« ( )wenn sie trinken, wenn sie haben Wein, machen sie im HerbstWein, wenn sie anfangen die trinken das aus, bis leer ist, egalwieviel tausend Liter, zweitausend Liter, die werden jedenTag trinken bis es leer wird. Es gibt keine Pause zwischen, das

1485isch selten wenn du findest so eine anständige Familie das siesich bisschen, nicht ganz so schaffen ja. Aber da.. ischL. E.: Das ist im Grunde so, das war so, alles gehört dem Volk..ja die Fabrik gehört dem Volk und wenn sie den Arbeitnehmernicht bezahlt haben anständig, dann hat der Arbeitnehmer

1490hat sich – das gehört dem Volk, dann gehört auch mir – dannhat er sich selbst bedient. Er hat sich bedient dort wo er ge-arbeitet hat ja, dann hat er nach Hause das mitgenommen.Hier isch andere Gesellschaft, hier ist alles privatisiert, zumBeispiel die Firma X gehört einem Menschen, und wehe wenn

1495was dort nimmst, dann verlierst du deine Arbeit.. und dort..je größer waren die Bosse desto mehr haben sie geklaut,wennein kleiner Mann erwischt wurde dann, ja, kam er ins Gefäng-nis. Das ist eine Seite der Geschichte, aber was ich will nochsagen, die andere Seite der Geschichte ist.. dort sind die Leute

1500mehr wärmerJ. E.: mehr offenerL. E.: mehr offenerJ. E.: mehr Hilfsbereitschaft, mehr Freundschaft, Gastfreund-schaft bei dene isch ( ), wenn kommt Gast, das

1505muss man so verstehen ja, er stellt alles raus was er hat jaL. E.: und wenn er dich eingeladen hat, dann meint er esehrlichJ. E.: ja der Mann der ehrlich ja, du bist Gast bei ihm, ja ergibt dir alles Beste

1510L. E.: und hier weiß man nicht wo man istJ. E.: aber hier weiß man nit ja, da denkt man: »Naja, gibtman dem das, oder vielleicht andere mal zurück.« Aber dortgibt’s nicht ja, dort bist du Gast fertich ja, der stellt den bestenWein raus ja, bestes Fleisch wenn er hat, beste Fisch oder was,

1515aber es steht alles auf dem Tisch und jaL. E.: Meine Mutter zum Beispiel, heute noch, sie kann Tortehinstellen und Hering, verstehst du? Und Frikadellen und alleswas sie hat wenn jemand kommt. Dann stellt sie alles allesalles alles

1520J. E.: Die denkt immer noch so, die Hungerphase weißt duwas sie selbst erlebt haben damals, jaL. E.: Das kommt aber von Herzlichkeit ja. Oder zum Beispiel,ich hab ein Kleid gekauft und freue mich, dann geh ich zumeine Nachbarin und zeige ihr ja, das Kleid, sie freut sich mit

1525mir

Page 103: it - Gesellschaftbilder Und Selbstverst Russlanddeutscher Aussiedler in der Sowjetunion und in Deutschland

Interview: Jakob (und Lydia) Egert 93

I: Hm.L. E.: Ja, und hier wenn du was neues anziehst, da wird dirgar nix gesagt, weil sie auch das haben wollen, zum Beispiel.J. E.: ( ) so Eifersucht so gleich ja.

1530 L. E.: Ja, oder zum Beispiel ein Nachbar kauft sich Mercedes,der andere muss auch ihn kaufen, obwohl er nix auf demKonto hat ja, er er er musste auch sowas haben oder nochbesser, am besten besser.J. E.: ( ) zu Mercedes sagen ja, hier kaufst du Mercedes ja,

1535 morgen hat er schon vergessen das er neueAuto hat, das (reibt)sich schnell weg. Früher, wenn du so Lada kaufst, mein Vaterhat Lada gekauft, das isch, ja ich geb Beispiel, eine Wochenwaren wir alle besoffen, im ganzen Dorf, der Vater hat Autogekauft. Verstehst, eine Woche war fast das ganze Dorf, na da

1540 die Straße wo wir gewohnt haben, waren alle besoffen.I: Weil die gefeiert haben?J. E.: Ganze Woche haben wir Auto gefeiert! Kannst dirvorstellen hier, da hier macht doch keiner eine ( ) Pauseoder was

1545 L. E.: oder eine Hochzeit dort, zwei drei Tage!J. E.: Oder Hochzeiten, weißt du wie schöne Hochzeiten?Warst du schon auf russlanddeutsche Hochzeiten?I: Nee.J. E.: Weniger. Ich muss dich mal einladen.

1550 I: (lacht).L. E.: Wenn das eine echte russlanddeutsche, wenn beide Part-ner kommen aus Russland, sehr schöne Hochzeiten und daswird geführt von ( ), da ist so schöne MusikJ. E.: Da ist schöne Musik und schöne richtig auch wie führt

1555 sich das, die ganze Tradition und alles wie das war, das warrichtig schön, ja. Das musst du einmal erleben, da kannst duschreiben.I: (lacht)L. E.: Meine Hannah war auf so einer Hochzeit in Nürnberg

1560 ja, sie hat gesagt: »So möcht ich auch heiraten!« Jetzt hat sieein Freund aus Bayern.. so geht nicht ja. Die werden bestimmtnach bayrischer Tradition heiraten.J. E.: Na meinst du das isch schlecht? Weißt du wie in Bayerndie feiern?

1565 L. E.: Ja, aber das ist was anderes wieder.J. E.: Ja natürlich is anders. Wir waren auch da in Nürnbergauf der Hochzeit, da waren mehrere schon, war sehr schön.Richtig so deutsche Musik ja, russlanddeutsche, es gibt auchGruppen, es gibt Treffen hier auch, Russlanddeutsche, weißt

1570 du?I: Hm.J. E.: Gibt’s auch Zeitschrift »Volk auf dem Weg«, da kannstdu vieles rausfinden auch, da stehen auch die ganze, welcheTalente und alles, gibt’s auch unsere Talente viele, Lehrer und

1575 MusiklehrerL. E.: Na überhauptwenn jemand was erreicht hat, wird auchdort geschrieben.J. E.: Und unsere Jelena war auch drin, hast schon gesehenden (zeigt auf ein Bild im Kalender an der Wand, auf dem

1580 eine bekannte Schlagersängerin, die mit Fam. E. verwandt ist,abgebildet ist), ja die hat schon Erfolg. Die kriegt für einemAuftritt ja, wenn sie jetzt heute in Köln ist, morgen in Bayernoder was, fliegt sie mit Flugzeug.I: Und noch mal zu der.. wieder eine Gesellschaftsfrage

1585 J. E.: Allerdings das kannst auch reinschreiben, das isch von

meine Cousine ihre Tochter.L. E.: Ja ist gut.J. E.: Wenn du das brauchst, ja.I: (lacht) Em, wer waren da in Anführungszeichen die Ver-

1590lierer und in Anführungszeichen die Gewinner, verstehen Siewas ich meine? Wer hat vielleicht, ob’s Gruppen gab, wie auchimmer definiert, die von vornherein die besseren Chancenhatten im Leben, sei es jetzt für Job oder für sonst irgendwas?L. E.: Kommunisten

1595J. E.: Ja drüben haben die Kommunisten bessere Chancengehabt.L. E.: Um eine Karriere zu machen musstest du unbedingt indie kommunistische Partei eintreten.I: Hm.

1600J. E.: Dann hast du mehrere Türen offen.L. E.: Aber das war gegen unseren Glauben, wir haben dasnicht gemacht.J. E.: Wir wollten doch immer raus aus Russland.L. E.: Nee, überhaupt, wir haben das nicht gemacht. Meinem

1605Vater wurde auch angeboten in die Partei, er war Leiter voneiner großen Abteilung in der Möbelfabrik, ihm wurde dasangeboten aber meine Mutter hat nicht erlaubt (lacht), der istals Leiter dann auch nur geblieben von dieser Abteilung. AberDirektor war auch Deutscher, der musste Kommunist sein. Ja,

1610der musste Kommunist sein. Oder ein Schuldirektor mussteunbedingt Kommunist sein, überall waren Kommunisten ja,wer in die Partei war der hat auch die Karriere gemacht. Oftwurden sie genannt Kommunisten Karrieristen, ja, weil sienicht aus ihrer Überzeugung in der Partei waren, das war nur

1615eine Hülle. Weil ich kannte auch andere Leute aus KGB ja..und sie sprachen damals nicht Leningrad, sie haben gesagtSt. Petersburg.. Ja, also das waren wirkliche tiefste russischeLeute, intelligente Leute mit tiefste russische Kultur, aber diedürfen das nicht leben. Verstehst du, die dürfen das nicht

1620öffentlich leben. Wieviel wunderbare Schriftsteller wurdenim Gefängnis einfach so umgebracht, ja, wenn sie nur, oderSchauspieler wenn sienur bisschen von der Wahrheit gespro-chen haben.J. E.: Ja, wieviel waren im Gefängnis gelandet, für nix.

1625L. E.: Für nix und wieder nix. Können deine Eltern, deine Opaund Oma wenn sie gelebt hätten, erzählen. Für ein falschesWort kamen die Leute ins Gefängnis und wurden verschlepptund bis heute weiß man nicht wo sie sind.I: Genau, aber mehr zu Großelternzeit auch oder, zu Ihrer

1630Zeit schon nicht mehr, oder?L. E.: Auch in fünfziger Jahre schon, neunzehn hundert fünf-zich bis der Stalin noch da war. Ja, und er war bis dreiundfünf-zig vierundfünfzig an der Macht.. In unserer Zeit war auchnicht so einfach, du konntest zum Beispiel nicht in Uni gehen

1635und studieren.I: Nicht?L. E.: Nein. Oder musste du das bezahlen..I: Warum konnte man nicht? Also Sie hätten nicht studierendürfen?

1640L. E.: Nein. Als Deutsche nicht.J. E.: Als Deutsche nit. Wenn Russe werden dann können wirdie Chancen..L. E.: Hm. Als Deutsche oder kein Kommunist nicht.. Duhattest zwei Wahlen, oder du wirst ein Russe oder du wirst

1645ein Kommunist, dann kannst du..

Page 104: it - Gesellschaftbilder Und Selbstverst Russlanddeutscher Aussiedler in der Sowjetunion und in Deutschland

94 anhang b Interviews und Gedächtnisprotokolle

I: Hm. Hm.L. E.: Ja… Das war hart schon.J. E.: Und die welche studiert haben die müssen auch unter-schreiben das sie nix gesehen haben und nix wissen ja. Die

1650 welche studiert haben, mein Bruder oder meine Cousins diehaben in Krasnojarsk studiert in Uni, aber die dürfen bis heutenit reinschreiben wo sie studiert haben, wo sie gearbeitet ha-ben das war so… äh wie heißt das, wie Garnison so abge-schützt ja

1655 L. E.: Eine geschlossene Zone war dasJ. E.: Waenni Zone, wie MilitärzoneI: Während sie studiert haben, haben sie da gearbeitet oderwie?J. E.: Die haben dort gelernt ja, und gearbeitet ja.

1660 L. E.: Ja, im Militär hast du noch Chance gehabt aber so nor-male Uni besuchen konntest du nicht.I: Hm. Hm. Und so Berufsausbildung?L. E.: Oder die Eltern müssen dann demJ. E.: Na warum, die Institute haben sie doch geendet. Nur

1665 die können nit schaffe hier, das wird nit anerkannt, so richtig.Beide, der Weriand und der Wanja und der Jura die haben(alle) studiert, aber die, niemand schafft hier wie Ingenieuroder was, die haben alle bei Opel angefangen, ganz normale(Arbeit).

1670 I: Die haben da an der Uni in Moldwien oder wo haben siestudiertJ. E.: In Krasnojarsk in Sibirien.. mein Bruder auch, Weriand,der hat dann im Institut (gearbeitet)L. E.: In Kasachstan konnten wir nicht. Weil

1675 J. E.: In Sibirien haben sie damals noch lerne, aber, aber nitüberall auch ja.L. E.: In Kasachstan, wenn Eltern haben bezahlt für das Kind,dann durfte es studieren. Ja, das war noch eine Möglichkeit,wer Geld gehabt hat, hat bezahlt. Dann durftest studieren.

1680 Wir kommen aus verschiedenen Richtungen ja undJ. E.: Naja gut, Katharina wollte wahrscheinlich anderes wis-sen.. oder isch das okay?I: Doch doch, es geht schon in die Richtung.J. E.: … Du musst deine Arbeit ganz gut schreiben jetzt.

1685 I: (lacht). Und ähm… und war’s den Menschen in der So-wjetunion, äh inwiefern war möglich und wichtig em sozialgesellschaftlich politisch aktiv zu sein?L. E.: PolitischJ. E.: Politisch

1690 L. E.: gar nichtJ. E.: Das kannst du gleich, die Leute haben Angst gehabt vonPolitik, da was gegen sagen. Das isch äh.. natürlich die habenprotestiert wenn was falsch gelaufen isch oder wasL. E.: und die wurden alle eingeschüchtert, die Leute haben

1695 Angst gehabt.J. E.: Aber dann, dann haben die einige gefangen und einge-sperrt ja, du hast gespielt mit deiner Freiheit, immer. Isch nitwie hier frei, kannst du schreien und jedem sagen auf demdirekt: »Du Esel.« (lacht) oder noch was, da darfst du sowas

1700 nit machen ja.I: Hm.J. E.: ( ) Direktor ist, der im Bergwerk ist ( ) direktzu ihm gehen und klopfen an die Tür, hast du Respekt.L. E.: Ich weiß bevor wir aus Moskau rausgefahren sind, wir

1705 waren in der russischen Botschaft da müssen wir unterschrei-

ben, dann wurden wir nochmal gefragt ob wir raus wollenfahren. Naja wir haben lockerer unterschrieben, aber mein Va-ter – ich vergess das nicht – er hat so gezittert, der Mann hatso gezittert, er konnte kaum sein Name aufschreiben, weil

1710er sein ganzes Leben so eingeschüchtert war, wir waren jaFeinde des Volkes.I: Hm. Als Deutsche?L. E.: Als Deutsche, wir waren Feinde des Volkes. Wir saßenim Flughafen – ich erzähl dir nur ja das, für ihre Unterla-

1715gen oder für ihr Gedächtnis – aber, zum Beispiel, wir warenmit drei kleine Kinder, in jedem Flughafen gibt’s Zimmer fürMutter und Kind, richtig?.. Die Hannah war sieben Monatealt, da musst man sie nochwickeln und dann nochwas, ich binin das Zimmer gegangen mit meine drei Kinder, Mutter und

1720Kind, sie haben mich gefragt: »Wohin fahren Sie?« Ich habgesagt so ganz stolz, so endlich komm ich raus: »Nach Bun-desrepublik Deutschland.« »In DDR oder Bundesrepublik?«wurde ich nochmal gefragt. Ich hab gesagt: »Ja klar, in Bun-desrepublik.« »In Urlaub oder für immer?« Ich hab gesagt:

1725»Klar für immer.« »Für Sie gibt’s hier kein Platz mehr.«I: Wer hat das gesagt?L. E.: Die von dem..I: Von diesem Zimmer?L. E.: von diesem Zimmer, die Dame. Sie hat gesagt: »Für Sie

1730gibt’s hier kein Platz mehr. Sie sind ja die Feinde des Volkes.«I: Hm. Hat sie so gesagt?L. E.: Hat sie so gesagt… Und später saßen wir im Flugzeugund ich hab der Sarah, schon jetzt gesagt: »Sarah, ich war frohdas wir mit Lufthansa geflogen sind und nicht mit (Araport).«

1735Weil das Mädchen hat das gesehen, die war fast sechs Jahrealt ja, die hat schon was verstanden mitgekriegt, und dannsaßen wir im Flugzeug und, wir sitzen so, neben uns saß einMann, das war, das hat man gesehen das das einer von KGBwar

1740I: HmL. E.: (schlaue) Blicke ja, also durchdringende und meine Sa-rah setzt sich hin und sagt, auf russisch: »Gott sei Dank, jetztsind wir aus diese verfluchte Russland raus!« (lacht)I: (lacht)

1745L. E.: (Ich musst lachen noch) aber er konnte nichts machen,wir waren auf dem deutschen Boden, verstehst du schon.L. E.: Er hat gesagt: »Wart mal ab Mädchen, du wirst auf dieKnie beten, dass du zurückgenommen wirst, aber du wirstnicht zurückgenommen.«

1750I: Aha.J. E.: Naja er muss sich verteidigen, isch klar.L. E.: (lacht) Aber das war krass ja, wenn wir im russischenFlugzeug gesessen hätten, die hätten uns gleich raus und fertig,da hätten wir Deutschland für immer vergessen (lacht)… Das

1755nur so paar Beispiele das du klar hastJ. E.: Das du schon den feinen Unterschied merkst ja.L. E.: das du.. bisschen Vorstellung hast, in diese Zeit wie eswar, heutzutage ist anders ja, aber damals in diese Zeit wares ganz krass. Oder zum Beispiel meine Mama hat immer

1760Rosenkranz dabei.. äh Rosenkranz das ist so eine Kette miteinem KreuzI: Ja, ich kenne das.L. E.: und dann, wir wurden ja durchgelichtet und die hattenAngst gehabt das das Gold ist oder so ja, und dann sagen sie:

1765»Was ist das?« Sagt sie: »Raschanez, Rosenkranz.« Einer hat

Page 105: it - Gesellschaftbilder Und Selbstverst Russlanddeutscher Aussiedler in der Sowjetunion und in Deutschland

Interview: Jakob (und Lydia) Egert 95

ge: »Pusti Babku, pusti jedit«, ja, aber alles, (ach will ich garnit sagen), keine Fotos, nix dürfen wir mitnehmen weil etwas(neutral) war. (lacht)I: Genau, und dann nochmal dieselbe Frage der Gewinner

1770 und Verlierer in Anführungszeichen in äh in der deutschenGesellschaft.. Oder was äh, was sehen Sie als zentral, was istwichtig hier in der Gesellschaft, was ist wichtig hier in derGesellschaft, was ist wichtig den Menschen es zu erreichenoder wie, wie sieht sie aus?

1775 J. E.: Ja wichtig, die Sprache muss man natürlich erreichen,gut beherrschen, von der Sprache hängt auch vieles ab, ganzesLebenI: Tschuldigung, nur die Gesellschaft im Allgemeinen meinich, nicht nur was die Aussiedler betrifft oder so, so über das

1780 was Sie beobachten, was Sie mitbekommen.J. E.: Hm… Ja, die Leute die sind, sagen wir so mehr.. im Stresskann man sagen ja, und die haben ihre eigene Probleme unddie versuchen sich so mehr oder weniger allein durch das alleskämpfen, ja. Und drübe da isch n bisschen anders gewesen, da

1785 hat man mehr Unterstützung bekommen auch einer von demanderen, ja, und hier bist du mehr so abgeschirmt, irgendwostehst du allein und du musst dich allein durchkämpfen ja,durch dem Leben, wie gesagt, wenn man nicht kämpft danngeht man zugrunde ja, oder wirst du von anderem.. ähm..

1790 das isch wie kleines.. Hinkel ja, wenn das Hinkel nit gegenwas unternimmt und wehrt sich, dann wird es von anderenHähnchen immer gepickt.I: Achso achso, das Küken?J. E.: Küken ja, oder Hähnchen ja. Und hier musst du richtig

1795 ein starker Natur, so (Hörner) haben und kämpfen, Kampf-natur sagen wir so, durch das Leben gehen, wenn du willstwas erreichen ja, wenn natürlich die Hände runterlässt undnix machst dann wirst du auch so wie eine Lappe in Gesell-schaft, ja dannwird dich jeder schleudern wo er will, ja, und

1800 machen mit dir was er will, die anderen. Aber, ich seh dasso, jedem Mensch isch gegeben dieselbe, egal wo er wohnt, inwelchem Land, wir sind alle gleich, ja, vom Menschen Natur,vom Grundsatz, wir sind von demselben gemacht, oder Ame-rikaner oder Japaner oder Franzose, wir sind Menschen, wir

1805 sind von Gott, wir sind Gottes Geschöpfe ja, Gottes Werkzeugwenn man so nimmt. ( ) lieber Gott, er hat nit umsonstuns, auch nit umsonst jetzt dich oder mich zur Welt, sagenwir so, gebracht zu diese Situation, auch zu hier zusammen ja,das isch alles ihm sein Wille gewesen, wenn man so nimmt,

1810 stimmt?I: JaJ. E.: Das könnte sein das wir heute gar nit getroffen hätten,und noch in Deutschland ja, allerdings wir müssen, du bistaus Duschanbe, ich bin aus Sibirien, weißt du wo Krasnojarsk

1815 liegt, das isch im Norden, wenn man den Globus so hält ja,unsere deutsche Karte gibt’s da gar nit so Platz, das musst duvon der anderen Seite schon gucken.L. E.: (kommt wieder) Das isch in Bellheim der Polterabend.J. E.: Achso. Unsere Nachbarn machen Polterabend.

1820 L. E.: Das ist auch so, vor zwei Wochen wurde uns gesagt dassie machen Polterabend am neunzehnten. Aber wo wurde nixgesagt.J. E.: Aber eingeladen haben sie uns. Aber wo sie werdenhingehen

1825 L. E.: Ja

I: Na im Haus dann wahrscheinlich oder?L. E.: Ja, aber hier ist jetzt nix, das ist in Bellheim.J. E.: Die wohnen da gegenüber, normal muss doch Krachschon sein. Das Geschirr fliegen, aber hört man nix.

1830L. E.: Das ist auch so jaI: Was meinen Sie ist auch so?L. E.: So, eine Einladung aber nit ehrlich gemeint, ja.J. E.: Sagen wir so, Katharina wir sagen dir gleich, die versu-chen immer uns halten für dieMenschen zweiter Sorte, ver-

1835stehst du (was ich will sagen). Wenn man du aus Russlandkommst, die denken: »Naja, die sind nit Hiesige, die sind nitechte Deutsche«I: Bekommt man zu spüren oder?L. E.: Das bekommt man zu spüren.

1840J. E.: Ja, das spürt man das ja.L. E.: Du wirst das auch noch bekommen..J. E.: Das kommt irgendwann malL. E.: Wir kennen einen Priester, ja, ( ) der ist mit zweiJahren nach Deutschland gekommen, im Zweiten Weltkrieg,

1845er ist jetzt auf die Rente, aber er hat gesagt, sein gaanzes Le-ben.. als er gearbeitet hat, wurde ihm, also zu spüren gegebenvon wo er kommt.J. E.: Verstehst du, ganzes Leben, mit zwei Jahren ist er ge-kommen nach Deutschland, isch ein Baby ja. Verstehst du… Ja,

1850und das spürt man ja, aber wir dürfen sich nicht runterkriege,wir sind genauso Menschen wie andere ja, wir tun sich keinenMillimeter sich weniger schätzen wie dieL. E.: Musst das erreichen was duJ. E.: umgekehrt

1855L. E.: vorstellst, was du von deinem Leben vorstellst, musstdas erreichen und noch mehr. Und das ist so, wenn du indeinem Leben was erreichen willst und du hast ein Ziel,aber du musst ein festes Ziel haben, wirst du dazu kom-men. Wenn bei dir Ziel schwankt ab vielleicht ja vielleicht

1860nein, wirst du nie dazu kommen.. Das ist so ungeschriebenesGesetz.J. E.: Das ist so Gesetz, das Leben ischL. E.: So ist es.J. E.: Wenn man Ziele hat, das isch genauso wenn man in

1865Zug einsteigt, ja, und du hast dann auchL. E.: Wir Leute aus Russland wir sind mehr zielstrebiger.J. E.: Ja. Wenn die Russlanddeutschen will ein Haus, dannbaut er ein Haus.L. E.: Ja, wir sind zielstrebiger einfach

1870I: Muss vielleicht auch sein?J. E.: Er überlegt sich nit wo das Kind kommtL. E.: Ja. Weil zum Beispiel unsere Eltern sie sind durch Was-ser und Feuer gegangen.. und, das prägt… das prägt einfach…J. E.: und Ziel das isch sehr gute Sache.Wennman Ziel gehabt

1875hat dann hat man (wenigstens) erreicht. Und die Ziele mussman immer haben.L. E.: Immer setzen, zuerst kleinere dann größere, aber Zielmuss man sich setzen. Hab eine große Ziel, wenn auch inWeite, musst du jetzt schon haben.

1880J. E.: Ja, wenn du werden willst wirklich.. oder was (du willst)L. E.: Ja, musst du heute schon haben. Und dann zu diesemgroßen Ziel, immer sich kleinere Ziele setzen und probierenzu erreichen, dann kommst du auch zu großem Ziel.J. E.: Dann kommst du schon irgendwann (an diese große

1885Ziel)

Page 106: it - Gesellschaftbilder Und Selbstverst Russlanddeutscher Aussiedler in der Sowjetunion und in Deutschland

96 anhang b Interviews und Gedächtnisprotokolle

L. E.: So ist es…I: (schmunzelt) So ist es…L. E.: Auch wenn die Ziel ganz verrückt ist.. für die anderen,aber nicht für dich…

1890 J. E.: Ich hab dir gesagt, wenn mir jemand, wenn ich jetzt zu-rückgedreht hätte und hätte gesagt in Russland schon jemand,dass ich fahr nach Deutschland und baue ein Haus.L. E.: Aber du hast damals dort gesagt. In Moldawien schonhast du gesagt.

1895 J. E.: Ja gut, ich mein.L. E.: Er hat sogar mir das gesagt, ich hab gesagt: »Bist duverrückt? Du bist noch nicht in Deutschland.« (lacht)J. E.: Auch wenn ich das gesagt habe ja, aber wie hast du dageguckt auf mich ja.

1900 L. E.: Ja.J. E.: Und so isch das im Leben ja. Das ischmanchmal lachenddie Leute aus ja und denken: »Naja, der hat n Vogel, vielleicht.«A normalerweise die Leute die streben sich nach etwas ja, unddie versuchenwas zumachen, und dann erreichen sie das auch.

1905 Meinst du Reiche, von wo kommt Reichtum, der tut sich auchirgendwo, der tut sich fleißig das anarbeiten, er macht wasL. E.: In Amerika gibt’s so viele Beispiele, von mit einemDoller haben sie ihren Reichtum zum Beispiel gemacht, sindMultimillionäre geworden, von nix und wieder nix, sie haben

1910 an die Sache einfach geglaubt.J. E.: Ja… musst immer an dein Ziel glauben und nach vornegehen, und niemals sich runterkriegen lassen.. Du bist genausoviel wert wie andere, egal (wer steht hinter dir)L. E.: Noch viel werter

1915 J. E.: Noch viel werter, weil du bist noch jung und hast bessereChancenI: (lacht)J. E.: Ja, das isch so im Leben, glaub mir!L. E.: Jeder Mensch ist wertvoll.

1920 I: Davon bin ich überzeugt, ja.J. E.: Ja, und jeder Mensch isch denselben Wert.L. E.: Und jeder Mensch hat was Gutes und was nicht soGutes. Aber das Gute muss man fordern (5). Hast du genugMaterial bekommen?

1925 I: Ja ich.. Sie hatten das schon angeschnitten, aber eine letzteFrage nochmal das äh… Wie das Leben als Deutsche für Siewar in der Sowjetunion, wie es war dort als Deutsche zuleben?J. E.: Als Deutsche. Das kommt wieder auch drauf an wie du

1930 sich hinstellst, wie du sich ähm.. zeigst in Deutschland äh inRussland ja. Ich hab auch gute Erlebnisse und gute Freundegehabt weil ich hab.. zuerst hab mich selbst gut angestrengt,die haben gemerkt das ich gut arbeite und gut kann was ma-chen und dann gewinnst du natürlich auch gute Freunde, ja,

1935 welche sehen von dir, du bist doch (anders drauf). Drübenhaben sie gesagt zu uns Deutsche, warum haben sie Deutschegesagt, weil die wissen das Deutsche arbeiten ja, die machenalles, und wenn sie machen dann machen sie gut, sauber, in-telligent, die beste (Lösung) können die Deutschen machen,

1940 heute tun sie noch, vielleicht sind sie, tut dene leid das sie soviel Deutsche rausgelassen haben.. verstehst du, die sind fastalle abgehauen. Die sind fast alle abgehauen, verstehst! ( )deine Antwort auf diese Frage, weil dort waren wir Deutsche,das heißt fleißig schön gut, und hier sind wir die Leute zweiter

1945 Sorte, wenn man jetzt so ganz (krass).. verstehst.

L. E.: AberJ. E.: Aber du darfst dich niemals ( )L. E.: Aber die Leute haben sie auch gern weil sie wissen dasdie Leute machen die Arbeit welche sie nie im Leben machen

1950würden.J. E.: Verstehst du?I: Dort oder hier?J. E.: Hier. Die kriegen hier ihre Jobs nicht, ja so wie Leh-rer oder was, Krankenschwester die müssen hier Putzfrau

1955schaffen. Auch ich war, ich war als Musiklehrer oder so Sänge-rin oder was, die putzen müssen im Restaurant oder waschendie Teller, das sie überleben können ja. Und drüben die diewaren Ärzte oder oder richtig ja, bei uns war meine Cousinedie war Kinderkrankenschwester ja, der ganze Rajon

1960L. E.: Nein, die war keine Krankenschwester, die war Ärztin,Oberarzt in KinderklinikJ. E.: Oberarzt sogar in Kinderklinik, und hier hat sie keineStelle bekommen sogar. Kannst dir vorstellen, das tut schonbisschen weh oder.

1965I: Ja klar.J. E.: Stell dir mal vor, du lernst lernst lernst und fährst jetztnach Amerika, und dort sagen sie: »Putz du mal irgendwo denBoden und fertich, und sei zufrieden.« Würd dir auch wehtun, oder? Bestimmt.

1970I: Klar.J. E.: So isch des. Und.. ja, wie hast du die Frage gestellt, ichhab jetztI: Wie das war als Deutsche dort zu leben, in der Sowjetunion.J. E.: Achso. Ja und, aber wenn du sich gut stellst, hinstellst

1975ja und die sehen das du gut arbeitest, dann hast du auchAnsehen, die haben uns da sehr geschätzt, die, wir habenauch gut, kann man sagen, wenn wir nicht die Ziel gehabthätten nachDeutschland zu fahren, wir hätten auch dort Hausgebaut, ich bin hundert Prozent sicher. Vielleicht noch leichter

1980und ich hätte heute keine Schulden.Verstehst du, ich hätte dieHälfte geklaut, sag ich dir offen und ehrlich, weil die klauenmit AutosL. E.: Genommen (lacht)J. E.: Ja, genommen und, und, und hätt ich auch gebaut ja.

1985Und ich hätte keine Schulden heute, kein einzigen Pfennig.Und ich hätte wahrscheinlich noch besser gelebt, ich meinefrei von Schulden ja. Aber, muss man auch alles verdiene ja,da musst duL. E.: Das ist die Frage, warum die letzte zwanzich Jahre war

1990so schwer den Deutschen ausreisen aus Sowjetunion, warum?..Weil die welche an der Macht waren, wussten ganz genauwo der Fundament ist.. wer hält das ganze System, das warendie Deutschen, die haben gearbeitet, geschuftet und überallwo Deutsche gewohnt haben waren Kolchosen Millionäre. Ja.

1995J. E.: Ja, und die Beste alles geliefert jaL. E.: Ja, sie haben gearbeitet. Und was ist passiert mit Sowjet-union wenn die Deutsche ausgereist sind? Die ist zusammen-gebrochen. Und das wussten sie.. ja, weil egal wo, warst du inTadschikistan gelebt, Tadschiken lieben auch nicht arbeiten,

2000Kasachstan.. (auch nein), ja. Die sind so Schafhüter und soja, die wollen auch nicht arbeiten, Moldawien, ja die trinkengerne Wein, Russland Wodka.. das isch doch.. und wer hatgearbeitet? Die Deutschen haben gearbeitet. Und wenn einDeutscher irgendwo an eine höhere Stelle gestanden ist, da

2005hat er das auch geführt.. verstehst du, dann hat er den Betrieb

Page 107: it - Gesellschaftbilder Und Selbstverst Russlanddeutscher Aussiedler in der Sowjetunion und in Deutschland

Interviewprotokoll: Irina Albert 97

auch geführt und der Betrieb wuchs ja, wann er irgendwoin der Leitung war, wein Deutscher. Da wussten sie das gutgehen wird. Das ist eben so gewesen dort ja. Und wie derJakob gesagt hat, wenn man sich gut angestrengt hat, mit an-

2010 deren Leuten gut war dann waren die Leute auch zu dir gut..Es waren paar Dumme, welche waren im zweiten Weltkrieg,welche nicht verzeihen können, ja die haben dann über dieDeutschen schlecht gesprochen und so weiter aber.. aber auchdie waren auch nicht, weil zum Beispiel ich.. bin mit zwanzig

2015 nachMoldawien gekommen, ich stand einmal an einer Bushal-testelle und mit mir hat ein Alter aus Moldawien gesprochen,er wusste das ich eine Deutsche bin. Er hat gesagt: »Weißtdu meine Liebe, nicht die Deutschen haben den Unsinn hiergemacht, sonst unsere Leute.« Ja, unsere Leute, welche waren

2020 gegen Kommunisten, die waren, die haben viel viel mehr ihreeigene Leute umgebracht als die Deutsche selbst.I: Welche gegen die Kommunisten waren?L. E.: Hm. Guck.. vor dem Zweiten Weltkrieg (stöhnt) warauch Bürgerkrieg in Russland, nach der großen Revolution

2025 und da waren Leute welche waren für Kommunisten und wa-ren Leute welche waren gegen Kommunisten, die Kommunis-ten haben gewonnen, die welche waren gegen Kommunistendie haben sich zurückgezogen. Dann im Zweiten Weltkriegwenn die Deutschen kamen, warum kamen Deutsche nach

2030 Russland? Warum ist der Krieg passiert überhaupt, weißt du?I: Na die wollten mehr Land.L. E.: Nicht nur das, sie wollten ihr Volk frei machen (von)Kommunisten. Und dann kamen die, welche – die Kommunis-ten wurden die Roten genannt und andere waren dieWeißen –

2035 dann dieWeißen kamen zumVorschein, die sind zu Deutschengegangen und haben gesagt sie wollen der deutschen Machtdienen, die Deutschen haben ihnen die Macht gegeben und diehaben dann gewirtschaftet und ihre eigene Leute umgebracht.An SS geliefert und so weiter. Verstehst du, die haben viel viel

2040 mehr Leute umgebracht, als die Deutsche selbst… Und werweiß davon? Keiner weiß davon! Ja, weil Deutsche den Kriegverloren haben, drum müssen sie jetzt (büßen).J. E.: Ja gut jetzt. Katharina willL. E.: Ja das ist so eben, ja das ist so gewesen.

2045 J. E.: Ja, das sind die traurigen Geschichten…I: Gut, dann danke ich für das Gespräch.

B.7 Interviewprotokoll: Irina Albert

Frau A. kommt nach einem Arzttermin pünktlich um 9 Uhr zumeinem Elternhaus, wo das Gespräch stattfinden soll (nachausdrücklichem Wunsch von Frau A. bei der telefonischenTerminabsprache). Ich mache ihr die Tür auf, bevor sie nochklingeln kann reiche ihr die Hand und stelle mich vor, obwohlFrau A. mich (über meine Mutter) bereits kennt. Sie fragt, obes mir lieber wäre, das Gespräch bei ihr zu Hause zu führen(ich hatte am Telefon mehrmals betont, dass ich auch gernbereit bin, zu ihr zu kommen). Ich versichere ihr aber, dass esmir recht ist bei dem gewählten Ort zu bleiben. Mein Vaterkommt kurz dazu und begrüßt die Bekannte. Frau A. fragt ihn,(leicht auffordernd) ob er nicht zum Gespräch dazu kommenmöchte. Er verneint und ich bitte Frau A. ins Wohnzimmer.

Dort ist der Tisch mit Kaffee, Kuchen, Plätzchen und kal-ten Getränken gedeckt. Frau A. nimmt Platz und ich biete ihr

Besagtes an. Sie lehnt freundlich ab, versichert mir aber, siewürde sich bedienen, sobald ihr danach ist. Daraufhin fragtsie mich nach meinem Studiengang und danach, wann ichfertig sein werde. Ich informiere Frau A. über die notwendigeTonaufnahme – Sie hat keinerlei Einwände. Die Unterhal-tung dauert nicht länger als fünf Minuten, dann beginnt dasetwa dreieinhalbstündige Interview. Da Frau A. noch zu einerFortbildung muss, verweist sie kurz vor Ende des Gesprächsdarauf, dass sie bald aufbrechen muss. Ich bitte noch um wei-tere zehn Minuten, die sie mir gewährt. Allerdings fühle ichmich nicht mehr frei, alle Fragen zu stellen und reduziere aufdie wichtigsten. Frau A. bietet mir aber an, sie bei weiterenFragen anzurufen.

Beim Hinausgehen sagt sie, sie habe noch etwas Interes-santes für mich. Aus dem Kofferraum ihres Autos holt FrauA. stolz einen Kalender: (2008) »Pro Qualifizierung« (inter-kultureller Jahreskalender) hervor, in dem ihre ältere Tochterals eine von 12 erfolgreichen MigrantInnen abgebildet ist, dieihre »beruflichen Entwicklungsträume« verwirklicht hat. Sieüberlässt ihn mir (nur leihweise) und bricht auf.

Frau A. scheint in guter körperlicher und seelischer Ver-fassung, als ich sie empfange. Sobald sie auf den Tod ihresMannes oder ihr hartes Leben als Witwe zu sprechen kommt,muss sie weinen, z. T. verschlägt es ihr die Sprache. In meinenNachfragen versuche ich, soweit wie möglich, dieses Themazu umgehen.

Um 21 Uhr desselben Tages ruft mich Frau A. nochmal an,um auf das Gespräch vom Morgen zurückzukommen. Diesenkündigt sie allerdings nicht als solchen an und fängt gleichan, Ergänzungen zu dem bereits Gesagten zu machen. Ich binirritiert und frage, ob sie einen Nachtrag machen machen will,was sie bejaht. Sie sagt, dass sie nach dem staatlichen Sprach-kurs, weitere Sprachkurse an der Volkshochschule (6 Monate)und über einen Fernkurs (6 Monate) absolviert hat. Diese hatsie in der Zeit ihrer Arbeitslosigkeit (nach der Knopffabrik)besucht. Damit will sie nachdrücklich betonen, dass sie hartgekämpft hat. In diesem Zusammenhang sagt sie, dass Fortbil-dung und sich zu engagieren ihr immer wichtig waren: »Vonnix kommt nix«. Zum Schluss des Telefongesprächs erklärtsie nochmal den Zweck ihres Anrufs; wie wichtig es sei, sichimmer zu bemühen und zu kämpfen. Und dass man nichtHilfe vom Staat erwarten solle – so wie viele junge Leute diesheute in Deutschland tun würden – in der Sowjetunion habees so etwas auch nicht gegeben.

Ich frage sie nochmal nach dem Praktikum im AWO-Se-niorenheim, welches sie als sehr unangenehm erlebt und be-schrieben hatte (in Verwunderung darüber, dass sie ja jetztin einem Altenheim arbeitet). Dieses war es so grauenvoll,weil die Menschen dort sehr bösartige Wunden hatten undder Alltag nur daraus bestand, Leute zu waschen. Dies ist anihrem aktuellen Arbeitsplatz ganz anders; er ist vielfältigerund der Umgang mit den Menschen ist angenehmer, da mitdiesen Heimbewohnern auch Unternehmungen möglich sind.Außerdem hat sie wohl auch die Verzweiflung während derArbeitslosigkeit dazu getrieben, es noch einmal mit diesemBeruf zu versuchen. Sie konnte dann sehen, dass die Arbeitin verschiedenen Seniorenheimen sehr unterschiedlich seinkann (das aktuelle ist auch kleiner und wohl auch dadurchbesser).

Als Frau A. anruft, hat sie einen gedämpften Ton und

Page 108: it - Gesellschaftbilder Und Selbstverst Russlanddeutscher Aussiedler in der Sowjetunion und in Deutschland

98 anhang b Interviews und Gedächtnisprotokolle

spricht leise; vielleicht ist sie niedergeschlagen. Mir scheint, siemöchte weiter erzählen bzw. moralisierende Ausführungenmachen (»die jungen Leute heute und hier«, »man muss kämp-fen« …). Trotz längerer Pausen macht sie keinen Anstand, dasGespräch zu beenden. Diesen mache aber ich wiederholt (ichbin gesprächsmüde und es gibt mir zu denken, dass sie noch-mal extra anruft; unser Gespräch muss sie aufgewühlt habenbzw. auch ihr zu denken gegeben haben); erst beim drittenAnlauf beende ich das Gespräch.

B.8 Interview: Irina Albert

I: Em, also, wie ja schon angesprochen intressiert mich ihreLebensgeschichte.., und zwar wie das Leben für sie in derSowjetunion war.., und wie es hier in Deutschland war undheute ist, und.. ja einfach ihre ganze Lebensgeschichte, also

5 erzählen sie mir alles was ihnen einfällt undwas ihnenwichtigist. Und ich werd. das ist dann auch für mich intressant undich werd sie erstmal nicht unterbrechen, also ich lass sieeinfach erzählen und em.. ich hör ihnen zu und wenn ich neFrage habe – deswegen der Block hier – eh, werd ich sie mir

10 kurz notiern, aber ich werd sie nicht unterbrechen und ich hörihnen erstmal nur zu.I. A.: Achso, nit ungefähr paar Fragen, was genau, ne?I: Ne, ne ne, erstmal em, intressiert mich einfach alles, was,was sie erzählen und, genau, wie es is

15 I. A.: Em, am zweite fünfte, nein, zweite sechste fünfunfünzichgeboren. aber in Swetlowsk.. weißt du, wo Ural. Sagt dir was,ne?I: NeI. A.: Dat is in..

20 I: In RusslandI. A.: Ja, in Russland, aber dat is äh… nicht (wie) in Sibirien,aber da, de Ural, die Berge da obenI: Hm, hmI. A.: Weil meine Eltern waren dahin.. vertrieben worden.

25 von.. äh, Kaukasus. Meine Eltern haben im Kaukasus gelebt.und dann.. aber die waren noch nit verheiratet, und dann hatder Krieg angefangen und dann mussten sie ja da raus.I: HmI. A.: Und dann wurden sie ja dahin verschleppt, erst nach

30 Kasachstan, nach Kowtschitach oder wat?.. und dann, von daweiter sind sie nach Swerlowsk umgezogen..I: HmI. A.: Ich weiß nit, wie dat jetzt in Russland heißt.. der Stadt-staat ( )… und dann.. da, die dürfe ja da noch nicht weg.. sie

35 waren, sie waren ja, sie müsse sich jeden Monat anmelden beider Polizei. (War wie) eine Trudarmee – heißt das (hustet)…und dann haben meine Eltern da gelebt, und sichI: HmI. A.: kennengelernt und geheiratet und dann kam ich da zur

40 Welt (lacht)I: HmI. A.: zuerst mein Bruder und dann ich. und dann, ab sechs-unfünfzich, wenn da is, äh, neues Gesetz gekommen – mandurfte da ausreisen, vorher ja nicht, ja. vorher durfte sie ja

45 nit ausreisen.. und sie durften nit ausreisen in, in… da wo siefrüher habe gewohnt, da war ja dat verboten. Weil die habenja die Häuser verlassen und alles und die.. äh, das stand ja

noch da, jaI: Hm

50I. A.: da haben ja aber ja alle andere Menschen drin gelebtund das nix… ja.. weißt du kann man ja (nit so kommen wie’sis) dat mein Haus ( )I: Hm, hmI. A.: und dann war dat ja nit erlaubt dahinzufahren.Aber, ab

55sechsunfufzich konnten sie wegfahren aus Sibirien.. und dannsind sie ein nach dem anderen – so wie wir nach Deutschlandsind gekommen ein nach dem anderen – sind sie wieder insWarme gezogen, nach Almata..I: Hm

60I. A.: weil.. äh… die wollten im Warmen leben.. ä.. und dain Sibirien war ja kalt.. und kein Sommer. und dat alles, ja..sind sie dann ein nach dem andern sind sie dann umjezogen…und haben sich da wieder so Sid, Sid, Siedlingen gebildet mitDeutschen weiter.

65I: HmI. A.: weil meine Eltern waren ja Deutsche beide… ja, undja, so… aber dann.. wann, welchen… fünfundsechzich.. ja, ja,ungefähr.. oder siebenunsechzich so. sind wir umgezogen nachTschambul, in andere Stadt

70I: HmI. A.: in KasachstanI: HmI. A.: … ja, wat weiß ich, was da für Gründe sind, für meineEltern. war. da hat ein Onkel gelebt, und wat weiß ich.

75I: HmI. A.: Und da haben wir dann gelebt.. äh, bis ich da.. warich aber schon, erste Klasse hab ich noch in Almata gemachtund dann sind wir umgezogen.. und dann.. haben wir. ä. wirsind ja drei Geschwister – noch ein älterer Bruder, ich und

80ein junger, jünger als ich.. ja, dann da zur Schule gegangen– alles, wie bei jedem, ja. Wir waren aber auf der Straße,in Tschambul, haben wir, waren wir die einzige deutscheFamilieI: Hm

85I. A.: einzige ( )I: HmI. A.: so. außer.. waren mehr Deutsche, aber wir waren aufder Straße eine. Wir haben immer zwei mal Ostern gehabt,wann die Russen haben gehabt Ostern und wann wir (lacht),

90wann wir habenI: (lacht)I. A.: Ostern gehabt, haben wir dann verteilt, Mutter immer( ), haben wir wieder alles Ostern gehabtI: Hm

95I. A.: es war so… weil auf der Straße war alles russischeSprache… zwar Kasachisch war Pflicht in der Schule zehnJahre, aber hat man dat nit ernst genommen. und. hat manauch nicht gelernt.I: Hm, hm

100I. A.: Auch die Lehrer selber haben dat irgendwie nit so ernstgenommen mit der. äh. mit der Sprache, ging ja alles russischI: Ja (lacht)I. A.: Naja.. auch vielleicht für die Kasachen is ( ) geworden,ja, da will ihre Sprache auch so, habe da… wollten auch nit

105reden, haben sie auch alles russisch geredet..I: HmI. A.: Aber wir zuhause.. die Eltern haben versucht einbiss-

Page 109: it - Gesellschaftbilder Und Selbstverst Russlanddeutscher Aussiedler in der Sowjetunion und in Deutschland

Interview: Irina Albert 99

chen Deutsch zu – zwischen sich haben sie ja deutsch geredet,ja

110 I: Hm, hmI. A.: aber mit dem Gebrochenen und mit dem Akzent, wiesie, von früher, von den Eltern dat gelernt habenI: HmI. A.: a. Mutter war vier Jahre zur Schule gegangen, aber in

115 deutsche Schule, alles deutsch, und Vater drei.I: HmI. A.: Und dann is ja Krieg und so weiter und dann.. ja, undwir Kinder wollten net, ja wat heißt wollten net, sie habenuns deutsch gesagt, und wir denne russisch geantwortet, wir

120 habe da ja zwar verstanden, aber reden – in dem Sinne – unddas war ja nur hausgebrauchte Wörter, was man da so gelernthat von den dann, ne.. un ä.. wat is dann.. die Eltern habensich ja bemüht, die deutsche Sprache… die deutsche Sprachezu. das sie dat behalten. aber Kinder wollten nicht (lacht)

125 I: Hm (lacht)I. A.: Genauso jetzt wie hier in Deutschland, ja. Manche wol-len das die Kinder russisch sprechen und die Kinder wollennit so, weil man draußen redet anders da und dann will manja angenommen sein, ne

130 I: Ja, ja jaI. A.: und dann… naja (5) (atmet laut aus) (4) meine Mutterhat mit Akzent immer geredet haben alle gesagt das ist keineRussin weil sie hat so ein deutschen Akzent gehabt, ja biilaund so hat sie gesprochen, die konnte nicht sagen bilá, hat

135 gesagt biilaI: Hm (lacht)I. A.: die konnte nich so reden, Vater hat besser gesprochen,aber Mutter die hat so mit dem Akzent auch immer (4) najawar ich da… zur Schule und dann.. hab ich äh.. war ich… nach

140 der Schule musste man ja wat machen.. und dann hab ich dieAusbildung als Bibliothekarin.. gemachtI: HmI. A.: aber äh.. das war so eine Schule.. Fernschule. Dat hatdat hier in Deutschland Fernschule

145 I: Hm hmI. A.: nur da musste, die haben dir geschickt Unterlage, habich die alles gelernt und den, dene Arbeiten mitgeschickt unddann zweimal im Jahr war so Monat, wo man musst dahinfahren, und dann war Unterricht da, ja

150 I: HmI. A.: so, ja, gelernt wie Bibliothekarin. und dann hab ich aufeinem Dorf, als Bibliothekarin gearbeitet, dann hab ich meinMann kennengelernt und geheiratet wie dat in Russland. gehtschon, ne

155 I: HmI. A.: geheiratet. und dann ein Kind gekriegt auf de. noch ha-ben wir im Dorf gelebt, aber dann kurze Zeit haben wir danneine Wohnung, weil er hat gearbeitet in der Stadt Tschambulund dann sind wir dahin gezogen weil wir da eine Wohnung.

160 bekommen haben, da waren doch die ä in mehrfamilien, inmehretagen hohe solche Blockhäuser und dann haben wir daWohnung gekriegt, waren natürlich ganz glücklich mit warmWasserI: Hm (lacht)

165 I. A.: mit Toilette und so weiter, dat hat ja einem gut gefallen,jaI: Hm

I. A.: damals noch mehr, neI: Ja, ja

170I. A.: und sind wir dahingezogen, dann ist zweite Tochterzur Welt gekommen (5) nachher äh (4) dreiunachtzich is meinMann verstorben, Arbeitsunfall… ach wie dat Schicksal is (23)(weint) is egal wie (23) (weint) is egal wieviel Jahre, ja (26)(weint) naja, weißt du (4) Arbeitsunfall, musst ich ja auch

175kämpfenI: HmI. A.: (8) (weint) meint, die wollten ja nit anerkennenI: HmI. A.: … (dann wollten die nit) bezahlen und so weiter, ja,

180dreimal war Gericht (5) und andere Seite is Arbeitsunfall,Arbeitsunfall hat ja ihn keiner dahin.. geschobenI: HmI. A.: ja, wo es passiert, aber is eben… haben nicht nachgedachtI: Hm hm

185I. A.: die Arbeit zu machen wie sie hatten die gemacht.. naja(7) und dann hab ich da mit die Kinder alleine in de Stadt– meine Eltern waren sechzich Kilometer weg (7) hab ichweiter gelebt ( ) war noch Schwiegermutter, a zuerst is,zuerst war noch meine Schwiegermutter verstorben und dann,

190halbes Jahr später mein MannI: HmI. A.: ja aber, ich hab gearbeitet in der Schule, deswegen wardas für mich ein bisschen so.. a. leichter .. weil ich konnteja immer wissen, wie die Kinder zur Schule, ja, und was da

195passiert hab ich unter Kontrolle gehabtI: HmI. A.: und das.. deswegen hab ich mich auch da dran gehalten,weil dat war… jeden Tag achtstunden Job und zwei Kinderund alleine… (atmet schwer) naja, aber in Russland hat man

200dat einfach hingenommen, dat war so und das war’s, ne. Hatman nicht erwartet irgendwelche, große HilfeI: HmI. A.: dat einzige, bei den Eltern Wochenende gefahren unddann da die Zeit verbracht und die haben ja so, bisschen was

205aus dem Garten gegebenI: Hm hmI. A.: (schnäuzt sich) aber dann (schnäuzt sich) nachdem dieGerichte, das, deswegen war ja das, dann hab ich schon eineRente für die Kinder bekommen, da war ja nit Rente für die

210Frau… da war ja nur Rente für die Kinder (weinerlich)I: HmI. A.: ja, und weil die Kinder ä, da musste, musste dat derBetrieb, musst er bissen, musst er noch zuzahlen, ja, dat warä nicht nur die Rente vom Staat sogesagt, da waren noch

215vom Betrieb, deswegen war das ja die alles, die wollten ja nitanerkennenI: Hm hmI. A.: Äh, naja aber dann hat et doch wat.. weil dat war, datwar einfach so, ja.. musste man da bisschen gucken, wat man

220gemacht hat, aber… hm dadurch hab ich schon ein bisschenmehr Geld gehabt und dat hat mir auch gut geholfen, jaI: HmI. A.: und dann (4) die.. Schuldirektorin, ja die Chefin hat, hatdarauf Rücksicht genommen, hat mir erlaubt mein Arbeitstag

225so gestalten das ich besser zurechtkam, zum Beispiel äh… nitmorgens direkt weil ich musste eine, zuerst eine in Kindergar-ten bringen, weil die war noch Kinderga und die andere in

Page 110: it - Gesellschaftbilder Und Selbstverst Russlanddeutscher Aussiedler in der Sowjetunion und in Deutschland

100 anhang b Interviews und Gedächtnisprotokolle

die SchuleI: Hm

230 I. A.: dann hab ich angefangen ein bisschen äh ab neun Uhrhab ich die in Bus gesetzt, gesteckt die To die Tochter die isgefahren zu Schule und ich hab dann mit die in Kindergartenund bin dann nach, weil sie musste sieben Bushaltestellenfahren mit dem Bus.. und dann bin ich zum Beispiel abends

235 nach der Schule is die Tochter geblieben dort. äh, so wie Hortjetzt hierI: Hm, hmI. A.: äh und dann hab ich sie ja immer, so konnt ich alles das,war sie dort im Hort und dann abends sind wir zusammen

240 nach Hause, haben die Kleine geholt und sind dann zusam-men nach Hause gefahren, dann hat sie schon Hausaufgabengemacht und so weiterI: Hm, hmI. A.: und dann wenn die Kleine is in die Schule gegangen

245 dann hab ich angefangen acht Uhr arbeiten, weil das wardann günstig für mich, hab ich direkt.. zwei mitgenommenacht Uhr. und dann nur bis fünf, das äh war, da musste in nerStunde Mittagpause machen.. und sonst is der Tag dann zulang

250 I: HmI. A.: dann hab ich nur bis fünf, aber trotzdem bis wir dannzuhause waren, war niemand wer da kocht, nur selber da wasjekocht. aber, ging auchI: Hm

255 I. A.: ging auch (4) ja (5) ach dann, die Kinder… waren ja,wie auch alle… jelernt, mit alles was dazu kommt.. meinejüngste Tochter war noch immer so krank.. dann erst hier inDeutschland mit achtzehn hat sich dat rausgestellt dat sie hatRheuma

260 I: HmI. A.: aber die hat dat bestimmt schon… wann die mir hatmir gesagt erkältet, erkältet, Lungenentzündung, Spritzeund dies und jenes und Penizillin dauernd, ja und dannin Deutschland habe sie dann erst festgestellt das sie hat dat

265 Rheuma.. ja, und so hat sie dat jetzt immer unter die sowas,Rheuma is ja soviel. Sorten, dreitausend SortenI: HmI. A.: die hat so eine, das is gegen eigene Immunsystem undda kann man ja nix machen, kann man ja nur ein bisschen

270 stoppen und verlängern, aber heilen is da noch nix, könnennoch nichI: HmI. A.: naja wie gesagt… haben da gelebt, wie auch an-derehaben versucht alles für die Kinder zu machen… (wei-

275 nerlich) Musikschule und wat ich konnte (12) (weint) blöd, ne(lacht)I: (is ok)I. A.: (12) weil mein Mann hat auch viel Wert gelegt aufdie Ausbildung… ah.. er konnte selber.. nicht aus reichen, ja

280 Mutter war arm, auf dem Dorf, konnt ihn nit wegschicken zurSchuleI: HmI. A.: und er konnte gut ma (schluchzt), konnte gut malen…und.. die haben gesagt schick ihn doch dahin, aus dem wird

285 was, und sie, aus dem Dorf, äh, wie sagt man das.. hat gesagtajaa wird ein Traktorist, Traktorist heißt ein Traktorfahrer, jaI: Hm

I. A.: und dat reicht, wie andere alle auf dem Dorf, jaI: Hm

290I. A.: aber, bei ihm war mehr drin… und dann hat er auchversucht noch, wann wir schon zusammen waren und Kind,hat er auch dann Abendschule wollt er auch noch weiterma-chen, hat aber nit geklappt weil der Stoff is ja schon.. ah, eswar ein bisschen zu schwer nach der Arbeit dann noch kom-

295men und lernen und dann musste man auch noch noch so vielnachholenI: HmI. A.: hat er dat nit geschafft, hat er angefangen, hat aberdann aufgehört… und deswegen. hab ich dann (4) (schnäuzt

300sich) für die Kinder wie wie ich konnte.. sie auch wat.. na soverschiedene ah wo man konnte, die Kleine hat zwar nit vielgemacht, nur gesungen (lacht)I: (lacht)I. A.: bisschen im Chor was. aber die Große, die hat äh, die hat

305alles mitgemacht, die hat Fußbo ball gespielt in Mannschaftund Leichtathletik gemacht und war sie Gymnastikturnen ja,und dann brauchte man ja auch immer dann Zeit, ja, zwarzahlen musste man für das nicht in Russland, da war das ehm..wie.. das war ja da umsonst, nur man musste ja dat alles dahin

310bringen und dann musste man ja Zeit alles haben, jaI: Ja ja, hmI. A.: und das alleine.. is ja nit. ja.. war manchmal so schwierigaber.. weil weil wo ich hab gearbeitet , hab ich im Zentrumin der Stadt gearbeitet, dat war eine von besten Schulen , die

315war mit Englisch äh Schwerpunkt, ja, da haben die Kindervon zweite Klasse schon Englisch gelernt, früher überall inRussland ab fünfte, und in der Schule ab zweiteI: HmI. A.: un äh.. und deswegen da, habe hat man schon ein biss-

320chen mehr dene Kinder geboten und .. das wird so.. und da,weil mitten in der Stadt haben wir gewohnt und da, gearbeitethab ich ja da , die anderen Veranstaltungen der Stadion undso dat war alles in der Nähe, nit so weitI: Hm

325I. A.: und dann natürlich hab ich gemacht wegen meine Ar-beitszeit, weggelaufen schnell sie hingebracht.. ahh. hoffent-lich sieht nit die Cheffin das ich bin weg (lacht)I: (lacht)I. A.: dat war eben so dort.. schnell zurück, und dann, nach

330der Arbeit bin ich gefahren hab sie abgeholt, hab ich schonso, ein bisschen, und dann wann sie später konnten selber,dann eben selber dann zurückgekommen, weil ich hab dannschon in Gymnastik, hat sie früher, hat sie schon mit fünfangefangen.. ah konnte sie ja noch nicht alleine, nachher wann

335sie schon zur Schule ging, dann konnte sie alleine.. gehn dannI: Hm hmI. A.: aber dann nachher wann mein Mann is verstorben,die hat grad die erste Klasse war sie fertig, dat war im Juniund die Kleine war noch im Kindergarten. und dann diesen

340Sommer war sie bei der Oma, ganze Sommer, da sind ja dreiMonate Ferien… war sie bei der Oma, und is ein bisschen dickgeworden (lacht)I: (lacht)I. A.: war sie auf Oma ihre Kost

345I: (lacht)I. A.: ja, und dann ähh… hat sie auch angefangen. klapptdat nit sooo und dies und jenes und hat mit dem aufgehört,

Page 111: it - Gesellschaftbilder Und Selbstverst Russlanddeutscher Aussiedler in der Sowjetunion und in Deutschland

Interview: Irina Albert 101

wat dann hat sie, hat sie Musik äh gemacht, Klavier hab ichgekauft, hat sie dann, in Musikschule is sie gegangen, hat sie

350 dann… un andere Sachen so, Sport was sie da hat gemacht…so hat man da gelebt eben (lacht).. und dann auf einmal gingdat, heißt das alle gehen nach Deutschland, Verwandtschaft,und dann hat man erzählt so un so und wir haben ja immergedacht , wir sind ja Deutsche, wir müssen dann nach nach

355 Deutschland und meine Eltern sowieso, die haben da in derBibel steht geschrieben dass wir müssen zurück in eigeneVolk, haben sie so erzähltI: HmI. A.: ja, aus welche Gründe wie auch immer, die haben dat

360 so gesagt, das alle müssen äh.. zurück wieder gehen.. undda habe hat man dann daran geglaubt, weil wir Deutschevon der Wurzel waren, dann müssen wir auch zurück nachDeutschland… und.. dann äh… (lacht) so zuerst is mein Bruderrübergekommen, zuerst die andere Verwandtschaft äh.. so

365 vom Vater, vom Vater seine Brüder die Kinder und so weiter,und dann auch so ein nach dem Anderer hat man die Papiereeingereicht und. zu Familienzusammenhang wie heißt datI: Hm hmI. A.: sind dann zusammegekommen… sind dann… rüberge-

370 kommen mit, bin ich dann mit dene zwei Kindern und mitmeine Eltern, weil mein Bruder is früher und ich bin dannmit meine Eltern und mit meinen Kindern (schnäuzt sich)nach Deutschland gekommen, ja (lacht) in Russland wannmir wurde gesagt, wohin fährst du, hast du keine Angst,

375 du kennst doch die Sprache nit – ich bin doch DeutscheI: (lacht)I. A.: ja, ich war damals so äh hat man überhaupt dat nitäh.. nichts verstanden und auch net wahrgenommen das dukannst doch überhaupt nichts reden und und dass die Sprache

380 und so, weil meine Brüder zwei, die haben Deutsch gelernt inder Schule, ab fünfte Klasse, aber das war auch so… sie habengelernt, und ich nicht, EnglischI: HmI. A.: war ich ja. nit so äh. gute Schülerin (lacht), hab da

385 Blödsinn gemacht mit dem Englischlehrer, nichts gelernt, nurBlödsinn gemacht. naja.. wat die Mutter konnte die Zeitung,haben wir bekommen, weil äh, für die Geschwister, weil diemüssen ja haben übersetzen in der Schule Artikel oder watI: Hm

390 I. A.: Meine Mutter konnte nichts übersetzen, weil das warenalles solche Wörter, die die Eltern die haben dat überhaupt nitverstanden, die könnte dat nit, das war nur wat sie zuhausereden jaI: Hm hm

395 I. A.: und das hat nit ausgereicht da.. aja nach Deutschlandgekommen, hat man gesagt ah hier, sind doch Deutsche unddann hat man erst gemerkt (lacht)… das. kannst. nit. sprechenund. undalles.. is anders da wat man sich erhofft hatI: Hm

400 I. A.: (6) wars von früher, von früher genug oder was nochdir erzählen von früherI: Em, wie sie meinen also..I. A.: ja ich wei ( ), wir habe ja, äh wie gesagt früher hatman sich ja.. äh bei mir war dat so.. äh.. irgendwann hab ich

405 verstanden das sich die Deutsche, als Kind hat man ja datnoch ein bisschen so. gesagt. wollte man dat nit. irgendwie.weißt du aus welchem Grund äh nit so immer das man dat so

sieht, jaI: Hm hm

410I. A.: wollte man ja sein wie alle andereI: Hm hmI. A.: aber später, weil ich hab schon, dann konnte ich datgut, hat mir auch gut gefallen, bin auf den Markt mit derMutter gegangen und dann wollten wir wat kaufen (lacht)

415dann hab ich mit ihr deutsch geha sie ( ), dann konnte dieandere nich verstehen, weil sie handeln woll, da muss manja immer handeln in Russland, da war ja dat Handeln, dakriegt ja nit so, hier hast du den, auf dem Markt musst ja daimmer handeln

420I: Hm hmI. A.: … un.. aber so das man, meine Familie so ist da irgend-wie.. äh… (5) gejagt oder oder wie die da sagen, ja, dat weißich nicht, nur man hat ja überall wann wat war dann hat mangesagt die Faschisten, die Faschisten

425I: HmI. A.: so das (5) hat man da gelebt, hat man sich da eingelebt,hat man sich da auch wohl gefühlt.. un (5) man man man hatsich auch nit so vorgestellt was da noch, da hat man auch nichtviel. äh. so. Information bekommen vom Westen, ja, was hier

430so warI: Hm, hm hmI. A.: zwar äh eine Verwandtschaft von meinem Mann warschon früher hier, weiß nicht nach dem Krieg oder wat, weißich nit, nur er hat mir ja erzählt, das, die haben damals schon

435Paket bekommen, von hier von Deutschland und hier is je-mand, ja, aber ich weiß von nix, weil dann. die haben auchkein Kontakt gehabt nur den Kontakt über noch andere äh..Verwandtschaft, waren noch in der andere Stadt da in Russ-land haben sie gelebt, und die haben Kontakt mit direkt mit

440Deutschen gehabtI: HmI. A.: ja, und er nur so, über’s Hören von denen, ja und deswe-gen, aber dann is die Schwiegermutter gestorben und er unddann is, hat sich alles verloren, weiß man dann nit wie un

445was (5) so is meine Lebensgeschichte (lacht) nix besonderesaber…I: Naja, und wie war das dann für sie in Deutschland hier,also wenn sie soweit..I. A.: Ja. erste Zeit war. äh. mir persönlich, weil ich hab da

450Dreizimmerwohnung gehabt richtigen großer Balkon von achtMeter so, Lodgia heißt dat, ja so lang am ganzen Haus entlang,hat… Badewanne warmes Wasser, hat Telefon gehabt. äh.. eswar, was man sich erarbeitet hat, dat hat man zum Beispielein Schrank gekauft und dann war für’s Leben

455I: (lacht)I. A.: oder sind wir dann beim Umzug umgezogen erste malwenn verheiratet ä geheiratet haben dann sind wir in die Stadtgezogen, haben wir mitgenommen, Kühlschrank. Fernseher.Waschmaschine.. und Geschirr und Bettwäsche… nix, wir ha-

460ben ein Sack Mehl, haben wir solche Säcke gehabt, da warja so füfzich Kilo Sack, war immer Mehl hat man so gekaufthat man nit Kilo gekauft, immer Sack, haben wir Sack Mehlgestellt in in in die Küche un ein Koffer drauf das war unserTisch

465I: (lacht)I. A.: schlafen auf dem Boden, nix, nur die, grobe Sachen, dieElektro haben wir mitgenommen, weil das andere war so alles

Page 112: it - Gesellschaftbilder Und Selbstverst Russlanddeutscher Aussiedler in der Sowjetunion und in Deutschland

102 anhang b Interviews und Gedächtnisprotokolle

altes von unsrer Oma, haben wir gesagt, ne machen wir nit,lassen dat Zeug hier und kaufen wir uns neues aber, das war

470 ja da so, schwer wat zu kaufen.I: Hm hmI. A.: … ah dann hat man einmal gekauft ein Tisch und zweiStühle, war man froh in der Küche ja, weil war so äh. hellblaue Farbe oben, Tisch und zwei Stühle, weil im Geschäft

475 waren nur zwei blaue und der andere war ja rot, hat ja, ichwill ja jetzt nit blau und rot, wollte ja schon ein bisschen,dann haben wir zwei gekauft, wir waren aber zu dritt, dreiErwachsene, zwei sitzen einer muss immer stehen (lacht)I: (lacht)

480 I. A.: ja, das hat dann gedauert, aber, und dann hat man.. eben.Bett gekauft un so wie wir konnten dat im Geschäft kriegensag ich mal so, weil da war wirklich, ich weiß es nit das waralles so schwierig zu bekommenI: Hm

485 I. A.: .. und deswegen, aber ehm.. bevor ich nach Deutschlandbin gegangen, hab ich schon.. ich sage mal für die Verhältnisseganz normal, hab ich ganze Möbel gehabt, hab ich sogar Kla-vier gekauft für die Tochter un und so Fernseher farb alleshaben wir so gehabt, nich

490 I: HmI. A.: und dann nach Deutschland gekommen und sind in inNotwohnung im ein Zimmer gelandet, jaI: HmI. A.: … hat uns niemand, wir sind nach nach Norddeutsch-

495 land gekommen, bei Lübeck da, Meldorf, Meldorf und nebendann war da so’n kleiner Dorf Wolmersdorf, Wolmersdorf datwar.. dat war ja für mich Katastrophe alle in einem Zimmerund alles da so pff ja.. eigene Sachen ja natürlich nicht dahast du dann schon dir Gedanken gemacht, dort hast du für’n

500 Appel und ein Ei sogesagt abgegeben die Wohnung, Dreizim-merwohnung soI: HmI. A.: und jetzt hängst du hier im ein Zimmerchen, weißtnicht.. kommst mit de Sprache nich zurecht, musst du dir jetzt

505 alles.. ja.. organisieren, alles war ja irgendwie so. total andersda, von andere Seite hat man sich gefreut wann man is in Ge-schäft gegangen und hat man ja tausend Sachen, Lebensmitteldat gesehen, da hat man ja solche Augen gemacht, jaI: Ja

510 I. A.: weil da muss man ja auch um den um die ein Kilo Wurstmuss man ja da kämpfen, erst mal drei Stunden stehen in derSchlange bis man dat Kilo Wurst hat bekommen, jaI: Ja jaI. A.: oder oder Zucker oder Bonbons war ja alles noch so äh..

515 hat man ja bekommen jede Familie hat dann. bekommen so..da hat man gesagt TalonsI: Ah, hmI. A.: und dann hat man bekommen für den Monat jedersoviel un soviel Kilo Zucker oder Öl oder äh so, ja.. oder wann

520 man da Wurst, oh da gibt’s Wurst muss man erst mal zweidrei Stunden stehen.. un wann Glück hast bekommst du nochwann nit vor dir wird sie all, jaI: HmI. A.: sonst bist umsonst gestanden.. und dann hat ja natürlich

525 in Deutschland uns gefallen, ja. nur. wie gesagt dat Geld direktwar ja nicht da, dann Arbeitslosengeld und dann äh haben sieaber Eingliederungsgeld war das am Anfang, Eingliederungs-

geld… dat war ja mir alles, ich wusste nit, ich hab alles nachHühner gerechnet (lacht), hab ich gesagt guck mal ein Huhn

530hat damals gekostet äh drei Euro oder wat ja, drei Mark, habich gesagt guck mal, wann drei Mark kauf ein Huhn, kann ichdie ganze Familie versorgen mit dem Lebensmittel, sogar fürsatt essen, kochen Suppe und soI: (lacht) Hm hm

535I. A.: und dann natürlich konnte man sich nix erlauben da,wat.. wat anderes wat teure Sachen, weil man musste ja soviel da doch alles da haben, man man hat ja nix gehabt ne…Kinder in die Schule wat hat man geguckt was der Ranzenkostet und alles, dat is man ja schon, ja äh aber musste ja die

540Kinder in die Schule schicken… aber ah.. oben waren ja vieläh so wenig Russlandsdeutsche, da waren ja überhaupt keineI: HmI. A.: und die,meine Tochter die jüngste die war alleine in dieSchule Russin, alleine, die Einzige, weil ich hab sie direkt in

545die Realschule rein, weil ich hab gesagt die hat da, die war dain der guten Schule und hier muss sie auch, ich weiß es nich,ich hab dat so gemacht, hab ich gesagt: »die geht nit auf dieHauptschule, die war dort in der besten Schule in der Stadt,hier geht sie auch in die Realschule« (lacht), un da war sie die

550EinzigeI: Hm hmI. A.: un darum hat dat nit so… is sie zur Schule gefahrennatürlich.. hat ä mit der Sprache ja, die hat Englisch gelernt,aber dat Englisch war auch nit ausreichend, die war siebte

555Klasse die Jüngste und dann ä natürlich gab es da Probleme inder Schule ja, Mathematik hat sie sehr gut und sie war auchsehr schon direkt drin, in der Mathematik, konnte sie auch äh..war so war gut, nur die andere natürlich, dat äh die andereFächer, dat muss man ja alles

560I: Ja, jaI. A.: mit der Sprache, dat war ja schwer. und dann haben sievon der Schule, haben sie dat veranstaltet und haben sie imInternat, in russische Internat ä für so weiß ich nit Ausländer-kinder oder, weil da waren mehr äh russlanddeutsche Kinder,

565Internat, dat war äh bei BielefeldI: HmI. A.: und die da von der Schule weil sie war siebte Klasse,haben sie gesagt hier geht dat nicht mit mit der, mit der Schule,ja, und dann haben sie sie da nach Bielefeld, von der Schule

570hier haben sie dat gemacht und ja ich hab da zugegeben jaI: HmI. A.: un ä meine älteste Tochter die war ja schon da mit derSchule fertig, zehn KlassenI: Ah, aha

575I. A.: .. un äh.. weil sie war da fertig, dann hat sie hier Otto-Benecke gemacht, Sprachkurs Otto-Benecke Hamburg.. weilmein Bruder hat gesagt ja musst du unbedingt Otto-Beneckemachen weil anderes, wann sie geht jetzt nur in ArbeitsamtSprachkurs… dann heißt das wieder, kriegt weiter äh.. dat is

580keine richtige Ausbildung, da sitzen nur alle zusammen ähhun dat is nur äh Buchstabe lernen un ein bisschen Sprache,dat blieb nit vielI: Hm hmI. A.: deswegen haben sie gesagt, seh zu das dat sie kommt in

585Otto-Benecke, Otto-Benecke Stiftung in Hamburg.. und dannhaben wir da dat alles eingeleitet un natürlich dat war auchganze (lacht) ganze.. war nit so einfach. äh. da in dem Dorf

Page 113: it - Gesellschaftbilder Und Selbstverst Russlanddeutscher Aussiedler in der Sowjetunion und in Deutschland

Interview: Irina Albert 103

wo wir haben gewohnt, da waren wir äh drei Familien, dawar so ne Gaststätte früher und die haben dann so gemacht

590 wie Notwohnung für die RusslandsdeutschenI: HmI. A.: .. und da waren wir drei Familien und dann der die deräh Schuldirektor von dem von der… Schule, Grundschule warda ah der hat dat von sich selber, hat er gemacht, hat er gesagt

595 das die Zeit nit verlieren weil Sprachkurs haben sie noch nitgegeben, man hat da nur so zuhause rumgesessen und dasdas wir äh.. die Zeit nit, hat er uns dann einmal in die WocheStunde selber Unterricht gegeben, haben wir so gesprochenda und erzählt und ein bisschen mal wat gelernt ja, und so

600 alles. und da sind wir dahin gegangen, hat er dann gemacht,weil eine Familie vor uns war… und er hat angefangen schondene dat beibringen äh da deutsch ein bisschen Unterrichtmachen und dann sind wir dazugekommen, hab ich gefragtgeht dat auch, ja dann sind wir auch, (war ja da) auch schon

605 ein bisschen.. und da war ein vom Sportverein, war auch eineFrau immer gekommen und die hat geholfen ähdene Kinder,das sie sich integriere jaI: HmI. A.: die habe angefangen in die Kirche gehenwas in Russland

610 haben wir nie gemacht, wir waren da nie zur Kirche gegangenweil die Kirche war.. äh.. man konnte gar nit öffentlich in dieKircheI: HmI. A.: ich hab ja dene Kinder in der Schule erzählt es gibt

615 kein Gott und man dies und jenes ja.. und jetzt sind hier dieKinder in die Kirche gegangen.. ah und dann waren dort so..von der Gemeinde, wo die können sich da treffen, die habenda gebastelt und so wat jaI: Hm

620 I. A.: natürlich dann haben meine gezeigt was die könnenund die andere und dann war dat schon, so, auch ein bisschen,man wollte sich ja direkt dat Leben leben und nicht sich daabgrenzen, ja un nix zu tun haben oder wie auch immer ja,haben wir uns nit so.. äh…wannman auch konnte nit so reden

625 aber man is einfach gegangen ja, auf die Veranstaltungenoder wat da was da gegeben, und vom Sportverein ist dieFrau immer gekommen, hat sie dann mitgenommen die zum,die Kinder, und meine älteste Tochter hatte dann äh so habensie getanzt äh die, mit so nem Tracht oder Tracht, die Frauen

630 von Norddeutschland jaI: Ah, ok jaI. A.: und in so eine hatte sie dann mitgenommen, da hatsie dann mitgemacht dann, is sie dann mitgegangen, hat damitgetanzt und haben sie da.. äh dat hat man ja dadurch auch

635 die Sprache gelernt auch dat andere jaI: HmI. A.: und dat find ich auch, dat war schonuns hat dat auchso geholfen ein bisschen, sonst sitzt man da zuhause, keinSprachkurs keine Schule, meine älteste sitzt man da zuhause

640 und und nur alles, ja, dat äh… und so hat man gemacht wasman konnte, jaI: HmI. A.: und bis, weil die Zeit bis dat Otto-Benecke, und dann äh,weil wir sind gekommen im Dezember und Otto-Benecke ist

645 erst im August oder September hat angefangen.. ( ) die Zeit zuüberbrücken ja… oder wat früher Otto-Benecke ja irgendwieso.. ah… und zum das zu, alles zu organisieren musst ich ja die

Tochter musst ich schicken zu.. ah hier in Süddeutschland wieheißt dat jetzt die Stadt da.. jetzt hab ich ja vergessen wie die

650Stadt heißt, wo die alle sind da zusammen ä StudentenstadtI: In Rheinland-Pfalz?I. A.: Nein…I: MünsterI. A.: Runter runter runter im Süden

655I: Runter von hier? Stuttgart?I. A.: Nein Got, wie heißt dat, wie heißt dat…I: Frankfurt WiesbadenI. A.: Nein nein, noch weiter runterI: Freiburg? Ist ganz im Süden

660I. A.: Nein nein Freiburg neinI: OffenburgI. A.: Nein… naja vielleicht kommt dann äh ja musste siedahin, da war so äh wat weiß ich wie dat damals hieß weißich nicht, das da alle Studenten zusammen kommen

665I: HeidelbergI. A.: NeinI: (lacht) Naja egalI. A.: .. hab ich jetzt vergessen.. und da musste sie dahin,zuerst dat alles was da war dort dat Otto-Benecke Zentrum

670oder wat weiß ich, das da musste man dahin.. und dann habich ja so eine Angst gehabt, wie schick ich dann, die kann keinDeutsch, wie schick ich dat Kind alleine und ich hab kein Geld,wie schick ich dat Kind alleine so weitI: Hm

675I. A.: .. und die wat mit uns haben gewohnt die haben einJung gehabt und er war auch in so eine Situation, war mit dieSchule fertig, und ich hab dann immer gesagt, wollt ihr hierjetzt vergammeln komm wir schicken die Kinder das sieweiter lernen und so weiter

680I: HmI. A.: nein, macht hier Arbeitsamt Sprachkurs, dat reicht,hab ich gesagt seid ihr blöd, dat bringt nix, die müssten andereWeg gehen.. nit hier äh weißt du.. ja. und dann hab ich diedoch hingekriegt, auf letzte Drücker so gesagt, das sie sind zu

685zweit gefahren, das sie wenigstens nicht alleine warI: HmI. A.: der Weg wurde ihr dann bezahlt, Fahrkarte wurde jadann bezahlt, und die sind dann für drei Tage äh drei dreija drei Tage waren sie hier ä mit dem Zug runter gefahren

690und. war.. ich war wie wie dat.. naja dat war irgendwie so.Veranstaltung, weiß ich nit wie dat jetzt alles heißtI: HmI. A.: und dannwaren sie dort und dann sind sie zurückgekom-men und wann sie dort waren, ja erstmal.. auf den Zug gesetzt

695dat Kind ja, weggeschickt, weißt nit wohin, kein Telefon keinHandy kein nix (lautes einatmen)I: Oh manI. A.: die Kinder, dat Kind in die Welt geschickt, jaI: Hm

700I. A.: (4) man hat riskiert.. aber weil sie schon zu zweit waren..bin ich beim Arzt, ich brauch Baldrian (lacht)I: (lacht)I. A.: Arzt warum, meine Tochter is weg, ja und wat ist dat da,ich sag ja meine Tochter ist weg, ja die kommt doch wieder,

705ja ja natürlich (lacht).. für eine andere ist dat ganz einfachja, wat is dann da dabei, die Tochter is weg, die is achtzehnja.. ja.. naja, dann Gott sei Dank is sie gekommen nach drei

Page 114: it - Gesellschaftbilder Und Selbstverst Russlanddeutscher Aussiedler in der Sowjetunion und in Deutschland

104 anhang b Interviews und Gedächtnisprotokolle

Tage, haben dat alles, haben dat alles äh wie wohin müssensie weiter dat alles anleiten, weiter dat machen mit dem Otto-

710 Benecke jaI: HmI. A.: … und dann is sie gegangen nach Hamburch.. äh wiederhat mein Bruder sie genommen, haben wir gepackt was wirkonnten, Geschirr ein bisschen un und Decke und so (lacht)

715 und Kissen und so alles was man konnte geben, mitgegebenund dann mein Bruder hat sie gefahren nach Hamburg, diehat, Adresse hat man ja gehabt in Otto-Benecke, un dann issie dort gekommen in ä.. war auch so eine Wohngemeinschaftwie wat weiß ich, und da Studenten haben so gelebt

720 I: Hm hmI. A.: und dann is sie da zum Sprachkurs gegangen… ichwusste nicht wo, ich wusste nicht wohin, ich wusste von nix..Kindweg, nur dat einzige hab ich immer Samstag gewartet dassie kommt, ( ) äh wir haben gewohnt in Wolmersdorf und in

725 Meldorf war der Zug und das war.. ichweiß nich genau wievielKilometer, paar Kilometer, und dann bin ich mit dem Fahrradhingefahren, schon morgens, hab den Fahrrad abgestellt –hat Bruder uns gegeben zwei alte Fahrräder, hab dat Fahrradabgestellt – weil ich hab ja Zeit gehabt, war ja zuhause – am

730 Bahnhof, und dann is sie gekommen, auf dem Fahrrad, weildie Tasche war ja, dann konnte sie nach Hause kommen, undich bin ja dann den ganzen Weg zu Fuß gegangen nach Hauseweil ich, Geld für Bus haben wir ja nit gehabt, das war unsalles zu teuer

735 I: HmI. A.: … hm und dann so… dat war nur mein Glück das ich habda äh.. das ich sie da bekommen, telefonieren konnte man, wirhaben kein Telefon gehabt, nur die Telefonzelle, wat draußenauf der Straße aber, sie hatte auch kein Telefon gehabt wo sie

740 konnte telefonieren, und deswegen war ja da ganze Wochekein Kontakt, hat man ja nur gewartet das sie Wochenendekommt, wann sie eines Tages wurde nit kommen ich weiß nitwat wo soll ich sie fahren suchenI: Hm, hm

745 I. A.: dat dat war schon… aber Gluck gehabt alles gut, hatsie da äh gemacht den Sprachkurs und dann hat sie dort einjungen Mann kennengelernt aus AfghanistanI: HmI. A.: und das weil das war ja so hier hm… damals wann wir

750 aus Russland weggefahren dann war grad mit dem Afgha-nistan so, und die was da waren unsere Soldaten und so daswaren alles Helden jaI: Hm hmI. A.: damals waren das so alles Helden äh was da gefallen

755 sind die Soldaten im Afghanistan so alles ja.. und deswegenhat hier den den jungen Mann da kennengelernt und warnatürlich.. im ganze andere Welt da, äh hat sie dat andersgesehn, was die da durchmachen den Krieg und so weiter ja,dat war.. naja war sie da ein bisschen äh, hat sie da gearbeitet

760 im Sommer weil sie hat keine Zeit ä nach der Schule, dannware ja drei Monate bis bis dat weiter.. die haben gesagt nachdem äh Sprachkurs musst sie nach Alzey, Alzey die Stadt, undda in Alzey musste sie Abitur nachholen, jaI: Hm

765 I. A.: und deswegen um die drei Monate Zeit nicht zu verlie-ren, hat sie dort gearbeitet schon im Schlecker als Verkäuferin,so im Sommer äh Job hat sie sich da

I: Hm hmI. A.: und so hat sie da diie.. äh die Ausbildung äh is sie, war

770sie auch mit dem zusammen mit dem äh jungen Mann da unddann is sie nach Alzey.. weiter dat Abitur nachzumachen undann hat sich dat, haben sich auseinander gelebt, war dannalles, un hier in Alzey hat sie dann gemacht Abitur nachgeholt,und dann hat sie studiert in Frankfurt BWL, glaube BWL, hat

775sie studiert in Frankfurt weil damals haben noch alle gesagt,(ach) das BWL dat äh dat is jaI: Wasser?I. A.: Ja ja bitteI. A.: das, aber die hat dat is, hat sie sich dat so ausgesucht

780(Wasser eingießen) na.. dann hat sie studiert… die hat auchgute Noten gehabt bei Abitur nach nachzuholen hat sie allesmit ei 1,2 bestanden, die haben ja manche Fächer haben siegenommen aus Russischen, jaI: Ah, aha

785I. A.: aus den, und manche Fächer von hier und die äh dannhat sie auch gute Durchschnitt.. und.. waren wir äh da undhat dann, dann hat sie weiter studiert und dann war sie fertigmit dem Studium und… hat hat aber schon Kind gehabtI: Hm

790I. A.: Äh.. die hat gedacht jetzt noch ein bisschen, em wievielMonate ist da geblieben wird sie fertig, vielleicht so wie dujetzt jaI: HmI. A.: dann hat sie hat sie aber schon mit dem, hat sie da Jung

795kennengelernt und haben sie, sind sie zusammengezogen, ha-ben zusammen gelebt, er hat auch studiert und sie hat studiert,beide Studenten. aja dann waren sie schon sechs sieben Jahrezusammen und dann hat ( ) heiraten wir, wenn sie fertichis heiratet (wir), und dann hat sie die Pille abgesetzt, hat sie

800gesacht dat wird dauern, haben geplant schon die Hochzeit,geplant das sie dann, alle so ja und zack sie ist im erstenMonatdirekt schwanger gewordenI: HmI. A.: und dann war alles Stress… Studium.. nicht fertig, zwei

805glaub ich hat sie äh nicht geschafft, war schon Kind da.. Hoch-zeit gemacht, ja war sie auch schon schwanger weißt, mussteman aber alles Stress ja, wollte sie machen, haben wir gemachtund dann. äh.. acht Tage war dat Kind is sie weiter Prüfunggemacht (lacht) acht Tage, a waren schon die (Lektr) die hat

810ja alles vorbereitet, alles war ja soweit fertig, nur musste siedahin gehen, ja dann Schwiegermutter dat Baby auf den Armdahin, und hat sie so dat geschafft, Studium, ja wie gesagt hatsie gesagt, ach dat dauert bis sie schwanger wird, jaI: Hm

815I. A.: … dann dann is et so schnell gekommen (lacht) ( )wie et is neI: JaI. A.: und die Kleine die hat dann äh in Bielefeld war sie dann.achso dann wann wir nach Deutschland sind gekommen und

820das hab ich dann angefangen Sprachkurs, im August habenwir angefangen Sprachkurs zu machen, die die Zeit was wirda.. haben gelebt, muss man ja irgendwie verbringen, undGeld war ja zu wenig, was wo wir wat konnten da, in deNorden da is noch schlechter ja was mit der Arbeit und so,

825und wer nimmt dich wann du. da auf dem Dorf da war nix,fahren konnt ich nit, hab ich kein, Führerschein hab ich aberich kann ja nicht fahren, hat ja kein Auto und ich konnt auch

Page 115: it - Gesellschaftbilder Und Selbstverst Russlanddeutscher Aussiedler in der Sowjetunion und in Deutschland

Interview: Irina Albert 105

nich fahren un äh.. mit dem Fahrrad.. wie gesagt ja, dannhaben wir mal so beim Bauern auf dem Feld gearbeitet die

830 ganze Familie, da war so Rü die Süßrüben oder wie heißensie, Süßdinger auf den Feldern dat UnkrautI: Ja ja ich weiß was sie meinen, ZuckerrübenI. A.: ja Zuckerrüben, ja ja Zuckerrüben, und dann dat waralles mit Unkraut und mussten wir dat Unkraut zupfen da.

835 dann sind wir alle, Vater, ich, mein Bruder, alle Familie habenwir so ein Feld genommen (haben dann so) dat Feld wennihr fertig habt is äh hundert Mark wert, wieviel Leute warenwir da äh haben wir schon (zwar und) die Arbeit gemacht,am Ende is dat rausgekommen noch keine fünf Mark auf die

840 Stunde aber uns war dat egal, hauptsache das ä wir warenbisschen beschäftigt und haben uns en bisschen wat ne, Bauerhat zwar uns ausgenutzt, aber. wir haben alles mitgenommenwas was. was man konnte jaI: Hm

845 I. A.: .. und die Jüngste is ja dann äh auch ab nächstes Schul-jahr is sie gegangen nach Bielefeld, in Internat. Und die ältesteTochter is ja nach Hamburch, und dann war ich ja alleine, unddann hat Sprachkurs angefangen und dann is mein Bruderumgezogen nach Koblenz, weil hier hat, weil dort äh. war mit

850 der Arbeit nit so gut, hat er gesagt ja wat sind wir hier imNorden, sind keine Verwandtschaft da, alle sind weiter undso un un dann, weil mein Bruder is gekommen em.. wie sagtman dann.. is abgehauen aus Russland jaI: Hm

855 I. A.: er hat Papiere gehabt zum Urlaub in Urlaub zu kommen,is hier rüber gekommen und hat gesagt so ich bleibe jetzt hierich fahr nit mehr zurück, damals konnte man dat so machen,ja, sind viele in Urlaub gefahren und dann nich mehr zurück,so hat er dat gemacht und deswegen haben sie ihm geschickt

860 nach Norden dahin, wir haben da niemand gehabt, keine Ver-wandtschaft nix, haben sie ihn dahin geschickt und deswegenmusste man äh so den Weg gehen, jaI: HmI. A.: wann wir sind gekommen, die nächste Verwandtschaft

865 war ja der Bruder, die Eltern und der Sohn, und deswegenmussten wir alle, weil ich zusammen mit Eltern war muss-ten wir dahin.. ja deswegen mussten wir dahin.. und dannschon sind wir äh nach Koblenz gezogen, weil der Bruder isumgezogen zuerst, und dann ich auch nach

870 I: HmI. A.: und dann hab ich hier den Sprachkurs weiter gemacht,hab ich insgesamt noch sechs Monate den Sprachkurs gehabt.äh.. und dann arbeiten gegangen. und die Tochter hat da inBielefeld äh bis. ja zehnte hat sie da gemacht. und dann is

875 sie nach Düsseldorf gekommen in andere Internat und hatsie Fachabitur gemacht.. in Düsseldorf.. (weiß ich wieder da).dort hat sie den Fachabitur gemacht.. und dann.. im Internatnoch.. und dann äh. wann sie schon in die Lehre is gegangendann musste sie schon raus aus Internat, dann hat sie da ein

880 Jung kennengelernt und hat da sich Wohnung geholt, sind siezusammengezogen, und hat da äh dann weiter Ausbildunggemacht als FloristinI: HmI. A.: un hat sie die Ausbildung fertig gemacht, die Jüngste und

885 dann, bis jetzt lebt sie dort noch in der Wohnung (lacht) undist mit dem Mann.. dat haben sie hat sie ja später geheiratetihn un so dat.. aber arbeiten als Floristin kann sie nicht wegen

der Rheuma, und jetzt is dat hat sie ja auch jetzt schon zweiKinder, äh aber arbeiten in dem Job kann sie nicht, jetzt will sie

890wat anderes, versuchen wat anderes noch andere Ausbildungmachen solang sie noch jung isI: Hm hmI. A.: Die Älteste is ja jetzt dreiunddreißich und die Jüngsteis jetzt dreißich, einunddreißich wird sie

895I: HmI. A.: (5) un achso, ich hab ja hier ein Mann kennengelernt,wann wir sind nach Deutschland gekommen, wann ich hiernach Koblenz bin umgezogen.. äh dann haben wir äh in derNachbarschaft.. war ein Mann.. is viel älter als ich achtzehn

900Jahre, aber is war verwitwet, Frau is verstorbenI: HmI. A.: vor drei Jahre so is die Frau verstorben und war dreiJahre alleine, und dann in Nachbarschaft haben wir uns sokennengelernt… wie dat is im Leben ja, hab ich gedacht naja,

905hab keine Kinder, un äh. keine Frau keine Kinder.. un. waterwartet mich hier. und wir haben uns so kennengelernt.. ihmhat ja dat ja gefallen, junge Frau jaI: (lacht)I. A.: (lacht) un. und so äh (trinkt) meine Kinder haben auch

910gesagt wat sollst du rumhängen immer alleine.. Bruder hatFamilie der andere, alle haben Familie und du immer dazwi-schen, Auto fahren konnt ich nit weil, ich hab zwar Führer-schein gehabt aber fahren konnt ich nit, ich hab in Russlandgemacht Führerschein aber dort macht man ja ganz anders,

915damals hat man so gemacht, so’n großer riesiger Platz, daStraßen und da steht paar Schilden und da fährt man undda macht man Führerschein, natürlich da kommt dir keinerentgegen, da hast du keine Angst, da passiert nix, jaI: Hm (lacht)

920I. A.: sogar musste man da so auf die Bühne drauf fahren,hab ich alles wunderbar gemacht, bin ich auf die Bühne drauf-gefahren, ja, hat alles geklappt, aber wann ich auf die Straßebin da hab ich schon geschrien wann Auto entgegengekom-men, hab ich gesagt »ich fahr nicht, Auto kommt entgegen!«

925(lacht)I: (lacht)I. A.: Weil, so eine Angst vor den ja… äh und dann hab ichzuerst bin ich dann äh ja mit dem Fahrrad äh gefahren auf dieArbeit, hab ich dann sechsMonate Sprachkurs gehabt hier und

930dann hab ich in der Zeitung gelesen Fabrik Knopffabrik suchtäh Mitarbeiter, hab ich gesagt: »Is egal, ich hab zwei Kinderich muss arbeiten!« So bin ich auf die Knopffabrik gegangen,bin ich zum Chef, hab ich gesagt: »Hier bin ich, ich hab zweiKinder und ich muss arbeiten!« So hab ich dem gesagt ja.

935I: HmI. A.: Ich hab gesagt: »Ich muss arbeiten, ich hab dat niegemacht, aber ich muss arbeiten, ich hab zwei Kinder!« Hater gegucktI: (lacht)

940I. A.: mit große Augen (lacht), »Na komm probieren wiedat alles klappt oder nit.«. Dann natürlich äh, die haben soeine Maschine da stehen gehabt, da wurden so Musterknöpfegemacht, eine Abteilung für Musterknöpfe. Da musste mansolche Dinger so wie beim äh… so so so runde äh wie wie eine

945Calciumtablette, so dicke, Rondellen heißen die Dinger. Damussten sie so, musste man die so reinstellen in die Maschineund dann wurden sie von Hand äh ein Muster gemacht, mit

Page 116: it - Gesellschaftbilder Und Selbstverst Russlanddeutscher Aussiedler in der Sowjetunion und in Deutschland

106 anhang b Interviews und Gedächtnisprotokolle

der Hand.. so wie dat, so eine Maschine war da.. Und dann hatmusste man hat hat er da »Probieren Sie mal ob dat klappt!«

950 und oder äh hab ich dat probiert, hat einigermaßen geklappt,da musste man somit der linke Hand einlegen, mit der rechten,unten so drücken, mit der, da geht dat auf, mit der linke Hand,dat war so ja, so ein Dinge, wann ich da rein leg da macht datso und dann musst ich mit der rechte Hand ( ) wieder so, mit

955 Späne so’n Muster gemacht in Knopf, so eine, ich weiß nit wiedeutsch, Takarnaja Takarnaja Maschina (russisch), wie heißtdat? Ja dat macht man auch mit Holz, wenn man will zumBeispiel Holz so.. Relief so machen mit Holz, so, so Dinge mitHolz machen, ja, dat hat man ja auch so gemacht, dat is so

960 eine Maschine, dreht sich und dann. dat is ein bisschen andersda. naja. Hab ich gesagt: »Ich komm morgens früh, ich übe.«I: (lacht)I. A.: Bin ich sechs Uhr da, die haben schon sechs Uhr ange-fangen, acht Uhr Schule, ich sechs Uhr schon dahin. Geübt bis

965 acht Uhr, jah eigentlich, und dann, ja es geht. Haben sie michgenommen drei Monate als Praktikantin,I: HmI. A.: hab ich da drei Monate als Praktikantin das gemachtund dann haben sie mich übernommen. Dann hab ich da fünf

970 Jahre gearbeitet und dann haben sie Bankrott gemacht. Dannhaben sie hier dat alles verkauft, sind nach Osten gegangen,weil da im Osten war noch eine Knopffabrik.I: HmI. A.: Und äh, und da waren ja die ( ) und so weiter,

975 nach der Wende, nach dem allem, und dann haben sie hier –die Knopffabrik ist jetzt noch hier – aber die Produktion, dieMaschinen hat er sich hier alles abgebaut. Alle nach Osten,I: HmI. A.: sogar noch manche Mitarbeiter mitgenommen da, wel-

980 che von Osten kamen,I: AchsoI. A.: waren paar.. und hier Leute entlassen. Dann stand ichauf einmal auf der Straße.. Nach fünf Jahre hab ich gesagt:»Naja, dat war schon mal gut, hab ich gearbeitet, alles lief so

985 wie et sich,« Kinder sind Wochenende gekommen.. zu mir,aber ich hab schon den Mann kennengelernt. Nach einem Jahr- haben wir ja da in der Nachbarschaft gelebt und dann, hater Zaun gestrichen, dann haben wir mal ein bisschen geredetund so weiter und dann, naja.. haben Kinder gesagt: »Wat

990 solls, hängst allein, is doch egal.« Und er hat auch gearbeitetun naja. Dann bin ich zu ihm gezogen. Über den Zaun (lacht)I: (lacht)I. A.: war ja nicht weit. Er hat aber in Miete gewohnt ja, inMiete hat er gewohnt. Sind wir da über den Zaun äh.. und

995 dann sind Kinder Wochenende gekommen nach Hause undund dann so weiter… Die haben ihren Schule un gemacht unso äh.. ihren Weg gegangenI: HmI. A.: un nach fünf Jahren wann ich dann arbeitslos bin gewor-

1000 den, dat war, hab ich ja gedacht: »Bist wahnsinnig.« Arbeitfindet man nit, is schwer, keine Ausbildung, nix, was willstdu machen! Dann haben sie gesagt: »Altenpflege«, hab ichgesagt: »Ne, ne«, dann hab ich Praktikum gemacht bei AWOin Koblenz, da hab ich gesehen solche Fälle, solche ähh Deku-

1005 bitus heißt dat ja, solche Löcher bei de Leute, an der Schulteroder am Becken.. ich konnte dat nit sehen, und mir war datso schlecht, dat hab ich gesehen dene Leute Essen anreichen

und die könne nit schlucken, hab ich gedacht: »Die verschlu-cken sich alle bei dir.« Dat war mir ja so, oh total, hab gesagt:

1010»Ne, den Job kannst du nit machen! Den Job kannst du nitmachen!«I: HmI. A.: Zuerst hab ich noch probiert im.. im Kaufhof äh.. in deräh.. unten wann in Kaufhof, war damals untere Abteilung wo

1015CDs waren und Bücher waren untenI: HmI. A.: da hab ich noch Praktikum gemacht. Natürlich waskonnte ich von deutsche Bücher! Oder von deutsche Musik!Dat war ja ganz fremde Welt für mich.

1020I: (lacht)I. A.: .. Ja die Charts da muss man da hinhängen, dat hat mirüberhaupt nix gesagt ja, und wat dat alles soll.I: JaI. A.: Ne, hat dat nit geklappt mit dem Kaufhof, Verkäuferin.

1025Aber, aber wie blöd dat klingt, aber ich hab dat alles mitge-macht. Hab (lacht) jetzt kann ich ja darüber lachen, damals(aber nicht).. der Chef, vorne am Eingang, war immer so einbisschen aufgebaut und da wurde jede Woche wat neues ähverkauft.

1030I: Hm hmI. A.: Eine Woche waren da alles Besteck, die andere Wocheda Geschirr, dann noch immer wat neues, weißt du und so.Und da musste man immer da vorne stehen, immer aufpas-sen, un äh da wann die Leute da wat intressiert sind, da wollt

1035wat kaufen, da waren so Angebote ja. Aber immer so vorne,wann man reingeht direkt hier vorne… Und ich steh vor dieTür und jeden Tag: »Guten Morgen, guten Tag, guten Mor«oh ne. (lacht) Was… ich hab noch dat gehört, ich soll dazuja.. steh da un un… un dann äh, nach drei Monate natürlich

1040haben sie mich dann nit übernommen und dann.. hab ich dieKnopffabrik da gefunden und dann bin ich auf die Knopffa-brik.I: HmI. A.: Äh.. einmal hab ich da einer em.. einer Frau hab ich

1045dann gesagt, die hat da Besteck geguckt und so un, dat warmir so und dann hab ich gesagt: »Kann ich Ihnen helfen?«und sie guckt so auf mich »Sie, mir, helfen⁉« (lacht) Dat warfür sie, weißt du, die hat ja gehört meine Aussprache, dasich überhaupt kein Deutsch und nix und auf einmal will ich

1050der helfen! (lacht) Aber äh ja, wie gesagt (5) (lacht) unter dieTränenI: HmI. A.: Naja und dann äh is hab ich die, wo war ich dann, mitder Knopffabrik gearbeitet, dann arbeitslos geworden, dann

1055die AWO gemacht, dann wieder zuhause gewesen, wiederzuhause gewesen, dann Maßnahme gemacht vom Arbeitsamtund so.. Aber is ja nix zum Umschulen, wat sollen sie mirumschulen jaI: Hm

1060I. A.: Is ja nix Gescheites da, überhaupt wat könnten sie bietenundwat konnte ich, weil ich konnte nicht schreiben, ich konntelesen aber sehr schlecht, weil in sechs Monate kannst du nitlernen.I: Hm, klar

1065I. A.: Wat konnte man da ja… Und vielleicht bin ich auch nochnit so begabt.. wie die anderen, das ich das so, nicht so äh..hab ich gedacht: »Ach, reden kannst du ein bisschen.« Wann

Page 117: it - Gesellschaftbilder Und Selbstverst Russlanddeutscher Aussiedler in der Sowjetunion und in Deutschland

Interview: Irina Albert 107

ich bin dann auf die Knopffabrik gegangen, reden konnt ichbisschen schon besser, ja so, konnte man sich verständigen und

1070 da musste man nit viel reden, weil man hat nur gearbeitetmit der Maschine. Und dann.. ja, aber dann hab ich ja schonFritz kennengelernt und dann haben wir ja zuhause, musst ichja dann mehr deutsch sprechen, aber er war ja ganze Wocheunterwegs

1075 I: HmI. A.: er hat ja, war ja, immer auf Montage, is ja nur Wochen-ende nach Hause gekommen… War auch nit so viel, aber, mitder deutschen Sprache.. un äh.. bin dann arbeitslos geworden,wieder dann dat machen dat machen dat machen, nix in Sicht.

1080 Dann hab ich hier in Rengsdorf, hab ich einfach Gelbe Seitengenommen, weil ich wollte nit mehr arbeitslos sein, ich, dathat mich so gedrückt, das, ich hab mich so ä… nutzlos gefühltund und dat alles, hab gedacht: »Dat war nichts!« weil ich habimmer gearbeitet ja.

1085 I: HmI. A.: .. Ich konnte nit da zuhause sitzen und äh. dat warnix für mich.. Gelbe Seiten genommen, überall rumgefahren»Brauchen Sie, brauchen Sie, brauchen Sie?« und dann habendie in Rengsdorf gehabt äh, gesagt ja Praktikum, zuerst so

1090 zur Probe und dann Praktikum drei Monate und dann zumUmschulung machen als Altenpflegerin.I: HmI. A.: Ich wollte doch, Ausbildung haben. Nicht einfach so, ichwollte mit der Ausbildung. War ich ja schon dreiundvierzich,

1095 dann hab ich angefangen der Ausbildung, drei Monate zuerstso, dann gearbeitet bis August und dann äh Ausbildung alsAltenpflegerin. Drei Jahre dann gelernt, ja wie dat hier dieSchule ist, zwanzichjährige, da war ja ganz normale Klasse,da waren alle drin ja.. Wir waren paar Aus Aussiedler waren

1100 paar äh wieviel waren wir, drei.. Aussiedler waren.I: HmI. A.: Aber, die waren noch ein bisschen jünger als ich, ichwar ja die Älteste.. und Ausbildung gemacht und dann hiergeblieben, haben sie mich übernommen und dann bis jetzt

1105 arbeite ich hier. Schon auch zehn Jahre rum..I: Hm, wowI. A.: Ja mit dreiundvierzich hab ich angefangen und mit derSchule und jetzt ist schon, bin ich vierundfünfzich schon jetzt,die Zeit läuft ja.

1110 I: HmI. A.: (6) So is et (6)I. A.: Was intressiert dich noch?I: Em… wenn Sie soweit abgeschlossen haben komm ich noch-mal auf Fragen zurück, die mir gekommen sind. Sie haben

1115 von ihrer SchulzeitI. A.: nix erzählt, jaI: nicht so viel, ja. Das würd mich nochmal intressiern.I. A.: Ah.. ja… Da war nit so aufregend das war normaleSchule, bin ich zur Schule gegangen, ich war nich die beste

1120 Schülerin, ah hab immer so, fünf war ja bei uns die beste Note,hab immer so vier gehabt und dreier hab ich geahabt, dreiund vier, so war ich Mittel, immer in die Mitte gewesen…deswegen war da nix wat besonderesI: Wie wie lange waren sie?

1125 I. A.: Zehn Klassen. Zehn Schuljahre waren da. Damals habich zehn Schuljahre gemacht und dann die Ausbildung alsBibliothekarin.

I: HmI. A.: .. Weil ich weiß nit warum, da war keine wo man das

1130Bibliothekarin auch am Tag hat gemacht, so immer. Ich weißet nit, das hab ich dann direkt gearbeitet, in Dorf un äh, unddann die Schule so gemacht.I: Hm. Sind Sie gern zur Schule gegangen?I. A.: Och äh… nicht so immer sag ich mal, ich viel Blödsinn

1135in der Schule gemacht, äh war nicht so braves das Kind ja. Äh,hab schon immer wat angestellt, äh mit dem Englischlehrerwat ich hab da ( ) gemacht äh ja. Er, er konnte mir nix, er hatgesagt, meine Mutter hat gearbeitet - geputzt in der Schule- da wusst sie auch alles bescheid. Und er hat dann gesagt,

1140schon neunte Klasse, hat er gesagt, ich hab gesagt: »Ja, jetztgehen Sie schon wieder zu meiner Mutter!« »Nein, ich gehnicht zu deiner Mutter.« »Ja, Sie können ja nur zu meinerMutter immer gehen!«I: (lacht)

1145I. A.: .. Er war jung… äh.. in ( ) hab ich die Bücher zuhausegelassen und hab in die Schultasche äh hab ich Cornflakesso ne Packung, hab ich allen Cornflakes verteilt und dat hat,wenn man isst krumst ja so, jaI: Ja ja

1150I. A.: Da hat ja nur Krach gemacht. Und solche Dinge hab ichmit dem gemacht… In die andere Fächer nicht nicht so, nur inEnglisch, deswegen ist mir das auch später (lacht) so, für diebesser lernen Englisch ( )I: Hm hm

1155I. A.: Ja, in der Schule, so Sport gemacht, nit so besonders viel,ein bisschen Volleyball gespielt so… da hat man auchvielleichtnit so gefördert oder die Eltern auch nicht, mal auf dem Wegdas man da, ja, da musste man, nach der Schule musst ich derMutter helfen putzen.

1160I: Hm, auch in der SchuleI. A.: In der Schule. Ja, weil weil sie hat dann geputzt da, dawar ja äh.. so eine Schulbank war zusammen Tisch und dannwar auch die Bank direkt dadrüber, da waren solche Teile. Undda war ja so viel Dreck, da war ja so viel Dreck, da musste

1165man sie alle auf die Seite, und unten wo die Füße so draufstehen ja, da war alles übermatscht, so Klumpen un un alles,und dann hab ich da vorher gekehrt und sie hat dann geputztoder ich musste die Dinger da abwischen. Da waren nit Sportgefördert (lacht), oder noch wat zeigen was du kannst, ja..

1170I: HmI. A.: …Deswegen, manmusst dat alles mithelfen und so, mannatürlich alles im Garten zuhause.. Und die Schule… ich weißet nit, is dat nur bei uns in der Familie oder, Mutter konntemich nich kontrollieren, uns, weil sie selber dat nicht äh hat ja

1175nur vier Klassen (die) in Deutsch, sie hat dat von allem nichtverstanden, Vater auch äh, wat wir haben den erzählt, dathabe sie uns geglaubt, ja. Un äh.. wir haben dat nit, nit so gutgelernt in der Schule, mein Bruder, ein Buch, unten Lehrbuchund oben ein Roman oder was ( ), und Mutter kommt: »Die

1180lesen, alles klar«, aber was sie lesen, ja.I: Achso, hm hm (lacht)I. A.: Ich hab aber nit so viel gelesen als Kind, hab ich nit so..nit so viel gelesen, uns wurde ja auch nit so viel vorgelesen,wie jetzt machen meine Kinder mit ihre Kinder, ja. Von mein

1185Mann, wir haben äh angefangen schon immer dene Kindervorlesen abends vor dem Schlafengehen, und hat er viel Wertgelegt auchdas die Kinder, eben was aus dene wird, ja. Un äh

Page 118: it - Gesellschaftbilder Und Selbstverst Russlanddeutscher Aussiedler in der Sowjetunion und in Deutschland

108 anhang b Interviews und Gedächtnisprotokolle

haben wir damals schon, hab ich schon angefangen zu lesen,dene Kinder vorlesen. Und dann wann sie Fragen haben ge-

1190 stellt, heute hat sie die Frage gestellt, hast noch keine Antwort,morgen hat sie schon andere Frage ja (lacht), eben Kinder soja. Meine Tochter hat sich damals mit der Sonne interessiertund wat alles, bis man hat dann rausgefunden wat sie wollte,hat erklärt (lacht), is schon wieder wat anderes. Un ich, weil

1195 ich hab gearbeitet in der Bücherei und dann hab ich schonäh.. viel Bücher haben wir zuhause.. weil das war, das wardat einzige wo ich so dran konnte kommen, weil ich konntekaufen was die anderen nicht konnten, weil ich hab Kontaktemit den (Chefs) so gehabt ja, und dann haben wir sehr viele

1200 Bücher zuhause gehabt, und die Kinder viel gelesen, wir ha-ben auch sehr viel Bücher nach Deutschland gebracht, habich da eingepackt, dat war mein einziges, weil wir haben daimmer so zum Beispiel Gogol oder Dostojewski oder is nochdie ganze, alles von ihm ja, die ganze.. zwölf

1205 I: Hm hm, die ganze ReiheI. A.: Ganze Reihe, so und dann.. ich konnte dat da so kaufenund dann hab ich versucht dat zu kaufen, weil ich dat denk ichmir, wann ich dat nit für mich dann für Kinder alles besorgenja. Un äh viel von Kunst, weil mein Mann hat Kunst so geliebt

1210 äh dat hat ihm gut gefallen, die Malerei und so alles. Habenwir da Bücher viel gehabt zuhause. Wann man selber da nichtso genau alles aber, und ich hab dann immer besorgt, wanndat wusste, hab immer besorgt die Bücher und selber nit vielgelesen (lacht).

1215 I: Hm hmI. A.: Wann sie wat brauchten äh (5) hab meine Schulzeit..wat.. nix aus der Reihe so, nix wat besonderes. Auch nicht soganz schlecht das ich mal da war äh so.. überhaupt nit wollte,manchmal nit so zu jeder Stunde nit so viel Lust. Wann mit

1220 manche Lehrer da ein bisschen dann.. (lacht) wie dat is dannPubertät, dann hat man sowieso andere, anderes im Kopf als..nich so strebig war ich in der Schule, ne…I: Und äh, was hat Ihr Vater nochmal beruflich gemacht?I. A.: Vater hat ja keine Ausbildung gehabt, hat auf dem Bau

1225 gearbeitet. Bauarbeiter. Hat sich aber auch so hochgearbeitet,war Vorarbeiter sag ich mal so ja. Hat sich so.. nicht von äh..schulische aber so im ( ) war er dann später Vorarbeiter aufder Arbeit da, hat er, hat er sich alles selber beigebracht.. wiedat, da und da..

1230 I: Und wie haben Sie die Entscheidung getroffen Bibliotheka-rin zu werden, Sie haben gesagt Sie haben die Ausbildung dagemacht, aber wie kam’s dazu?I. A.: Ja, weil damals meine Mutter zuerst hat in der Schulegearbeitet und dann hat sie.. in der Bibliothek hat sie geputzt.

1235 Und dadurch, durch die Mutter bin ich gekommen zu diesemBeruf.I: HmI. A.: .. Weil äm äh.. zuerst hab ich noch probiert, ich wollte..nachder Schule äh, hatmir so gefallen, wollte ichKäsemachen,

1240 in so eine Käsefabrik gehen, zum Käse machen ja.I: HmI. A.: Da bin ich gefahren mit meiner Freundin, ganz alleine,ohne Eltern ohne nix, im Zug, wir zu zweit, andere Stadt. Undda wussten wir von Niemandem in der andere Stadt, sind

1245 wir einfach einfach gegangen äh.. Utschilischi das ist wie, jawie heißt dat jetzt Utschilischi..I: Äh, Auszubildende, oder?

I. A.: Ja ja ja, so eine Schule ja. Sind wir dahingegangenI: Berufsschule

1250I. A.: Berufsschule. Und da wurde da Adressen da, wo manda äh.. sind wir dahin. Nix, die Stadt nicht, niemand da, ganzFremde. Wir sind zu zweit, sind wir hingefahren. Eltern sindnit mitgefahren, die Eltern haben kein Geld gehabt uns datzuu.. helfen oder wie auch immer ja. Dat war Almata, dat war

1255ziemlich weit von uns.. sind wir dahin, Papiere abgegeben, sodann haben da draußen gesessen am am Bahnhof, haben soFrauen gesessen, alte, und die haben da verkauft KleinigkeitenI: HmI. A.: So äh an der Straße ja. Und dann haben wir gefragt:

1260»Wissen Sie vielleicht wer kann hier äh… in Miete man neh-men?« ja, zum Übernachten. Wir sind gekommen, wir habenhier niemand und wir wissen nit wo sollen wir übernachten.Ja.. das nicht äh jedes Kind konnte, die Eltern mitgefahren,meine nicht ja. Und bei der auch, die hat nur Mutter ge-

1265habt, kein Vater, sind wir weg. Ja dat haben uns da ah alteFrauen: »Aja, die lebt alleine, die hat da Zimmer frei. Fragtmal, vielleicht könnt ihr bei der da übernachten.« Und so sindwir dahin, bei der Frau angeklopft, gefragt: »Ja gut, kommtrein, fünf Rubel kostet, ok«, unsre Eltern haben da Geld ein

1270bisschen mitgegeben. Un so sind wir da, sind wir zur Schulegegangen… dann nach gewisse Zeit – zwei Wochen oder wielang – musste da so Vorstellunggespräch sein.I: HmI. A.: … Un meine Freundin, da musste man ja erzählen

1275warum man den Beruf will und so weiter.. Ich weiß nit auswelchem Grund, auf einmal wollte ich den Beruf, weil wirhaben eine Käsefabrik gehabt bei uns große, und ich hab ge-sagt: »Ja, dat is ja mal wat handwerkliches zu machen und soweiter«, und dat wollt ich dann machen. Sind wir hin, äh und

1280die haben sie nicht genommen, meine Freundin, die habengesagt: »Wir nehmen sie aber Ihre Freundin nicht.« Hab ichgesagt: »Dann bleib ich nit. Ich nicht, alleine hier, nein!«I: HmI. A.: Und dann hat et mir dat nit gepasst, dass sie.. wollten

1285mich nicht nehmen ja, a mich nehmen und sie nicht…Und unddann bin ich da weggefahren. Dann bin ich zu meiner Tanteda nit weit, is meine Tante hat da gelebt, bin ich zu meineTante weil ich hab mich sogeniert nach Hause zu fahren, sogeschämt: »Wie fährst du jetzt nach Hause!«.. Ja, in Russland

1290hat dat so, Schule fertich undalle fliegen raus aus dem Nest,in die Städte und.. in die große Welt ja. Und du kommst jetztzurück, hast nix, kommst zurück, wat machst du, ja. Ne, binich zu meine Tante gefahren, meine Patentante.. und dannhab ich da auf eine Fabrik.. gearbeitet paar Monate. Hab ich da

1295gearbeitet auf irgendwelchen, auch sowas, mit dene Bohrer da,da haben sie die Bohrer gemacht zum in die Erde, zum Bohren,zum.. wat da rauszuholen. Und da hab ich auch gearbeitet,haben sie da angelernt.I: Hm

1300I. A.: Hab ich da paar Monate gearbeitet, dann meine Mutterimmer Briefe geschrieben, das war ja schon Sibirien, das warder Stadt wo ich geboren bin. »Da is so kalt und komm dochzurück und dies und jenes!« und so weiter und dann irgend-wann bin ich dann.. zurück, nach Hause. Und dann.. musste

1305ja die Zeit bis wieder ab August fängt de Schuljahr an, unddann hat meine Mutter gesagt: »Komm, mach doch das, isdoch gut.« Un ich, eigentlich wollt ich nit so. Und dann meine

Page 119: it - Gesellschaftbilder Und Selbstverst Russlanddeutscher Aussiedler in der Sowjetunion und in Deutschland

Interview: Irina Albert 109

Mutter: »Ja, is ja nit schwer Arbeit, is watfür Frauen« unddies und jenes. »Na gut, komm mach ich« und dann hab ich,

1310 muss ich da, muss man da Prüfung machen und so bis manda alles.. so bin ich Bibliothekarin geworden.I: Hm, das war in dem Dorf, wo Sie auch aufgewachsen sind?Die Ausbildung?I. A.: Nein nein nein, die war in der Stadt, da war sechzich

1315 Kilometer weg. Das war in die Stadt, im Dorf war ja nit. DieSchule war ja dann da und da musst ich da hin fahren.I: Jeden Tag?I. A.: Nein nein, zwei mal im Jahr. Ein Monat zwei mal imJahr musste man hinfahren, da war so äh.. Schule war da ja.

1320 I: Achso Fernschule war das jaI. A.: ( ) und zwei mal im Jahr war ja das nur, muss mandann hinfahren. So, für Monat da war Unterricht dann.I: Sonst haben Sie weiter gelebt in dem Dorf bei Ihren Eltern?I. A.: Nein, da bin ich, war ich ja schon mit meinem Mann..

1325 zusammen.I: Achso, als Sie hier (Ausbildung)I. A.: Ja, bin zur Sch, weil da im August hab ich gemacht die…Prüfung gemacht und wurde da übernommen ja, zur Schulegehen, zur Bibliothekarin. Und im selben Zeitpunkt hat mich

1330 schon der Chef, durchmeineMutter, haben sie mich eingestelltim ein Dorf, weiter Dorf, meine Eltern haben gelebt so, sag ichmal hm.. wie Oberhonnefeld, und ich dann bin weitergezogenwie Ellingen (Anm. d. A. ca. 5 bis 10 km), in so kleiner Kaff,ganz kleiner Dorf, und dort haben sie aufgemacht neu.. dort

1335 war Schule, drei Schulklassen waren da, Grundschule nur. Unddann neben der Grundschule war son kleiner, da waren ja nitviel, da war ja nur Grundschule, zwei Klassen waren da… Unddann war de Buchhalter, wie heißt dat jetzt Buchhalter?… Jaeiner wat hat den Arbeitern den Dorf gemacht den Lohn da.

1340 I: Ah ja ja, Buchhalter.I. A.: Buchhalter ja. Und da war son Raum und da hat manangefangen, da hat man eine Bücherei aufgemacht, und dawurde ich direkt eingestellt, ich hab angefangen lernen unddirekt angefangen zu arbeiten.. Gleichzeitig. Und da hab ich

1345 gewohnt in dem Ort, bei eine Frau in Miete, hab ich da gelebt.Un äh.. dat war Anfang von der Bücherei ja, dat war amAnfang nicht viel Bücher, aber, und ich konnte ja auch nochnix, wie dat alles geht. Hab ich da nach meinem, wie dat is..ein bisschen beigebracht wie man die Bücher stellt und ein

1350 bisschen alles.. hat man da solche.. äh Impfungen bisschenbekommen von dene wie man wat macht und hat man ja dagesehen von den große Bücherein äh wo ich hab gewohntfrüher. Wie man wat macht ja, dekorieren oder die ganzeda, auslegen die Bücher und so weiter und dann hab ich da

1355 angefangen zu arbeiten, da hab ich da gearbeitet. Und dannhab ich auch dort in dem Dorf mein Mann kennengelernt, unddann hab ich da geheiratet, haben wir aber in, meine Tochteris geboren und dann halbes Jahr später sind wir schon in dieStadt gezogen.

1360 I: Ah, okI. A.: Und dann in der Stadt, war ich schon hab ich schon auchäh.. weiter in die Bücherei bin ich da schon gegangen, war ichschon fertig mit der Schule, mit dem Ausbildung, und dannhab ich da schon weiter in der Bücherei gearbeitet.

1365 I: In der Stadt dann?I. A.: In der Stadt ja, in der großen Stadt.I: Ah, und, Sie haben gesagt Sie haben in der Schule gearbei-

tet? WasI. A.: Nachher in der Stadt hab ich gearbeitet in der Büche-

1370rei… äh und dann.. in der Schule war auch Bücherei, direktin der Schule. Und dann hab ich hab ich gewechselt, von dernormale Bücherei, der Stadtbücherei, hab ich gewechselt indie Schulbücherei.I: Hm

1375I. A.: In der Stadtbücherei waren wir vier Mann, war so Bü-cherei, waren wir vier Mann da. Äh.. und hier in der Schulbü-cherei war ich alleine. Und heißt das wie Leiterin, weil ich warda alleine. Und ich hab da zum Lesen Bücher gehabt, alles wasdie Kinder so brauchen äh nebenbei zum Lesen und dann noch

1380die später die ganze, für die Schule die Bücher waren auch da,weil später hat man die nit gekauft, hat man umsonst gekriegtvom Staat die Bücher später, un alle vier Jahre hat man neuegehabt, vier Jahre mussten die halten die Bücher. Zum Beispielhabe sie da Geographie oder Mathematik, Geschichte musst

1385ich alles geben wieviel dir, da war doch so ein, für jede Schule,war da auch so zuständich Reino heißt das, ja die, in der Stadtsind ja mehrere Schulen, wir haben ja große Stadt gehabt, dawaren bestimmt achtzehn oder zwanzich Schulen, so großeStadt war das ja. Oder noch mehr, ich weiß nit genau, aber

1390waren viele Schulen.I: HmI. A.: Und in jede Schule war ja eine Bücherei und war ja eineso Leiterin und dannmussteman ja abgeben dawieviel Kinderwir haben, wieviel dies und dies brauchen und so weiter und

1395dann haben sie uns geschickt so viel und so viel Bücher. Undalle vier Jahre is dann neues Schulbuch gekommen.I: Und bei wem haben Sie die Bücher dann bestellt?I. A.: Ja, das war ja so, noch so eine äh in der große Stadt, dais ja Schuldirektor ja, und dann war ja, in jeder Schule is ja so

1400ein Direktor, und dann is ja noch so dat Haupt da, zusammen.Wie heißt dat?I: Son Bildungsamt oder so was, wahrscheinlich.I. A.: Ja ja ja, die haben dann alles, die haben die haben auchunsere Finanzen, wir haben auch von dene Geld gekriegt, ja.

1405Weil wurden ja alle bei dene da eingestellt, nicht in der SchuleI: Nicht von der Schule sondern von diesenI. A.: da ja, von diesem Amt. Und von da ist dat alles auchgekommen, von diesem Amt ist dann so alles. Und mit denenmusst ich dann immer regeln wieviel Bücher, welche und

1410wann undwie und alles so weiter ja. Wann dann is neues Buchrausgekommen, nächstes Jahr wieder wat neues, dann mussteman die entsorgen und dene Kinder verteilen, dann musst ichdie ganze da, (Bretter), musste die Kinder unterschreiben watsie bekommen haben un, dene rausgeben und dann am Ende

1415des Jahres sammeln und wieder die Bücher anderen Kinderngeben und so, das war noch ja. Und das war aber noch nur…dat war ja so im Sommer die Arbeit mit den Schulbüchernund ganzes Jahr war ja dann allgemeine, wat sie da brauchenfür Literatur für weiter, in der Schule gibt’s ja mehres was

1420man da, zu Vorträge halten oder watI: Hm hm, und das haben Sie dann auch besorgt undI. A.: Ja ja, hab ich dann besorgt und bestellt, musste manda so Bestellung, da war son, woher die Bücher von ( ),da kommen sie alle hin. Und die haben dann Liste wat sie

1425bekommen, und dann haben sie uns gegeben und wieviel,und dann haben sie uns verteilt. Welche Schule wieviel kriegt,dann haben sie auch geguckt wieviel Kinder man hat gehabt

Page 120: it - Gesellschaftbilder Und Selbstverst Russlanddeutscher Aussiedler in der Sowjetunion und in Deutschland

110 anhang b Interviews und Gedächtnisprotokolle

in der Schule, wir haben da so zweihundert gehabtI: Hm

1430 I. A.: So die Zahl war da. Und dann haben sie geguckt obman hat da so viel Bücher zum Lesen. Weil manchmal.. ( )oder wat war da, auf einmal die ganze Klasse will dat haben,weil sie jetzt dat grad durchnehmen, das Thema, und dannwill das jedes Kind haben ja, zum Lesen.

1435 I: Ja, ja ja. Also Sie haben auch so Verwaltung der Bibliothekgemacht?I. A.: Ja ja, weil ich war da alleine, ich musste dat alles ma-chen, musste Veranstaltungen machen mit den mit dene Kin-der noch. Oder teilnehmen an den Veranstaltungen was da

1440 gemacht wurden in der Schule. Hab ich auch gemachtI: Was für Veranstaltungen?I. A.: Ja mit dene Bücher da ähh, gelesen oder irgendwelcheFeiertag Veranstaltung, die Gedichte da lernen, und so weiterja. Dat alles gehörte dazu, das war die Arbeit so ganz zusam-

1445 men, so eng miteinander verbunden mit der Schule ja, wassie da haben wat gemacht.I: HmI. A.: … Zu.. zu irgendwelche Feiertag immer so Aufstellungvon Bücher dazu, was man konnte dazu lesen, wat Thema ja,

1450 oder ja, da war dat so.I: Aber mussten Sie Bücher auch selber gelesen haben, die sieda angeschafft haben?I. A.: Natürlich musste man, aber wie willst du dat schaffen?Ähm, soviel zu lesen, meistens hatte man nur groben Über-

1455 blick gehabt, weil da war ja, da war ja tausendeI: Ja jaI. A.: Das ist ja unmöglich. Natürlich is ja gut wann man überjedes Buch weiß bescheid, weil man will dem empfehlen, ja.Oder einer kommt und sagt dir, ja, er macht das oder das..

1460 und bis ihm empfehlen, da musst du schon wissen wohinman greift, ja. Oder wo man soll sowat suchen. Äh die ganze,die haben ja auch ihre Ordnung, in der Bücherei die Bücher.Technik ist da oder über Sozialpsychologie is da oder wie auchimmer ja, dat musste man auch noch alles wissen und alles

1465 richtig hinstellen un lernen weil in jedem Buch is ja so, codiertis ja jedes Buch, und dann kann man da so sehen wohin datgehört und so weiter ja. Da stellt man ja auch hin äh hat manschon. Aber meistens hab ich selber von Anfang bis Ende, habich nit so Romane oder wat gelesen, hab ich nicht.

1470 I: HmI. A.: Nur das allgemeine Wissen über dat Buch, über was datgeht ja.I: Un em, Sie warn dann, hab ich das richtig verstanden, ander selben Schule wie ihre Töchter dann? Das war die gleiche

1475 Schule?I. A.: Ja ja. Deswegen hab ich sie dann auch zu mir genom-men in die Schule, und dann hat mir das auch später dannmein Leben erleichtert, ja. Äh, das war dann schon äh.. Ichhab da aber dann schon früher gewechselt, mein Mann hat

1480 noch gelebt. Äh, ein Jahr später is et passiert, ich hab schongearbeitet und meine Kleine is da schon zur Schule gegangen..äh. und dann is et passiert ein Jahr später, weil die war schonerste Klasse äh, wann et passiert is mit meinem MannI: Ja. Und was hat er beruflich gemacht?

1485 I. A.: Er war ähh Elektromechaniker, aber er war so äh so, wiesag ich dann dir… so begabt ja, er konnte schon viel, äh er hatsich auch immer wat ausgedacht und er wollte nit so einfach

leben, er wollte immer wat machen das et einfach geht. Daset leichter geht – im Dorf haben sie ihm überall gerufen, äh

1490Fernseher kaputt kommen sie ihn rufen, Kühlschrank kaputtkommen sie ihn rufen, da funktioniert wat nit kommen sie ihnrufen, ja so.. er konnte von allen konnte er da sowat machenja.I: Hm

1495I. A.: Hat er, immer hat er sichwat ausgedacht, wat neues, unddann hat er auch von der Arbeit viel so äh.. wie sagt man das,hat er sich wat ausgedacht und dat wird dann übernommen.Patent ja.I: Hm.. entwickelt

1500I. A.: Ja so so, dat hat er immer sowat sich, hab ich gesagt:»Komm«, früher war ja kein Mixer zum Beispiel, und ich habgesagt: »Komm, du musst die Eier schlagen, wir wollen Ku-chen backen.« Dat muss man ja stundenlang mit dem Dinger,und da war das noch nicht, da hat man ja so Dinger noch nicht

1505gehabt, hat man da mit den Löffeln geschlagen.I: HmI. A.: Dann hat er ahh, dann hat er immer gedacht gedacht,wat er kann machen.. das et geht schneller und leichter ja…Dann hat er die Bohrmaschine (lacht) gebracht und hat sich

1510da wat gebastelt und hat sich da wat so, ja. Ah zum Beispielim Dorf, wann ich bin zu ihnen gezogen, da hat er doch mitMutter gelebt in ganz arme Verhältnisse, aber hat äh, er hatsich gemacht, Wasser im Haus hat er gehabt, keiner im Dorfhat das gehabt und er hat gehabt. Er hat Wasser gepumpt mit

1515dem Motor aufs Dach, auf den Dach hat er Fass hingestelltgroßes, und dann runter und dann hat er son, Waschbeckennormaler konnte man damals schon kaufen, so aus so… Eisen,aber glasiert so. Also konnte man Waschbecken kaufen, hater sich gekauft Waschbecken in die Küche und da war im-

1520mer Wasser, konnte sich immer Hände waschen. Und Abflussgemacht, natürlich in Garten, da war kein äh so…I: AuffangbeckenI. A.: Ja… und dann hat er gemacht für die Kuh eine Was-serstelle dat die da konnten trinken. Und dann verschiedene

1525Kleinigkeiten, hat er sich immer wat so entwickelt. Auch aufder Arbeit viel. Und dann immer war er äh.. er war auch daVorarbeiter und hat äh, zum Beispiel hat er letztes gearbeitetwo die ganze Ernte wurde zusammengefahren, von ganzenDörfern wurde die ganze Ernte zusammengefahren und dann

1530wird sie verarbeitet und gelagert ja. Da war ja nit so das jederfür sich oder wat weiß ich, da hat man so gemacht, alle habenzusammengefahren ein großes riesiges… und da haben siedann verarbeitet den Weizen und so weiter, ja. Gemahlen undso weiter und wat da alles mit dem gemacht. Dat zu bauen,

1535er hat gearbeitet das bauen, so ein Werk ja.I: HmI. A.: Da waren manchmal Kabels, da waren um die hundertKabels drin. Und dann musste man ja jeden anschließen ( ),am Ende waren ja so viel Maschinen angeschlossen.. und so, er

1540hat immer die feine Arbeit gemacht. Anschließen und dies so.Er konnte gut Zeichnung, in der Zeichnung für Elektro konnter gut dat alles lesen.. was anschließen, dat hat er gemachtmeistens.. dat hat er auch sich selber beigebracht. Äh.. under hat, ich auch noch zuhause so eine Figur, hat er geschnitzt.

1545Hat er so eine Figur gemacht aus dem Holz, hab ich jetzt noch..mitgebracht. Dat hat paar Monate ihm seine Arbeit, hat eraber da gemacht.. nur mit einem Messer hat er so… äh ja, vom

Page 121: it - Gesellschaftbilder Und Selbstverst Russlanddeutscher Aussiedler in der Sowjetunion und in Deutschland

Interview: Irina Albert 111

Bild her. Weil er war einmal in Moskau in dem Eremitage, imMuseum und dat hat ihm gut gefallen und dann hat er das

1550 einfach aus einem Holzstück gemacht ja. Hat er aber da so, dasmusst äh… kann nit jeder, einfach so grades Holz und dannauf einmal äh dann sind zwei Personen, Mann und Frau under umarmt sie so und dann ein Stein, das so raus zu machenja.

1555 I: HmI. A.: Da muss man schon ein bisschen.. mehr haben watI: Ja, ja, kreativ sein, begabtI. A.: Und auch dat auch sehen ja… was.. er hat dat hinge-kriegt und ich hab dat auch mitgenommen als Erinnerung…

1560 Deswegen, er konnte mehr aus ihm sein, aber Schwieger-mutter hat… damals nit gemacht. Nicht gekonnt, wie auchimmer ja..I: Em, Sie haben gesagt drei Erwachsene haben sie zusammengewohnt, also Sie und IhrMann und die Schwiegermutter oder

1565 wer hat da noch?I. A.: Ja ja, ich, mein Mann und die Schwiegermutter.I: Das war noch auf dem Dorf oder in der Stadt?I. A.: Nein dat war in der Stadt. Auch im Dorf war dat, habenwir, ich bin ja zu ihnen gezogen. War ich zuerst in Miete bei

1570 einer Frau aus dem Dorf, dann bin ich zu ihnen gezogen. Aberdas war Haus, zwei Zimmer, ein Zimmer, zwei Zimmer. Dawar Küche, da hat Schwiegermutter geschlafen, da war Ofen,da stand neben Bett.I: In der Küche hat sie geschlafen?

1575 I. A.: In der Küche hat sie geschlafen. Da war nicht mehr, dawar ( ). Dat war zweite Zimmer, da haben wir Bett gehabt,auf der andere Seite Couch.. und Schrank. Dat war die ganzeMöbel, und Fernseher in der Ecke und Tisch. Und in der Küchewar Tisch, Mutter ihr Bett, Kühlschrank später gekauft und

1580 Waschbecken, das wars. Da hat man auch nit äh.. nit so vielgehabt. Meine Eltern haben besser gelebt. Ich komm aus, einbisschen ähh.. dem seine Mutter war alleine, war arm ja, diekonnte ihm nicht viel bieten. Meine Eltern ( ) auch habe,einfache Arbeiter ja, Putzfrau und auf Bau arbeiten. Aber sie

1585 haben zuhause Vieh gehalten und Garten und dann.. immergearbeitet Tag und Nacht, wat verkauft auf dem Markt, dassie konnten mehr wat bieten ja.I: Ja, jaI. A.: Und die haben dann auch schon im größeren.. so äh. so

1590 wie Rengsdorf ja, wat größerem gelebt. Meine Eltern waren..die haben schon Auto gehabt, mein Vater hat schon Autogehabt und so, zwar kleines aber trotzdem so wie Trabbi. Wardamals.. hat auch nit jeder gehabt und so ja.I: Hm hm

1595 I. A.: Und sie haben.. er war so aus arme Verhältnisse sag ichmal…I: Und.. als Sie überlegten auszureisen, Sie haben gesagt allesind schon nach Deutschland gefahren und dann kam auchbei Ihnen die Überlegung, und haben auch gesagt das Sie sich

1600 wohlgefühlt haben aber, da in der Stadt, haben Sie erwähnt,ich weiß nicht em, wie war das, hatten SieI. A.: Ja, ja schon hat man sich da eigentlich, aber da warja schon so weit mit der Zukunft, ja. Und dene Kinder watweiter zu bieten… ich konnte die Schule nit bezahlen… die.. die

1605 Kinder haben ja zum äh. da war grad, dat hat grad angefangendie Zeit wo man, alles wurde privatisiert mehr ja, alles wurdeverkauft und und Geld hat kein Wert gehabt alles, alles wie,

dat war grad die so Zeit. Und dann.. hab ich gedacht: »Ja,wann meine Kinder gehen jetzt studieren dort, ich kann denen

1610kein Studium bezahlen«, von dem Geld wat ich damals habverdient, das konnt ich nicht, das konnt ich nicht. Und dannäh, hat man ja auch gesehen, von Westen sind bessere Sachengekommen, bessere Klamotten äh was heißt bessere, damals..ja un äh… was dat Lebensmittel is so langsam, hat man schon

1615gesehen was da in Deutschland kommt ja, da musst man jawer weiß wie lang stehen und irgendwo über die Ecken immerdie Bonbons kriegen und so weiter ja, dat war ja schlimm, datschon.. ähI: Ja, hm

1620I. A.: … Und deswegen dann sind alle gegangen und dann hatman gedacht man wird – der Mensch is ja so so immer wo esbesser geht, man hat gut und will ja noch besserI: HmI. A.: Ja. Ja natürlich ich konnte da nit bezahlen dene Ausbil-

1625dung und deswegen bin ich froh das sie hier dat alles geschaffthaben, so so ja.I: Und ihre Tochter war ja auch schon fertig dort mit derSchuleI. A.: Ja ja, grad is fertig geworden.

1630I: Achso, grad fertich und dann sind sie weg oder hat sie danoch was angefangen?I. A.: Nein nein, sie hat da nix angefangenI: AchsoI. A.: hat sie da nix gemacht. Un äh (5) da war et alles so

1635schwierig mit dem alles, konnte man nix so, so mit dem mitdem Kaufen da hat dat angefangen nur alles ah… wie sagtman dann.. Spekulanten ja, alles (nur über die Spekulanten),alles konnte man nur auf dem Markt. Und dann äh.. war datLeben.. ich weiß nit, war immer so.. das war dann so immer

1640schwierig. Und ich alleine, ohne Mann, ich konnte ich nit denso viel äh.. verdienen un weil weil, ich konnte dat nit, woher,ich hab, in der Schule da war ni so gut bezahlt jaI: Hm, hmI. A.: Das war zwar gut, ich hab immer Überblick gehabt und

1645die Kinder waren bei mir und so weiter, Kontrolle über dieund so weiter, aber mit der Bezahlung hab ich schon ziemlichwenig Geld verdient ja.I: Hm hmI. A.: Un dadurch konnte man da nit so viel leisten, da war ja

1650man froh wann man dann.. ein paar Schuhe oder wat gekaufthat… Aber hat man aber auch doch gelebt. War nit nackichrumgelaufen ja. Vielleicht noch besser angezogen hat mansich auch manchmal, einmal im Jahr, aber maßgeschneidertesKleid geleistet. Und einem der da hat genäht auf deine Figur

1655ne.I: HmI. A.: … Äh… weil die Schwägerin hat im Geschäft gearbeitet,dann hat sie von dort ein bisschen wat Sachen gebracht unsdas man konnte sich.. man hat sich trotzdem immer schön

1660angezogen. Für die Verhältnisse ja. Und Vater hat da gearbeitetauf dem Bau, aber er hat auch Kontakte gehabt zu, zum Chefund dat ganze Dinge, der hat dann auch manchmal schöneSachen gebracht, zum Anziehen für mich oder Teppiche fürzuhause. Dat war ja sehr teuer

1665I: HmI. A.: und dannmusste man alles. Vater hat dat schon gebrachtun.. damals hat man die ja nur auf die Wand gehängt (lacht)

Page 122: it - Gesellschaftbilder Und Selbstverst Russlanddeutscher Aussiedler in der Sowjetunion und in Deutschland

112 anhang b Interviews und Gedächtnisprotokolle

I: (lacht)I. A.: Dat einzige äh.. da in Russland bin ich viel auf Konzerte

1670 gegangen, auf Musik wat war bei uns, Theater, was weil ichhab ja da gearbeitet. Und dann konnt ich auch an die Kartenbesser dran zu kommen. Und das war schon äh, wann ichkonnte hab ich immer, wann war und ich konnte und dat warauch nicht so ziemlich teuer, finde ich, ja. Das konnte man

1675 verkraften, das.. un wir sind oft dahingegangen. Wann watwar in der Stadt und ich konnte die Tickets bekommen, dannsind wir immer hingegangen und hier in Deutschland ja nicht.I: HmI. A.: Erstens is das schweineteuer. Ich war einmal äh… ja, bei

1680 Xaviar Naidoo.I: AjaI. A.: Es is aber ja, ziemlich teuer. Wann man einmal hin-geht sind ja sechzich Euro ja. Und wann man da, und wir sindimmer gegangen, wir haben auch früh angefangen Kinder mit-

1685 nehmen, da konnte man mitnehmen, da hat man Kind auf denSchoß genommen, dat war da so. Haben wir auf die Konzerteauch schon früh unsere Kinder angefangen mitnehmen undes… dadurch, weiß ich nich, so wie jetzt meine älteste Tochter,die arbeitet jetzt ehrenamtlichmit Jeroslawen, Jeroslawen und

1690 Haunau sind die Städte… ähI: Sind Partnerstädte?I. A.: Ja ja. Und sie arbeitet jetzt dort ehrenamtlich, die machtdas. Wann die kommen hierher macht sie mit ihnen hier undsie fährt dahin und so, die Kontakte da mit Jeroslawen.Wat sie

1695 da alles machen, und sie macht jetzt so gerne schon paar Jahre,jetzt will sie im August wieder eine Woche nach Jeroslawenfahren. Und da übersetzt sie ihnen und wat sie da alles mitdenen da macht.I: Hm

1700 I. A.: Kulturmäßig ja. Und ihre Kinder, die erzieht sie auchäh.. Kinder sind sehr beschäftigt, Ballett und Gymnastik undJudo und wat alles, so das die Kinder nit so, Langeweile habenun… auch so aktiv sind, die nimmt sie überall mit und sind,sind voll beschäftigt. Wie sie auch früher war ja (15)

1705 I: Und, Sie haben gesagt das Sie nachNorddeutschland kamenweil Ihr Bruder schon dort war. Wie hat sich das entschiedendas er dahin gekommen ist?I. A.: Wann man kommt nach Deutschland kommt man jaalles in so große…

1710 I: In diese AuffanglagerI. A.: Ja, ja. Und da, haben sie ihn einfach geschickt dahin. Ja,da wurde dat entschieden das er kommt dahin. Aus welchemGrund auch immer weiß ich nit, weil er is ja gekommen, er isja gekommen zu Besuch.

1715 I: Achso hmI. A.: Er hat aber schon Visum gehabt, da war auch schonVisum drin das er kann hier bleiben für immer. Aber amAnfang an, un er is ja dann noch so, nach der Regel das eris zu Besuch gekommen ja. Und äh, deswegen haben sie ihn

1720 dahin geschickt. Un weil wir da, da sind ja bisschen andereVerhältnisse als hier, im Norden, das is ein bisschen nicht sodicht besiedelt wie hier jaI: Ja, ja jaI. A.: und deswegen da, is schon, das wir da dahin gekommen

1725 sind, da war grad frei oder was.I: Achso, ok. Aber dann war Ihr Bruder frei hierher nachKoblenz zu kommen. Er is jetzt, also das war ihm freigestellt?

I. A.: Ja ja. Hier hat man ja keine, ne hier war ja ok. Er istdann, war ja hier Verwandtschaft, hat er gesagt: »Was soll ich

1730da?« Er hat da gelebt, aber mit der Arbeit nit so gut und sound alleine. Und dann sind sie, is er runtergezogen hier zurVerwandtschaft und wir hinterher. Das das ging alles so, heirwaren keine Probleme. Habe ja da dat ein Zimmer Notwoh-nung aufgeben, dat war ja nit so Problem. Da musste man

1735ja nicht Nachmieter oder wat haben. Aber wir sind auch, zu-erst ist der Bruder und dann bin ich und meine Eltern undmein jüngster Bruder is noch dazugekommen später. Meinjüngster Bruder, wir sind gekommen äh… im Dezember, unim März zweiundneunzich is gekommen mein Bruder, mein

1740jüngster Bruder is gekommen aus Russland. Wir haben ihnzu uns geholt, haben aber schon vorher in dem Dorf wo wirhaben gelebt eine Wohnung besorgt für ihn, haben wir schonda Leute bisschen kennengelernt und so und die haben unsgeholfen, haben gesagt: »Ja hier is Wohnung frei, kann er da

1745einziehen mit zwei Kinder.« So kleine Wohnung, aber warmöbliert alles ja. Und dann is er da, wann er is gekommen, iser direkt zu uns und direkt in die Wohnung, der hat leichtergehabt ja. Er is gekommen und direkt schon die fertige Woh-nung sogesagt. Wir haben noch in Notwohnung gelebt und

1750er direkt in der Wohnung. War zwei Zimmer, zwei Zimmer,sogar noch kleine Küche so war. Aber war in Ordnung. Unddann, sind wir hier rüber nach Koblenz, zuerst mein ältesterBruder und dann ich zu ihm, mein ältester Bruder hat sichaber direkt Haus gekauft.

1755I: Mit Familie war er oder?I. A.: Ja ja, war mit Familie. Aber äh… ja, wat weiß ich wiedat sagen, er hat auch damals nix kapiert von dem ganzenDeutschland ja, und hat fünftausend Euro gesammelt bei derVerwandtschaft, weil er ist zu einem hierher gekommen, der

1760hat schon eigene Haus gehabt, Verwandtschaft, der war schonpaar Jahre länger hier und hat schon eigene Haus gehabt ja.Und der hat den angestiftet: »Komm, Haus kaufen, so undso und wat in Miete leben, Geld ausgeben!« und so weiterund so weiter. Und dann hat er fünftausend Euro genommen

1765bei der Verwandtschaft, überall gesammelt, hat sich dat Hausgekauft in FeldkirchenI: HmI. A.: für hundertzwanzich tausend D-Mark, alte Bruchbude,und dann war das noch ein Fachwerkhaus… Und er wusste

1770nich das das is ein Fachwerkhaus ja. Und dadurch äh.. ja,haben sie ihm betrogen, haben sie ihm betrogen. Die habengewusst das er kapiert nicht und vom Gesetz kapiert nichtund haben ihm ein Fachwerkhaus verkauft. Und er konnte daja nix ändern, er musste ja so lassen wie dat is und alles nur

1775so machen wie dat is für Fach, und das kostet ja wieviel GeldI: Ja, jaI. A.: Und so is er reingefallen mit dem Haus. Und ich bindann, wann ich dann bin, bin ich auch zu ihm gezogen in datHaus. Und dann haben wir da zusammen gelebt, halbes Jahr,

1780wie lang war ich da, und dann hab ich Fritz kennengelerntund bin zum Fritz gezogen und er hat dat blöde Haus bis jetztund wird dat nit los. Weil dat kauft ja keiner.I: HmI. A.: Und da kannst ja nix verändern. Er hat ja die kleine

1785Fensterchen weg, große gemacht, »oh wirst du zahlen so vielund so viel Strafe«, wieder rein, muss ja allet so machen, wiedat früher war, kannst da nix verändern an dem Haus. Dat is

Page 123: it - Gesellschaftbilder Und Selbstverst Russlanddeutscher Aussiedler in der Sowjetunion und in Deutschland

Interview: Irina Albert 113

dat blödeste. Aber die haben, haben sie nit gefragt, die habenmündlich gefragt: »Is dat Fachwerk?« »Ne ne ne ne« Und die

1790 Leute was haben verkauft, dat war Anwalt. Und, die habendat gehabt, als Kneipe war das früher. Und sie haben dat ihmverkauft, betrogen, betrogen.I: Er hat das Haus gar nicht gesehen gehabt oder was?I. A.: Er hat dat gesehen, aber er hat doch kein Ahnung dat

1795 sowat gibt! Und in de Papiere wann et nit steht das ist keinFach, is dat nich, das so is, und dann gekauft, fertich. Unddann, man darf da nichts machen, verputzen, dat kostet schontausende von tausend wat man da muss extra Putz nehmen.Wat man da machen, muss man alles so, teuer bezahlen. Aber

1800 die sind dat los geworden. Weil das auch Anwalt is, kannstaber nich nachweisen, das du aus Russland kommst und bistbekloppt, kennst die Gesetze nit, ja. Ist aber so passiert.I: Und Fritz is, oder Ihr Partner is äh hiesiger?..also gleich,auf deutsch (lacht)

1805 I. A.: Ja, aber er hat erste Zeit immer nur auf Montage gelebt,war ich dann nur, nur Wochenende nach Hause gekommen.Er hat mir dann später auch viel natürlich geholfen, ähm.. hater gesagt, Miete am Anfang, er hat gut verdient, er hat.. warimmer auf Montage, hat sehr gut verdient ja. Hat er gesagt:

1810 »Brauchst nicht bezahlen, gib dene Kinder.« Die Kinder, diewaren in de Schule in Alzey ja, dann brauchte man überallGeld ja. Die Tochter in Alzey musste man auch die Zimmereinrichten wann sie is dahin gekommen, Zimmer, zwölf Qua-dratmeter Zimmer hat sie in Alzey gehabt. Wat haben wir

1815 zuhause gehabt, da stand Doppelbett, Zwei-Etagen-Bett warda, Tisch stand da.. haben wir solche Kissen genommen, un-ter das Bett geschmissen und solche Sitzecke da gemacht, jawar zwölf Quadratmeter. Musste man alles einrichten undirgendwie wollte man auch noch leben ja, die hat kein Bafög

1820 gekriegt. Am Anfang wann sie noch ging zur Schule in Alzey,da hat sie noch Bafög gekriegt, aber wann sie hat studiertdann hat sie kein Bafög genommen.I: HmI. A.: Hab ich der immer geholfen. Fritz hat gesagt: »Helf dene

1825 Kinder, und lass und so.« Und dann hab ich schon dene immer,die haben zwei studiert, ich hab denen die Wohnung bezahltja, so weil ich bin ja arbeiten gegangen und hat man so deneKinder muss man irgendwie helfen.I: Hm

1830 I. A.: Die hat zwar immer studiert und gearbeitet abends…Abends hat sie so ein bisschen bei gearbeitet, hat sie in derApotheke Medikamente so verteilt. Hat sie immer dat abendsdann gemacht (5). Ja dann, so weiter gelebt ja… ( ) alles für dieKinder macht. Und jetzt kommen schon mit die Enkelkinder

1835 (lacht).. jetzt weiterI: Weiter geht’s, jaI. A.: … Ja em.. soviel zu Ihrer Geschichte erst mal meineFragen, ich denke ich hab’s jetzt nachvollziehen können alles,hab’s ja nochmal (erfragt)

1840 I. A.: Ja, ich bin dann emotional ein bisschen, alles geht dasmir dann, so normal denkt man ja nicht täglich daranI: Ja ja, das is klarI. A.: wann man dann so kommt dann (lacht)…I: Hm. Und dann hätt noch n paar.. Fragen sozusagen ex-

1845 tra. Und zwar wenn Sie sich jetzt nochmal an das Leben inKasachstan zurückerinnern, an die Gesellschaft in Kasachs-tan denken und sich ein Bild von dieser Gesellschaft malen,

vor Augen haben. Was äh, wie würden Sie die beschreiben,was war den Menschen wichtig, was war wichtig es ihnen zu

1850erreichen?I. A.: (atmet aus) die Hilfsbereitschaft der Nachbarschaft fürmich.I: HmI. A.: Ja, weil ich bin alleine geblieben ohne Mann.. die Nach-

1855barn, dat dat war alles ein bisschen so en Zusammenhalt, ja.Da hat jeder jedem so, is Kleinigkeit, aber trotzdem. Dat warso, auf der Arbeit ja, is is egal, die Chefin is mir entgegenge-kommen ja, wegen meinem.. jaI: Hm hm

1860I. A.: Ah.. oder die Nachbar waren bisschen so äh, hat manso besser, hat man keine so Termine und Hemmungen gehabtbei Nachbar zu gehen oder oder wat ja. Oder ein zum andernis man ganz einfach gegangen, geht man ohne irgendwelcheTermine. Und andere Seite, jetzt mit nach der Zeit find ich,

1865vielleicht is et besser nach dene Termine, so dann kriegst duBesuch und so und so und so. Und da auf einmal standen sievor der Tür ja. Dat passiert mir jetzt auch noch manchmal,Samstag ich hier mit dem Mülleimer grad hier alles aufräu-men, steht Besuch vor der Tür morgens Samstag schon zehn

1870Uhr ja, mit vier Mann und die fragen nit äh wat hast du dagrade vor, ja auf einmal stehen sie vor der Tür.. in Russlandwar ja dat so jaI: Und was is das dann für Besuch, auch der ursprünglich ausRussland kommt?

1875I. A.: Ja natürlich. Natürlich. Mit Fritz seine Verwandtschaftis ja das nicht so das, da geht ja alles nach äh Termine sogesagtäh undmeistens die Familie trifft sich nur bei große Feiern. Beiuns is ja dat schon mehr, dass Familie öfters zusammengeht,nicht nur bei große Feiern

1880I: Hm, hmI. A.: Und einem anderen wird doch geholfen ja. Hab ichHaus gestrichen hat mein Bruder mir geholfen, wann er watzu machen hat helfen wir ihm, so ja, wenn was so ansteht.Er hat Dach gedeckt, sind wir mit alle Mann, alle Kinder

1885gekommen. Und einer gibt dem anderen, zack is dat obendat Dingen ja. A versuch mal du mit zwei Mann die Arbeitzu machen. Und, weil wir ganze Familie sind gekommen jaalle, un äh dass is ja und da is ja die Gesellschaft schon soein bisschen.. damals gewesen ja, das man hat schon einem

1890andere… so, mehr.. dat geholfen ja. Du hast dann auch zurückwat gegeben geholfen dene Leute ja, wann wat bei dene war.Da kann ich mir so vorstellen ganz alleine in die Stadt undniemand Verwandtschaft da, hundertsechzich Kilomenter, ichhab kein Auto, dann kann ich nur hinfahren einmal in der

1895Woche. Wann Wochenende war bin ich dahin gefahren. Mussich aber dahin Stunde fahren und zurück Stunde fahren. Äh..das war schon… ja, hat man die ganze Woche keine Oma undnix gehabt!I: Hm, hm

1900I. A.: Und du musst dann dein Leben mit dene Kinder und mitallem wat sie da machen in de Schule und so weiter, musst duauch irgendwie dat alles, ja. Und ach ufpassen das mit deneauch nix passiert, das sie auch nicht auf die schiefe Bahn kom-men, ne. Ist doch so. Manchmal äh, dene Kinder Schlüssel

1905einfach auf den Hals und die sind draußen rumgelaufen, ge-spielt draußen ja. Und ich bin dann gekommen später, wannsie dann schon Hort äh, war ja nur bis vierte Klasse war Hort

Page 124: it - Gesellschaftbilder Und Selbstverst Russlanddeutscher Aussiedler in der Sowjetunion und in Deutschland

114 anhang b Interviews und Gedächtnisprotokolle

ja, dann nicht mehr ja, und dann waren sie Nachmittag al-leine zuhause. Dann sind sie, haben sie schon mit, wieviele

1910 Jahre waren sie da, da haben sie mir schon wat gekocht bisich abends bin gekommen. Wann dat auch halbgebrannte Kar-toffeln waren ja, manchmal… Und da is man schon das derNachbar ein bisschen mitguckt ja, un nit so äh.. zwar in derStadt war dat schon ein bisschen äh, ja sag ich mal so, hier

1915 is ein Flur, kommt man rein und auf jeder Etage waren zweiWohnungen, da waren fünf Etagen. Da hat man sich schonein bisschen, so im Flur zusammen. A was schon in dem an-deren Haus war, achtundvierzig Wohnungen insgesamt, hatman schon nit so mitgekriegt was da bei den Nachbarn oder

1920 von draußen schon Kinder, aber schon nit so enger Kontaktgehabt.I: Hm hmI. A.: Un hier in Deutschland is ja so,jeder ja nur für sich.Is ja, ich denke mir dat is deneverloren gegangen. Und zwar,

1925 die Verwandtschaft von meinem Mann, die halten auch einbisschen.. aber schon äh, die sind jetzt alle älter, sind alle schonüber siebzich bald achtzich.. wir fahren auch zu dene ohneTermin, ja. Nur bei dene ist ein bisschen.. man kommt, mankann auch dahin kommen, dat is kein Problem äh, in Russland

1930 ist dat dann so, man stellt, wann jemand Gast kommt stelltman alles auf den Tisch. Was man selber, man stellt alleszuerst in die Ecke wann jemand kommt, ja und dann du, ja.Und in Deutschland wann man zu dene kommt, da kriegstdu nur Tasse Kaffee, nix mehr dabei, nur Tasse Kaffee…

1935 Aber ich akzeptiere den ihre Leben un, sie, meine, und wannmeine kommen, meistens, wir sitzen dann fangen wir an wathinzustellen, »wir trinken Tee« sagen wir dann ja. Und dannwird immer wat dabei gegessen ja. Weil das is bei uns so un inDeutschland, im Dorf versuchen sie ja auch hier in Rengsdorf,

1940 versuchen sie auch so die Nachbarschaftshilfe und so auch ähbeibehalten. Dat seh ich ja von den Nachbarschaft, die sindschon alle so auf Nachbarschaft ja. Nur mein Fritz, er will nit.Der will nicht von dene nix haben und selber nix geben.I: Aha

1945 I. A.: Er hat gesagt, besser nit so Kontakt, dann hast deineRuhe, gibt’s auch keine Dorfgespräche. Er is so einer Meinungja. Weil er hat immer auf Montage gelebt, er war nit zuhause,immer nur Wochenende un jetzt ja is.. Ich würde ja mehr Kon-takt mit der Nachbarschaft oder wat haben, aber er will dat nit.

1950 Er will ne, besser kein, er will dat nit haben. Mit Verwandt-schaft hat er Kontakt und so äh, aber sehr zurückgehalten.I: Hm. Und Sie halten sich dann auch zurück aus der Nach-barschaft ( )?I. A.: Ja, ich rede schon mit jedem und mit allen und er sagt:

1955 »Du bist ja schon hier bekannt, wie ein bunter Hund.« (lacht)I: (lacht)I. A.: Ich bin eben so, ein bisschen offener zu den Leuten undwat weiß ich, un er immer, ja das äh, wie sagt man immer.. erwill dat nit für sich so… er gibt nicht alles preis aus irgendwel-

1960 chen Gründen, er gibt nicht alles preis aus der Familie oder soja. Und mir war wichtich in Russland, hat mir weh getan, icherzähl allen.. und dat wird viel besser ja. Weil ich äh.. und derandere alles verschlossen, aber dat vielleicht von dem Menschzu Mensch der andere is, ob dat Russland oder wer is, der

1965 is einfach so ja. Der redet nix und dann.. und ich, ich rededarüber und dann wenn ich wat hab dann red ich (lacht) unddann weiß ich wo ich dran bin oder ja. Aber wenn man in sich

alles reinfrisst dann… (ich meine) dat is… aber in Russland dieGesellschaft da war alles so ah, eine Hand wäscht die andere

1970ja, hat man da so gesagt… Da, wer hat gearbeitet wo er waskonnte wat kriegen und dene andere geben, dat war schon( ) helfen ja.I: Hm hmI. A.: Uh der gibt mir dat, der gibt mir dat, der gibt mir das.

1975Das war so, weil das war alles so schwer zu bekommen ja.Un äh, und da war man so ein bisschen angewiesen dannauf andere vielleicht, ja. Un.. da hat man sich dann… aberäh zum Beispiel äh tauschen jetzt dat oder so verrückt, amAnfang war ich ja sehr verrückt zurück zu nach Hause weil,

1980ich wollte nicht zurück, ich wollte aber dat haben was ichda gehabt hab ja. Die Wohnung so, dat hat man ja schonvermisst. Hier bist du bei die fremde Leute, weißt nicht wohinund was und so alles ja.Aber in dat Leben zurück so wie datwar so, dat wollt ich nicht und wollt ich nie. Und ich war auch

1985niemals da zu Besuch zurück. Niemals, nein. Weil ich hab daauch keine Verwandtschaft mehr außer das dat Grab is vonmeinem Mann, das pflegt jetzt meine Freundin. Aber das ichda, so wie manche haben dann so schreckliches Heimweh, dathab ich nicht. Ja, da zurückzugehen ja. Vielleicht weil ich war

1990in dieser Zeit weg aus Russland, waren so Zeiten, schwierigweg zu kommen von dort. Da war zum Beispiel in Moskau dieganzen Banden da, die waren hinterher hinter den Deutschen,die wussten das sie fahren, dat habe sie da verschiedenes inden Bus, da waren so große Busse gefahren, am Flughafen

1995zum Beispiel. Da haben den Bussen die Reifen durch undhaben sie Geld kassiert und da verschiedene so, da hat manschon mit viel Angst zu tun gehabt ja.I: Hm hmI. A.: Und ich bin grad in der Zeit so gefahren. Und dann

2000alleine, hinter meinem Rücken die Kinder und Eltern. Dawar für mich ja keine.. un dat war schwierich von Moskauwegzukommen (zitternde Stimme). Dat war so äh, wann wirwaren weg häh… dat Visum zu machen, da musste man Tagelang Tag undNacht stehen in der Schlange bis du dran kommst

2005bei dat Visum zu machen, dat Stempel zu bekommen ja. Binich vorher gefahren mit meiner Tochter, weil Mutter hat michnicht alleine gelassen, hat gesagt: » Nimmst das (du) zu zweit.«A was konnte das Kind, siebzehn Jahre, konnte mich schützen.Aber war noch eine dabei. I: Ja, ja ja

2010I. A.: Is egal, war eine dabei. Un, dann hat die Tochter mit mirVisum machen, gefahren nach Moskau. Ja, mit Ach und Krachda dat Visum gekriegt und dann hab ich schon, wann meinBruder weg war, bin ich hingefahren mit ihm äh bis da, ja bissie sind weggeflogen ja. Und hab ichmir schon aufgeschrieben,

2015die ganze Instanz wohin muss ich dann gehen (lacht), wat ichdann zu machen hab dat ich dat bekomm. Und so weiter, allesmir aufgeschrieben, da war so eine äh… wo die Deutsche sindhingekommen und dann haben sie da übernachtet, da warenso kleine Zimmerchen, vollgesteckt mit Betten

2020I: Hier in Deutschland?I. A.: Nein in Moskau.I: Achso, achsoI. A.: Voll mit Betten, Zweistock-Betten waren, und da hatman so übernachtet. Da war alles nur Betten Betten und nur

2025Koffer Koffer ja. Weil hat man ja Ticket gekriegt umsonst ja,un äh.. das wo man da, dat Hotel wo man hat übernachtet.Manche haben ja privat, wer konnte sich außen, wer Geld hat

Page 125: it - Gesellschaftbilder Und Selbstverst Russlanddeutscher Aussiedler in der Sowjetunion und in Deutschland

Interview: Irina Albert 115

gehabt ja. Aber dat war ja schon von Deutschland und dannsind äh sind gefahren an Flughafen ja, mit dene große Busse.

2030 In der Zeit wann ich gefahren bin, da war grad so Mafiazeit.Ich ich weiß nit, dat war einfach so. Dann zum Beispiel sindwir dann, haben übernachtet da.. ich mit meine, zuerst wannwir noch gekommen sind mit dem Flugzeug aus Kasachstannach Moskau, sind wir ausgestiegen, dat war drei Uhr mor-

2035 gens war dat, sind wir ausgestiegen und stehen, ja natürlichsieht man, wir alle so angezogen, aufgeputscht aufge was wirda uns, neue Kleidung ja, wat alles, und Koffer Koffer ohneEnde, sind wir ausgestiegen und die Mafiosi direkt kommenbei und sagen sie: »Wohin fahren Sie, nachDeutschland?« Hab

2040 ich gesagt: »Nein.« »So jetzt fahren Sie mit uns, wir fahreneuch dahin… und sie bezahlen uns so viel und so viel Geld«,tausend Geld, wat weiß ichI: Wohin?I. A.: Sie fahren uns dahin, in die äh

2045 I: In diese Lager da oder was?I. A.: Nein nein, nit Lager, in den Hotel, in dat Hotel.I: Achso.I. A.: Hab ich gesagt: »Nein wir fahren nirgendwo hin undwir fahren nicht nach Deutschland«, ja. Und sie sagt: »Doch

2050 Sie fahren nach Deutschland und Sie fahren mit uns, sonstkommen Sie hier aus dem Flughafen nit raus.« Und ich sag:»Nein wir fahren nicht nach Deutschland, und nirgendwo.«Und stehen wir am Flughafen so, mitten drin so, wat heißtmittendrin.. stehen wir so meine Familie, Vater, Mutter, die

2055 zwei Kinder und noch zwei Begleiter waren da und ich. Unddie Mafiosi so rum um uns. Sagen: »Sie kommen hier nitraus, wenn sie dat nit bezahlen und fahren mit uns.« Undich hab gesagt: »Nein wir fahren nicht nach Deutschland.«Hab ich gesagt: »So jetzt verhalten wir uns ganz ruhich, und

2060 wir müssen die loswerden.« Da stehen so paar Mann, weißt,und laufen so rum un ja, du kannst nicht Polizei rufen oderwas, du hast einfach Angst, ja, mitten in der Nacht.. Hab ichgesagt: »So, bleiben wir ruhich«, un wir stehen hier rum so unhin und her und gucken hin un da und so weiter. Und dann

2065 ab sechs Uhr, wusst ich ja schon vorher, da nit weit is, Zugfährt, mit dem Zug konnte man fahren dahin in dat Hotel, datwusst ich ja.. Weil ich war ja schon vorher, hab mir dat ja allesaufgeschrieben. Und dann haben wir gewartet un wir sind dagestanden, wir sind nit vom Fleck weg, einfach uns so, und

2070 hin und her so, (weißt du), in dieMitte. Und die, immer umunsrund und rund und so, rum gelaufen weißt du.. dat war, datwar, dat war mit so viel Angst verbunden, vielleicht deswegenbin ich ja auch so ja. Weil ich an das, an die Zeit dat denke,dat war oah total scheiße (gepresste Stimme). Is.. und dann

2075 sechs Uhr, hab ich jetzt gesagt: »So, jetzt müssen wir laufen!«aber wie, alle.. hinterher schnell und die haben dann schonnachgelassen auf uns, so, weil immer sind ja Flüge gekommen,und die haben dann gemerkt das is bei uns is nichts zu holenoder was ja. Ich würde, ichwürde ja dat Geld Geld vielleicht

2080 gerne bezahlen aber ich wusste nich, is ja nacht, wohin siemich fahren, weiß ich ja nit, wat sie mit uns machen weißich nit, weißt du. Dann hat man Angst gehabt die nehmendie dat letzte ab und dann stehst du überhaupt da, ja.I: Hm

2085 I. A.: Und dann hab ich gesagt: »Ne, ich nicht, ich fahr nit.«Manche die waren ein bisschen anders, die sind wat weiß ich,mit in Taxi eingestiegen und gefahren und so. Ich aber, ich

weiß nit wohin sie mich fahren nachts. Und da hat man sovieles gehört, was sie haben so angestellt ja. Ausgeraubt und

2090dann, weißt du sowat, denk ich dann, weißt.I: HmI. A.: Weil ich war dat in der Familie, alles is ja , war wat ichhab gesagt, mussten die eben machen. Die wussten überhauptvon nix. Dann sind wir schnell auf dem, in Zug rein, dann

2095haben sie uns laufen lassen, weißt. Und gehen wir so, dieTaschen, die schweren noch, bekloppt warn wir noch, hat manso viel genommen, hat man, was weiß ich. Schleppen, und dernimmt dir grad so aus der Hand dein Koffer und sagt: »Ichhelfe, ich helfe. Und ich so: Ich brauch keine Hilfe!« Und er:

2100»Komm komm!« und der zieht dir den Koffer aus der Hand(atmet laut ein) owei owei. Naja, sind wir in Zug gekommenI: Mit den Koffern?I. A.: Ja mit den Koffern ja, und.. dann sind wir weiter ge-fahren und sind dann dahin gekommen. Da übernachtet dort.

2105Und dann war wieder dat ganze morgens wie man die, anan Flughafen kommt. Zuerst haben sich hingestellt Taxi, vondene Mafiosi, dann die Busse, und die haben gesagt: »Bis dieAutos vorne nit voll sind, fährt kein Bus weg und keiner steigtin Bus ein.« So, jetzt laufen alle, die Nerven sind auf hundert-

2110achtzich ja. Die lassen dich nit in Bus bis sie nich die Autosvoll machen da, was dene die Leute bezahlen, ja. Und wanndu verpasst den Flug in Deutschland weißt du auch nit ja wie,wie willst du dann da weiter alles machen ja. Weißt ja nit, mitso viel, mit so viel Angst mit so viel Angst.

2115I: Ja jaI. A.: Und dann, wie auch immer sind die voll geworden, dieAutos, sind die weggefahren. Wir in die Busse rein, haben siedann Bus, durfte man rein und dann nach Deutschland sindgefahren. Und deswegen hab ich so eine Angst zurückfahren,

2120von dem ganzen, was da mir so is passiert ja.I: HmI. A.: Dat war.. die haben einfach dene großen Bussen Reifezerstochen und dann sind sie in Bus rein, da musste sie allenerstmal abkassieren, und die Leute haben Häuser verkauft,

2125Autos verkauft, wir haben drei Häuser verkauft, drei Häu-ser. Mein Vater, meine Brüder beide ja, und meine Wohnung.Und ja, dann natürlich wat gekauft, Gold oder wat, sowatgekauft was man sich früher würde nie im Leben kaufen. Undda musste man äh, dat haben ja alle so gemacht ja. Wer wem

2130konnte jemandem hinterlassen und Verwandtschaft verteilt,oder abgegeben dat ganze. Äh, wie man konnte ja.. Und danngekauft für Deutschland zu fahren so, so teure Sachen, dannnachDeutschland gekommen und die Kinder wollten dat über-haupt nit anziehen, haben alles weg und haben beim Roten

2135Kreuz Klamotten geholt und angezogen, man wollte ja nichtauffallen.I: HmI. A.: Weil die Klamotten waren ja anders da. Dort habensie so ein Haufen Geld gekostet wat wir haben bezahlt. Habe

2140gesagt: »Kannst ja nicht nachDeutschland so fahren, musstdich ja so fein anziehen«, und wat hast du angezogen.. muss-test dann die ganze teure Sachen alles weg und hier den Mistvom Roten Kreuz nehmen anziehen und hast dich wohl ge-fühlt, weil du warst dann, bist schon auf die Straße nit so.. äh

2145sonst hat sich ja jeder da, so guckt sich ja jeder um und dannja noch mehr ja, die Klamotten dann noch sind so. Damalswaren ja die Jeansröcke da so genähte und so und alles, oder

Page 126: it - Gesellschaftbilder Und Selbstverst Russlanddeutscher Aussiedler in der Sowjetunion und in Deutschland

116 anhang b Interviews und Gedächtnisprotokolle

die Stiefel für die Kinder da solche. (atmet laut aus) Dat warschon.. aber bin rübergekommen mit so Schwierigkeiten da

2150 im Moskau.I: Hm hmI. A.: Manche haben privat da gelebt und die haben dat über-haupt so nit mitgekriegt ja. Oder haben sie, sind sie vielleichtandere Zeit gefahren ja. Und in der Zeit, wann wir sind ge-

2155 fahren dann war dat so… Dann haben wir noch ein bisschenäh man konnte damals bei uns, konnte man in Taschkent, inTaschkent konnte man abgeben äh.. so Kiste gemacht wurden,in so und so Maßen, man konnte wat in die Kisten machenund nachDeutschland rüberschicken, ja. Weil wir habe ja drei

2160 Häuser verkauft un un Autos, drei Autos, dat war schon aucheine Menge Geld. Bin auf den Markt gegangen, so viel Geldwar bei mir in der Tasche, so viel Geld war, dat hat aber, datwar aber nix. Dann konnt ich nix kaufen für dat Geld. Aberdat war ja unser Leben, wollten doch nit alles wegschmeißen,

2165 dat hat man ja gesammelt Jahre lang, ja. Mein Mann undich, haben wir gesammelt damals fünftausend Rubel, wolltenAuto grad kaufe von ihm sein Tod und er hat grad angefangenFührerschein zu machen, und dann is et passiert. Und er hatgesagt noch vor dem Tod.. so, einfach hat er gesagt: »Will ich

2170 schon nicht mehr schwarz immer arbeiten«, jeden Samstag ha-ben wir noch mit dem schwarz gearbeitet, mit meinem Mannja da, Wochenende, Geld zu verdienen das man Auto sichkonnte kaufen. Wat heißt schwarz, ja hat man noch nebenbeihat man gearbeitet.

2175 I: HmI. A.: Und er hat dat so gesagt: »Ich will dat nit mehr. Ge-nug. Ich leg dat Geld aufs Buch, dat reicht für die Kinderfür Ausbildung zu machen.« Stell dir vor, so viel Wert wardas damals, die fünftausend, das man konnte dann die Aus-

2180 bildung machen für dat Geld. Und nachher, wann dat is mitmeinem Mann passiert, hab ich gesagt: »Er wollte dat Geldfür die Ausbildung. Lass ich.« Hab ich auf Sparbuch angelegt,dass wenn die Kinder groß sind, dann können sie dat Geldvom Vater für Ausbildung. Wat war dann nachher war dat

2185 siebenunhalbtausend (weinerlich) und für das Geld, für diesiebenunhalbtausend konnte ich – da war anderthalbtausendhat so eine Jacke gekostetI: AchI. A.: Ja, stell dir vor, Wert von damals und Wert von.. un

2190 ich hab dat hingelegt, hab gedacht ich mach wat Gutes deneKinder, Ausbildung oder heiraten oder wat, würde damalsreichen dat Geld für äh.. und dat, nachher hat dat Geld ja soschnell Wert verloren ja. Und für die Häuser, für unsere habensie ja auch nix gegeben ja. Un ja, dann war dat so. Aber man

2195 hat ja da dat ganze Leben so gesagt aufgegeben, ja ich habgebracht rüber viel Bücher. Viel Bücher hab ich gebracht.. paarTeppiche haben wir gebracht, Geschirr haben wir gebracht,Bettdecken und Kissen, sowat haben wir, so Haushalt ja. Unddat hat uns auch schon gut geholfen, wenn wir dat, dann

2200 sind die Container gekommen und un ich hab noch Klaviergebracht, Klavier konnt ich noch einpacken, aber das Klavierbeim Umzug is kaputt gegangen.I: Oh, schadeI. A.: Ja, is kaputt gegangen und dann, und dann in Notwoh-

2205 nung wohin mit dem Klavier. Dann war kaputt und dann hateine Lehrerin mir dat abgekauft da oben. Von andere Seite warich froh das, aber jetzt zum Beispiel würd ich dat nit mehr ver-

kaufen ja. Aber damals war ich froh das ich dat losgewordenbin, dat schwere Teil wohin.. Dat würde schon eine schöne

2210Erinnerung ja, dat Belarus, dat waren noch die gute Klaviersun..I: HmI. A.: Aja un.. dann hat man da so gelebt aber… die Gesell-schaft hat auch dort in Russland so verändert letzte Zeit ja,

2215alles alles wurde so schwierigI: Also zu Ihrer Zeit, als Sie noch dort waren?I. A.: Ja ja, ja ja, wie jetzt is weiß ich nit, ich war ja nit mehrdort. Ich meine dat war dann so, hat man vom Westen watgehört, dann sind die Leute in Urlaub gefahren, in ja, da war

2220ja dat nit so Urlaub oder was, was man da hat gesehen vomWesten die guten Sachen ja, hat man von irgendwann einbisschen paar Bonbons gekriegt, Kitekat oder noch wat. Daweiß ich noch, mein Vater war einmal in Kur, hat er Mannkennengelernt aus Deutschland, hat dann gebracht die kleine

2225Bifi-Salami, hat er gebracht, und dann die Bounty und Kitekatund noch da solche wat. Und dann haben wir die geteilt, jederwollt ja probieren, haben wir ja die Wurst geteilt auf zehnLeute oder wieviel (lacht) das jeder so ein Stückchen bekam,wie dat schmeckt. Und natürlich hat ja dat so geschmeckt als,

2230wat weiß ich und die ganze Bonbons, dat war ja, dat war janicht ja.I: Hm hmI. A.: Und dann hat man gesagt, ja wat halten wir uns hierfest, weil da erwartet dichvielleicht besseres Leben ja. Und

2235der Mensch is so, man will ja äh, und dann hat man noch, dieEltern haben dann noch immer gesagt: »Wir sind ja Deutsche.Wir sind ja Deutsche.« Dann hat man gesagt: »Ja, muss manhin, wannalle fahren.«I: Hm. Und in der Gesellschaft, wenn Sie nochmal darüber

2240nachdenken, wer würden Sie sagen, wer waren so die in An-führungszeichen Verlierer, wer waren die Gewinner in.. Ver-stehen Sie was ich meine?I. A.: In inI: In Kasachstan damals so… Naja, es gibt in der Gesellschaft

2245immer, wo man sagt, ok das sind die, die haben’s nicht so gutoder denen geht’s von vornherein irgendwie.. schlecht und esgibt welche dieI. A.: Aber die Deutsche haben sich immer aufgerappelt…I: Allgemein mein ich jetzt, also die ganze Gesellschaft dort,

2250nicht nur die Deutschen.I. A.: Allgemein? Ja äh, da waren ja, achso, damals war jaso, das die Deu die da, die Gesellschaft hat sich ja gefühltals Gewinner, ja. Die waren ja starker und alles die ganzenBomben und wat alles da, Raketen und so weiter.. Die haben

2255sich ja nit da, gefühlt als Verlierer. Wir haben ein Nachbarngehabt, Russe war er, und war im Krieg und so weiter ja…und nachher wann et hat angefangen alle nach Deutschlandzu fahren und so, und jetzt hat ihm seine Tochter geheiratetein Deutschen und is rüber gekommen. Und dann hat er auch

2260schon damals gesagt ja, das damals schon in Deutschland wa-ren schon Lebensmittel viel bessere im Krieg, unsere Soldaten,die Russen Soldaten, wann sie haben wat abgekriegt von Deut-schen, da wat habe sie eingenommen, Konserven oder wat,dat war alles, weißt du. Und die wurden auch besser verpflegt,

2265die deutschen Soldaten als die russische Soldaten. Die habenda schon, aberI: Ich glaub em..

Page 127: it - Gesellschaftbilder Und Selbstverst Russlanddeutscher Aussiedler in der Sowjetunion und in Deutschland

Interview: Irina Albert 117

I. A.: Falsch jaI: Ne ne, nicht falsch aber vielleicht, mein ich, ich mein noch-

2270 mal, vielleicht noch’n besseres Beispiel, zum Beispiel, alsosozial gedachtI. A.: JaI: Wer sind die Verlierer, wer sind die Gewinner in der Ge-sellschaft. Wer bekommt die besseren Arbeitsplätze oder Aus-

2275 bildungsplätze, wer kommt an die bessere Wohnung und soweiter, wer hat’s da eher schwer, wem (gelingt’s) leichter?I. A.: Aja, dat war ja, dat war ja von vorne von vornerein datdie Kasachen haben am besten alles gekriegt. Die Kasachendie haben ja, soviel und soviel Prozent mussten sie in der

2280 Hochschule Kasachen aufnehmen.. Ja, dat war so, und dieDeutschen, die mussten sich ja da ganz hinten anstellen. (Oune) da mussten sie schon ganz gute Noten haben oder wat wieauch immer.. Mit der mit dem Schul, mit dem, dat war schonund die Arbeitsplätze ja, da waren ja im Abkom, dat heißt wie

2285 in der Regierung da, da war ja auch in Kasachstan, da habenja auch die Kasachen, die sind überall besser drangekommen.I: HmI. A.: Und die Deutsche, die mussten sich dat alles erarbeiten.Oder ja äh, sind alles wieder Kommunisten geworden. Wann

2290 du warst nicht Kommunist, konntest du dich auch nicht weiteräh..I: weiterkommenI. A.: ja weiterkommen. Nur wann du bist dann Kommunistgeworden, dann konntest du wat erreichen. In dem Sinne

2295 wenn du schon weiter in die Regierung und so weiter gehst,dann musst du äh.. Und wer war da, die haben da bessere, werhat dat mitgemacht – und da brauchte man nit viel – Scheinausfüllen und dahin gehen regelmäßig ja, da warst du drin..I: in der Partei oder was?

2300 I. A.: in der Partei ja. Und wer in der Partei war, der hat dat jada überall bessere äh..konnte auch besser dran an die Arbeitkommen äh.. und alles mögliche ja.. Ich muss auf Toilette.Mach dat Ding aus.I. A.: Äh Kasachen und andere Nationalitäten, da durfte man

2305 ja nix.. äh hat man ja auch so, das man zusammen, pabratimehat man gesagt, alle Nationalitäten alle zusammen, da hatman auch nit so.. öffentlich ausgegrenzt jemand ja.I: HmI. A.: Dat durft man ja auch nit machen, öffentlich hat man

2310 ja dat auch nit gemacht. Nur da waren solchen Vorschriften,soviel und soviel, ja.. das mit der Schule, mit dene Ausbildung,das war ja schon, die wurden bevorzugt, überall wurden siebevorzugt. Is egal, in den Schulen musste man soviel und so-viel von dene nehmen und dann, ja… Und ich hab ja gearbeitet

2315 in der Schule, bei uns waren von die ganze Stadt Kinder ge-kommen ja. Weil dat war Schule von zweite Klasse, wo manhat Englisch von zweite Klasse. Deswegen dat war die besteSchule in die ganze Stadt. Und zu uns sind gekommen Kinderammeisten äh… da waren schon Eltern wat… nicht soeinfache

2320 Arbeiter sag ich mal. Äh Schule ging ja da nach Region ja, undbei uns sind sie gegangen von der ganzen Stadt sind Kindergekommen ja.I: Achso ja. War nicht nach Region aufgeteilt.I. A.: Ja ja nicht nach Region. Da haben sie die Kinder in die

2325 erste Klasse nit einfach so genommen alles was kommt. DieKinder mussten kommen und mussten so ein Wettbewerbmachen. So, dann wurden sie erst genommen. Wurden sie

gefragt, mussten sie ein bisschen Buchstaben und so, und dannäh, hat man dat Kind genommen oder nicht in die Schule, in

2330die erste Klasse.I: Achso.I. A.: Ja ja, musst man schon machen in der ersten Klasse sonTest… un äh, die Kinder was haben in der Nähe gewohnt, diemusste man schon nehmen ja. Aber meistens sind Kinder von

2335außerhalb gekommen, da waren schon ausgewählte Kinder,da waren ja meist nit so ausgewählte Kinder wie ausgewählteEltern ja.I: HmI. A.: Wann die Eltern sind gekommen von Partei wat weiß ich,

2340habenein Namen oder ein Posten, die wurden auchgenommenja. Weil äh die Eltern haben da auch sehr viel Einfluss auf dieSchule gehabt. Auf die Gelder von der Schule, weil da mussteman die Schule selber renovieren und so weiter ja. Da mussteman sehen, de Schuldirektor, woher die Farbe kommt, woher

2345dat ganze kommt.. oder die Stühle oder dat alles ja. Und dadurch die Eltern von wo anders da, nicht nur, zusätzlich ja,hat er ja dann da ja auch andere Gelder bekommen und wasvon den anderen Betrieben, weißt du. Lackierfabrik oder was,wat wurde dene wenn die zehn Eimer Farbe geben da, so

2350ja, der Schule wat Gutes. Aber dat Kind lernt ja da, in dieseSchule, verstehst. Und dadurch war ja so ein bisschen dieganze Gesellschaft in der Schule, die ganze Eltern die warenschon ein bisschen alle… Leute was in der Stadt ein bisschen..I: Die haben sich dann auch da engagiert, die Eltern?

2355I. A.: Ja, ja ja. (Die auch) so, dat war dann schon wat besseresja.I: Und haben die dann auch Entscheidungen beeinflusst?I. A.: Äh.. ja, kommt drauf an welche. Ja in den Noten..vielleicht äh hat man da mehr äh mehr geachtet auf dem Kind.

2360Da bei den Russen war so, wer schlecht is, dem hat man immergegeben den äh Nach äh Unterricht oder so, nach der Schuleund so. Vielleicht hat in dieses sich ein bisschen ä mitgeholfenoder was ja. Aber äh, oder auch die Kinder sind schon, wannsie schon aus so eine Familie kommen, dann sind sie schon

2365auch motiviert anders da, ja, die Kinder. Als wo alles läuftwie et is, so ja, wenn nit heute dann morgen. Dat is ja allesirgendwie so zusammen ja.I: Ja, das stimmt.I. A.: Dat war aber so in der Schule wo ich hab gearbeitet…

2370Und die Kinder auch solche ja, das… die müssen dann auchmehr leisten als die anderen in den anderen Schulen ja.I: Achso, man hat auch mehr gefordert.I. A.: Ja ja, man hat auch mehr gefordert ja. Waren auch nochso andere wat mehr mussten lernen, nicht nur Englisch, auch

2375Mathematik und so wat anderes…I: Em… und war’s denMenschen in Kasachstan.. was schätzenSie ein oder wie wichtig war denen, irgendwie politisch sozialoder gesellschaftlich aktiv zu sein? Haben Sie ja schon einbisschen angesprochen.. aber vielleicht nochmal… so

2380I. A.: Direkt mit der Politik, hab ich ja da nit so viel zu tungehabt, ich weiß et nit wie.. ja is man da zur Wahl gegangen,aber (5) die Wahl, die war ja auch so komisch.I: (lacht)I. A.: Ja, die Wahl, die war ja so komisch. Da hat man nit viel

2385gehabt zum auszuwählen, das wurde gesagt und dat mussteman wählen, hat man die Urne genommen – hab ja da sonbisschen mitgeholfen – is man dahin gefahren abends, wer da

Page 128: it - Gesellschaftbilder Und Selbstverst Russlanddeutscher Aussiedler in der Sowjetunion und in Deutschland

118 anhang b Interviews und Gedächtnisprotokolle

hat nit gewählt ja. Is man zu dene nachHause gefahrenmit derUrne, einfach dat Dinge rein geschmissen und das war’s, ja…

2390 Da war ja nit viel Parteien was man da, ja.. das war ja nur fürabzuhaken. Ich hab damals dat so verstanden.. Da war ja nitso ein Parteikampf wie hier jetzt zum Beispiel (un ein bisschenso öffentlich), dat war ja damals nit so. Jetzt is ja da auch einbisschen anders da, aber trotzdem… Ich weiß noch mit der

2395 Urne is man gegangen bei de (lacht), wer is nicht gekommen,und dann hier rein, »Werf rein!«, das war’s, das sind alteMenschen die.. ja… Eigentlich dat muss man schon sich, einbisschen selber auseinandersetzen dat mit ganze Parteien da..wer was, muss man schon beobachten und jahrelang daa was

2400 wer wat macht, ja. Sonst.. is ja das schwierig ziemlich (lacht).I: Ja, ja ja. Und em, Sie haben zumBeispiel erzählt Ihre Tochtermacht jetzt ehrenamtlich diese Städtepartnerschaft da. Gab esauch irgendwas in die, oder nich nich unbedingt was RichtungKultur aber halt allgemein son Ehrenamt äh, wo man, dann

2405 früher in Kasachstan, gab es solche Sachen auch wo man sichirgendwie außerhalb nochI. A.: ehrenamtlich konnte was machen?I: Ja so irgendwie.I. A.: Ich da da war äh… so genau ehrenamtlich, ich glaube

2410 hier mehr, machen die ehrenamtlich als dort, ja. Oder oderhat man dat damals so nit verstanden.. hm da hat man ja auchgemacht mit den anderen Städten sowat jaI: HmI. A.: Aber ich genau, wer dat alles organisiert so, ob dat ehren-

2415 amtlich war oder wat, aber man hat doch die so Partnerschaftmit anderen Städten gehabt.I: Hm, ja ich mein jetzt nicht nur Partnerschaft, hier gibt’sja sehr viele auch Organisationen die irgendwie was machenund.. zum Beispiel

2420 I. A.: Nein nein, da waren die nicht, ich ich weiß et nit.. ZumBeispiel hier, wieviel is hier mit Behinderte oder so wat ja.Äh, da da hat man dat überhaupt so nit gesehen, das da soviel Behinderte, da hat man überhaupt.. ich weiß nit, da hatma dat noch nit nicht so gehesen… So un… viele machen ja..

2425 Verschiedenes ehrenamtlich hier… ich weiß et nit… ich weißet nitI: Gut, haben Sie nicht so mitbekommen.I. A.: Ja, wat ich hab äh, oder hab ich nit mitbekommen oder,wat ich hab zum Beispiel.. wat heißt ehrenamtlich, hab ich in

2430 der Schule, hab ich da gearbeitet, hab ich gemacht zum Bei-spiel wann jemand in Rente geht ja, musst ich dene Papiere– da war so bei uns – hab ich die Papiere dene alles gemacht.Dahin und so geregelt und wie und was, manche von uns,Lehrer sind in Rente gegangen oder Putzfrau oder wat, und

2435 ich hab die Papiere genommen, hab die ( ) und hab dat daso gemacht.Dat war da so. Das war aber, alles musst ich allesehrenamtlich machen. Oder, eine hat Kind geboren, musst ichmich um das kümmern, sie besuchen und so weiter, wat kau-fen. Oder eine ist krank, musst ich mich dadran kümmern, so

2440 die is ja krank, schon im Krankenhaus besuchen und so weiter.Dat hab ich auch ehrenamtlich dat gemacht, ja. Oder nochirgendwelche da so Veranstaltungen, jemand hat da runde Da-tum Geburtstag, haben wir wat gemacht. Und ich hab dann,ich war so’n bisschen, Bibliotheker waren so, die Bücherei so

2445 ein bisschen wie ein Zentrum, ja. Und dann wurde da auchso, manchmal so.. wat so kleine Sachen, aber da wurd sichgetroffen und da so wat gemacht ja.

I: HmI. A.: Dann sind sie alle zu mir gekommen, eine hat zum

2450Beispiel geboren, dann bringt mir jeder da zwei Rubel oderwat sammeln wir und kaufen wat. Dat hat sich alles bei mirabgespielt ja.I: Ah ok, Sie waren die Sammelstelle.I. A.: Ja ja, ich war da so für die ganze Sachen, für Rente, für

2455die Kranken oder noch so wat ja. Hat man sich da bei mir wieInformation, war.. und dann, ja, dat war auch ehrenamtlichja. Hat man ja nit… hat man dann so gemacht.I: Hm. Die Leute kamen zu Ihnen, auf Sie zu wenn sie Fragenhatten und em Sie haben ihnen irgendwie geholfen oder hat

2460sich da eine ganze Gruppe getroffen undI. A.: Ja äh, manche ab und zu haben so sag ich mal, dat warja extra in der Schule, zwischen den Lehrern da wurde, einmalim Jahr wird ja gesagt der is für das und das und das verant-wortlich, da wird ja schon so aufgeteilt ja. Und dann wussten

2465sie alle so, ich war ja immer da drin, und dann war ja datso, haben wir uns getroffen was man machen kann oder wassteht vor, irgendwelche so Veranstaltungen und dann so beiKleinigkeiten dann äh hat die Sekretärin gesagt: »Die is krank«und so, weil ich hab engen Kontakt mit der Direktorin gehabt,

2470mit der Sekretärin, dat war ja dann schon.. so, muss man maldie besuchen dann naja ne. Da hat man schon besucht Men-schen mehr, wann wer krank war, die Arbeitskollegen habenimmer besucht.I: Hm

2475I. A.: Dat war so, dat war so.. Hat man schon so…I: Und diese Aufgaben von denen Sie grad gesprochen haben,die aufgeteilt wurden, waren das Aufgaben vom Beruf oderder Arbeit oder waren das Aufgaben, nochmalI. A.: Dat is doch privat.

2480I: Also es waren private Aufgaben.I. A.: Ja, wann jemand krank is, hat doch mit Beruf nix zutunI: Ne ne, klarI. A.: oder wann jemand hat Kind gekriegt ja, oder oder sind

2485wir dann auf eine Hochzeit, einer hat geheiratet, sind wiralle dahin, sind eingeladen, dann musste man ja dat Geldsammeln. Das waren auch private Sachen ja, das war ja dannnit beruflich.I: Em.. ich bin bald fertig..

2490I. A.: Ja ja, ich muss auch gehen, wir haben Fortbildung, mussich gehen auf der Arbeit, um ein Uhr muss ich gehen.I: Em noch, wie war das Leben als Deutsche, oder wie wardas Leben für die Deutschen dort? Können Sie dazu vielleichtnoch kurz was

2495I. A.: Ja weil, weil äh wo ich hab gelebt und ich, sag ich schonwir waren ja eine Familie auf der Straße Deutsche ja.. und dawar man nit so, wir waren angenommen und nit ausgegrenztauf der, und wann ich dann in der Stadt war da, (weil wir)ja in der Stadt gelebt, da hab ich dat Gefühl nicht wat.. ich

2500hab ja zwischen der ganzen Masse gelebt, da waren alle Na-tionalitäten waren da und ich hab so in so’ner Wohnsiedlungwo da… so Hochhäuser waren, da war alles, alle Nationalitä-ten waren da. Und dann hab ich, kann ich dat jetzt nicht sogenau, vielleicht wo Deutsche haben so Dörfer gelebt, waren

2505nur Deutsche und so, dat kann man vielleicht wat anderessagen, aber wo ich hab gelebt, ich hab dat.. dat hat man so nitgemerkt.

Page 129: it - Gesellschaftbilder Und Selbstverst Russlanddeutscher Aussiedler in der Sowjetunion und in Deutschland

Interview: Irina Albert 119

I: Ok, es war nicht relevant.I. A.: Ja, nein nein, dat war, für mich dat war nit. Ich war nur

2510 da noch für mich so selber stolz dat ich dann nachher Deutschewar ja. Später, wann ich dann schon konnte ein verstehen einbisschen von der Sprache mit Eltern und so. Dann hat dat allesmit Deutschland angefangen und so weiter. AberI: Hm, und wie is das umgekehrt dann hier als Aussiedler zu

2515 leben in Deutschland, wie war oder ist das?I. A.: Ja, am Anfang an auf der Knopffabrik hat mich schon..dat äh oft äh geärgert und beschäftigt ja, weil man wurdeja als Russe abgestempelt. Man hat ja nit gesagt ja, dat warja alles Russen und so weiter und ich hab ja immer gedacht,

2520 ich bin ja keine Russin. Und zum Beispiel, wir haben einegehabt äh die, junges Mädchen auf der Arbeit die war ausTunesien, aber is als Kind adoptiert worden. Natürlich konntesie perfekt deutsch sprechen und konnte reden ja, und ich saßja da manchmal äh.. war schon schwierig ja.

2525 I: HmI. A.: .. Ja,»Wat seit ihr für Deutsche, versteht ja nix!« ja.Und dann hat man schon sich so Gedanken gemacht, du fühlstdich als Deutsche und von andere Seite bist ja irgendwie aus-gegrenzt, weil du verstehst ja die Sprache nit, das ist ja dat

2530 wichtigste, das man die Sprache, wann man die Sprache nitbeherrscht äh, kommt man auch nit weiter. Und aber äh meineFamilie und meine Kinder haben dat so, haben direkt angefan-gen Deutsch zu sprechen und.. sich nit so.. abgeknabbelt wiemanche dat machen ja, äh und deswegen hat man da so nit

2535 so, keine, keine so massive Probleme sag ich mal so. Aber ähis schon schwierig wenn man sich nicht so ausdrücken kannwie man will manchmal ja.I: Hm, jaI. A.: Oder man versteht nicht wieso wat du sagen willst ja

2540 und wirst ja einfach abgestempelt. Die Russen die kapieren janit.. so allet, dat is schon ein bisschen frustrierend ab und zu ja.In der Schule war bei uns so äh, war eine, die war ein bisschennoch älter.. und die hat scheinbar nix gemacht zuhause und nixgelernt und die hat sich immer gewundert warum wir haben

2545 trotzdem eine drei gekriegt und sie immer eine sechs undfünf ja!I: Wo, in welcher Schule?I. A.: Ja hier, wo ich die Altenpflege hab gemacht.I: Ah, ok.

2550 I. A.: Weißt du dat, hat sie sich schon ein bisschen immer..»Die haben wieder schon drei!« ja. Un un un sie wiederein sechs oder fünf ja. Aja weil wir haben gelernt, is egalob auswendich oder wie auch immer wie wir konnten, aberwir haben dat (gelernt) und die Lehrer haben dat gesehen dat

2555 wir wussten um was dat geht. Aber wann man als Deutscheaufgewachsen und sitzt man da und weiß es nicht um was esgeht, und denkt man kommt ja durch weil man Deutsche is..ja.. dat is.. manchmal, weißt du.. em… aber die, die haben jaauch gesehen in der Schule zum Beispiel unser Fleiß ja, wie

2560 wir da fleißich waren ja… aber sch, na dat is alles so eine(lacht), einer denkt der andere is immer im Vorzug äh, datis in die Menschheit so ja vielleicht, und ja, man denkt dasder andere is immer, die Deutschen denken die Russen sindalle hier bevorzugt ja, die kriegen alles, wie sagt man, in den

2565 Hintern geschoben bekommen ja. In die Wirklichkeit mussman (gar), ich hab keine Wochenenden gehabt, kein nix, ichhab keine Familie, hab ich gesagt: »Ich muss lernen!«, Tag

und Nacht nur gelernt! Ja, Besuch will kommen, »Nein, ichmuss Arbeit schreiben!«

2570I: HmI. A.: Un so hab ich durchgehalten die drei Jahre, wann ichdat würde nit machen.. äh.. ne… Aber, naja ( ) die Sprachehat schon Vieles in sich. Wann man die will gut beherrschendann gibt man auch, vielleicht deswegen haben wir auch dort

2575auch nit deutsch sprechen wollen damals ja, weil wir wolltenja auch nit auffallen und wollten auch nit mit Akzent sprechenwie meine Mutter, wollten ja auch richtig sprechen russisch,das man nit merkt das du äh kein Russe bist ja.I: Hm hm

2580I. A.: .. NajaI: Em, noch ne letzte abschließende Frage. Was sind, Sie habeneine Gesellschaft in Kasachstan kennengelernt und hier inDeutschland, was sind für Sie die bedeutenden, die wichtigenUnterschiede und was bedeutet das für Sie persönlich?

2585I. A.: … Ach weiß ich nit, schwierige FrageI: Das stimmt, ja.I. A.: .. die ganze Gesellschaft beurteilenI: Naja aus Ihrer Sicht natürlich.I. A.: Ja ja… Bei den Deutschen ist viel verloren gegangen,

2590meine ich äh.. die haben den Zusammenhalt nicht mehr ja,für die, die sagen zwar das dene bedeutet die Familie viel,aber äh.. da merkt man manchmal nit viel ja.. aber dat kannauch in jeder Gesellschaft… dat kommt langsam bei uns auchso.. das man sich auseinander lebt, weil man is ja auch nit so

2595zusammen, und wann man da jahrelang nit so Kontakt hatdann lebt man sich auch auseinander und dann wird dat auchanders da ja.. Und das die.. wat mich hier, das in Deutschlandwird viel dene Kinder äh, achtzehn Jahre die können schonWohnung haben und so und so und die müssen selbstständig

2600sein.. Aber dadurch denk ich mir nit das sie besser werden.Die muss man zuerst erarbeiten lassen das und dann kön-nen sie sich dat alles leisten. Und nicht sagen so – weil ichkenn zum Beispiel hier welche, achtzehn Jahre, dies und je-nes, nicht zurecht, von Eltern alleinständich alles kriegen sie

2605vom Sozialamt, Möbel Wohnung und so weiter und so weiter,aber dadurch würden sie nich besser. Dadurch würden sie nitbesser, die lernen nicht arbeiten! Und dat is wichtig. Dat iswichtig das man muss sich fühlen das die Gesellschaft dichbraucht und was du machst, (wenn dat auch so viel is).

2610I: HmI. A.: Ja, aber das wird gebraucht. Und das zählt, ja. Und undäh.. in Russland denk ich mir die Kinder wurden mehr gelerntzu arbeiten als hier… Ich weiß nit, das is jetzt so mein (Urteil).Das is so, ich denke mir dat is mehr und dat is besser. Weil die

2615Kinder, manchmal, vor lauter Übermut, vor lauter was sie sicherlauben können wenn sie Kinder sind oder Heranwachsendeja, wie man dat sagt, das sie da sich, wat sie dat so leistenkönnen, dat früher hat man gesagt: »Hier, solang du deineFüße unter meinem Tisch sind, muckst du hier nit auf!«

2620I: HmI. A.: Und mit dem, das führt ein bisschen jeden Menschen zuOrdnung, und Ordnung is dat auch alles im Leben. Wann duselbst kannst dein Leben nicht ordnen, du musst aufstehen beiZeiten, dies und dies machen nach Plan nach Terminen, und

2625wann du dat nich lernst als Kind, dat lernst du mit achtzehnwann du selbstständige Wohnung nimmst, lernst du das auchnicht.

Page 130: it - Gesellschaftbilder Und Selbstverst Russlanddeutscher Aussiedler in der Sowjetunion und in Deutschland

120 anhang b Interviews und Gedächtnisprotokolle

I: HmI. A.: Deshalb muss man schon früh angefangen für Selbst-

2630 ständigkeit damit (für dene) Kinder äh, das es sich entwickeltja. Und hier denk ich mir wird dat zu lang weiter rausge-schoben.. un raus… und alles, er kann nicht er dies er jenes,zwanzich Jahre is noch nix noch nix noch nix. Wir habenschon Kinder gehabt mit zwanzich Jahren. Und die können

2635 noch keine Waschmaschine anstellen oder was, weißt. Unddat wird noch.. das ist vielleicht auch der äh, ich weiß nit. Datmuss man schon fördern früher… das man sich nicht nur fürgute Zeiten interessiert, Karnaval und Kirmes und wat allesja, das man auch, sich dat zuerst erarbeiten muss, bevor man

2640 dat dann genießen kann. Das wenn man immer kriegt, allesbekommen Oma Opa hier und da, auf sechs Erwachsene einKind, dat Kind weiß nit überhaupt welche Ansprüche sollstellen ja.I: (lacht)

2645 I. A.: Is so,is so. Wird behütet bis wat weiß ich wohin ja.Und dann, wat is aus dem dann, auch nix!Ich.. is meine Mei-nung. Kinder werden ja immer weniger in Deutschland, undja, Lärm darf man nicht machen, das darf man nicht machen,aber wie sollen Kinder aufwachsen?.. Andererseits, wann nur

2650 brav sitzt, die Kinder müssen ja auch wat selber experimen-tieren und machen und wat anstellen ja, alles natürlich imRahmen, wat man (meint) als Eltern ja. Äh sonst entwickeltsich ja dat ja nit, wenn nur brav in der Ecke sitzt und sagt nurwat du machst entwickelt sich auch nicht ja, da muss gewisse

2655 Grenze sein ja. Dat is vielleicht auch schwierig einzubehalten,die Grenze ja. Wie wie weit man wat erlaubt seinem Kindoder zutrautI: Hm hmI. A.: wat früher zu machen.. naja…

2660 I: Gut, dann dank ich Ihnen.

B.9 Interviewprotokoll: Peter Berndt

Pünktlich um 15 Uhr betätige ich die Klingel von Herrn B’sHaustür. Er lässt mich ein, erklärt, dass er gerade renoviert,zeigt mir das Zimmer, das renoviert wird und fragt mich ziem-lich bald, wo wir Platz nehmen wollen. Schließlich führt ermich in ein kleines Arbeitszimmer (Schreibtischmit Computerund Bürostuhl, Bücherregale und eine Couch). Wir nehmenbeide auf der Couch Platz. Das Aufnahmegerät liegt auf ei-nem Buch auf dem Bürostuhl vor uns. Herr B. stellt nichts zuTrinken (es ist ein warmer Tag) bereit bzw. bietet mir auchnichts an.

Er ist in guter physischer und psychischer Verfassung, redetüberlegt und sehr deutlich.

Als ich das Gespräch nach gut drei Stunden beende, scheinter fast darüber enttäuscht zu sein, dass ich keine Fragen mehrhabe; mir scheint, er hätte gern noch weiter erzählt. Er fragtmich, wie ich mit dem aufgezeichneten Gespräch weiter ver-fahren werde. Wir kommen aber darüber auf ein anderesThema (Diktiergerät und weitere Gesprächspartner) und erfragt auch nicht weiter nach. Als wir aufstehen (ich zuerst)führt mich Herr B. ins Wohn/Esszimmer, wo er mir ein sehrgroßes Gemälde zeigt, das der Vater eines Freundes in den50er Jahren gemalt hat und welches er sich (aufwendig) hatnach Deutschland bringen lassen. Danach gehen wir vor die

Haustür und unterhalten uns weiter über weitere potentielleGesprächspartner, während Herr B. die lang ersehnte Ziga-rette raucht.

Er sagt mir, dass ich ihn bei Nachfragen gerne anrufenkönnte.

B.10 Interview: Peter Berndt

I: Ja gut also, wie Sie ja schon wissen oder wie schon ange-sprochen interessiert mich Ihre Lebensgeschichte. Und zwardas Leben, wie das für Sie war in der Sowjetunion und hierin Deutschland war und heute ist. Und, einfach Ihre ganze

5Lebensgeschichte und alles was für Sie intressant ist und wasIhnen einfällt ist für mich auch intressant. Und äh ichwerd Siejetzt erstmal nicht unterbrechen und Sie erzählen lassen undeinfach nur zuhören und wenn ich ne Frage hab dann schreibich das hier auf undwerd sie Ihnen nach der Geschichte stellen,

10nachdem Sie fertig erzählt haben.P. B.: Weißt du was, weil die Themen können so stark ab-weichen von dem von der Erzählung. Deswegen müsste manirgendwie einen Kern, so eine Kernrichtung rausfinden: Ar-beitsgeschichten äh, Emotionelles, Familiäres oder egal was?

15I: Ne, also es interessiert mich alles, ja alles was Ihnen wichtigist und Ihnen jetzt einfällt das ehm… intressiert mich. Wenn’szu sehr irgendwie weit wegkommen sollte dann werde ich Sieunterbrechen und sagen: »Hier (lacht), bitte konzentrieren Siesich mehr auf Ihre Lebensgeschichte! aber ich denke das wird

20nicht der Fall sein«.P. B.: Na vorwärts dann!I: Ja (lacht)P. B.: (hustet) Geboren bin ich erster Dezember neunzehn-hundertachtundvierzich in eine Baracke, in eine kleine Stadt

25Krasnoturinsk, die war noch ganz klein in diese Zeit noch.Weil der Vater war dort hinausgesiedelt, aus Saratow-Gebiet,auswolgadeutschen Republik im September einundvierzich,und dorthin kam auch meine Mutter, die kam aus Tjumen.Die war mit meinem ältesten Bruder dort in Tjumen, in einer

30Kolchose und hat sie dort mehr als Melkerin gearbeitet. Gelebthaben wir in einer Baracke und die war einfach riese offeneGebäude, so etwa fünfzich sechzich Meter lang, breit, und diesogenannte Zimmer waren getrennt einer von die andere mitso einem Bettlaken.

35I: HmP. B.: Das.. Meine Mutter hat im Krieg, hat sie noch gefundenseine Schwester, die jüngste Schwester.. sie war sieben Jahrealt und vor dem dem als dieMutter sie fand, sie war zwei Jahreohne Mutter, die war gestorben, und die hat sie gefunden in

40einem Dorf, weil die war zwei Jahre schon als Bettlerin.I: Hm hmP. B.: Na und, der Vater war nicht sehr zufrieden das sie hatauch dieses diesen Kleinen mitgebracht, aber konnte nichtsmachen und dann haben wir so gelebt in so eine Familie.

45Danach, bisschen später, ein zwei Jahre später haben sie uns,haben sie uns gegeben eine Wohnung, auch eine Baracke, aberdort war schon eine feste getrennte Wände. Baracke, BarackeNummer dreiundsechzich… Die Wohnung bestand aus eineKüche, wenn du reinkommst dann steht ein riesen Ofen, mit

50Holz gefeuert, rechts stand ein Tisch, ein Esstisch – Vaterhat ihn selber gemacht, dann ging… eine Öffnung war, stand

Page 131: it - Gesellschaftbilder Und Selbstverst Russlanddeutscher Aussiedler in der Sowjetunion und in Deutschland

Interview: Peter Berndt 121

keine Tür normale so wie, normal versteht man Tür, aber daswar keine Tür, das war ein Öffnung, und das war die zweiteZimmer.. und dort haben wir gelebt.

55 I: HmP. B.: Dort sind auch alle fünf Kinder von meiner Muttergeboren, ältester war vor dem Krieg, ich war kurz nach demKrieg und dann noch drei Kinder kamen zur Welt, die Tanteund die Eltern, alle da gelebt, in diesen Räumen… Im Jahre

60 sechsundfünfzich ging ich in die Schule… Hab angefangendort bis zur dritte Klasse, Anfang hab ich noch dort gemacht,nicht weit von der Baracke stand auch die Schule. Dann hatVater, war es erlaubt, das war schon Jahre achtundfünfzichneunundfünfzich schon, weil umgezogen sind wir schon im

65 neunundfünfzich.. fuhren wir nach nach Gebiet zweiundvier-zigster Quartal von der Stadt Krasnoturinsk, so hieß dieserkleiner Ort, bis zur Mitte der Stadt waren es fünf Kilometer.Dort war auch eine Schule, ging ich dort hin, hab ich dort vierKlassen geendet, und ab fünfte Klasse haben wir angefangen

70 in der Stadt schon, mussten wir in die Stadt weil dort gab eskeine Schule mehr in der Nähe. Und diese fünf Kilometer –egal was war, Regen, Schnee oder Hitze – meist gingen wir zuFuß, man konnte auch mit dem Bus fahren, aber wir warenso alle arm das meiste gingen zu Fuß, das diese fünf Kopeik

75 welche eine Richtung kostete die Fahrt, konnten wir eine…Weißkohlteigtasche so eine kaufen.I: Hm hm (lacht)P. B.: Und deswegen, haben wir das gespart und gingen zuFuß diese fünf Kilometer bis zur Schul. Dort hab ich auch

80 bis zur achten Klass die äh die Schule geendet.. Nach laangenGesprächen mit den Eltern – das war, war ja so eine Zeit,komische – Vater wollte das ich ginge sofort zu Kursus, Kursushalbes Jahr so, und als Traktorist arbeite weiter. Und ich habden doch überredet, wenn ich das schaffe, die Eintrittsexamen

85 abgeben, das er mir erlaubt und finanziert die Lehre. Und ichhab das geschafft, wir waren sieben Mann pro eine Stelle, soeine Konkurs war bei uns, und ich hab es geschafft das ichwar angenommen im Technikum.I: Hm

90 P. B.: Heutzutage heißt dat Lyzee, KIT – Krasnoturinski in-dustrialni Technikum KIT, dreieinhalb habe ich dort gelerntals Wärmetechniker.. Hab ich die gut zuendegebracht. Nachder Entlassung aus dem Technikum, habe ich fünf Tage gear-beitet und dann einberufen in die russische Armee. Es war

95 Mai achtundsechzich, haben sie uns nackt rasiert, alle ins Busreingesteckt (lacht) aus der Stadt und fuhren wir weg, nachIgorschina, Igorschina das ist eine Sammelstelle in die Swer-lowsk-Gebiet. Es gibt eine Sammelstelle von alle Rekruten,von die ganzen Gebiet. Gigantische Anlage war’s. Aus unsere

100 Augen, heute vielleicht sieht das bisschen anders aus. Aberfür uns damals war das: »Mensch das gibt’s doch nit!« undalle gleichartige Jungs, achtzehn neunzehnjährige alles Jungsund alle, einer braver braver als der andere (lacht).I: (lacht)

105 P. B.: Naja gut. Zwei Tage waren wir dort, danach habensie uns reingesteckt in die Waggons, Personenwaggons, langeFahrt, das dort konnte man schlafen. Dreiundachtzich Mannin einem Waggon, zwei Begleiter mit Maschinenpistolen, daswir nicht wegrennen. Und so etwa sechzehn siebzehn Wag-

110 gons waren damals zusammengebastelt und fuhren wir weg,welche Richtung hat keiner uns gesagt. So wie auch wir pro-

bierten rauszufinden wohin fahren sie unsI: HmP. B.: das war so angenommen, das war immer geheim und

115da durfte keiner was sagen. So hat mir das auch, aber wirhaben langsam verstanden das wir fahren Richtung… Osten.Weil ging Tjumen vorbei, Kurgan, Nowosibirsk, Baikal undimmer weiter und immer weiter. Neun Tage waren wir indiese Waggons eingeschlossen, nicht raus, Essen – zwischen

120diese Waggons stand so eine Esseinrichtung – nur, die habendort nur gefertichtes Essen. Und dann zwei von uns müssengehen Suppe holen, zwei das Zweites, Kompott oder Tee odernoch etwas, gingen noch zwei, immer mit Begleitung von ei-nem.. Gewehrmann. Dann, nach neun Tagen haben sie uns

125in die Stadt Swabodni rausgesetzt, in eine Einrichtung, Ar-meeeinrichtung, Einheit war da, haben sie uns angezogen…Ich hab einen großen, nach hier diesen Verhältnissen das istsiebenundvierziger muss ich tragenI: Aha (lacht) Schuhe

130P. B.: Dort ist es sechsundvierziger. Dann haben sie michnicht gefunden die Stiefel. Alle waren angezogen und ich warohne Stiefel. Einer von uns, welcher kam mit uns in andereWaggons, dem konnten sie nicht Kittel finden. Kittel, das istAnzug, Pidschak

135I: Aja, jaP. B.: die Gymnastörka die haben sie ihm gefunden noch, aberden Kittel konnten sie nicht, der konnte ihn nicht zuknöpfen.Der ist ein Kopf kleiner wie ich, aber breit so, das war wie einStück Klotz gebauter Mann, sehr kräftiger starker Mann, nicht

140so das er fettich war, nein, so eine Statur hat er gehabt. Unddann wir zu zweit, dann haben sie uns wieder »eins zwei dieda, die da«, dieser in diesen Waggon, dieser in diesen Waggon.Dann fuhren sie uns nächsten Tag nach Chabarask, Garafkazwei, das ist eine Einrichtung von Flughafen, militärischer

145Flughafen Einheit. Und dort sind wir zwei Monate.. Quaran-täne sogenannte durchgekommen, mit Lehre, mit allem drumund dran, mit weiß der Kuckuck alles was (lacht), naja.I: HmP. B.: Und danach haben sie, weil ich hab so eine, na ich hab

150da nicht alleine, weil ich war einberufen mit den Jungs auchwelche waren alle aus unserem Technikum. Alle dreizehn, wel-che waren an diesem Tag aus unserem Gebiet genommen. Wirwaren alle aus Technikum und alle waren Wärmetechniker.I: Hm

155P. B.: Und dann haben sie uns alle, die waren auch bis zu-letzt, in Quarantäne kamen wir auch alle zusammen. Dannhaben sie uns jedem so eine Militäreinheit-Nummer, siebenacht sechs vier fünf war meine und jeder hat seine gekriegt.Dannmüssen wir.. und das waren, alle dreizehn kamen zu den

160Einrichtungen wo wurden die Kasernen gebaut neue. Und wirmussten diese Sanitäranlage, Wärmeanlage bauen. Die habendas gar nicht kapiert, die haben bestellt Wärmetechniker aberdas was sie bräuchten war Sanitärtechniker Wärmetechniker(lacht) das ist

165I: AchsoP. B.: Als ich dem Major, war bei uns der Oberst: » Wiekennst du das nicht⁈«I: (lacht)P. B.: Ich hab das nie gemacht, aber gut ich probiere es zu

170machen, aber das bedeutet nicht das ich weiß es, das ich et-was kenne. »Wissen Sie was es Turbinen bedeuten, was es

Page 132: it - Gesellschaftbilder Und Selbstverst Russlanddeutscher Aussiedler in der Sowjetunion und in Deutschland

122 anhang b Interviews und Gedächtnisprotokolle

Turbinen überhaupt ist?« »Mein Bruder arbeitet damit… najadas ist..« Achso ach.. Der hat da geschimpft und getobt dasdie Arschlöcher ihm hatten falsch verstanden. Die haben dem

175 gechickt welche die, na gut dann machen wir das so wie esist. Naja gut, haben wir (wirklich) gebaut diese Kaserne neue,weil die alte Kaserne war schon sehr alt, war so sechsunddrei-ßig siebenunddreißig war sie gebaut… Ja und dann hab icheinfach so, Dienst weiter gemacht. (5) Kam ich heim das war,

180 vierzehnter Mai.. haben sie mich entlassen. Aber wir habennoch sehr viel Glück und Geschicklichkeit gezeigt. Zweiein-halb Monate vor dem hat mich der gerufen der Major, dannfragt er mich, ob er so einen Dembels-Arbeit, Demobilisati-onsarbeit annehmen, und wenn wir schnell und qualitativ das

185 machen die Arbeit dann können wir auch früher gehen.I: HmP. B.: Wir müssen so von Munitionslager neu aufbauen, weildas war auch in so einem Zustand, bald kippt er zusammen.Und dort ladenwir Gewähre undMunition und alles mögliche.

190 Na und wir haben das geschafft, vier Mann, haben sie unsentlassen. Fuhren wir heim, achtundzwanzich Rubel in dieHand reingedrückt, Ticket von Chabarask bis Jekaterinenburg,nu bis nachHause. Die Jungs, welche habenmit mir gearbeitet,die waren weiter als Mittelrussland, Ivanava, Resan äh und

195 aus diese Region waren die Jungs. Und dann, sieben Tagehaben wir mit der Gitarre Lieder gesungen das uns jemandda Essen gibt.I: (lacht)P. B.: Weil mit diesem Geld konnte man das nicht, das war un-

200 möglich in den Waggons wie im Restaurant einmal, zweimalEssen und dann hast du nichts mehr. Na dannmussten wir dasirgendwie verdienen und so haben wir das verdient. Na wirwaren jung. (Wann was war) egal, wir haben für den Waggongesungen und gelacht und Witze erzählt (lacht) und.. kamen

205 Omas und Opas, einfach junge Leute kamen und haben unsetwas immer, und war was zu trinken und war was zu essen…Dann kam ich nach Hause, kam ich nach hause war schon..war richtig sommerliche Zeit, so warm, Ende Mai, war richtigsommerlich so. Na die Freunde haben das gewusst das ich

210 zuhause bin, uh das war forum borum, eine Woche ungefährwar ich kaum zuhause. Die Mutter hat immer nur geschimpft:»Du bist ja gar nicht nach Hause gekommen.« (lacht)I: (lacht)P. B.: Naja aber, danach war alles vorbei.. und in die Zeit vor

215 dem als ich ging in die russische Armee hat Vater angefan-gen ein neues Haus zu bauen. Weil bis zweiundvierzigstenJahr, der hat gekauft ein Häuschen, das war auch so eine mi-serable Häuschen, für die große Familie war es nichts. Hater angefangen zu bauen, ich hab noch den Fundament ausge-

220 graben, Keller und den Fundament betoniert. Kam ich nachHause stand schon Rohbau und die wohnten schon, das warals Haus schon, konnte man wohnen. Fenster waren einge-baut, Dach war da, aber das war Rohbau aus Holz. Na hab ichdem angefangen rundum gewärmt. Nach vier Wochen ging

225 ich schon zur Arbeit.. Kam ich zu die Pipeline, am Anfang habich versucht bei die Pipeline sich zu etablieren, sich Arbeits-platz zu finden. Hab ich keine Chance gehabt, die bräuchtenzu dieser Zeit gar nichts, aber hätte ich gerne dort gearbeitet,das war eine stabilste und dann, habe ich angefangen bei den

230 Turbinen bei der wärmeelektrischen Zentralanlage so eine,dort standen nur zehn kleine Turbinen, alle aus Deutschland

hier, bis zuletzt alles. Das war im Jahre fünfundvierzich ausge-baut hier irgendwo in Deutschland, dort hingebracht und dortaufgebaut. So wie sie waren, so haben sie auch sie aufgebaut.

235Das war ein Aluminiumbetrieb, in die Zeiten war das einevon die besten Anlagen von Russland. Aber heutzutage istdas schon vorbei, da ist nichts mehr. Weil, muss man investie-ren, die waren zu gierig. Na dann hab ich probiert so, nachdie Pleite bei den Pipeliner hab ich probiert in den Betrieb

240reinzukommen, Aluminiumbetrieb, na dort haben sie michangenommen. Auch als Aufpasser auf die Gaspipeline wel-che kommen von die Pipeline, Pipeline ist von Uringoi biszu Deutschland, bis zu Europa, so lang sind die Pipeline. Dawar ich Aufpasser über die Dichtungen da und über die Leute

245das sie alles richtig machen, ist ja sehr explosive Sache, sehrgefährlich.I: HmP. B.: Naja, parallel im Herbst hab ich angefangen so in eineHochschule probieren zu, wollt in Institut gehen zu lernen,

250weiterlernen. Hab ich so eine, zu den Examen war ich zu spät,kam ich nicht zurecht dann da, die zwei Jahre hab ich ja keinBuch gelesen, gar nichts. Man muss ja schon bisschen erfri-schen ( ), ging ich zu Erfrischungen so. Und dann hat michmein Freund, oh ich hab damals von Jahre einundsechzich

255bin ich befreundet mit dem bis heute, der wohnt hier in Mon-tabauer. Wir waren zusammen in einem Pionierlager, dorthaben wir uns bekannt gemacht, drei Jahre nicht gesehen ei-ner dem anderen, aber danach als ich kam zum Technikumund dann auf einmal waren wir in einer Gruppe. Seitdem

260sind wir ungetrennt die ganze Jahre, na immer in der Nähe,nicht so das wir ganz, immer in der Nähe… Und dann, der,der hat das schon vor mir gemacht und war in Chilabinskumgezogen, hat er mich angrufen: »Komm mal, komm mal,komm mal! Wir wollen lernen hier, weil hier is es bisschen

265einfacher reinzukommen.« Dorthin und die Einrichtung, dieFakultäten war näher zu dem was wir wollten. Turbinenbauund so weiter. Na hab ich die Arbeit geschmissen.. fuhr dort-hin, probier, sich probieren. nach einem Jahr… Kam ich nichtzu zu den Examen, kam ich nicht durch, durchgefallen. Aber

270wollt ich nicht aufgeben und ging ich zu die TETS auch dort,Chelabinsk hat auch zwei TETS solche, bin ich zu TETS einsChelabinsk. Die haben mich angenommen, haben jaI: Was ist das?P. B.: Chelabinsk ist eine Stadt.

275I: Ne ne, TETSP. B.: Teploelektrozentral, glawnaja elektrische Zentrale, wirhaben auch so eine, mehrere Städte in Russland haben solcheEinrichtungen. Na bin ich dann die Turbinen als Maschinistangefangen dort, ein Jahr hab ich da gearbeitet, nach halbes

280Jahr ungefähr kommtmir der Schichtführer, ruftmich ins Büroso, »Du sollst als Oberster sein hier, weil du bist einer hier, nurder einzige welcher hat die Lehre hinter sich in die Richtung«,alle andern waren dort einfach so am Arbeitsplatz angelerntund, und das war’s, weil die Theorie, na ich hab zwei drei

285Verbesserungsvorschläge gemacht, dat »Oh«, da hat’s gefallenund dann hat er: »Komm gucken«. »Ja, ja warte mal.« Ich: »Duweißt das ich hab vor das«, » Ja kannst das auch.. so Fernlehremachen«I: Hm

290P. B.: »Na mal sehen.« Dann hab ich ein Urlaub gekriegt, ha-ben sie mir Urlaub gegeben und fuhr ich nach Hause. Kam ich

Page 133: it - Gesellschaftbilder Und Selbstverst Russlanddeutscher Aussiedler in der Sowjetunion und in Deutschland

Interview: Peter Berndt 123

nachHause und der Vater liegt schon drei Monate im Kranken-haus. Und die Mutter sagte mir ja nie was, naja gut, telefonierthaben wir ja nicht, wir haben ja kein Telefon, in diese Zeiten

295 damals hatten wir kein Telefon zuhause. Nur Briefe, aber imBrief hat sie niemals erwähnt, das es so schlecht geht, weilhinter mir waren ja noch drei, ein Bruder und zwei Schwesterhat ich noch. Na kam ich zum Vater, mit dem im Krankenhausgesprochen, »wie sieht es aus?«, »Jaa, sieht schlimm aus.« Mit

300 dem Arzt gesprochen: »Fifti fifti, man muss das sagen.« Habich abgebrochen mein Urlaub, fuhr ich zu Chelabinsk, habich geschrieben das sie mich entlassen.. Weil, der Älteste hatschon seine eigene Familie gehabt, lebte zehn Kilometer vonunsere Stadt, von der Stelle, und die Mutter musste man hel-

305 fen, weil die andere waren noch klein, die waren noch nicht..Schüler. Jemand musste das das Haus halten. Und (neben) mirwar keiner. Na die wollten: »Ich gebe dir noch zwei MonateUrlaub und komm ma zurück und.. irgendwie lass uns dasmal, vielleicht klappt es auch so.«

310 I: HmP. B.: »Ne ne ne, geht nicht, das geht nicht.« Einer muss zu-hause sein, die Mutter lass ich nicht so einfach so im Stich.Nicht dafür hat sie so viel investiert in mich, das ich so ver-zichte auf die Stelle was sie jetzt erlebt, nein, geht nicht. Ab-

315 gebrochen die Arbeit, die Lehre hab ich auch nicht gemacht,kam ich zurück.. na, mit die Arbeit war es auch nicht so ro-sich.. Kam ich zu die Pipeliner, und der sagt mir der Chef,Paligalov gab’s so eine, »Ja ich gebe dir«, dritte Stufe. Mitder ersten fangen überhaupt gar nichts wissen, die zweite,

320 der muss ja nur wissen das den Hammer hält man nicht amEisen, und der dritte das is ja, gut du kannst schon klopfen,erlaubt ist es, und du wirst mir bezahlen mit dem dritten undja äh: »Für wem hältst du mir dann⁈« Nein, ging ich nicht,hab ich nicht angefangen, und meine Freunde aus jugendli-

325 che Zeiten noch, uh die haben mich damals kräftig überzeugt.Dann ging ich in die Berufsschule, SGPTU neunundvierzich,Berufsschule welche hat äh Schlosser, Montageschlosser, ichhabe mit Montageschlosser gearbeitet, Stuckateure, Schweißergelernt, waren Gruppen und Gruppen. Ein Jahr haben gelernt

330 diejenige welche haben zehn Klassen Schule gemacht, Abiturgemacht, nu is nicht Abitur, das is was anderes, zehn Jahreund die acht Klassen mussten drei Jahre machen, Lehre. Undich hab als Meister dort gearbeitet, zehn Jahre… Viel gefahrenauch, weil so viel Arbeit für so eine Menge junge Leute, die

335 kleine Stadt konnte das nicht bewältigen, deswegen musstenwir fahren, zu verschiedenen Betrieben in anderen größerenStädten.I: HmP. B.: Dort haben wir gearbeitet als Montageschlosser, die

340 Jungs waren bei mir, na alle sechzehn siebzehn Jahre, ganzlustige Zeiten muss man sagen. Weil die haben Fantasie ohneEnde und ich musst das ( ), weil die alle waren von zu-hause weg, ich hab ja sie alle aus zuhause rausgerissen in eineWohneinheim, Wohneinheit so, Korridor war da und dann

345 Zimmer. In jedem Zimmer waren vier Mann zufällige, dasist ja alles zufällig zusammen gewürfelte Mannschaft, man-che haben sich schon bekannt gemacht. Na meistens hab ichauch so aufgepasst das wer einer dem andern mag, wer mitwem will schlafen in einem Zimmer. Aber trotzdem war, der

350 hat nicht so geschlafen und der schnarcht und, war immerwas. War immer was neues.. Einmal, in Swerlowsk waren

wir, auf einmal liegen überall im Korridor so riesen ApparateKäse, weißt du so Scheiben, riesen Scheiben so Käse. »Dasgibt’s doch nicht.« Und manche kaputt, »Was soll das, was ist

355das dann«, die haben rausgefunden das nicht weit von die-sem Wohneinheim die Eisenbahn macht so ein Bogen. DieserBogen der steht vor der Station, dem Bahnhof. Und der Zug-führer der sieht ja nicht die alle Waggons, und dann habensie das rausgefunden, das er das nicht sieht und haben da ei-

360nen Waggon aufgemacht. Und dieser Waggon hat diesen Käse(lacht), haben sie den Käse rausgeholt, weil in diese Zeit dieJungs sind ja alle so hungrich, da gab’s auch nicht viel was zuEssen. Wenn die Betriebe selbst uns nicht immer so bisschenZuschlag gegeben hätten, konnte man verhungern. Mit einem

365Rubel zu essen drei mal am Tag, ist unmöglich.I: HmP. B.: Kantine so, nein, war unmöglich. Deswegen habensie uns immer ein bisschen so, gefüttert, die Betriebe, ange-lockt das wir kommen auch dorthin zum Arbeiten. Prakti-

370kum haben wir dort gemacht… Zehn Jahre waren eigentlichschnell vorbei, ganz lustige Jahre und… danach.. Ich habeeinen Freund, Mischa Burkunov heißt er, wir wuchsen zusam-men in einem Ort, waren sehr gut befreundet und noch vordem das wir in die Armee beide kamen, der kam ein Jahr

375früher als ich, weil ich hab gelernt, diese Zeit haben sie mirverschoben die Einberufung, und der ging schon, der hat hierin Karl-Marx-Stadt, jetzt heißt er Hemnitz schätz ich mal, hater gedient hier in Deutschland.. Noch vor der Armee habenwir immer sich umgetauscht, ich hab so eine Kedi gehabt, Kedi

380das ist Sportschuhe so, ich hab die Kedi gehabt und der hattepaar schöne Schuhe, so richtig aus Leder, hab ich nie gehabtzum AusgehenI: Hm hmP. B.: und wenn wir etwas zum Feiern hätten dann ging ich

385zu dem Mischa: »Ah, kannst du dir nicht kaufen Arschloch,nimm ma, nimm ma, na ja ja ja ja gut gut!« Und der kamzu mir immer wenn er bräuchte da Kross laufen oder spielenVolleyball, haben wir gern da gespielt. Und wenn wir zusam-men gespielt haben dann haben wir so dat immer gemacht

390das einer von uns spielt und anderer musste sitzen auf derBank.I: (lacht)P. B.: Weil haben ein Paar Schuhe (lacht). Es ist zum Lachenheutzutage, aber das ist Realität. Und ich hab bischen weiteres

395Fuß gehabt als er, der hat immer gemeckert das ich machkaputt dem seine Schuhe (lacht).I: (lacht)P. B.: Jaja.. und der ging im Jahre siebenundsiebzich fuhr er,durch seinen Bekannten, fuhr er nach Uringoi. Uringoi das

400ist Tjumen-Gebiet, ganz im Norden, das ist eine sehr große,jetzt ist das eine sehr große Stadt geworden, damals im Jahrsiebenundsiebzich war noch gar nichts, dort standen so Bau-waggons und da haben gelebt welche haben dort gearbeitet.Dann bisschen später kamen schon aus Finnland solche Fässe..

405gebaut wie ein Fass, aber Einrichtung für’s Leben. Weil das,die haben wesentlich besser sich verhalten in der windigenund kalten Umgebung. Uringoi steht siebzich Kilometer bisNordpolarkreis. Und dann hat er mich so ein Visaf gemacht,das ist Einladung zum Arbeiten dorthin, hat er mir besorgt

410über seinen Chef, hat er mir besorgt das und, hat er mich über-zeugt das ich auch dorthin komm.. Kam ich auch dorthin…

Page 134: it - Gesellschaftbilder Und Selbstverst Russlanddeutscher Aussiedler in der Sowjetunion und in Deutschland

124 anhang b Interviews und Gedächtnisprotokolle

im Jahre siebenundsiebzich hab ich auch geheiratet im Januar(5) und dann, schon einundachtzich hab ich zugesagt dem dasich komm auch nach Uringoi. Weil das was er verdient hat,

415 man konnte gar nicht sich träumen. Da in diese Stadt konnteman kommen nur, ohne diese Einladung dürftest du gar nichtdorthin.I: HmP. B.: Das muss man mit Pass, Personalausweis, diese Ein-

420 ladung und dann kommst du Flughafen und am FlughafenLeute prüfen das alles, ob es wirklich so ist, ob es Realitätist, dann gaben sie dir den Ticket. Ohne den kriegst du keinTicket dorthin. Heutzutage ist es schon bisschen anders, dakann man schon mit dem Zug dorthin fahren. Kam ich dort-

425 hin und… paar Monate hab ich bei einem anderen Freund dagelebt. Bei dem, der hat mit der Familie gelebt in so einemauch ( ) Einrichtung. Und dort, in die Küche, dat is schwervorstellen aber so is es (räuspert sich), kommst du rein, vonder rechten Seite steht eine Türchen kleine, is eine Toilette mit

430 Dusche, weiter Küchenabteilung, weiter is so vier Betten soEinrichtung an den Wänden gemacht, dazwischen Gang undda Fensterchen kleine. In diesem Raum der lebte mit seine Fa-milie und Kinder, und ich hab in der Küche. Wenn sie wolltendie Nacht auf die Klo gehen dann musst ich aufstehen.

435 I: (lacht)P. B.: Naja so, so wars, so sind sie alle, die Küche ( ) da solltekeiner auch schlafen, das ist keine Möglichkeit auch gibt’snit, es war nur Not, aus Not hab ich da, draußen ist es sehrungemütlich dort (lacht). Sieben bis acht Monate ist es richtig

440 Winter, ein Monat bis zwei Monate höchstens ist es sommer-lich.. Na hab ich gekämpft mit die Wohnung, das für meineFamilie und für mich das ich auch kriege sowas zum Leben da.Aber hat nit geklappt, weil vor mir standen eine ganze MengeLeute schon, welche warteten auf sowas. Noch ein Jahr hab ich

445 dort gearbeitet (5), hab ich mich umgedreht und zurück.. nachKrasnoturinsk. (4) Dort kam ich wieder zu den Gaspipeline,war schon ein anderer Chef.. na mir hat auch geholfen dieDirektorin von die Berufsschule. Ich hab sie zufällig gesehenGarkom, naja gut.. das ist Einrichtung so.. Parteieinheit, so

450 eine Partei hat dort Versammlung gemacht große, und ich wardort zufällig bei meinem Freund, und in diesem Gebäude hatmein Freund auch in die architektonische Einrichtung gear-beitet. Ich war bei denen zu Gast da, ging ich rein, kam ichraus von dem Besuch und steht meine Direktorin ehemalige:

455 »Oh Peter Peter, kommen Sie vorbei. Sind Sie zurück.« »Ja, binich zurück.« »Hab ich gehört das Sie kommen zurück.« »Ja,was soll ich da.« Naja, sie kannte die Freunde meine. Naja, ichkann ja nicht, die haben seine eigene Familie, sein eigenes Le-ben und ich bin dazwischen,manweiß nicht wohinmit sich.

460 Das geht nicht, das soll nicht wahr sein. Deswegen hab ichaufgehört. Obwohl verdient hab ich, im Vergleich man kanndas so, meine Frau hat sechsundneunzich Rubel verdient proMonat, das ist ein fester Eklat so (räuspert sich) welche hatsie jeden Monat gekriegt… Und ich hab fast tausend.. Rubel

465 pro Monat gekriegt. Aber von diesem Geld haben wir kaumwas zuhause übrig geblieben. Weil dort gingen sie auch wegso wie sie kamen, war was alles kostete so viel, entsprechendwaren auch die Preise.I: Hm hm

470 P. B.: Na.. und da kommt der neue Pipeline-Chef und siekannten sich beide.. und die steht mit mir redet und dann sagt

sie: »Oh, mach dich mal bekannt, macht sich mal bekannt!«..Und (diesen) sagt er dem Krischnik: »Ja, guck mal, der Mannwill zu dir kommen morje, der will nicht bei mir mehr arbei-

475ten. Weil das is, das is schon bisschen zu viel.« Wenn du schonweg bist dann bist du weg, dann musst du auchweg. »Der willzu dir.« »Komm mal vorbei.« »Ich sage dir nimm dem, nimmdem!« (lacht) Und das hat mir geholfen auch. Der hat mir, hatmich auch genommen. Anders hätt ich kaum Chancen gehabt,

480dorthin zu kommen. Na dann, haben sie mich genommen,(war) ich Maschinist im (Team) drei Jahre, danach war ichschon Schichtführer, zwei Jahre.. und die letzte vier fünf Jahrewar ichHauptdispecher von dieser Station. NachHierarchie sovon dieser Station – das sind sechshundertzehn Mann Besat-

485zung, weil dazu gehört auch Reparaturen von den Pipelinesund und und, und nur die Schichtpersonal welche bedientdiese Turbinen, das waren hundertfünfzehn Mann. So genauweiß ich das weil die waren alle unter meine Führung, alsOberdispecher musste ich das machen.

490I: HmP. B.: Da hab ich das geführt. Schichtpläne zusammengebas-telt und Urlaube gegeben und dann die Verteilung von dieAufpassen von den Verbrauch von den Städten welche stan-den in die Nähe, das sind Serow, Karpinsk, Walchawsk, Se-

495rovwalsk und Krasnoturinsk, diese fünf Städte haben von unsden Gas, standen Zähler dort bei uns und die haben seineeigene Zähler. Kaum irgendwann hat es zusammengepasstI: (lacht)P. B.: aber das musste man auch lösen. Auch Wartung und

500und und. Weil das ist, das ist Geld… Und einmal im Quartal,als schon Oberdespecher hab ich gearbeitet, musst ichmit demHubschrauber so entlang um die Linien fliegen und aufpassenob die nicht lecken.I: Hm

505P. B.: … Im Jahre sechsundachtzich haben mich meine Eltern,meineMutter hat mich angesprochen das sie haben einen Briefbekommen von hier aus Deutschland. Meinem Vater seineSchwester war hier, und die hat einen Brief geschrieben dassie möchten nach Sotschi kommen. Und das war Dezember

510fünfundachtzich, Januar ungefähr dieser Gespräch, das sieim Sommer kommen nach Sotschi, ob wir nicht Möglichkeithätten, die Eltern, das dorthin kommen. A Mutter sagt:»ohnedich fahren wir nicht!« Das äh, das kannst da vergessen, dasmüssen wir vergessen, der Älteste hat kein Bein gehabt, war

515ohne ein Bein. Der war auf Montage von fünfzehn MeterHöhe runtergefallen auf eine Betonplatte, Gott sei Dank daser noch am Leben war, fünfzehn Meter runterfallen, und nurdas nur dieses Bein verloren, das ging ja noch. (Er) konntenoch, er konnte alles verlieren.

520I: Hm hmP. B.: Na der jüngste, der hat gelernt.. ne, der hat schon ge-arbeitet, naja gut, ich war an der Reihe, ich musste ( ), habich mit dem Chef gesprochen, und wir haben noch zusätzlicheine Linie gebaut, Linie Nummer neun, und ich musste sehr

525viel auf der Arbeit bleiben, Überstunden machen, die warenniemals bezahlt, niemals, gegeben nie nichts, einfach so, datmuss (sonst). Dann kam ich zu dem Chef und so und so. ImJuli Monat musst ich zwei Wochen frei haben… zwei Wochenohne Urlaub, nur das er mir Urlaub gibt für diese Stunden

530welche ich hier verbringe. Ich musste aufpassen, ich musstedie, wenn die fertich ist, die Teil von diese Rohre verlegen, ma-

Page 135: it - Gesellschaftbilder Und Selbstverst Russlanddeutscher Aussiedler in der Sowjetunion und in Deutschland

Interview: Peter Berndt 125

chen sie dich von beiden Seiten und dann pumpen sie rein datGas und halten den entsprechende Zeit… pumpen sie rein mitzweiundneunzig Bar, vielmehr als erlaubt, nu als wir normal

535 transportieren, der muss halten diese Strecke. Und dann diesesGas welche wird reingepumpt in dieses Rohr, die bläst man indie Luft, einfach in die Luft, keine Möglichkeit ihm wieder indie Rohre reinzuschieben, in die alte weil dort ist, geht nicht.(Die gleichen im Haus) am Anfang, machen zu die Ventile

540 und pumpen alles raus. Und das musst ich alles ausrechnen,wieviel Gas, welche Menge ist in die Luft reingesp( ) und dannmussten sie die Bauministerium musste uns bezahlen diesesGas. Das war meine Verantwortung (lacht). Oder konnten siemit Wasser.. vollmachen und den Druck machen, aber das war

545 viel umständiger als mit dem Gas.I: HmP. B.: Und dann waren sie bereit: »Ok, wir bezahlen denGas und dann machen sie.« Haben sie mit dem Gas gemacht.Deswegen musste ich dort auch sein, weil da kamen mehrere

550 Fragen dazu. Außerdem das Personal hat gearbeitet, und dieDispechers waren auch da und ich musste da auch sein, viel.Na hat er mir zugesagt, ok. »Na was ist?« »Naja, so und so,Vater seine Schwester kommt mit Besuch und vonWeitem, diehaben sich nicht gesehen schon sehr lang, vor demKrieg, letzte

555 mal.« »Naja gut.« Na dann, fuhrenwir, mit meine Eltern.. nachSotschi, haben uns getroffen, gesprochen, hin und her. MeinVater wollte nicht nach Deutschland fahren, weil da waren,wir waren, fünf Kinder hat er gehabt und alle haben sindjetzt einigermaßen, haben sich gefunden in dem Leben wo

560 wir waren, alle standen schon auf den Füßen so.. Na »unddas ist alles neu, das ist alles unbekannt, das ist«, schrecklich.Dann haben wir besprochen das, das wir kommen zu Gast, zudie Tante… Sie haben uns Einladung gemacht und ich mit denEltern, Jahr achtundachtzich fuhren wir nach Deutschland.

565 Vierzich Tage waren wir hier. So, dort besucht, die anderebesucht, angeschaut sich alles, vollgepackt Menschenskinddas war wahnsinnig was wir uns alles mitgenommen haben,was sie alles nicht zusammengepackt (lacht)I: (lacht)

570 P. B.: Von Kleidung, Spielzeuch, Bonbons und alles mögliche.Wir waren voll bis Zähne, mit den Zähnen musst ich tragen..Na, kamen wir nach Hause, das alles gebracht: »Wow!« Danndie nächste waren wir schon, hier habe ich schon den Va-terüberzeugt das wir müssen fahren. Weil das ist alles, alles

575 was dort ist wir haben sich gefunden. »Ja gut, ist alles in Ord-nung, das stimmt.« Aber war da das was dort kommt jetzt,weil diese das was Gorbatschow so stark hat propagiert undin die Zeitungen waren voll und Radio war voll, je lauter siereden und sprechen desto schlechter geht es in Russland.

580 I: HmP. B.: Weil das zwischen den Zeilen, es gibt so eine Variationvom Lesen, zwischen den Zeilen zu lesen, und das ist sehrschlimm und traurich, es kommt wahnsinnig, schau sichma an was läuft mit den Preisen von Häuser. Weil kurz vor

585 unserer Wegreise einer von unseren Nachbarn hat ein Hausverkauft. Und der hat für den Haus, die haben sich gar nichtgeträumt von so einem Preis, das so weit Preis konnte manzahlen, wahnsinnig Geld, das war ja fast zwei Autos, Autoskosteten sehr teuer da.. Weiowei. Weiowei. Naja gut die hat

590 für zehntausend Rubel haben sie ein Haus verkauft. Aberdas ist nicht weil er ein sehr gut schönes Haus hätte, dat

Geld verfällt. Naja, haben wir den überzeugt und kamen wirnach Hause halbes Jahr später, haben sie schon Einladunggehabt. Fuhr ich nach Moskau mit den ganzen Papieren, die

595ganzen ( ) welche muss man da machen ( ) und Visumund und Umtausch von Geld auf die D-Mark, hab ich allesgemacht. Und dann hab ich sie auch begleitet bis Moskau,bis Flugzeug, bis sie nicht einstiegen.. Dann flogen sie weg,das war neunundachtzich.. und im Dezember, zwanzigster

600zweiundzwanzigster ungefähr kommt zu uns ein Brief, siehaben schon Einladung für uns gemacht.I: HmP. B.: (5) Für drei Kinder, zwei wegen seine familiäre Verhält-nisse haben sich zurückgezogen, wollten nicht fahren.. und

605drei von uns wollten fahren.. Im April, Mitte April, fünfzehnMenschen waren es zusammen, welche flogen sofort weg, miteinem Schlag. Die ganze Stadt, die ganze Stadt nicht selbst-verständlich nicht die ganze Stadt aber riesen Menge Leutewussten das wir wegfahren, bei uns war zuhause wie eine

610Bahnhof (lacht), einer kam, war weg, der andere kam rein:»Wie und was warum weshalb, wie macht man das und wiemacht man dieses?« Und das war dann wie Informationsbüro(lacht), musste man alles erklären und dann… FünfzehnterApril waren wir hier, nach Frankfurt gekommen, von hier

615siebenhundert Kilometer nach Norden, Schönburg, nicht weitvon Lübeck. Waren da in unser erster Lager, dort bekamenwir die Papiere durch.. Dann haben wir, und die Eltern wohn-ten hier in Koblenz, Lützel. Im Jahre neunzich, das war Jahreneunzich, in diesen Zeiten haben sie uns noch erlaubt zu den

620Eltern fahren, zu denjenigen welche haben dich ausgerufen. I:JaP. B.: Später gab’s sowas nicht mehr, die Leute mussten schonnach DDR oder irgendwohin wo sie da verteilt sie haben. Ka-men wir nach Andernach, aber in Andernach haben wir eine

625Nacht verbracht, im zweiten Lager. Kamen meine Cousineund haben uns alle auseinander gezogen, einer dorthin einerdorthin. Aus dem Lager waren wir weg. Die haben uns auchgeholfen die restlichen Papiere zu machen, von dort kamenwir auch zu den Sprachkursus. Haben wir angefangen die

630Sprachkurse zu machen und dann eine von meine Cousinehat, grade diejenige bei welche hab ich haben wir gelebt, diehaben angefangen zu bauen. Und am Tag machste Unterrichtund Nachmittag kommste zum Bau, bauste dein Haus (lacht).Und das hat mir auch sehr geholfen weil die Technologie des

635Bauens von diese Orte, man kann das sehr gut lernen in dieseMoment, wenn du hilfst, wenn du packst mit an und schaustdich: »Guck mal!« »Wie macht man das?« »Achso, ok.« Dannmachst du auch weiter aha und, das hat mir auch geholfendieses Haus zu bauen. Weil das was du lernst dann kennst du

640das schon und, das ist ja wie FahrradfahrenI: (lacht)P. B.: (lacht) Und dann haben wir, drei Monate haben wirbei denen gelebt und dann haben wir plötzlich – damals warsehr schlecht mit den Wohnungen – und dann haben wir die

645Wohnung in Oberhonnefeld hier auf die Hauptstraße, Reigen-straße 16, haben wir dort neWohnung gefunden und da gelebt.Und später, naja gut, später, am Anfang, nach dem Sprach-kursus damals waren es noch so, sechs Monate musstest duTheorie durchgehen und dann drei Monate Praktikum. Und

650für die Praktikum hat unser Lehrer, mich und noch vier Mann,hat er bei Firma Rissenstahl angeboten, und die Firma hat,

Page 136: it - Gesellschaftbilder Und Selbstverst Russlanddeutscher Aussiedler in der Sowjetunion und in Deutschland

126 anhang b Interviews und Gedächtnisprotokolle

aus fünf Mann.. mich alleine genommen. Die andere kamennicht in Frage. So wie der, Personalabteilung, später hat eruns Vorstellungsgespräch gemacht, und ich fuhr mit meiner

655 Frau dorthin, zu dem Gespräch, wie und was, nu hab ich siemitgenommen… Dann haben wir gesprochen, dann hab ichdie mal gefragt, aus welchem Grund hat er mich genommenund die andere nicht, weil die sind ja auch ganz in Ordnung.I: Hm

660 P. B.: Gawarit ( nein nein): »Sie haben gelernt.«.. Und die ha-ben, die haben das ganz anderes erlebt. Ja stimmt, die warenmeist aus Kasachstan, aus Dörfer. Und so einer, zwei warenTraktoristen, einer war Mechaniker und einer war Elektriker.Und »Elektriker« sagt er »hier packt er das nicht, der muss

665 neu lernen. Weil das ist ganz andere.. Das ist, das passt nicht.Das brauchen Sie mir nicht erklären, das passt nicht. Als Elek-triker kann er sich hier nicht arbeiten. Als Helfer vielleicht.So, nebenbei sein. Die Drähte die sind ja die gleichen, aberweiter kommst.. (hustet) Verhältnisse sind ganz andere.« Naja

670 gut »Und Sie haben das gelernt was wir brauchen.« (Schwie-gertochter mit Kind kommt rein) Natalie, Natalie, hier läuftein Diktiergerät ja, bleiben sie dort ok. Im Wohnzimmer, ge-hen sie mal dort rein! (gehen weg) Von Anfang an hab ichungefähr, naja, als mit dem Bau bei der Cousine fertig waren

675 hab ich angefangen mit die Frau zu reden, wir müssen auchanfangen, mindestens zusammen bisschen Geld kratzen daswir Grundstück sich kaufen und auch. Ei das war schrecklich..Hast ja kein Geld, gar nichts.I: Hm hm

680 P. B.: Na auf einmal, war sie sehr stark dagegen, sehr lang,und auf einmal haben wir gelesen das dieses Grundstück wirdzu verkaufen hier. Und, beim Spazieren siehst du ja das, dasdiese Umgebung ist sehr schön. Dann haben wir ein Termingemacht, besprochen mit den Leuten, und die wollten hun-

685 derttausend Mark D-Mark für diesen Grundstück.. haben wirhin und her mit denen (lacht)… kam ich zu dem Bankier, sagich: »Ich brauche Geld für’s Grundstück zu kaufen.« Und derhat meine Konto da durchgecheckt.. und das was ich in dieTasche gehabt da hab war zweiundvierzig tausend zusammen-

690 gekratztes Geld. Und hier musste hunderttausend sein.I: HmP. B.: Na doch, ich hab doch Kredit gekriegt. Hat er mir…ha er mir unterschrieben das wenn ich auf einmal doch nichtkann, der Grundstück gehört die Bank. Naja gut dann, aber

695 ich versuch’s. Aber Versuch hat sich gelohnt… Das war sechs-undneunzich haben wir angefangen zu bauen, bei die Firmahab ich genommen Geld, bei die Bank, ging ich nochmal dort-hin. (8) Ja, siebenundneunzich sind wir eingezogen. Zuerst dieEltern, die wohnten unten, unten ist noch eine Anliegerwoh-

700 nung, am Anfang sie und im Dezember siebenundneunzichkamen wir auch hier nach oben, waren wir hier fertich. (5) Nahat geklappt, mit die Arbeit hat es geklappt. Ich hab keine Kar-riere hier auch versucht zu machen. Verbesserungsvorschlägehab ich gemacht, aber die Verhältnisse waren auch… sehr trüb

705 (5). Ich dachte das ich mach was Gutes, im Jahre fünfundneun-zich vierundneunzich hab ich angefangen so probeweise zuVerbesserungsvorschläge zu machen, ich hab die Vorschlägegemacht… und hab damit beleidigt meine oberen Chefs vonder Abteilung (7). Weil die kamen nie dazu aber die waren so..

710 naja gut, dann hab ich mir sehr starkeFeinde aufgebaut, mitseine eigene Hände… Weil die waren (bisschen), wenn es ( )

einer war, wenn ich mit einem aufgehört hätte.. dann wäre eshalb so schlimm, halb so wild.I: Hm

715P. B.: Die allernächste welche kamen die Verbesserungsvor-schläge, der Kluft wuchs immer weiter und weiter… und daswar eine gesteuerte, von oben, Mobbing,gewaltiger, gnaden-loser Mobbing, bis zuletzt, bis zu dem als ich wegging,gnadenloser ohne Wenn und Aber. Na sie dachten das ich

720halte das nicht aus und gehe weg aber ich hab das ausgehalten.Drei Jahre her hab ich unterschrieben so einen AltersteilzeitVertrag, hab ich drei Jahre gearbeitet, und in die Zeiten ha-ben sie mir.. die Hälfte Stunden gezählt, ich hab acht Stundengearbeitet aber die haben vier Stunden gezählt, so. Mit eine

725kleine Zulage, na klein, fünfundachtzich Prozent hab ich vonmeinem Lohn gekriegt, solche Zulage. Weil ich ging in dieRente früher, weil ich arbeite jetzt schon nicht mehr, und einJunger kann ruhig an meinem Platz arbeiten. Und das warder Verfolgung, nicht das der Junger kriegt Arbeitslosengeld,

730geh ich weg und der Junger kann arbeiten. Jetzt bin ich zuHause, schon halbes Jahr bin ich zuhause und kriege immernoch diese fünfundachtzich Prozent aber ohne Zulagen vonNachtschichten, Sonntage, weil ich arbeite ja nicht mehr. Dieseextra Zulagen bekommt man nicht. Von den tariflichen ( )zei-

735ten das steht fest, das hab ich, fünfundachtzich Prozent daskrieg ich. Na die haben voriges Jahr schon versprochen unddie hatten es auch noch, der Betriebsrat legt noch etwas dazu.Na genaue Prozente weiß ich jetzt auch nicht, aber so un-gefähr neunzich Prozent, nicht ganz neunzich Prozent aber,

740tarifliche (so).. Weil diese Zulagen die du Sonntage alle hast,die arbeiten viel Nachtschichten, Spätschichten, müssen allesZulagen kommen. Und wenn du paar Feiertage noch hast indiesem, ungefähr vier bis fünfhundert kommt es raus, vondies Zulage, das macht viel aus. Weil diese, das bei Risselstahl

745wer viel verdient, ist nicht das sie sehr viel verdienen, das istnur deswegen weil sie müssen ständig, das ist kontinuierlicheArbeit ohne das du schaust, egal was, Sonntag Samstag spätNacht, musst du immer da sein.I: Hm

750P. B.: Na aber, man kann nicht meckern, das Geld reicht, unsreicht es aus. Mit allen Schulden das, jetzt kann ich das phph (lacht). Ist schon nicht so dramatisch… Und so kurz, Ge-schichte ja ich, von den Freunden erzählen (lacht), das ist eineandere Sache. Was hätte sie dich noch so gerne interessiert?

755Aus welchem Bereich?I: Gut ehm… Anfangs haben Sie von einer Schwester vonIhrer Mutter erzählt dieP. B.: Ja, die Tante, Tante RitaI: Das war die Schwester von Ihrer Mutter?

760P. B.: Ja, die war Halbschwester. Die Mutter von meinerMutter, meine Mutter war sieben Jahre alt und starb ihre ei-gentliche Mutter. Und der Vater von meiner Mutter hat zweitemal geheiratet und die äh, von die zweite Frau, Halbschwes-ter kommt es raus. Vater war bei ihnen gleicher, aber meine

765Mutter war sieben Jahre starb die, und dann heiratete derzweite mal. Und die, der Vater die haben den umgebracht imJahr siebenunddreißig, der war umgebrachtI: Der Vater der Mutter?P. B.: Ja. Und die Frau von dem kam auch nach Tjumen, die

770war auch nicht weit in einem naheliegenden Dorf war sieauch da. Und dann auf einmal hat sie gehört das sie starb,

Page 137: it - Gesellschaftbilder Und Selbstverst Russlanddeutscher Aussiedler in der Sowjetunion und in Deutschland

Interview: Peter Berndt 127

die Mutter von meine Tante, und das das Kind läuft jetztin den Dörfern und bettelt um Essen. Und dann ging sie zuFuß, vierzich Kilometer sowas hat sie erzählt, hat sie sich frei

775 genommen bei der Molkerei da und die vierzich Kilometer hatsie zu Fuß durch, weil die hat, die wussten das weil jemandhat sie gesehen in dem Dorf, kam sie auch zu diesem Dorf,hat sie wirklich gefunden dort. Und sie hat sie genommen,die war sieben Jahre alt, ab fünf Jahre war sie alleingestellt,

780 keiner hat sich gekümmert um diesen Kind. (Weisin) die hatim Heu irgendwo übernachtet und bei dem Vieh.I: Hm. Sie haben gesagt, sie haben in Baracken gelebt, wasP. B.: Baracken das sind aus Holz gebaut gebaute sehr langeAufbaute, die hieß Baracke

785 I: Ja jaP. B.: und dann hat sie Eingang, diese Baracke, ungefährachtzich bis hundert Meter lang war sie und dann von denSeiten waren noch Eingänge.I: Warum haben Sie da gelebt? Oder haben alle Menschen in

790 Baracken gelebt damals?P. B.: Weil das war eine sehr kleiner Ort und dann habensie ungefähr dreizehn tausend Leute, die Russlandsdeutschedorthin gebracht. Und dieser Ort hat, mit allem drum unddran, vielleicht achthundert Menschen gehabt, früher. Und

795 aufeinmal kamen dreizehn tausend, haben die zusammenge-jagt, und die erste welche kamen haben zuerst gebaut dieseBaracken. Holz gefällt, und dann aus diesem Holz auch dieseGebäude aufgerichtet.I: Und das waren nur Deutsche die dann da gelebt haben?

800 P. B.: Ja Russlandsdeutsche, das waren Russlandsdeutsche.I: Und die mussten dort leben, oder was?P. B.: Ja, Trudarmee hieß es.I: Ah, ok.P. B.: Ja ja, das hieß Trudarmee. Aber Armee, man versteht

805 so das die Soldaten wird ja kein Schwein mit dem Stachel-draht rundum und rund( ) bewachen, aber das war so. Diewaren rund um die Uhr und bei der Arbeit waren sie immerüberwacht.I: Wo haben Ihre Eltern gearbeitet?

810 P. B.: Mein Vater hat als Bulldozerist, als Traktorist, Traktorhat er gefahren und das hat ihm den Leben gerettet. Der hatmit weinenden Tränen hat er erzählt wie er musste im Herbstlange Transcheen, Transcheen das ist ein ausgegrabener, Tran-schee heißt auch wenn die Soldaten die Erde sich ausgraben,

815 und dann hat er mit dem Bulldozer die Erde aufgehoben, aufdie Seite geschoben, weil im Winter, es war kaum möglich,weil bis zu zwei Meter friert der Boden durch, bis zu zweiMeter tief, minus vierzich is keine Seltenheit, und dann hater im Herbst so ein Transchee gegraben und dann haben sie

820 die, die Leute.. Wenn eine Einheit, Brigade hieß es – zwanzichdreißich Leute – seine Norm nicht geschafft hat, aus welchemauch Gründe, die waren nicht in die Baracke reingelassen..I: Norm, welche Norm? Für was?P. B.: Na zum Beispiel zwanzich Mann müssten ähhh zwan-

825 zich Tonnen Steine hinlegen weil die haben dort gebaut Ge-bäude und dann haben sie ja einen Damm – ein Fluss, kleeii-nes Flüsschen – haben sie ein gigan, ein kräftigen Baute, soungefähr zweihundert Meter Damm aufgebaut, aufgehobendem aufgesperrt. Weil der Aluminiumbetrieb und die Betriebe

830 brauche Wasser. Und das ist, für diesen Betrieb haben sie dasgebaut. Autos haben sie nicht gehabt, waren Pferde, die Trak-

toren haben schon geholfen etwas zu schleppen, aber das alleshinlegen müssen sie… mit Stangenbrecher.. mit ( ) und Mus-kelkraft. Das und dann haben sie immer den Norm, so so

835viel müssen sie heute machen. Wenn sie das nicht gemachthaben, sie haben sie nicht in die Baracke reingelassen. Kom-plette Brigade hat er gesehen und hat er mit den Schlitten,mit dem Traktor, sie haben die auf die Schlitten hingelegt, tote,eingefrorene Leute

840I: AchsoP. B.: und dann fuhr er dorthin und dann haben sie die hinge-legt und dann hat er sie.. zugewälzt. Er hat mir später – langehat er nicht gezeigt: »Nein, ich hab das unterschrieben das icherkläre das nie, zeige das nie, keinem.« Laange. Aber vor dem

845Wegreise hat er mir doch gezeigt, wo sie liegen, die Leute,welche starben im Jahre dreinundvierzich zweiundvierzichvierundvierzich fünfundvierzich. Im Jahre sechsundvierzichhaben sie sie rausgelassen aus diesem Zaun. Dann lebten siein einfache Baracke, ohne Zäune.Aber vor dem, und dann kam

850die Kommendatur, bis zu sechsundfünfzichmussten sie immersich ständig – ich war noch ganz klein, vielleicht sechs Jahrewar ich alt, hat mich mein Vater mitgenommen und dannwollte er zu seiner Schwester nach Sasnovka, das sind vierzichKilometer von die Stadt Krasnoturinsk, in Taiga, richtig Taiga.

855Taiga das ist Waldgebiet, sibirische.I: Ja ja, hmP. B.: Und dann wollte er dorthin zu seine Schwester fahren,zu Besuch mit ganze Familie und dann hat er mich zu Polizeigenommen, zum Erlaubnis zu kriegen, diese ( ) er durfte nicht

860außer diesen Ort, der wurde ganz locker erschossen wenn ihnjemand sieht das er rausgeht, einfach geht, aus welche Gründeauch, Pilze sammeln. Und dann kam er, oh dann – naja gutheute sieht es ganz anders aus, aber damals, mit Schnurrbartund Kokart, so eine tiefe Stimme hat er gehabt und dann hat

865er immer geschrien, immer so als.. haha. Und dann haben wirgekriegt diese Erlaubnis mit ganze Familie, Tante lebte mituns (bevor sie), sie war geboren, sie war erst zwölf Jahre älterwie ich, ist vorvoriges Jahr ist sie gestorben, war krank, na siehat auch schweres Leben gehabt. Von Kindheit an und dann

870weiter hat es auch nicht so rosig ausgesehen. Nu bei uns wares noch gut aber sie hat geheiratet einmal, der war betrunken,dann hat sie zweite Mal geheiratet, von zwei verschiedeneVäter hat sie zwei Kinder, zwei Mädchen, eine lebt hier inAndernach und eine lebt immer noch in Krasnoturinsk, sie

875hat geheiratet einen Mann und der war der wollte nicht nachI: HmP. B.: Und fünf Kinder, die Tante, meine Tante und die Eltern..In den Waggon, zu Fuß bis zu der Haltestelle, das ungefährsieben Kilometer von unsere Stelle mussten gehen, zu Fuß

880gingen wir mit den Taschen, mit Umsteigen. Sitzt da an demFenster, klebst dich an, die Bäume gewaltig, agro ouh, das warI: Aber das, Sie haben diese Erlaubnis problemlos bekommen?P. B.: Oh der hat, zuerst hat er ein Brief, der musste russischgeschrieben sein, ein Brief von Einladung, ( ) Einladung. Die

885Schwester lädt dem ein, einfacher Brief. Und dann hat er beiseinem Chef, wo er gearbeitet hat, hat er dem, und der hatihm erlaubt.I: Der Chef vom Vater?P. B.: VomVater. Der Chef erlaubt ihm. Und dann hat er dieses

890Brief, diese Erlaubnis, geht er zur Polizei, und die Polizei stelltihm schon die Erlaubnis auf Rausfahren. Und dann hat er alles

Page 138: it - Gesellschaftbilder Und Selbstverst Russlanddeutscher Aussiedler in der Sowjetunion und in Deutschland

128 anhang b Interviews und Gedächtnisprotokolle

da notiert, wer fährt mit wem und dann fuhren wir dorthin.Und dann waren wir eine Woche dort, uh sehr interessant.Der Jakob der lebt in Gütersloh jetzt, nu wir treffen uns ab

895 und zu. Mein Cousen.I: Hm. Und waren Ihre Eltern beide Deutsche?P. B.: Ja, ja.I: Und das Dorf in dem Sie gelebt haben, waren auch sehrviele Deutsche oder fast nur?

900 P. B.: Nur. Die haben noch gelernt, die haben noch gelernt indie deutsche Schule.I: Ihre Eltern?P. B.: Ja. Die russische Sprache haben sie nebenbei so kleinbisschen gelernt schon, aber als sie kamen nach Tjumen, so

905 richtig ausreden konnten sie sich nicht, ausdrücken. Da habensie das alles gelernt.I: Hm, also Sie sind auch und Ihre Geschwister mit Deutschaufgewachsen?P. B.: Ja, bis fünf Jahre wusst ich gar nicht die russische Spra-

910 che. Solange bis an Mama sein Rock hältst dann sprichst du:»Mama, ich will essen! Komm mal!« Was machst du, wasmachst du das was die Mama macht, was die Mama dir vor-spielt oder vorredet vorsingt, das kennst du, das ist die Kü-chensprache. Danach mit fünf Jahre musst ich schon bisschen

915 auf die Straße sich umschauen, weil vor stand ja die Schule.Hier auf dem Kopf irgendwo wächst bei mir keine Haare, dassind mit den Steinen, das war die Lehrer russische Sprache.Nicht weit von uns wohnten auch die Russen, und dann hab,schreit etwas dir und du verstehst ihm nicht, »Na wieso, willst

920 du nicht?« Der meint ja da dat du, jedes Tier muss wissen dadie russische Sprache was er meint, weil der is ja auch so ( ).Die Kinder sind auch Extremisten, fast alle. Der war ein Jahroder zwei Jahre älter wie ich, aber sein zwanzigster Jahrganghat er nicht erlebt, der Mensch. Der Mensch hat ihn nicht er-

925 lebt, weil der war besoffen und… starb. Ein Tag vor dem sieihn in die russische Armee eingezogen haben hat er gefeiertund ist umgekommen. Und der hat mir mit dem Stein in dieHand genommen, kam er zu mir, hat er mich gelernt. Seitdemweiß ich kenn ich die russische Sprache.

930 I: (lacht) Mit Gewalt?P. B.: (lacht) Anders ging es nicht. Mit dem Stock, mit demStein, irgendwie aber du musst das verstehen. Weil du bist,du warst ein Faschist. Einfach ins Gesicht und ohne wenn undaber und du musstest das annehmen, das ( ) ok ok.

935 I: Als Sie aus dieser Barackensiedlung rausgezogen sindP. B.: das neunundfünfzich schonI: da waren sie nicht mehr in ner deutschen Siedlung, oder?P. B.: Das war ne Mischsiedlung, in eine MischsiedlungI: Und wo ist das passiert was Sie gerade erzählt haben?

940 P. B.: Das ist alles in die Nä, Krasnoturinsk. Zweiundvierzigs-ter Quartal, das ist schon eine normale Siedlung, welche warbesiedelt mit den Russen, schon vor dem Krieg, die lebten dortschon.I: Und warum sind Sie jeweils umgezogen?

945 P. B.: Hier in diesen Baracken, das war nicht für die Familiengeeignet, dort waren ja die Zimmer getrennt mit Bettlaken.Und hier haben wir schon gekriegt diese Einzimmerwohnung,aber Einzimmerwohnung war so klein, so knapp für uns, daswar ja schon. Und dann war, der ältester Sohn, der Harry

950 war schon siebzehn achtzehn Jahre alt, alter Bursche! Undkannst dir vorstellen, das hier alles in einem Raum, nu zwei

Räume, Küche und ein Zimmer. Und die Tante ist ja auch,die war ja vierundzwanzig und ich war schon zehn Jahre alt.Na gut, Sunduk, einer so wie diese Couch ungefähr gebaut.

955Dieser Sunduk, heißt das, das ist ein Kasten mit Deckel, sehrschön gemacht, hübsch gemacht, mit Eisen bestückt. Und derDeckel ging auf und dann konnte man reinlegen. Und aufdiesem Sunduk hab ich gele, hab ich geschlafen bis neun Jahre.Das war mein Platz. Die andere, der Vater mit die Mutter die

960haben ein Bett, die andere alle auf dem Boden. Ich hatte, ichweiß nicht wieso, Harry hat das bei mir nicht abgenommen,a der war schon zu kurz für den. Vielleicht hätte ich demnicht gekriegt weil der war zu kurz für den. Ja und da alle..der Dima auf den Tisch, die Decke hingelegt das er nicht

965da runter rollt. Der Ältester, Tante Rita, alle auf dem Bodengeschlafen. Deswegen hat Vater sich hier so ein Häuschengekauft. Da haben sie gespart richtig Geld und dann hat er sichrumgeschaut und hin und her und nachgefragt, da haben sieauf einmal, »Ja, hier ziehen die Leute raus und weg, die fahren

970weg. Kannst du dem kaufen.« Na hat er sich dem gekauft. Aberdas war nicht viel besser als das was wir hatten. Na bisschenbesser war es schon aber.. ich kam nach der russischen Armeezu dem Hause, weil ich ging ja noch aus dem alten Hausewo wir hier hatten im zweiundvierzigsten, danach, nicht weit

975von dem, ungefähr zweihundert Meter haben wir ein neuesHaus gebaut. Und hier haben wir zu diesem Häuschen nochzusätzlich ein großes Zimmer gebaut. Das war für die Eltern,meine beide Schwestern haben da gelebt. Nach der Armeekam ich zu diesem Haus und die Eingangstür, die war mir so,

980wenn du die Tür machst nach innen auf ungefähr dreißichZentimeter steigst du runter.I: Achso, das ist so eingesunken.P. B.: Ja, eingesunken oder, ich denke das es eingesunken war.Dann kommt man rein, ein Zimmer und noch ein Zimmer

985und hier noch ein Zimmer aufgebaut und trotzdem war’s zuwenig. Zu drittmussten wir schlafen in einem Zimmer danach,drei Brüder und dann haben wir dort geschlafen. Einmal kamder Ältester und hat sich eine Frau – na die lebt noch, er istschon nicht am Leben mehr, war er krank, ist er gestorben und

990die Frau lebt noch. Und dann hat er auf einmal, und die warsiebzehnhjährige, die dürften noch gar nicht heiraten, aberder hat sie schon gebracht. Und ich hab mit meinem jüngstenBruder in einem Bett und die beiden junge neben.. zwischenden Betten fünfzich Zentimeter, höchstens. Naja, man muss

995das durch.I: (lacht) Sie hatten gesagt das Ihr Vater war im Krankenhausund das Sie sind zurückgekommenP. B.: Ja der war im Krankenhaus. Als ich zurückgekommenbin nach einem Monat stand er doch auf und der lebte noch

1000sehr lange und hat noch gearbeitet bis zu seiner Rente. Doch,auf einmal ging es alles. Na das kann sein das das auch sehr, ähso dass ich kam nachHause undMutter hat ihm immer erzähltdas ist das und das angefangen haben und das ma gemacht.Und dann hab organisiert die Jungs bisschen so, kommt ma

1005und dann Treibhäuschen aufgebaut und das ging irgendwieund weißt du das ist ermutigend, das das Leben läuft weiter.I: Hm hm. Mit Ihren Geschwistern haben sie das aufgebaut?P. B.: Selbstverständlich das mit den Geschwistern. Aber sehrsehr auch Zusammenhalt. Die ganze Familie hält bis heute bis

1010heute noch, bisschen nicht so warm nicht, anders. Hier an-ders. A dort haben wir bis zuletzt alles zusammen gemacht,

Page 139: it - Gesellschaftbilder Und Selbstverst Russlanddeutscher Aussiedler in der Sowjetunion und in Deutschland

Interview: Peter Berndt 129

gefeiert, gearbeitet, alles war mehr zusammen. Obwohl sehrunterschiedliche, die zweite Hälfte, jeder hat die zweite Hälftegebracht sehr unterschiedliche Leute. Sehr! Und die Mutter

1015 hat sehr viel Diplomatie, Vater hat nicht so viel Geduld ge-habt wie die Mutter, die Mutter hat das, heutzutage wennwir sitzen alle, als größte Merkmal von die das ist Diplomathoch drei. Bei so eine unterschiedliche, der Ältester hat dieDeutsche geheiratet, ich hab geheiratet Russin, der Dimitri,

1020 der dritte Bruder, Ukrainerin, die Elsa die hat Deutscher, zweiDeutsche sind geheiratet, und der Jüngste der hat Tatarin.Sehr unterschiedliche Mentalitäten. Nationalität Mentalität,alles alles war gegen sie, so kann man sagen. Nicht das wassie sehr was gewünscht hat, was sie sich da vorgestellt hat,

1025 kamen ganz unterschiedliche Leute.I: Die Mutter, was hat die Mutter sich gewünscht, oder dieEltern?P. B.: Oh das wir alle Deutsche heiraten und halten sich zu-sammen und so, sehr, das wir sehr großzügich die Bibel ver-

1030 folgen, das wir glauben, keiner von uns glaubt. Ist keinerGläubiger. Keiner von uns. Das war sehr traurig für sie abermit dieser Realität musste sie irgendwie, na aber sie kam auchzurecht… Die letzte sieben Jahre nach einem Schlaganfall lagsie bei uns hier im Wohnzimmer, wir haben sie betreut… war

1035 in Ordnung.. die hat das alles verkraftet. So wie es ist. Sie hatsein Bestes gegeben. Damit sind wir alle auch einverstanden,das sie hatte wirklich das Beste, das was machbar in mensch-liche.. na, kannst dich vorstellen, sie hat gearbeitet und dortauch übernachtet, in einem Kuhstall. Dort hat sie

1040 I: Wo?P. B.: äh im Krieg. Das ist zweinundvierzich dreiundvierzichvierundvierzich fünfundvierzich, in sechsundvierzich habensie ihr erlaubt sie zumMann fahren. Und die hat einen kleinenKind der ist geboren im März einundvierzich, im Sebtember,

1045 halbesjähriges Kind, ist sie nach Tjumen verschickt. Dannmusste sie melken. Dann haben sie angebunden den kleinenKindche am Fenster, als er Jahr, als er schon stehen konnte, soein Podest kleine gemacht, angebunden da am Fenster, kanngucken, kann sich umdrehen und die Kühe gucken. Und so

1050 hat sie dieses, danach hat sie noch die, seine Halbschwestermeine Tante, hat sie noch dazu gebracht, auch das weiß ich.Sagt sie: »Na das mindestens sie überlebt haben«, das sie mitder Milch konnte sie ein bisschen.I: Hm. Ja.. Und wie war das nochmal, wann haben Sie gehei-

1055 ratet?P. B.: Im Jahre siebenundsiebzich, Januar. Es gab Schnee, sehrsehr viel Schnee. Vor die Hochzeit, Hochzeit haben wir gefeiertin Hause des Eltern, Elternhause, fast sechzich Mann kamenda rein.

1060 I: Ihrem Elternhaus?P. B.: Ja. Ja.I: Und wie wieP. B.: Meine Frau ist geboren in Swerlowsk, jetzt Jekaterinen-burg, Uralmasch, die wohnte in Abteilung Uralmasch, dort.

1065 Die Eltern waren schon tot beide, die sind gestorben einernach dem anderen, im Intervall drei Monate. Zuerst Mutterund dann nach drei Monate der Vater ( ). Hab ich sie gehei-ratet und gefeiert haben wir bei den Eltern.. Früh morgensmusste ich noch, bei zehn Uhr, neun zehn Uhr, hab ich mit

1070 dem Schaufel so viel Schnee weggeschaufelt. Man o man oman o man. Da die ganze Nacht ging Schnee und viel runter..

jah.I: Und wo haben Sie Ihre Frau kennengelernt?P. B.: Ahh… ( ) Montage, naja gut das, sie war eine Sekretärin

1075von einem Verwaltung bei einem Chef. Und ich äh, telefonischhab ich Verabredung mit ihm gehabt, einen Termin, das ichkomme zum neue Vertrag zu schließen.I: Als Sie da befördert werden sollten?P. B.: Ne ne, das war als ich hab gearbeitet bei der Berufs-

1080schule, für die Jungs, das ich mit den Jungs zu denen komme.Ich musste Wohneinheim, etwas zum Wohnen musst ich ha-ben und dann musst ich Zulage etwas aus dem rausbetteln,aushandeln das er mit gibt zum Essen, welche Arbeiten müs-sen wir tun, wo arbeiten mit wem wir arbeiten, alle Fragen

1085musste ich mit ihm klären. Und ich saß bei dem im Büro, vordem Büro und sie war als Sekretärin an der Schreibmaschineund dann Telefonaten da. Und die saß und hat gewartet bis erZeit für mich hat und dann auf einmal durch den Lautsprechersagte sie: »Ja, ruf mal den.. den Meister Berndt Peter zu mir.«

1090Zeig sie mir. Na ging ich rein, halbe Stunde haben wir dieganzen Fragen geklärt, ging ich raus und sie hat den Vertragso, Art Vertrag auf die Maschine gedruckt und dann habenwir unterschrieben dem, na, dabei stehst ja und redest (lacht)I: (lacht) Hm

1095P. B.: Dann haben wir sich bekannt gemacht. Danach kam ichmit den Jungs und das war schon Sommerzeit, und der Betriebhat so organisiert einen Betriebstag, Ausflug, Baltim, das istein See und dann dort haben sie so ein Lager, sommerlicherLager und da haben sie gefeiert. Nu ich hab bisschen Gitarre

1100gespielt, mit den Jungs gesungen da hin und her, Witze erzählt,und sie war in der Nähe da (lacht) war jung, wir waren allejung, und dann hin und her, trallala, »Ja ich möchte lernendie Gitarre spielen«, nu bis jetzt lerne ich sie. (lacht)I: (lacht)

1105P. B.: Lernt sie die Gitarre spielen. Das war sechsundsiebzich,und dann, nicht lange,dann haben wir geheiratet.I: Und dann eh, siebenundsiebzich haben Sie geheiratet unddann sind Sie danach nach Uringoi gefahren, oder?P. B.: Siebenundsiebzich haben wir geheiratet und die hat

1110weitergelebt in der Wohnung, von Eltern Wohnung mit sei-nem Bruder, zu zweit haben sie die Wohnung geteilt, die hatweitergelebt und ich hab so mit meiner Chefin das verabredet,das sie mich seitdem immer nach Swerlowsk schickt, nichtdas sie mich dorthin irgendwo hin äh nach Taschkent oder

1115Riga, nein das sie mich immer dorthin schickt. Und ich hab dieJungs immer in die Wohneinheim gebracht und dann hab ichimmer mit denen solange bis die nicht schlafen gehen, dannfuhr ich nach Hause und um sechs Uhr musst ich aufstehen,um sieben Uhr musst ich aufheben das sie zurechtkommen

1120auf die Arbeit zu kommen.I: Hm hmP. B.: Na so, so ging es auch. Ich hab, mit der Familie war icheigentlich, ich war.. aber gearbeitet habe ich bei die Krasnotur-insk. Und dann auf einmal der Bruder war unzufrieden mit

1125der ganzen Sache, hat er sie gesagt: »Packt, packt eure Sachen.«Er hat uns gesagt das wir müssen, na ich war schon in Urin, jaich fuhr schon einund zweiundachtzich fuhr ich nach Uringoiund in dieser Zeit hat er sie gesagt: »Packt ihre Sachen undhaut ab.« Und zu diese Zeit, kurz vor dem als ich nach Uringoi

1130fuhr, hab ich von der Berufsschule bekommen eine Wohnung,Zweizimmerwohnung, Küche und zwei Zimmer so, Bad Kü-

Page 140: it - Gesellschaftbilder Und Selbstverst Russlanddeutscher Aussiedler in der Sowjetunion und in Deutschland

130 anhang b Interviews und Gedächtnisprotokolle

che und Zweizimmerwohnung hab ich gekriegt. Und sie standleer. Ich hab sie bekommen, den Schlüssel von, und das warmeine Wohnung. Und ich fuhr nach Uringoi. Und als ich zu-

1135 rückkam ich wusste schon das ich, das war noch ein Grundweshalb kam ich von Uringoi zurück. Weil die schreibt mir einBrief, das ist so und so, der drückt uns raus, naja gut, müssenwir nach Krasnoturinsk fahren. Und sie kennt ja keinem indie Stadt.

1140 I: Hm, hm.P. B.: Ich kannte die Hälfte von dieser Stadt, weil ich war dort,ich wuchs dort auf, ich hab da gelernt, ich hab da Sport getrie-ben, Volleyball gespielt und ( ) gemacht, weiß der Kuckuckwas, lebst dort einfach und die Stadt ist nicht sehr groß, drei-

1145 undsechzich tausend ungefähr. Von denen achtundhalb warenDeutsche. Sind alle weggezogen. Dort lebt, noch sind einzelnePersonen sind noch dort. Sind auch welche zurückgekommenvon hier aus Deutschland…I: Haben Sie Kinder?

1150 P. B.: Eine. Gott hat uns nicht gegeben mehr. Die letzte malwar meine Frau schwanger, schon hier zweiundneunzich drei-undneunzich. Wie sie lag im Krankenhaus schon, und dannvon diesem Krankenhaus haben sie sie abtransportiert nachBonn, nach Uniklinikum, nach drei Monaten hat mich der

1155 Chef ausgerufen und sagt er: »Mit allem guten Willen, aberich muss Sie warnen, wenn wir das auch schaffen, ( ) wirkönnen das, technisch ist es auchmachbar, aber der Kind wirdnicht gesund sein, aber (häftich) sein. Was Sie wollen..« Nadas hat gekostet bisschen meine Frau, waren Tränen und alles

1160 drum und dran. Der wird beschädigt sein. Un, mehr habenwir nicht. Na sie war auch dort schon, schwanger, aber hat sienicht bis zu Ende getragen.. und hier ist es, letzte mal das wardiese, dreiundneunzich… Mehr riskieren wir nicht.. Ist schonzu spät. Alles hat seine Zeit.

1165 I: Aber ein Kind haben Sie?P. B.: Und zwei Enkelinnen.I: Und zwei EnkelinnenP. B.: Ja ja (lacht), wir haben das Geräusch gehört von denenI: Aja, ok, das war die Tochter

1170 P. B.: Schwiegertochter, das ist die Schwiegertochter.I: Achso, einen Sohn haben Sie.P. B.: Ja, ja.I: Hm, und der ist wann geboren?P. B.: Siebenundsiebzich.

1175 I: Hm, also nochP. B.: Zweiunddreißich Jahre alt ist er jetzt…I: Hm. Lebt auch hier, achso ja klar, oben.P. B.: Na dieses Haus war auch so geplant, so gedacht das wir,in den Plänen steht immer Dachausbau später. Dachausbau

1180 später. Da stand nicht das er sofort wird gebaut. Und dannhaben wir, aber die Wohnung unten für die Eltern hab ichzuerst gemacht, danach haben wir für uns gemacht und die( ) in die Wohnung da gegenüber. Das war dem sein Zim-mer. Na auf einmal kommt er: »Vater, komm schauen wir was

1185 müssen wir machen da.« »Na was ist?« (lacht) Ich wusste wasist. » Na was ist?« »Naja, ist schon Zeit langsam.« (lacht)Na auf einmal war es schon Zeit. Naja gut, haben wir sichdie Ärmel gekrempelt und dann haben wir den Dach ausge-baut. Und seitdem wohnen sie da, na haben sie geheiratet

1190 selbstverständlich… Sind auch zwei Enkel…I: Und.. wie war das wenn Sie sich nochmal… die Gesellschaft

in Russland, in Ihrer Stadt, in Ihrer Gesellschaft damals in derSowjetunion vor Augen malen und em, ja was für ein Bildkommt Ihnen da in den Kopf von dieser Gesellschaft, was

1195war’s, was war den Menschen wichtig oder was galt es zuerreichen?P. B.: (10) Die Deutsche, meist meiste Deutsche, nicht alle,die meiste Deutsche wollten einfach aufstehen, aufatmen, sodas sie Häuser bekommen, Familien gründen, das sie haben

1200einen guten Job und das sie können reisen, das sie könnenetwas sehen.. aber von die Gesellschaft, Strauß, ein richtigbunter Strauß Blumen, das ist die Gesellschaft welche hatmich so rundum begleitet dieses Stück Leben. Es gab fastalles Mögliches (5) aus dieser Umgebung. Einer von denen

1205mit welchem war ich so, na, mit wem ich zusammen war,einer von denen ist ein Passol in Australien, Passol ist Attaché,kennst du so ein Begriff?I: Ach em, Diplomat?P. B.: Diplomat, einer ist Diplomat. Einer ist in eine obere

1210Schicht äh, Wolgagrad-Gebiet.. Sie sind alle verschieden. Meh-rere haben gegründet eine Firma oder sowas. Der Eduard, nader ist Chirurg, leitender Chirurg. Hab auch Leute welchegingen durch den Gefängnis, auch solche sind, gab’s auch…Meiste aus naheliegende Freundschaftskreis die sind alle hier.

1215Sehr stark verbreitet, weil hinter dem Oldenburg, Kempten..ui, sehr stark verstreut, sehr stark. Ab und zu telefoniert man,aber wir haben schon weniger Zusammenhalt, die Themenhaben sich geändert. Und das, wenn du dem einmal im Jahrrufst an, ohoho hallo hallo, obwohl wir (wollen auch) bist du

1220auch. Zwischen den Russen, aber Deutsche auch genauso, esgab ganze Menge Leute welche haben sich angestrebt an dieMacht und klammerten sich an die Macht, das Macht das istüber alles. Es gab diejenige welche haben sehr stark verfolgtGeld, nichts außer Geld, alles Geld…

1225I: Und Macht, nochmal kurze Zwischenfrage, in welcherForm?P. B.: Macht, zu die Macht, es gibt ja verschiedene Wege zudie Macht zu kommen. Und der einfachster Weg dort drübenwar es, in die Partei reingehen.. von die Bühne mehrere Male

1230schreien, etwas aktiv sein, dann bist du gemerkt, gesehen, unddann bist du eingestellt, eingesetzt dort oder dahin, dann bistdu auch aufgehobenI: Hm hmP. B.: über den anderen. Dir gibt’s Macht, du darfst den an-

1235deren befehlen. Und das ist süßer als alles Mögliches. Dasist das Süßeste, gab’s auch solche, die sind auch… Vor kur-zem hat mir mein sehr guter Bekannter, dicken Freund kannman nicht sagen, sehr guter Bekannter, sehr guter Bekannter,ganz normal menschliche Verhältnisse, ab und zu telefonie-

1240ren wir uns, der lebt in Hannover jetzt, zehn Jahre haben wirzusammen gearbeitet, in der Berufsschule, dort haben wir zu-sammen gearbeitet, danach der ging weg, dann fuhr ich weg,aber ab und zu: »Aha, wo bist du, was bist du, was läuft, wieläuft?«.. Und der war drüben in die Stadt, sagt er: »Brauchst

1245du nicht fahren dorthin. Unsere Generation existiert kaumeiner mehr in der Stadt.« Aber der, wem kennst du, und dannhat er mir Igoschin und dann hat er so Namen genannt von de-nen, die liegen alle auf dem Friedhof. Von unsere Generation,das ist die sechszichjährige so, fünfundfünfzich fünfundsech-

1250zich Jahre, so in dem Bereich ungefähr, sie sind alle weg. Unddat Haus welche sie haben damals verlassen, verkauft, wegge,

Page 141: it - Gesellschaftbilder Und Selbstverst Russlanddeutscher Aussiedler in der Sowjetunion und in Deutschland

Interview: Peter Berndt 131

aus welchem du fuhrst aus, dein Elternhaus, brauchst nichtreinzugehen. »Wieso?« »Ah, ich hab einen Kumpel und derhat mich eingeladen: »Komm mal, fahren wir!« Wir haben

1255 Taxi genommen und fahren wir zu mir« Na und fährt er undauf einmal: »Mensch, das gibt’s doch nit! Der fährt ja zu die,ja ich kenne die Straße, hier hat der Peter gelebt.« Und dannhält er an an dem Hause.. »Das gibt’s doch nit!« Und ich weißdas er sehr starker Säufer jetzt ist momentan. »Kam ich rein,

1260 Mensch, das soll ja nicht wahr sein was alles (lag) da. Allesdurcheinander, alles kapu, halbkaputt. Furchtbar! Fahr nichtdorthin!«I: HmP. B.: »Schon sich deine Nerven!« (lacht) (5)

1265 I: Wer waren die in Anführungszeichen die Gewinner oderdie Verlierer in der Gesellschaft, also wer hat.. Verstehen Siewie ich das meine?P. B.: Ich denke schon… Siehst du die Hand? (hält seine Handhoch)

1270 I: HmP. B.: Ich sehe auch die Hand, aber wir sehen verschiedeneSeiten. Wenn ich jetzt erzähle das es einem ging es gut, duglaubst mir nicht, weil du siehst ganz anderes. Das ist diePosition, aus welcher Position betrachtet man aus heutiger

1275 Sicht, ich, (sah), erzähle. Der Mann welcher strebte sich anMacht und Geld, der hat erreicht jetzt äh Macht, wirklich derhat Macht, der hat, Kurt Beck ungefähr ist bisschen höher alser steht, so grob, das ist eine grobe äh, der hat bisschen mehr,der hat schon bisschen mehr (5). Vielleicht ist der Mensch auch

1280 sehr glücklich… Ich vermute das er sehr glücklich ist.. Ähhdas ist, das ist eine lebendige Einheit welche, wenn du ( )siehst und die hat ein Apfel und dann freut sie sich, die hatwirklich Freude, die hat, die hat’s. Aus unsere Sicht ist dasnaja, die hat die Macht, naja dann Gottes Wille, lass die doch

1285 die haben. Ich äh aber so, ich wäre nicht so glücklich wie ervielleicht. Verstehst du, der kann sein das er auch glücklichist, der hat mehr erreicht, der hat mehr Geld. Ich weiß daser hat hier in Deutschland steht in die Garage bei dem, dortsteht sein Mercedes. Persönlicher Mercedes.. Das gibt dem

1290 die Macht, Macht wie Geld. Wenn er ist glücklich dann istes Gottes Wille, lasst ihm doch glücklich sein. Gewinner, esgibt keinen Gewinner. Gewinner ist derjenige welcher hat einKern von Sonnenblumen und freut er sich den Kern, der istder Gewinner.

1295 I: JaP. B.: Wenn er freut sich dem, dann ist er Gewinner. Aberich kenne Leute welche haben sich, Arthur Wolf, der hat fünfKinder aufgezogen. Bei dem (Machtliebhaber) war die ersteMädchen, das war noch einfach zufälliger Treffer und dasMäd-

1300 chen hat ein Kind geboren. Der hat sie Alimente gezahlt, derMann, aber der kennt dem nicht, der kennt sich nicht, dieseFrau ( ) die er verheiratet und danach später einen Mann, demsein wohnt hier in Deutschland, mit die Mutter ausgezogenaus Russland, und der lebt noch immer in Russland. Der hat

1305 seine eigene Familie und der kennt dem nicht… Und der freutsich vielleicht diesem, diese Situation. Oh, ich hab mit demgesprochen vor kurzem im Mai, Ende Mai hab ich mit demseinen Sohn gesprochen, stand ich: »Eduard, na wie geht es?«»Oh, zwei Kinderchen, guck mal.« Der ist froh. Na, hier und

1310 hier, naja ich hab gehört, mein Beileid, das die Mutter ist ge-storben zwei Jahre her. »Ja ja. Naja, Danke. Ichweiß Sie haben

auch angerufen das mit Beileid.« »Na wie geht es und« unddann hab ich »Naja und mit dem Vater irgendwas überhaupthast du noch eh Kontakte irgendwelche?« » Nee, ich weiß das

1315er fast versenkt im Geld ist, aber. Nein, der hat niemals mitmir etwas zu tun gehabt.«.. Der Mann, dort, an der Machtmit dem Geld, der ist glücklich. Weil dem war immer scheiß-egal wie geht es den anderen… Er selbst kann glücklich sein..und er ist glücklich, ich weiß, weil er hat sich immer gestrebt

1320dorthin. Aber die Folgen was er tut mit den Schritten und dieDritte was betroffen und wem und wie, ob die andere freuensich das er hat Freude ist dicke dicke Frage. Aber sehr dickeFrage, großartich dick. Und der Wolf, der hat fünf Kinderaufgehoben, der freut sich wahnsinnig das sie alle stehen jetzt

1325auf den Füßen.I: Em, ich mein auch mehr wie man das in der Gesellschaftbetrachtet, also wie.. Sie haben mehr, wie soll ich sagen, diepersönliche Sicht dargestellt, mehr wie ehm… weiß nicht, dieGewinner sind sozusagen wer, gibt es vielleicht eine spezi-

1330elle Gruppe die man zusammenfasst, wo man sagt: »Ok, dassind diejenigen, die kriegen die besseren Jobs und die bessereAusbildung und haben die besseren Möglichkeiten eine gutePosition oder sowas zu bekommen.«? Oder gibt es andereVerlierer sozusagen die nie irgendwie weiterkommen?

1335P. B.: Ich versteh, ich verstehe was du meinst. Weißt du, wennman so.. gewonnen haben diejenigen welche… wer zehnjäh-rige, fünfzehnjährige und wir jetzt sechzichjährige. Und derVergleichmit denjenigen wer hat eigentlich… diejenige welchewaren kommunikabel.. kommunikabel und ohne äh böse so..

1340Hintergrund, hätten nicht den bösen Hintergrund. Ich schätzedass sie haben doch mehr, mehr von dem Leben gehabt und,ob sie immer den besseren Job hatten, nein das ist nicht wahr.Weil diejenigen, die Jungs welche können diese Bewegungmachen das (lacht), die haben meist, meist haben sie bessere

1345Position, hier in Deutschland die haben bessere Position, undwesentlich besser.I: Hm. Die schleimen können oder was meinen Sie?P. B.: Ja. Ja. Das, Schmiermänner. Ganz normaler das mussman ja wirklich auch den nebenstehende haben den Mensch,

1350welche versteht das was er neben bei sich hat. Es gibt ganz Aus-nahmefälle, äh wo die Chefs wirklich verstehen was, der kannder Mensch kann auch stechelich sein weißt du, der Menschkann auch bisschen unbequem sein, aber das er interessiertsich und macht die Sache, und sehr gut macht die Sache, dass

1355er das akzeptieren, das er das auch äh lobt und dankt undhält, die Chefs, das die halten das.. es ist Seltenheit. Das ist, esgibt auch solche Fälle. Ich kenne Leute welche haben auch beiden Firmen so positioniert sich, Heiner Sterling Johann, derhat Beleuchtung von Reichstag, die Kuppel, das ist dem sein

1360Arbeit, als Ingenieur hat er sie geplant, hat sie durchgeführt,na nicht selber gedreht da, aber das das war dem sein. Und derChef hat nicht die nötige Ausbildung, der hat kein Uni, derhat, ich weiß nicht da, vielleicht Elektriker hat er gelernt, abernicht ausreichend, der hat keine Ingenieurskenntnisse und Jo-

1365hann hat als Ingenieur hat er Lehre gemacht, Elektriker, undder hat er Diplom so, anerkannter Diplom. Der kam zu dem,hat am Anfang so einfacher Arbeiter gearbeitet und danachspäter hat er gemerkt so der versteht ja wirklich da, und dannhat er mit den Planungen und und und, und das ist eine von

1370die Arbeit welche hat er durchgeführt. Es gibt Leute (lacht)..Der ist ganz normaler Mensch ohne Ansprü, ohne Machtan-

Page 142: it - Gesellschaftbilder Und Selbstverst Russlanddeutscher Aussiedler in der Sowjetunion und in Deutschland

132 anhang b Interviews und Gedächtnisprotokolle

spruch. Keine Machtanspruch. Gottes Wille. Chef ist Chef,»Du bist der Chef, ok?« »Was?« »Ok.« »Welcher, was mussman machen?« Und er ist zufrieden und der macht, und dieser

1375 Mensch wird, im Endeffekt ist er, für mich ist er viel lieberals der andere. Der Mensch welcher hat solche Vorstellung,solche.. so wie dein Vater, hat mir so gerne geholfen hier beidiese Bauerei mit der Elektrik da. Ich schätze viel mehr solcheLeute als diejenige welche Palaber sind, und Machtansprüche

1380 und Geld viel haben oder weiß der Kuckuck wat, nein.. dassind schätzungswerte Leute.I: Hm.. Und wie war das em.. wie wichtig war es damals denMenschen in der Sowjetunion, Russland äh politisch aktiv zusein oder sozial gesellschaftlich sich zu engagieren.. Vielleicht

1385 ja, Sie haben schon etwas dazu gesagt wie, wie wichtig es warin der Partei zu sein, aber außerhalb? Wie war es bei denen,die vielleicht dagegen waren? Gab es solche?P. B.: … Tja das gab’s solche aber das waren nur Leut welche(halten) maximal in der Küche, wenn du zu Gast kommst oder

1390 die kommen zu dir, in die Küche so beim Gespräch etwas un-loyales auszureden. Aber keine richtigen Taten, weil das warnicht nötig und nicht machbar… Ich hab einmal, ich hab nochin die Berufsschule erzählt, es gibt ein Raum wo die Meister-schaften alle sammeln sich, manchmal auch Lehrer kommen

1395 rein, machst da Papiere, Vorbereitungen, zum Beispiel ichweiß das ich muss diese Thema heute noch durchgehen unddann guckst du die Unterlagen, Vorbereitungsraum. Raum fürdie Meisterschaften. Da saßen höchstens zwölf bis fünfzehnMann, in ( ), höchstens fünfzehn Menschen waren da. Und

1400 ich hab ein Witz erzählt über den Breschnev. Jetzt hab ichdas schon nicht im Kopf mehr. Ich hab über den Breschnevein Witz erzählt und die haben alle großartig gelacht. Amnächsten Tag saß ich an einem hm äh… einem Stuhl, Taburet,das ist eine… der war angeschraubt an dem Boden.. das ist

1405 KGB.I: HmP. B.: … Mir hat es noch sehr stark geholfen das ich habjahrelang schon Volleyball gespielt und ( ) in die Stadt warschon bekannt in alle welche, und der war auch einer welcher

1410 hat gespielt.. als Gegner in »Dinamo«I: Was?P. B.: »Dinamo« so hieß dem seine Mannschaft. Meine heißtGPTU (lacht). Und der: »Naja was ist?« »Nu, ich weiß nicht,wieso hast du mich angerufen, was ist?« »Setz dich.« Naja

1415 »Fühlst dem mal!« »Aha achso.« Na der ist angeschraubt weilmanche nehmen den und versuchen mit dem zu schlagen, des-wegen ist er angeschraubt. Das war Polizei, bei die Polizei.Und dann hat er mich erzählt, na wie finde ich heutige Politbü-ros und wie mach ich, wie denk ich das und wie finde ich das,

1420 wieso geh ich nicht in die Partei und so hin und her, rundum.Und auf einmal doch kam er auf diesen Spruch, aus welchemGrund erlaube ich mir diese Witze zu erzählen. Dann bin ichein Gegner wenn ich solche Witze verbreite, dann versuch ichdie Menschen aufzumuntern das sie etwas dagegen tun. »Na

1425 du kannst mir das nicht, ich hab das einfach lustich gefunden,das ist so.« Das war ein langer Gespräch.. Na ich ging von dortweg, ich hab die Hände aufgehoben: »Niemals mehr.« ( ) ohum Gottes Wille. Nein nein, aber was ( ) war, es gab nocheine Serie, Wassil Ivan Chapaiev, hast du schon gehört? Das

1430 ist ein Nationalheld aus bürgerlichem Krieg, neunzehn hun-dert siebzehn und dreiundzwanzich, er ist gestorben, getötet

worden als er schwomm durch den Ural, das war ein Fluss inRussland, und dort haben sie ihn erschossen, über dem gibt’sein Film, eine Verfilmung, auch Bücher sind geschrieben, ein

1435Held, ein Held so. Über den gibt es gewaltige Menge Witze,verschiedene. Und da hab ich ihn gefragt: »Den Wassil Iwandarf ich erzählen?« »Na eigentlich in Maßen.« »Ok. Ich habnichts dagegen. Machen wir das so.«.. Ja, man musste immerso einen halbumgedrehten Kopf haben, egal was du, das war

1440schon so gewöhnt, lebst dich ein. Und das ist fast normalerZustand, merkst es kaum, sogar merkst du gar nicht das dudas machst. Aber das ist so, das war so. Und man musste im-mer sich umdrehen wem was du erzählst. Bis zu, fast biszuletzt. Nu, ja gut, die letzte Jahre, auf die Pipeline hab ich

1445mit denen kaum was zu tun, paar mal haben sie mich so nach-gefragt, kamen sie schon in Büro: »So und so, kennst du soeinen Blum Alexander?« »Ja, was ist mit dem? Er war meinSchul, zusammen haben wir die achte Klasse zuende gebracht.Seitdem kenn ich dem kaum, ich seh dem nicht. Ich weiß gar

1450nicht, ich weiß das er hat noch Führerschein gemacht und mitdem Laster etwas zu tun gehabt. Mehr weiß ich nit«I: HmP. B.: »Naja jetzt ist er so, der ist umgestiegen vom Laster aufeinen Personen und der fährt Auslandsspezialisten. Na wir

1455wollten was ist das für ein Mensch.« »Ganz normaler Mensch,ich kennte ihm als Lehrling, Mensch das ist ja, wir waren fünf-zehn Jahre alt als wir auseinander gingen. Achte Klasse najadas ist, sechszehn Jahre, das war’s, mehr weiß ich ja nicht.«Na und paar mal und so.. ich hab da selbst schon, bei uns

1460kam »Thomson« so ein Comutersystem, das war siebenund-achtzich kam es zu uns, neues System, die Elektriker habenversucht dem zu verstehen, und geschrieben war er, produ-ziert in Frankreich und die Begleitpapiere kamen französischund deutsch geschrieben. Na ich hab denen übersetzt hin und

1465her wo, achso, dazu hab ich noch zwei Bibliotheken angerufenund technische Wörterbücher gefragt. Und dann auf einmalkommt er zu mir: »Peter, wieso auf einmal suchst du techni-sche Wörterbücher deutsche Sprache? Willst du weg?« Undwir waren sechsundachtzich, dacht ich: »Mensch, sie kommen

1470schnell aber auf den Schwanz.« (lacht)I: (lacht)P. B.: Die kommen aber schnell. Sechsundachtzich waren wirhaben wir dat, und dies war Anfang siebenundachtzich, dannauf einmal steht er bei mir im Büro: »Peter, willst du weg?«

1475Naja ich versteh sie das beobachtet haben das ich hab damit den Ausländern bisschen gesprochen, aber das ist meineTante, das ist Schwester von meinem Vater. Die kamen ausDeutschland, das stimmtI: Ah sechundachtzich war dieses Treffen in Sotschi

1480P. B.: Sechundachtzich im Sommer war in Sotschi treffen undAnfang siebenundachtzich steht bei mir im Büro den Mann:»Peter, willst du wegfahren? Ne ne, du hast angefangen zusuchen die Wörterbücher.« (pfeift) Sogar das interessiert sie.Naja, wir waren schon, kannten schon jahrelange

1485I: Und dann war ja der Plan schon da auszureisen, oder?P. B.: Plan war da, der Vater wollte ja nicht. Es war gar nichtsicher das wir überzeugen dem werden können. So sicher wa-ren wir noch nicht.. Da steht er: »Ne, du suchst die Bücher.«»Na und. Siehst ja, guck mal da, frag mal den Novikav.« »A

1490was soll ich?« »Der Novikav hat ein »Thomson« und die Life-ranten haben dem französisch geschrieben und deutsch und

Page 143: it - Gesellschaftbilder Und Selbstverst Russlanddeutscher Aussiedler in der Sowjetunion und in Deutschland

Interview: Peter Berndt 133

der kommt immer, pro Tag zwanzich mal steht er vor meinenAugen und »guck mal, hier steht geschrieben« und so.« Ich er-zähle dem: »Naja, das muss irgendwo sein, in dem Bereich, so

1495 soll es sein.« Ganz genau weiß ich auch nicht die Terminologievon den Elektronik..I: Und letzte Frage zur Sowjetunion zumindest, wie war dasfür Sie als Deutsche dort zu leben? War das irgendwie beson-ders oder.. hat man

1500 P. B.: War immer besonders. Ich war schon sechsunddreißigJahre alt.. und mein Chef.. schon letzte Arbeit.. ich war schon,Oberdespecher war ich, der hat mir ins Gesicht gesagt: »Dubist ein Faschist.« Und kennst du die Telefongesetze? Drübengab’s Gesetze welche sind geschrieben in den Büchern und

1505 konstitutionell und beglaubigt, das ist Konstitution das isteine Sache und die Gesetze geschriebene das ist eine Sache. Esgibt noch eine Gesetz welche ging durch den Telefon.. Kennstdu den? Und ich stand mit dem Alexander Schäffer, Schäferdas war auch einer von den Chefs, aber der war für den tech-

1510 nischen Zustand von den Turbinen, ich war für die operativesPersonal und er war für den technischen Zustand.I: HmP. B.: »Sie haben viel zu viel Macht auf sich angenommen,die Leute hören mehr auf euch als auf mich, ich bin langsam

1515 in den Schatten gedrungen von euch.«I: Das sagt Ihr Chef oder der Mann der über Ihnen stand?P. B.: Mein Chef, das ist der oberste Chef von die Station.»Kennen Sie den Telefongesetz?« Der Alexander steht nebenbei mir so grob: » Nö! Peter, kennst du dem?« »Ja, ich kenne

1520 dem.« »Gehen Sie raus, ins Korridor, erklär dem, und ichdenke das sie haben verstanden was ich gemeint hab. Tele-fongesetz.« Gehen wir raus, »Was hat er gemeint?« Der Alex-ander Schäfer lebt jetzt unter dem Hamburg, nicht weit vonHamburg. Der ist auch ausgezogen, auch alles aufgehört, ( )

1525 geschmissen und weg, nichts wie weg. Hab ich dem erklärt –vor dem Krieg, der hat dem auch gemeint, bis heute – Deut-sche sind verboten als erster sein. Wenn du aus der Parteibist, du hast keine Chance das Sagen zu haben und wir habensoviel Macht jetzt aufgebaut zwischen den Leuten

1530 I: Sie und Ihr deutscher Kollege?P. B.: Ja, und der deutsche Kollege. Das wir können hinterdem einen Putsch, der meint so, aufzumachen oder noch etwas.Deswegen gibt es ein Telefongespräch, der kann uns vernich-ten einfach mit dem, einem Befehl. Rausjagen! Nichts wie weg

1535 aus dem Betrieb. Einfach rauswerfen ohne das er braucht sehrgroßartige Gründe da sich auszudenken. Bei dem gibt es ganzeMenge Juristen, welche oben sitzen, noch höher und die sagendem: »Machst das so und so.« Und er macht das so, und dubist der Verlierer. Und du kannst gar nicht, du kannst absolut

1540 nichts, du kommst nicht zurück. Auf Bestellung der kann unseinfach rausschieben aus dem Betrieb oder organisieren sodas du gehst ins Gefängnis.I: Aber das hätte er mit jedermann so gemacht, egal obdeutsch, Russe oder was auch immer?

1545 P. B.: Ja, mit jedem. Aber du hast weniger Chancen zu über-leben, weil du hast Belastung das du doch Deutsche bist. Weilunsere Generation welche wuchs sofort nach dem Krieg hier,hatsich klein bisschen schon etabliert zwischen den Russen,die Einheimischen. Schon klein bisschen etabliert weil wir

1550 haben zusammen in den Schulen gelernt und dann Sport ge-trieben und dann. Und dann hast du i mit das ist ja ständiger

ewiger ununterbrochener bis heutiger Tag und wird auch Mor-gen sein, Konkurrenz welche sagt das du bist akzeptabel, bistdu besser oder bist du schlechter. Und wenn die Russensind

1555schlechter, und dann sind sie fast immer und dann auf einmalzwischen unsere Reihen kommt ein Boxer welcher boxt inMoskau für den dritten Platz von ganz Russland, den drittenPlatz hat er geboxt, Rommel Robert, Deutscher. Kein Russehat niemals aus diesem Örtchen das irgendwann erreicht.

1560Hat er auf einmal, und das ist, und das sind Zeichnungen,eine Zeichen und die andere, und dann etablieren sie sichlangsam aber, und keiner, fast kaum jemand das hat gezeigtso riesig das ist, das er will die Macht über alle, waren auch( ), aber waren weniger, wesentlich weniger. Und diese:

1565»Guut, willst du Chef sein, bitte schön, spiel den Chef.!« Dersagt, großartig reden und du machst deine Sache, baust dichauf. Und dann siehst du auch das da wo wohnen die Deut-schen, sieht es vernünftig aus. Da im Viertel wo wohnten dieRussen, das war was, die Fenster waren höchstens zwanzich

1570Zentimeter über dem Boden, alles runtergesetzt, uralte Häuser,die Zäune alles.. na schrecklich. Und dieser Unterschied warüberall, eigentlich. Und meiste Betriebe, das war schon richtigTendenz, das war schon richtig zu sehen, als erster Gesicht,Betriebschefs sitzen Russen, Hauptingenieure Hauptelektriker

1575Hauptmechaniker sind Deutsche. Meiste Betriebe. Und dann,langsam haben doch, und dann auf diesem Niveau, zwischensich die Deutsche haben sich doch besser verstanden. Weildie haben, deswegen hat sich auch meiner so bisschen gefühltso, weil der hat das auch gespürt, das wir rufen die Betriebe

1580an und zwischen sich auf dem Niveau, weil wir bringen die,wir vorbereiten ja die Entscheidungen welche er später musstreffen, der Chef der andere.I: HmP. B.: Weil wir vorbereiten die Papiere, vorbereiten die Unter-

1585lagen, vorbereiten die Lage, so ist »Guck ma«, ich erkläre dem:»So ist das und so ist das und so ist das.« Und ich weiß daser muss Entscheidung treffen, ich führe dem, wohin welcheEntscheidung soll er treffen. Das hat er auch verstanden. Dasbraucht man nicht erklären viel, das versteht man, das das so

1590ist. Weil der welcher vorbereitet und äh.. fasziniert noch injugendliche Zeiten hat mich immer noch der Bohrmann, zumBeispiel bei dem Hitler. Bohrmann. Damals wusste ich nochnicht das er hat meist Reden hat Bohrmann geschrieben fürden Hitler.. Aber der hat mich fasziniert weil der wollte nicht

1595nach vorne weit kommen, der war an der Macht, aber vielI: der war im HintergrundP. B.: im Hintergrund.. Und so ein Art von Leben musste manauch dort da so.. klettere nicht nach vorne, auf die Tribune lassmal dem da stehen, lass dem da sagen das: »Wir haben, ich

1600hab« und und und. Meiste Leute wissen das, von wo kommtder der Wind. Lass dem reden, der kann reden..I: Gut. Soweit hab ich em, im Grunde dieselben Fragen noch-mal auf die deutsche Gesellschaft bezogen oder umgekehrt,wie sehen Sie die Gesellschaft hier, was ist hier wichtig, was

1605ist den Menschen wichtig es zu erreichen? Nach welchen Prin-zipien oder nach welchen Regeln lebt man hier, und handeltman?P. B.: (5) Ich wusste auch früher das die Neid eine starke Kraftist. Hier muss ich mit Bedauern sagen das es gewaltige Kraft

1610hat, Neid. Hier ist es sehr sehr – zuerst hat mich immer biss-chen so gewundert, die Nachbarn: »O der macht im Garten so,

Page 144: it - Gesellschaftbilder Und Selbstverst Russlanddeutscher Aussiedler in der Sowjetunion und in Deutschland

134 anhang b Interviews und Gedächtnisprotokolle

wow, passt auf.« Aber macht nicht so.. Und dann auf einmal,einmal hör ich so das äh: »Aber Sie haben das immer besser,ah dies ist, ohh.« Ich versteh heute das ich muss mich langsam

1615 bremsen, ich hab viel zu viel gemacht. Viel zu viel in demSinne das ich wecke so eine Art Neid… Das, das istI: Gemacht, was?P. B.: Äh im Garten so, rund um Haus und diese, das ist,das weckt langsam.. negatives äh in den Gedanken bei den

1620 naheliegenden Leuten, bei der Umgebung. Und das ist sehrgefährliche Sache. Weil ich kenne sie, ich kenne sie mit mei-ner Haut und Knochen und allem drum und dran. Was fürFolgen kann diese, dieser, diese Gefühl wecken, ist sehr sehrgefährliche Sache. Hier ist es wesentlich gefährlicher als dort.

1625 Dort war es auch kein Geschenk, aber hier ist es wesentlichgefährlicher. Die Folgen sind stärker. Offener.Hier I: und P. B.: vertauscht!I: Offener?P. B.: Mit unbekanntem Auskommen. Wesentlich unbekann-

1630 ter, man weiß nicht von welche Seite wirst du, wird es dirtreffen. Die Palette, Möglichkeiten, ist wesentlich breiter.Und die Umgebung kenn nicht, das ist äh… bis zu letzten Tagfast hab ich gearbeitet, und der Einheimischer welcher mitmir hat gearbeitet da hat, der hat: »Du hast immer das besser,

1635 du hast immer das besser, du bist immer besser, du bist jaauch schon bald fast frei, du hast immer besser, du« »Josef,na wenn ich auch besser hab, na ist das schlecht?« »Das istsch, grrrr.« und so weiter. »Das ist, das darf nicht wahr sein,das soll nicht wahr sein, was läuft hier alles überhaupt, die

1640 Regierung ist ja Mist!«.. Bombenfeste Überzeugung das dukriegst Belohnung von irgendwelche Seite, jemand belohntdich zusätzlich, nicht das du das.. das du das gemacht hastkommt gar nicht in die Gedanke bei dem. Das nicht wahr,du hast jemand schenkt dir haufenweise Geld, Macht, Mög-

1645 lichkeiten, Waren und und, jemand gibt dir und der kenntdem nicht, wot der kann das nicht, bei dem klappt das nicht,aber bei mir oder bei dem anderen Russe da, da hat er auchgebaut… Das ist Neid, gewal, und der der kanns nicht und ichweiß das er, paar mal von die Seiten kam zu mir auf einmal

1650 so Information, das er kommt ab und zu in Büro und erzähltsolche Dinge, wahnsinnig, das du machst so und sowas, dasdu klaust sehr, und dann auf einmal, man spürt das mit dieHaut, ich sehe das kaum aber man spürt das mit die Haut, aufeinmal bist du immer beobachtet. Na gut, du arbeitest, machst

1655 da weiter, aber unter ständiger Begleitung das jemand be-obachtet dich. Das stimmt, hinter dir fängt an, paar Leuteanschauen, was machst du, wie machst du, was trägst du, waswas tust du. Ohne das jemand sagt. Ohne das jemand offenkommt: »So und so, hast du das oder hat dich jemand an die

1660 Hand gehalten?« Nein, man spürt das, man sieht das und aufeinmal, nicht direkt aber von die Seite, siehst da und dannsteht er da hinter dem ( ).I: JaP. B.: … Hier einzuleben sich ist gar nicht so einfach, die

1665 nächste Generation, ihre Generation.. ich bedauere nicht dasich bin so ein (Alter). Ich ging vorbei langsam, die letzte Jahre,zwanzich Jahre abgearbeitet. Feierabend. Ist mein Weg. Abersie müssen ja aufstehen sich, aufbauen und Kreis aufbauenund die Verhältnisse aufbauen mit egal wem, Einheimischer

1670 ist er, Afrikaner oder Deutscher sie müsse sich auch, sie müssesich etablieren. Ist gar nicht so einfach. Das muss man schon,

man muss schon kommunikabel sein, man muss schon irgend-wie mit den Leuten diesen Anhaltspunkt, und unter ständigerBegleitung dasdieser Neid verfolgt fast allen sie. Der ist so

1675stark verbreitet, so eingedrungen in die Gesellschaft. Wennhier das ist die glücklichste Gesellschaft ist, die Einheimischeglauben daran nicht. Weil die ( ), der ist schon zehn Jahrefrüher gegangen, in der Nachtschicht haben wir so oft gespro-chen, über das und jenes, mit dem konnte ich ma reden und

1680dem konnte man teilweise glauben, vertrauen.I: Arbeitskollege?P. B.: Ja, Arbeitskollege. Der war aus eine andere Schicht unddann, war bei uns ne Weile, halbes Jahr ungefähr. Und dannhab ich, besonders in die Nachtschicht da kann man bisschen

1685mehr sich erlauben, und dann erzählst das und jenes und dasvon diese Seite und betrachtest oder was für Beobachtungenmacht er. Die sind verschieden. Und der hat genau das selbeauch, na nicht in diese Form wie ich das jetzt erzählt hab, aberso viel Arsch, so viel Idioten sind zwischen Deutschen wie

1690gesagt, wahnsinnig gibt es, ist ja nicht zum Aushalten.I: Und das waren Einheimische?P. B.: Und das waren Einheimische. Man kann ja kaum ver-trauen einem, das ist ja fast zu wahn… versch, alles ver-schwommen, und vorne tragen sie so eineMaske, Maskenball,

1695sie leben ständig mit einem Maskenball ähm auf dem Gesicht.Ohne das sie das das (atmet aus)I: Hm. Da haben Sie das Gefühl, also in der Sowjetunion, dases da anders war?P. B.: … Sehr nicht. Sehr nicht. Hier stärker.

1700I: Ok, hier ist intensiver einfach.P. B.: Intensiver. Und Ausgangssituation, dort wusste ich, ichkriege ins Gesicht mit dem Faust oder mit dem Stein auf denKopf. Und dann Sache die ist erledigt. Nächsten Tag konntenwir wieder Fussball spielen. Weißt du, das. Hier wird das

1705nicht sein. Es ist.. tiefer, dauerhafter… Und wesentlich äh..wenn schon fängt der Mensch dir weh zu tun, dann machter das unendlich… Ohne Ende, jahrelang. Wenn er geht inZustand mobben, dann mobbt er schon richtig, und dann(schaut) er da alles Mögliche was nur gibt’s da zu machen.

1710Der schaltet ein alle wer zu dem gehörende oder so auchbisschen aufpassen auf dem, was er meint, was er denkt, waser, abhängige von dem, der schaltet alles, ohne Gnade, biszuletzt, ohne Wenn und Aber. Und dabei steht er vor deinenAugen, macht sehr höfliches und sehr freundliches Gesicht.

1715»Peter du hast schon lange keinen Vorschlag geschrieben.« »Ja,muss man nachdenken.« »Ja ja, denk mal nach.« »Mach ich,mach ich, mach ich, Thorsten du kein Problem, dat ist, ich habdas schon überlegt, muss man nur machen.« Dreht er sich umund du verstehst das er spuckt aus. Weil ich ja spiele mit dem

1720den selben, dem sein Spiel. Der denkt das ermacht dieses Spielmit mir, a ich spiele mit dem auch. Und das, das nervt ohneEnde, weil er ist ja derGrößte. Er muss, und die Anerkennungkommt nicht.. Und er macht so viel Anstrengung, der weiß dasund er weiß das das ich weiß. Und so ein Spielchen, bis zuletzt,

1725bis zum letzten Tag. Ich weiß das jetzt hat er schon andereim Visier, und einer von diese zwei ist ein Einheimischer, undder treibt dem soweit das er weggeht.. Versucht mindestens(hustet) (6).I: Eine letzte abschließende Frage

1730P. B.: Nein, keine letzte, frag so viel, wieviel duI: Ne ne, aber Sie haben soweit die anderen schon beantwor-

Page 145: it - Gesellschaftbilder Und Selbstverst Russlanddeutscher Aussiedler in der Sowjetunion und in Deutschland

Interview: Peter Berndt 135

tet.. Also wenn Sie nochmal auf ihr ganzes Leben zurückbli-cken, in der Sowjetunion und hier und – das ist jetzt keineso einfache Frage aber vielleicht – haben sich grundsätzliche

1735 Einstellungen oder Werte oder Prinzipien in Ihrem Lebenverändert? Sie haben in zwei, ja, teils unterschiedlichen Ge-sellschaften gelebt und da interessiert mich der Prozess, obSie das so benennen könnten?P. B.: … Grundsätzlich die Ideale haben sich nicht geändert,

1740 die Vorstellungen von menschliches Wesen und von.. nein,denk ich nicht. Das, das was man gelernt hat in die jugendli-che Zeit hat, was man gelesen hat, womit sich eingelebt hat,womit sich äh, irgendwie… anvertraut sich hat und die, dieVorstellungen vom Leben, vom Menschen.. Alexander Dumas

1745 hast du gelesen?I: Ne, ich kenn den Namen aber.P. B.: Vielleicht hast du schon den Film im Kino gesehen»Einer für alle, alle für einen«?I: Ach ja

1750 P. B.: Und das ist die Ideen welche trieben (ab) eigentlich dasganzes Leben. Halten dich in dem schwimmenden Zustand.Es gibt ganz wenig Leute mit welchen kannst du still reden.Kennst du so eine Zustand? Still reden. Das gibt’s eine, kannstdu russisch noch lesen?

1755 I: Ja. Schlecht aber.P. B.: Schlecht ja. Aber hören ist besser, verstehst besser?I: Ja jaP. B.: (nimmt ein Blatt Papier, auf dem ein Gedicht über»wahre Freundschaft« in russischer Sprache abgedruckt ist und

1760 ließt es vor) Äh so viele Leute gibt’s mit welche kann manreden, mit welche kann man, aber ganz wenige man kann stillsein und diese Stille ist voll, mit Gedanken mit äh mit Augenschauen und mit äh ganz bisschen (andere) Kleinigkeiten wel-che merkt man und spürt man und dann. Das Gedicht, das äh

1765 das man kann mit einem ohne Wörter zu verstehen und denanderen muss man aufpassen das wenn du sehr schlechtenZustand bist, wenn dich drückt alles, das du nicht ausredest,auf keinem Fall darfst du nicht dem irgendwelche Informa-tion ausgeben. Das ist manchmal schwierig. Weil das drückt,

1770 der Druck ist manchmal sehr gewaltig, sehr stark und dann

muss man doch trotzdem aufpassen das, dieser Mensch darfnicht das wissen was du, du darfst nicht sich ihm offenlegen.Weil das wird gegen dich sofort, nicht sofort, bisschen später,aber gegen dich wird es unbedingt verwendet. Und das ist,

1775das Leben ist voll mit solche Leute und ganz wenige, richtigwenige mit wem kannst du sich teilen und äh. Und Gott seiDank das ich hab sie gehabt, das dieser, der Freund von mirAlexander, der Schmidt, wohnt in Montabauer, ich hab mitdem Verhältnisse.. hm, naja, obwohl das wird auch nicht ganz

1780richtig sein, aber besser als mit meine Verwandte..I: HmP. B.: Ich traue demmehr als meine Verwandte… Ich kann mitdem still reden… Wir können einfach sitzen, neben, gar nichts»hm hm hm aha oi« stehen wir auf und wir wissen beide was

1785hat der eine oder andere gesagt. Na so eine.. dein Vater kenntihn auch. Ja das ist so eine Seltenheit, meist Seltenheit.. undtraurich das nicht jeder hat sowas (10) hm, das Leben erzählt,nicht ganzes, ganze Menge Stück sind weg (lacht)I: Gut, wenn Sie weiter nichts zu sagen haben

1790P. B.: Alle Fragen, alle Fragen? Oder hast du noch was? Oderhast du noch was?I: Nee, das war’s soweit, wenn Sie keine Ergänzungen mehrdazu machen wollen.P. B.: Nein

1795I: (15) Also es hat sich sozusagen diese Grundeinstellung, dieSie gerade geschildert haben, die hat sich so gehalten und esgibt auch nichts was sich soP. B.: Im Grunde das hat sich nicht geändert, das hat sichetabliert und besonders noch das ist Realität das ist richtich das

1800es auch so weiter zumÜberleben ist. Das hat sich bestätigt, dasist normal, das ist (grandios) wenn du Freunde hast, welchenkannst du vertrauen. Welche kannst du immer rufen, wennes dir bisschen schlecht geht.. auf welche du Verlass hast.. dasdu bist nicht alleine, geschmissen in diese Rumherum… A die

1805wissen das auch, das ich bin immer dabei wenn es nötig ist, ichbin dabei, mein Schulter haben sie, können sie ruhig rechnen,das wissen sie auch. (15)I: Gut, dann bedanke ich mich für das Gespräch.

Page 146: it - Gesellschaftbilder Und Selbstverst Russlanddeutscher Aussiedler in der Sowjetunion und in Deutschland