j. kratzmann: migrationsgekoppelte ungleichheit beim Übergang vom kindergarten in die grundschule
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Vortrag von Dr. Jens Kratzmann auf der Expertenkonferenz „Bildungsübergänge gestalten“ am 16.11.12 in Bochum. Die Konferenz „Bildungsübergänge gestalten“ ist ein Projekt der Stiftung Mercator in Kooperation mit der Ruhr Universität Bochum. http://www.stiftung-mercator.de/themencluster/integration/expertenkonferenz-bildungsuebergaenge.htmlTRANSCRIPT
28.11.2012 Migrationsgekoppelte Ungleichheit beim Übergang vom Kindergarten in die Grundschule 1
Migrationsgekoppelte Ungleichheit beim Übergang vom Kindergarten in die Grundschule Ursachen und Interventionsmöglichkeiten
Dr. Jens Kratzmann
Otto-Friedrich-Universität Bamberg
Gliederung
28.11.2012 Migrationsgekoppelte Ungleichheit beim Übergang vom Kindergarten in die Grundschule 2
1. Strukturelle Aspekte
2. Einstellungen
3. Schuleingangsdiagnostik und Beratung
4. Platzierung
5. Fazit: Möglichkeiten der Intervention
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1. Strukturelle Aspekte Migrationsgekoppelte Ungleichheit beim Schuleintritt
Anteile nicht-fristgerechter Einschulungen nach Migrationshintergrund
0%
2%
4%
6%
8%
10%
12%
14%
OhneMigrationshintergrund
Ein Elternteil imAusland geboren
Beide Elternteile imAusland geboren
Vorzeitig
Zurückgestellt
Datenbasis: BiKS-Studie, eigene Berechnungen
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1. Strukturelle Aspekte Ungleichheit beim Kindergarteneintritt
Kompetenzunterschiede im Alter
von 3 Jahren vor allem im
sprachlichen Bereich
Quelle: Dubowy et al. 2008
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1. Strukturelle Aspekte Entwicklung des deutschen Wortschatzes
Quelle: Becker 2010a
Früher in den Kindergarten zu
gehen, geht für Kinder mit
türkischem Hintergrund mit einer
beschleunigten Entwicklung des
deutschen Wortschatzes einher.
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1. Strukturelle Aspekte Migrantenanteile in besuchten Bildungsinstitutionen
Kinder mit
Migrationshintergrund besuchen
häufiger Einrichtungen mit
hohem Migrantenanteil
Quelle: Becker 2010b
1. Strukturelle Aspekte Zwischenfazit
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• Migrationsgekoppelte Ungleichheiten bestehen bereits vor der
Einschulung und beim Übergang in die Grundschule.
• MH Kinder gehen tendenziell später in den Kindergarten.
• MH Kinder werden tendenziell später eingeschult.
• MH Kinder besuchen eher Einrichtungen mit hohem Anteil an MH-
Kindern.
• Kompetenzunterschiede bestehen bereits im Alter von 3 Jahren.
• Es bestehen strukturelle Nachteile in den Entwicklungsbedingungen
von MH-Kindern, die frühe Kompetenzunterschiede möglicherweise
verstärken.
2. Einstellungen Stereotype und deren Wirkung
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• Ethnische Stereotype sind alle generalisierten Meinungen über die
Charakteristiken einer nach ethnischen Kriterien bestimmte Gruppe.
• „Stereotype threat“ Effekt: Die Angst vor Erfüllung eines negativen
Stereotyps wirkt sich auf das Leistungsvermögen aus.
• Erwartungseffekte: Aufgrund von Fehleinschätzungen werden Kinder
nicht angemessen herausgefordert und unterstützt.
• Folgen:
• Vermeidung von Herausforderungen
• Ablehnung von Feedback
• Desidentifikation mit einem Fachbereich
2. Einstellungen Wahrgenommene Stereotypisierung
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„Schon in der Vorbereitungsklasse auf das Fachabitur stieß sie auf
Vorbehalte: die Lehrkräfte wollten nicht wahrhaben, daß sie, die einzige
Türkin in der Gruppe, gute und sogar ausgezeichnete Leistungen
erbringen konnte.“ (aus: Kolinsky 2000, S. 119)
„Bei meinem ersten Kind habe ich solche Schwierigkeiten erlebt, aber das
Problem war nicht meine türkische Herkunft, sondern mein Kopftuch. Weil, eine
türkische Freundin trägt kein Kopftuch, ihr gegenüber war der Lehrer offener, er
hat sich um ihre Tochter mehr gekümmert. Ihre Tochter war nicht erfolgreicher
als mein Sohn, aber der Lehrer hat einiges dafür getan, dass ihre Tochter auf
eine bessere Schule gehen kann. Also dies habe ich erlebt, kann ich auch
zeigen, also weil ich ein Kopftuch trage, hat mein Sohn verloren.“
(aus: Kratzmann 2011, 156f.)
2. Einstellungen Stereotypisierende Haltungen
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„Ich denke, es ist genau wie bei deutschen Eltern. Es gibt Eltern, die einfach, ich
will nicht sagen, wenig Interesse haben, die vielleicht manches einfach nicht
wissen, die nicht wissen, dass ein Kind gefördert werden kann. Die nicht wissen,
dass Fernsehen nicht gut für die Entwicklung ist. Die meinen, ihrem Kind Gutes
zu tun, wenn sie es vor den Fernseher setzen, weil es dann vielleicht die
Sprache besser versteht. Aber die gibt es bei deutschen Eltern genauso.“
„Das können nämlich die türkischen Frauen im Allgemeinen überhaupt nicht. Und
das ist ein bisschen durch die Bank so. Also das sind keine Einzelfälle.
Das ist wirklich ganz, ganz häufig so. Das schaffen die irgendwie einfach nicht.
Konsequent zu sein, in keiner Weise. Den Jungs gegenüber noch schlechter wie
den Mädchen.“ Generalisierende Haltung
Differenzierende Haltung
Quelle: Kratzmann & Pohlmann-Rother 2012
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-1,5
-1
-0,5
0
0,5
1
Sprache Schriftsprache Mathematisch
Mit 3 Jahren Mit 4 Jahren Mit 5 Jahren
** ** ** ** **
**
** **
Quelle: Kratzmann 2012
2. Einstellungen Fähigkeitseinschätzungen durch Erzieherinnen
Unterschiede in den Fähigkeitseinschätzungen durch Erzieherinnen zwischen Kindern der zweiten Zuwanderergeneration und Kindern ohne Migrationshintergrund
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2. Einstellungen Fähigkeitseinschätzungen unter Kontrolle der Leistung Unterschiede in den Fähigkeitseinschätzungen unter Kontrolle der Kompetenzstandes und der sozialen Herkunft der Kinder
-1,5
-1
-0,5
0
0,5
1
Sprache Schriftsprache Mathematisch
Mit 3 Jahren Mit 4 Jahren Mit 5 Jahren
*
Quelle: Kratzmann 2012
2. Einstellungen Zwischenfazit
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• Es besteht die Gefahr migrationsgekoppelte Ungleichheiten durch
stereotype Haltungen und zu niedrig angesetzten Erwartungen zu
verstärken.
• Häufig wird von gefühlten Ungleichbehandlungen berichtet, die die
Kompetenzentwicklung beeinträchtigen könnten.
• Empirisch nachweisen lassen sich stereotype Haltungen nur vereinzelt,
daher ist dies kein generelles Problem.
• Dennoch: Alle an Bildungsprozessen Beteiligten sollten sich stets ihre
eigenen Haltungen und ihr darauf gründendes Verhalten bewusst
machen und beides hinterfragen.
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3. Diagnostik und Beratung Leistungsentwicklung in der Grundschule
Entwicklung der Leistung im Leseverständnis
Quelle:
Bellin 2009: 131
3. Diagnostik und Beratung Diagnostik beim Schulanfang Land Verfahren
Art des
Verfahrens Alle Kinder
Monate vor
Einschulung
2009 Anteil
Förderbedürftig
BW HASE Screening
+ 15-24 25,2 SETK 3-5 Test
BY SISMIK (Teil 2) Beobachtung - 18-24
80,9 „Kenntnisse in Deutsch als Zweitsprache erfassen" Screening - 6
BE QuaSta Beobachtung
+ 15 17,1
Deutsch Plus 4 Screening -
BB
WESPE Screening
+ 12 19,7 Meilensteine der Sprachentwicklung (ab 2012) Beobachtung
KISTE Test
HB CITO Test + 12-24 49,6 (43,3)
HH Protokollbogen zur Vorstellung 4,5-Jähriger Beobachtung
+ 18 25,4 Bildimpulse Screening
HE KiSS Screening - 24 32,3
MV - - - - -
NI Fit in Deutsch Screening + 15 15,7
NW Delfin 4 Screening + 24 24,0
RP VER-ES Screening - 12 27,7
SL "Früh Deutsch lernen" Beobachtung + 12 10,8
SN SSV Screening - 24 n. V.
ST Delfin 4 Screening + 24 10,9
SH HAVAS-5 Beobachtung - 9 n. V.
TH - - - - -
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Quelle: Bildungsbericht 2012
3. Diagnostik und Beratung Kritik an Diagnoseverfahren
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• Unbefriedigende wissenschaftliche Begründung und empirische
Absicherung.
• Unterschiedliche Situationen der Erfassung.
• Komplexität des Spracherwerbs wird nicht beachtet.
• Auffälligkeiten werden durch Vermeidungsverhalten übersehen.
• Fehlende Abstimmung von Sprachstandsdiagnostik mit darauf
folgenden Sprachfördermaßnahmen.
• …
Quelle: Eckhardt et al. 2011
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3. Diagnostik und Beratung Kooperation Kindergarten - Grundschule
Gemeinsame Elternarbeit
0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100
Gemeinsame Feste und Feiern
Gemeinsame Beratung der Eltern
Lehrkraft nimmt am Elternabend teil
Erzieherinnen Lehrkräfte
Quelle: Faust et al. 2012
3. Diagnostik und Beratung Beratung im Kindergarten
18 28.11.2012 Hier kann eine Fußzeile eingefügt werden
Wenn ich mein Kind morgens im Kindergarten abgebe, dann sehe ich, dass sich
die Erzieher nicht mit den türkischen Kindern unterhalten, so lange es nicht
notwendig ist. Ich gehe sogar absichtlich langsamer raus, falls mich jemand
ansprechen möchte, damit sie mir eventuelle Probleme des Kindes nennen
können. Aber mit den deutschen Familien unterhalten sie sich fast 1,5 Stunden
über ein Kind und das wirklich sehr, sehr detailliert.
0 0,1 0,2 0,3 0,4 0,5 0,6 0,7
Gezieltes Elterngespräch
Gespräch zwischen Tür und Angel
Gespräch im Rahmen eines Elternabends
Anteile
Türkisch
Parallelgruppe
Rahmen von Gesprächen über die Einschulung
Quelle: Kratzmann 2011
3. Diagnostik und Beratung Gründe für Fehlzuweisungen
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„Selbst auf die Nachfrage, ob er genug Deutsch sprechen könne, wurde mir
gesagt, dass er das Notwendigste könnte, aber in der Grundschule hatte er
trotzdem Schwierigkeiten mit dem Deutschen. Er konnte die gestellten Fragen
nicht beantworten und die Anforderungen nicht erfüllen und geht nun auf die
Vorschule. Aber wenn er im Kindergarten geblieben wäre, hätte er diese
Probleme vielleicht nicht gehabt. Er ist jetzt in der kurzen Zeit vom Kindergarten
in die Grundschule und nun in die Vorschule gekommen, was vielleicht auch
Auswirkungen auf seine Psyche oder sein Selbstbild hat. Denn er hatte Freunde
gefunden und wurde gleich wieder von ihnen getrennt und auf eine andere
Schule geschickt.“
Quelle: Kratzmann 2011, S. 202
3. Diagnostik und Beratung Zwischenfazit
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• Es gibt einen breiten Konsens über die Bedeutung der
Deutschkenntnisse für den weiteren Bildungsverlauf.
• Ein Teil der Kinder mit Migrationshintergrund weist am Schulanfang
sprachliche Schwächen auf, die sich im weiteren Verlauf fortsetzen.
• Die Vielzahl diagnostischer Verfahren weist noch Schwächen in der
Verlässlichkeit auf.
• Die gemeinsame Beratung der Eltern von Kindergarten und
Grundschule ist noch ausbaufähig.
• MH Eltern fühlen sich teilweise schlecht beraten.
4. Platzierung Institutionelle Diskriminierung
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„So können vor dem Hintergrund einer unscharfen Definition von
Schulfähigkeit sprachliche Defizite mit anderen Entwicklungsrückständen
verknüpft werden („Sprachliche Mängel gehen immer Hand in Hand mit
anderen Schwierigkeiten, die das Kind noch hat.“). Auch am kulturellen
Hintergrund festgemachte Stereotypisierungen können in die
Feststellung mangelnder Schulfähigkeit einfließen („feinmotorische
Probleme türkischer Kinder“). Die Problemdefinition wird den
Aufnahmekriterien des Schulkindergartens angepaßt, [sic] oder sogar so
vage formuliert, daß auch noch eine Zurückstellung in den allgemeinen
Kindergarten in Frage kommt.“ (Gomolla & Radtke 2009, S. 191)
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-1,5
-1
-0,5
0
0,5
1
Vorzeitig Fristgerecht Zurückgestellt Weiß ich nochnicht
Mit 3 Jahren Mit 4 Jahren Mit 5 Jahren
** +
* +
Quelle: Kratzmann 2012
4. Platzierung Prognostizierte Einschulung der Kinder
Unterschiede in den erwarteten Einschulungszeitpunkten durch Erzieherinnen zwischen Kindern der zweiten Zuwanderergeneration und Kindern ohne Migrationshintergrund
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4. Platzierung Einschulungsprognose unter Kontrolle der Leistung Unterschiede in den erwarteten Einschulungszeitpunkten unter Kontrolle der Kompetenzstandes und der sozialen Herkunft der Kinder
Quelle: Kratzmann 2012
-1,5
-1
-0,5
0
0,5
1
Vorzeitig Fristgerecht Zurückgestellt Weiß ich nochnicht
Mit 3 Jahren Mit 4 Jahren Mit 5 Jahren
+
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4. Platzierung Wer setzt sich durch?
Institutionelle Einschulungsempfehlung und tatsächliche Einschulung
Quelle: Kratzmann 2011, S. 150
4. Platzierung Zwischenfazit
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• Die These der institutionellen Diskriminierung postuliert, die Eigenlogik
der Institutionen würde zu Fehlzuweisungen beim Übergang in die
Grundschule führen.
• Die Einschulung stellt sich in der Forschergruppe BiKS aber als eine
freiwillige Entscheidung dar, die auch gegen den Willen der
Institutionen getroffen wird.
• Erhöhte Zurückstellungsquoten sind nicht das Ergebnis von
institutionellen Prozessen.
Fazit: Worauf kommt es an?
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• Zugangsbarrieren zum Kindergarten sollten abgebaut werden.
• Deutsche Sprachkenntnisse sollten bei Kindern mit
Migrationshintergrund besonders gefördert werden, vor allem in
Einrichtungen mit hohem Anteil an Kindern mit Migrationshintergrund.
• Sprachliche Schwierigkeiten sollten möglichst frühzeitig mit einem
verlässlichen diagnostischen Verfahren erkannt werden.
• Haltungen und Verhalten sollten stets auf Stereotype hinterfragt
werden und dabei auch mögliche Wirkungen nach außen bedacht
werden.
• Eltern sollten von Kindergarten und Grundschule intensiv beraten
werden, um Fehlentscheidungen bei der Einschulung zu vermeiden.
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Vielen Dank für Ihre
Aufmerksamkeit!