jacc | 29. mai 2013 | alt-ministerpräsident kurt biedenkopf | zum vertrauen in recht und gesetz
DESCRIPTION
Sachsens früherer Ministerpräsident mahnte und ermutigte am 29. Mai 2013 im ICC Dresden beim Thema Euro-Krise und Europa-VerdrussTRANSCRIPT
29. Mai 2013
Zum Vertrauen in die Einhaltung
von Recht und Gesetz zurückkehren
Eine Veranstaltungsreihe derCDU-Fraktion des
Sächsischen Landtages
Schriftenreihe zu Grundlagen, Zielenund Ergebnissen der parlamentarischen Arbeitder CDU-Fraktion des Sächsischen Landtages
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Inhaltsverzeichnis
„Zum Vertrauen in die Einhaltung von Recht und Gesetz zurückkehren“Prof. Dr. Kurt BiedenkopfMinisterpräsident des Freistaates Sachsen 1990 – 2002
EinführungSteffen Flath MdLVorsitzender der CDU-Fraktion des Sächsischen Landtages
ModerationDr. Fritz HähleEhrenpräsident des Johann-Amos-Comenius-Clubs Sachsen
Steffen Flath MdLVorsitzender der CDU-Fraktion des Sächsischen Landtages
7 – 22
2 – 6
23 – 24
SchlusswortStanislaw Tillich MdLMinisterpräsident des Freistaates Sachsen
25 – 30
2
Steffen Flath MdL
Einführung
Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Freunde des Johann-Amos-Comenius- Clubs, ich darf Sie namens der CDU-Land-tagsfraktion ganz herzlich begrüßen. Heute im Internationalen Kongresszentrum hier in Dresden, direkt neben dem Parlament, neben dem Sächsischen Landtag. Und des-halb will ich auch bei der Begrüßung be-ginnen mit dem Parlamentspräsidenten, herzlich willkommen Dr. Matthias Rößler und 20 Mitglieder der CDU-Landtagsfrak-tion sowie ein Abgeordneter des Deutschen Bundestags.
Auf beiden Seiten der Elbe zu Hause ist
unser Regierungschef, herzlich willkom-
men Herr Ministerpräsident Stanislaw
Tillich. Und ich freue mich, dass ich noch
ein Regierungsmitglied begrüßen darf,
unsere Sozialministerin, herzlich will-
kommen Frau Staatsministerin Clauß.
Und, meine Damen und Herren, ein ganz
herzliches Willkommen unserem Altmi-
nisterpräsidenten Prof. Kurt Biedenkopf.
Ich freue mich und ich glaube, Profes-
sor Kurt Biedenkopf freut sich auch, dass
viele ehemalige Staatsminister, ehema-
lige Staatssekretäre, die in Sachsen ih-
ren Dienst versehen haben, heute unter
uns sind. Stellvertretend für alle möchte
ich Prof. Karl Mansfeld begrüßen. Er war
einige Jahre stellvertretender Minister-
präsident in Sachsen.
Herzlich willkommen auch unserem Eh-
renpräsidenten des Johann-Amos-Come-
nius-Clubs, mein Vorgänger als Fraktions-
vorsitzender, ein herzliches Willkommen
Dr. Fritz Hähle und 17 ehemaligen Mitglie-
dern des Landtags und des Bundestags.
Und jetzt würde ich Ihnen vorschlagen,
meine Damen und Herren, machen wir
dann einen Sammelapplaus, ich freue
mich, dass vier Oberbürgermeister un-
ter uns sind, 19 Bürgermeister habe ich
gezählt. Wir sind auch hier im Comenius-
Club eine richtige kommunale Familie
und ich darf internationale Gäste begrü-
ßen, ein ganz herzliches Willkommen
Frau Generalkonsulin der Tschechischen
Republik, Frau Dr. Krejčíková. Und vom
Generalkonsulat der Vereinigten Staa-
ten Herrn Dr. Fürst. Ich begrüße viele An-
wesende aus der sächsischen Wirtschaft.
Die 58 Mitglieder der Fraktion, die alle
einen Wahlkreis in Sachsen vertreten,
haben aus ihren Wahlkreisen wichtige
Leute, das heißt, Handwerker, Mittel-
ständler, Geschäftsführer, wenn die Fir-
men größer sind auch Vorstandsvor-
sitzende eingeladen, das ist heute das
Besondere, eine Premiere.
Wir haben den Hauptgeschäftsführer des
Verbandes der Textilen Bekleidungsin-
dustrie unter uns, oder den Präsidenten
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des Steuerberaterverbandes, viele Ver-
treter der IHK, der Handwerkskammer
und schließlich auch Gewerkschafter, die
ebenso zur sächsischen Wirtschaft aus
meiner Sicht gehören.
Wir haben – was wäre unser Land ohne
die Kirchen, ohne Religion – traditionell
viele Vertreter der evangelischen, der ka-
tholischen, auch der jüdischen Gemein-
den in Sachsen unter uns. Stellvertretend
möchte ich den Präsidenten vom Evan-
gelisch-Lutherischen Landeskirchenamt
Sachsen, Dr. Johannes Kimme, nennen.
Ich möchte schließlich einen persönli-
chen Freund von Kurt Biedenkopf begrü-
ßen. Er ist auch mein Freund, ich begrüße
den Landesgeschäftsführer a. D. der CDU
Sachsen, Herrn Rolf Wollziefer. Er hat in
den 90er-Jahren, als damals Kurt Bieden-
kopf hier Ministerpräsident aber auch
Landesvorsitzender war, seinen Dienst
in Sachsen geleistet und ist heute mit
der Familie aus Kerpen hierhergekom-
men. Seien Sie alle herzlich willkommen.
Wir könnten heute noch als Nachwirkung
des gestrigen Abends über Fußball reden.
Ich freue mich als Erzgebirger und als An-
hänger von Erzgebirge Aue, dass Dresden
den Klassenerhalt geschafft hat – herzli-
chen Glückwunsch.
Aber wir wollen heute über Europa spre-
chen. Europa, viele Jahre haben wir in der
Politik uns überlegt, wie könnten wir Eu-
ropa stärker thematisieren, stärker beset-
zen in politischen Veranstaltungen. Heute
sind wir mit dem Thema hochaktuell.
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Es wird viel diskutiert in unserem Land
und so wollen wir das natürlich auch im
Comenius-Club tun. Wie in einer Fami-
lie, so teilen wir in Europa Freud und
Leid. Freude sollten wir nicht verges-
sen, Frieden ist alles andere als selbst-
verständlich.
Wir waren als CDU-Landtagsfraktion
Ende der letzten Woche in Estland zur
Fraktionsreise. Ja, ohne Visum. Ohne
Reisepass. Geld mussten wir auch nicht
tauschen. Wir könnten auch anführen
saubere Luft, jetzt am Abend besonders
gut zu sehen. Sauberes Wasser. Vieles,
was uns in Europa freuen kann und uns
von anderen Ländern dieser Welt un-
terscheidet. Auch die Böden sind sau-
berer geworden, die Lebensmittel sind
heute viel gesünder. Das sind europäi-
sche Vorschriften, die durchaus zum Ziel
geführt haben.
Aber was Leid betrifft, zumindest mich
persönlich, das Glühlampenverbot wäre
vielleicht nicht nötig gewesen. Oder die
versuchten Salzvorgaben für sächsische
Bäcker. Ich mag einfach nicht, wenn ich
so immer wieder erzogen werde, viel-
leicht andere auch, oder die jüngsten
Ausschankvorschriften für Olivenöl für
Gaststätten. Das sind Dinge, die ich eher
zum Leid rechnen würde.
Und wenn wir mit dem Thema heute zum
Vertrauen in die Einhaltung von Recht
und Gesetz zurückkehren, da klingt
schon an, es ist allerhand Misstrauen un-
terwegs, allerhand Sorge. Können wir die
Europäische Union noch halten, können
wir den Euro erhalten, stabilisieren? Kön-
nen die Bürger dem Staat, den Parteien
und den Parlamenten vertrauen? Wir wis-
sen, es ist schwere Arbeit, sich Vertrauen
zu erwerben und Vertrauen wird manch-
mal über Nacht zerstört.
Wir wollen uns darum bemühen, das
Thema im Lande zu diskutieren, weil das
für die Menschen wichtig ist. Wir haben
– der Rechnungshof hält uns immer an,
dass wir im Comenius-Club auch über un-
sere Arbeit berichten – einen der kürzes-
ten Beschlüsse der CDU-Fraktion letztes
Jahr in Bad Düben gefasst: Die CDU-Frak-
tion des Sächsischen Landtages lehnt die
Einführung von Deutschland- und Euro-
bonds ab. Wir wollen nicht die Verge-
meinschaftung von Schulden.
Und, als wir jetzt in Estland waren, da
ist uns das Thema auch wieder vor Au-
gen geführt worden. Besonders beein-
druckend war für mich die Begegnung
mit der dortigen Parlamentspräsidentin.
Sie hat uns berichtet, wie Estland im Jahr
2008, als die Finanz- und Wirtschafts-
krise ausbrach, fast die Zahlungsunfähig-
keit drohte. Sie hat uns gesagt, mit wel-
cher Kraftanstrengung in Estland im Jahr
2008 Beschlüsse gefasst wurden inner-
halb kürzester Zeit, teilweise über Nacht.
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Man hat dort im öffentlichen Dienst die
Gehälter um 20 Prozent und die Pensio-
nen gekürzt. Viele Dinge im Lande, an die
sich auch schon die Esten gewöhnt hat-
ten, wurden gekürzt und man hat diese
Krise überstanden.
Estland wächst wieder in der Wirtschaft.
Aber eine Frage spielt bei den Esten eine
Rolle, wahrscheinlich auch in Sachsen,
weil die Esten sagen: Wir haben eins dar-
aus gelernt, es bringt nichts, über die Ver-
hältnisse zu leben. Die Esten, wie auch
die Sachsen, stellen ihre Haushalte prin-
zipiell ohne Schulden, ohne Kredite auf.
Und die Esten fragen jetzt, Solidarität in
Europa ist wohl wichtig und auch richtig.
Aber funktioniert nicht Solidarität immer
so, dass der Stärkere dem Schwächeren
hilft? Wer ist denn stärker, wer ist denn
wohlhabender? Sind das die Esten oder
sind das die Griechen?
Sind das die Esten oder jetzt mach ich mal
gleich einen Sprung zu den Franzosen.
Die Frage muss doch wohl erlaubt sein
und diskutiert werden. Weil, das wird
nur gut gehen, wenn nicht die Länder,
die größte politische Anstrengungen un-
ternommen haben, dann womöglich für
andere zur Kasse gebeten werden. Und
deshalb wurde uns in Estland zunächst
einmal ein Verbündeter bewusst.
Ich glaube, es gibt auch in der Tschechi-
schen Republik, in Polen, in vielen ost-
europäischen Ländern viel mehr Verbün-
dete als wir glauben, auf einem Weg, der
auf Solidität der Finanzen begründet ist.
Und so haben wir heute das Thema sehr
aktuell und einen ausgezeichneten Refe-
renten: Das freut mich ganz besonders.
Ich weiß, dass Kurt Biedenkopf nach wie
vor gerne in Sachsen ist, dass er viel ge-
fragt ist, als Gesprächspartner, als Red-
ner und so auch für uns in der sächsi-
schen Politik als Ratgeber.
Wenn man sein Leben anschaut, seine
Rolle in der Wirtschaft, in der Wissen-
schaft, in der Politik, im Westen, im Os-
ten, eigentlich überall ist Kurt Bieden-
kopf unterwegs gewesen und ist es
immer noch. Wir haben viel von ihm ler-
nen können in der Landespolitik und
eins ganz besonders: Dass es nicht da-
rum geht, wie wir den heutigen Tag über-
stehen oder die nächste Woche, oder wie
wir die Zeit bis zur Bundestagswahl hin-
bekommen. Nein, er hat uns etwas ge-
lehrt und das haben viele inzwischen in
Sachsen zum Leitmotiv gemacht. Je äl-
ter man wird, dann sollte man einfach
im Leben der Kinder denken, im Leben
der Enkel, im Leben der Urenkel. Deshalb
ist das ein Glücksfall, lieber Kurt Bieden-
kopf, dass du bei uns in Sachsen gewirkt
und auch gelehrt hast.
Dies führt schließlich, wenn man in Ge-
nerationen denkt, zur Nachhaltigkeit in
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der Politik. Ich glaube, Nachhaltigkeit
in der Europapolitik, das ist etwas sehr,
sehr Wichtiges und wir freuen uns jetzt
auf dein Referat, auf deinen Vortrag,
auf deine Vorlesung und ich bin mir si-
cher, wir werden viele Anregungen für
die Diskussion heute Abend, aber auch
der nächsten Wochen und Monate mit-
nehmen.
Herzlichen Dank lieber Kurt Biedenkopf,
du hast das Wort.
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Sehr verehrter Herr Ministerpräsident, lie-ber Stanislaw Tillich, Herr Landtagspräsi-dent, lieber Fraktionsvorsitzender Steffen Flath,
herzlichen Dank für die Einführung.
Ich habe mich über diese Einladung ge-
freut und ich freue mich, dass so viele von
Ihnen der Einladung gefolgt sind. Der Co-
menius-Club, den Fritz Hähle vor vielen
Jahren aus der Taufe gehoben hat, ist eine
Seltenheit. Ich kenne kein anderes Bun-
desland, in dem eine Landtagsfraktion
eine vergleichbare Plattform geschaffen
hat, die getragen wird von Abgeordneten,
deren Wirkung aber weit darüber hinaus
reicht als ein Forum, auf dem eigentlich
alle wesentlichen Fragen, nicht nur öko-
nomische, erörtert werden können.
Dieser Club trägt den Namen einer be-
deutenden Persönlichkeit: Johann Amos
Comenius. Er war einer der bedeutends-
ten und frühesten nicht nur Philosophen,
sondern Pädagogen. Einer der ersten, der
erkannte, dass die Pädagogik die Kinder
einbeziehen muss, dass der Zugang zu
Wissen über Schule und Pädagogik allen
offen stehen muss. Auch den Frauen – für
damalige Zeiten eine ganz ungewöhnli-
„Zum Vertrauen in die Einhaltung von Recht und Gesetz zurückkehren“Prof. Dr. Kurt Biedenkopf
che Haltung – und den Armen ebenso
wie den Reichen. Ein Mann, der in vie-
lerlei Hinsicht über Jahrhunderte vor-
aus dachte und richtig dachte. In dessen
Geist zu diskutieren anspruchsvoll ist,
aber auch sehr fruchtbar.
So wollen wir das heute Abend versu-
chen, im Zusammenhang mit dem, was
Steffen Flath schon vorgegeben hat, über
die europäische Entwicklung sprechen
und dabei im Auge behalten, dass wir die
europäische Entwicklung nicht von ihren
Ursprüngen und ihrem eigentlichen An-
liegen trennen dürfen.
Als Erstes: kein europäischer Staat kann
Europa verlassen. Das geht schon rein
physikalisch nicht. Denn sie alle leben
auf dem gleichen Kontinent. Kein Staat
kann deshalb „ausziehen“. Er kann allen-
falls erklären, dass er mit der restlichen
Gemeinschaft nichts zu tun habe oder
haben wolle, in der sich die Europäer zu-
sammengefunden haben.
In Zeiten der großen Beanspruchung –
ob das in Griechenland ist, in Irland oder
in anderen Staaten – ist es durchaus ver-
ständlich, dass man sich aus den Zwän-
gen einer Gemeinschaft lösen und gewis-
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sermaßen emanzipieren will. Nur wird
jeder, der längerfristig darüber nach-
denkt, was das für ihn bedeutet, wahr-
scheinlich zu dem Ergebnis kommen,
dass der Preis für diese Emanzipation viel
zu hoch wäre. Nicht nur der wirtschaft-
liche Preis, sondern auch der politische,
geistige und der kulturelle.
Gehen wir also davon aus, dass bei al-
lem Streit, bei allen Widerständen und
Besitzständen die Europäer letztlich zu-
sammenbleiben wollen. Im Übrigen gibt
es einen überragenden Grund für die Eu-
ropäer, zusammenzubleiben. Der wird al-
lerdings und erstaunlicherweise in Eu-
ropa kaum diskutiert. Anscheinend stellt
sich niemand in Europa die Frage, wel-
che Rolle den Europäern in einer Welt
zukommen werde, besser, zukommen
sollte, in der bald 8 Milliarden Men-
schen leben werden. Über 7 Milliarden
sind es schon. Als ich geboren wurde,
waren es knapp 2 Milliarden. In meiner
Lebensspanne ist die Bevölkerung der
Erde praktisch explodiert. Nie zuvor in
der Menschheitsgeschichte gab es et-
was Vergleichbares.
Historisch gesehen haben wir es also
mit einem ebenso einmaligen wie un-
glaublichen Prozess der Veränderung
zu tun. Müssen wir uns dann nicht fra-
gen, was diese Veränderung für uns be-
deuten wird, die wir bald nur noch rund
6 Prozent der Weltbevölkerung ausma-
chen werden? Sind wir dann – vielleicht
auch schon heute – eine Minderheit, die
man ohne Schaden ignorieren kann? Sind
wir eine Minderheit, die noch Einfluss
hat, von der zumindest Wirkungen aus-
strahlen, kulturelle, geistig-philosophi-
sche, politische und naturwissenschaft-
lich-technische Wirkungen, die von der
großen Mehrheit der Weltbevölkerung
als notwendig, als wertvoll begriffen wer-
den? So dass sich aus diesem Wert die Be-
reitschaft der großen Mehrheit ergeben
wird, Europa nicht nur nicht zu ignorie-
ren, sondern zu beachten und aus seinen
Erfahrungen zu lernen, wenn es darum
geht, die Probleme der Welt zu lösen. So-
weit das überhaupt möglich ist.
Eigentlich müssten wir uns, um auch in
dreißig Jahren noch gebraucht zu wer-
den, schon jetzt mit Fragen befassen,
die nicht auf der deutschen oder euro-
päischen Agenda stehen. Zum Beispiel
mit der Frage: wie kann man 7 Milliar-
den Menschen ausreichend mit Eiweiß
versorgen, damit sie leben können, oder
mit ausreichend Nahrung oder mit aus-
reichend Trinkwasser? Und was könnte
geschehen, wenn es nicht gelingt? Wer-
den sich Millionen von Menschen auf den
Weg machen, um dorthin zu gelangen,
wo es Nahrung und Wasser gibt? Oder
werden sie lieber bleiben, wenn wir in
der Lage und bereit sind, ihnen wirksam
zu helfen, weil sie uns brauchen und wir
in unserem Bereich der Welt ihre Prob-
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leme aufnehmen und mitgestalten. Also
auch von ihnen lernen. Aber nicht als Bes-
serwisser oder mit dem Anspruch, man
müsse nur unsere Ordnung übernehmen,
denn wir machten alles richtig.
Wie wir wissen, ist es nicht leicht, die
notwendige Zurückhaltung und Beschei-
denheit zu üben. Schon im Ost-West-Ver-
hältnis in Deutschland ist es nicht überall
gelungen. Worum es geht, ist, im dienen-
den Sinne das eigene Wissen, das die Eu-
ropäer in Jahrtausenden erworben ha-
ben, für die Welt nutzbar zu machen. Und
dabei für eine friedlichere Welt zu wir-
ken. Auf der Basis dessen, was wir aus der
europäischen Geschichte, von der grie-
chischen Urdemokratie über das Römi-
sche Reich bis hin zu Jahrhunderten der
Kriege und Auseinandersetzungen, den
europäischen Bürgerkriegen von 1914
bis 1945 erfahren und mit der Europäi-
schen Union überwunden haben. Diese
Ordnung des europäischen Friedens ist
nicht nur eine historische Leistung Eu-
ropas und der europäischen Staatsmän-
ner. Sie kann auch eine Hoffnung für die
Welt werden.
Die Franzosen waren nach dem Zwei-
ten Weltkrieg die ersten, die das erkann-
ten. Sie verzichteten darauf, anders als
nach dem Ersten Weltkrieg, das Ruhrge-
biet wieder zu besetzen und schlugen
stattdessen vor, die ehemalige „Waffen-
schmiede“ Deutschlands zu europäisie-
ren, um – zusammen mit den französi-
schen und belgischen Kohlebergwerken
und Stahlwerken – eine europäische Ein-
heit zu bilden. Es war die Geburtsstunde
der europäischen Integration.
Diese Geburtsstunde hat sich als frucht-
bar erwiesen. Mit den Römischen Verträ-
gen 1958, mit der weiter fortschreitenden
Integration Europas entstand eine neue
europäische Ordnung des Friedens. Erst
nach der Wiedervereinigung verlor man
ein wenig den Blick für die Wirklichkeit
und für das, was in kurzer Zeit möglich
ist. Man glaubte, man könne die Wäh-
rungen und die Finanzmärkte genauso
schnell integrieren wie die Wirtschaft.
Mit der Überwindung dieses Irrtums sind
wir derzeit beschäftigt.
Die Integration der Wirtschaft in Europa
ist ein Friedenswerk deshalb, weil die
Arbeitsteilung, die durch die Integration
entsteht, es allen europäischen Staaten
unmöglich macht, in Zukunft gegenein-
ander aufzurüsten. Viele haben verges-
sen, dass die Integration der Wirtschaft
vor allem der Friedenssicherung dienen
sollte. Das ist gelungen. Wollte Deutsch-
land tatsächlich wieder aufrüsten, wäre
es dank der europäischen Arbeitsteilung
auf zahlreiche andere Länder und deren
Zulieferer angewiesen. Schon Adenauer
sah in dieser gegenseitigen Abhängig-
keit die Garantie für einen dauerhaf-
ten Frieden.
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Was ursprünglich der Friedensicherung
diente, die europäische Arbeitsteilung,
ist heute zur Quelle unseres Wohlstandes
geworden. Betrachten wir die Automobil-
industrie. Sie ist inzwischen nicht nur auf
europäischer Ebene sondern weltweit in-
tegriert. Kein Unternehmen eines Landes
kann ohne die Zulieferungen von Unter-
nehmen aus anderen Ländern erfolgreich
produzieren. Diese Integration macht es
praktisch unmöglich, dass Europa wirt-
schaftlich auseinanderfällt. Denn jeder,
der versuchte, sich aus dieser Integra-
tion zu lösen, müsste dafür große Wohl-
standsverluste in Kauf nehmen. Und das
ist selbst dann, wenn die politischen Aus-
einandersetzungen in Europa aufgeregt
und gereizt geführt werden, ein Grund
zum Optimismus.
Was ist nun mit dem Euro passiert? Las-
sen Sie uns den Euro mit einem Schiff
vergleichen, das die Europäer zu Wasser
ließen und trotz einer Reihe schwerer De-
fizite auf die Reise schickten. Das Schiff
hatte keine Rettungsboote. Sein Kapi-
tän hatte keine ausreichende Befehls-
gewalt. Der Kompass fehlte, die Moto-
ren waren noch nicht wirklich getestet
und auch sonst gab es beachtliche Män-
gel. Und das Schiff hatte keinen klaren
Kurs. Warum hat man sich trotzdem auf
die Reise eingelassen? Weil man glaubte,
man könne die Defizite des Schiffes wäh-
rend der Reise aufarbeiten. Das hat sich
als Fehler erwiesen.
Heute wissen wir um die „schweren Kon-
struktionsfehler“ der gemeinsamen Wäh-
rung. Es zeigt sich, dass die Verträge von
Maastricht, auf denen der Euro basiert,
vor allem jedoch ihre Durchführung,
den Voraussetzungen einer Währungs-
union nicht entsprechen und die ent-
standenen Realitäten nicht widerspie-
geln. Darin liegt das eigentliche Problem.
Heute sind wir gezwungen, das Euro-Ge-
bäude zu Ende zu bauen, ohne einen kla-
ren Fahrplan zu haben, ohne eine klare
Architektur zu sehen und unter den er-
schwerten Bedingungen der Einstimmig-
keit. Das ist die Situation, in der wir uns
befinden und die nicht nur zu großen Är-
gernissen führt sondern auch zu Unsi-
cherheiten und Sorgen.
In den ersten Jahren schien das Euro-Schiff
trotz aller Mängel erfolgreich. Die See war
ruhig. Man konnte sich mit den Reparatu-
ren Zeit lassen. Doch dann kam der Sturm
der Finanzkrise. Sie hatte mit dem Euro als
Währung unmittelbar nichts zu tun. Wohl
aber mit der schnell gewachsenen Staats-
verschuldung aller Euroländer und den
wachsenden Problemen mehrerer unter
ihnen, ihre Schulden zu finanzieren. Wie
kam es dazu? Kein Mitgliedsstaat der Eu-
ropäischen Währungsunion hatte sich an
das grundlegende Gebot der Euro-Union
gehalten, seine Staatsverschuldung in den
vorgeschriebenen Grenzen zu halten, das
heißt, sich zu begrenzen. Alle haben die
vereinbarten Grenzen verletzt.
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Nun war es für jeden nachdenklichen
Menschen, nicht nur für die verantwort-
lichen Politiker, offensichtlich, dass es
den Euro-Staaten schwer fallen würde,
die vertraglichen Grenzen einzuhalten,
auch wenn es keine Institution gab, die
sie dazu hätte zwingen können. Die Insti-
tution also, die die Euro-Union eigentlich
von Anfang an gebraucht hätte. Die das
Recht hätte, die Verschuldung der Euro-
Staaten zu begrenzen und zu entschei-
den, ab wann die Verschuldung nicht
mehr garantiert werden könne.
Das hätte den Staaten einen Teil der po-
litischen Kosten einer Selbstbegrenzung
abgenommen. Es hätte uns die heuti-
gen Probleme erspart. Sie hätten sich in
den Schuldengrenzen bewegt. Für diese
Grenzen hätten sie eine externe Institu-
tion verantwortlich machen können. Das
heißt, man hätte vor sein Volk treten und
sagen können, es tut mir leid, wir können
eure Wünsche nicht alle erfüllen, denn
wir dürfen nicht so viele Schulden ma-
chen. Das ist jedoch nicht gelungen. So
wurde die Versuchung unüberwindlich.
Der Euro war sehr preiswert. Es war gu-
tes Geld und die Zinsen waren niedrig.
So begannen bald nach der Einführung
des Euros alle, dieses gute Geld über Ge-
bühr zu leihen, auszugeben und so Schul-
den zu machen.
Dann brach die Finanzkrise aus. Die Euro-
Staaten, die dank ihrer hohen Staatsver-
schuldung auf die Finanzmärkte ange-
wiesen waren, müssen nicht nur ihre
Schulden bedienen, sondern zuneh-
mend auch ihre Banken stützen und vor
dem drohenden Zusammenbruch bewah-
ren. Auch dafür waren sie in erheblichem
Umfang auf Kredite angewiesen. Bei den
wirtschaftlich schwächeren Euro-Staaten
blieb das nicht ohne Auswirkungen auf
ihre Kreditwürdigkeit. So kam es, dass die
Finanzmärkte, genauer die Gläubiger die-
ser Staaten, auf sie aufmerksam wurden
und sich fragten, ob die Anleihen dieser
Staaten noch sicher seien trotz der Last,
die sie als Folge der Finanzkrise überneh-
men mussten.
Praktisch gesprochen ging es um die fi-
nanzielle Leistungsfähigkeit der Schuld-
nerstaaten. Wenn die Staaten Papiere an
die Finanzmärkte verkaufen, sind die Fi-
nanzmärkte die Gläubiger und die Staa-
ten Schuldner. Nun setzen wir uns jetzt
einmal in die Lage der Gläubiger, die
feststellen müssen, dass ihre Schuldner,
denen sie mit dem Kauf ihrer Staats-
papiere Kredit gewährten, plötzlich rie-
sige zusätzliche finanzielle Lasten stem-
men müssen. Würden wir uns dann nicht
auch fragen, wie gut die Chancen sind,
unser Geld zurückzuerhalten? Und wie
hoch der Risikozuschlag sein müsste,
den der Schuldner uns zusätzlich zu den
Zinsen für den Kredit zahlen muss, da-
mit wir ihm einen weiteren Kredit ge-
ben können?
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Dass beide Entwicklungen zusammen-
trafen: die Folgen der Konstruktions-
fehler des Euro und die Überlastung der
verschuldeten Staaten durch die Finanz-
krise, ist die Ursache dafür, was wir jetzt
als Eurokrise empfinden. Denn hätten wir
beim Bau der Währungsunion keine Kon-
struktionsfehler gemacht und hätten die
Euro-Länder sich an die Begrenzungen ih-
rer Schulden gehalten, hätten wir die Fi-
nanzkrise ohne die dramatischen Folgen
beherrschen können, mit denen wir es
jetzt zu tun haben.
So muss die europäische Gemeinschaft
jetzt feststellen, dass die Leistungs-
fähigkeit und die Wettbewerbsfähig-
keit der beteiligten Staaten sehr unter-
schiedlich sind. Dass die größere Zahl
der Euro-Staaten deutsche Waren zwar
importiert, aber mit eigenen Ausfuhren
nicht genug verdient, um sie bezahlen
zu können. Dass sie als Folge bei ihren
Banken Kredite aufnehmen müssen, die
diese Kredite wiederum an die Europäi-
sche Zentralbank weiterreichen, was dar-
auf hinausläuft, dass die Zentralbank den
Staaten das Geld zur Bezahlung ihrer Im-
portrechnungen in der Erwartung vor-
schießt, dass diese Kredite später aus-
geglichen werden.
All das zeigt, wie vertrackt die Situation
geworden ist, in die wir durch Finanz-
krise und überschuldete Euro-Staaten ge-
raten sind. Dafür die Finanzmärkte zu
beschimpfen, ist eher Ausdruck unse-
rer Ratlosigkeit. Die Euro-Staaten haben
die Regeln der Währungsunion nicht ein-
gehalten. Die Aufsicht über die Banken
war unzureichend. Die Versuchungen,
Kredite aufzunehmen, zu verführerisch.
Dass der Euro trotz der Konstruktions-
fehler eingeführt wurde, hat nicht zu-
letzt Deutschland und hier vor allem der
Bundestag zu vertreten. Seine Mitglie-
der hatten 1992 übereinstimmend be-
schlossen, die Bevölkerung vor genau
der Entwicklung zu schützen, vor der wir
heute stehen. Im April 1998 hat er sie
dann doch, wiederum mit überwältigen-
der Mehrheit, zugelassen. Warum, wurde
nie eindeutig begründet.
Hätte der Bundestag sein Versprechen
gegenüber der deutschen Bevölkerung
gehalten, hätte man damals entweder die
Einführung der gemeinsamen Währung
vertagt oder man hätte nur die EU-Staa-
ten in die Währungsunion aufgenommen,
die den vom Bundestag beschlossenen
Voraussetzungen entsprochen hätten.
Die Mittelmeerländer wären überwie-
gend nicht dabei gewesen.
Die Anstrengungen, die bisher gemacht
worden sind, um die Krise zu überwin-
den, sind im Großen und Ganzen sinnvoll.
Das Problem ist: sie werden durch den
Maastrichter Vertrag nicht gedeckt oder
sind nicht vorgesehen. Aber die Konst-
ruktionsfehler im ursprünglichen Kon-
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zept einer Währungsunion waren auch
nicht vorgesehen.
Wie soll sich deshalb jetzt eine Regie-
rung verhalten, wenn die Zentralbank,
aber auch die eigenen Banken Staaten
direkt oder indirekt unter die Arme grei-
fen müssen, obwohl das im Vertrag ver-
boten ist? Wie sollen sie sich verhalten,
wenn die Verschuldensgrenzen ständig
überschritten werden, obwohl der Stabi-
litätspakt das verbietet, aber keine Sank-
tionen ergriffen werden können, weil sich
alle so verhalten? Mit anderen Worten:
wir haben eine Situation geschaffen, die
mit bestehenden Verträgen nicht bewäl-
tigt werden kann. Gleichzeitig sind wir
aber nicht in der Lage, die Verträge so
schnell zu verändern, immer nach dem
Einstimmigkeitsprinzip oder durch Re-
ferenten in einigen Ländern, um mit der
Geschwindigkeit der Entwicklung mitzu-
halten. Das ist ein sehr schwieriges Prob-
lem. Und es wird nach meiner Überzeu-
gung auch eine Lösung finden.
Die entscheidende Frage lautet jedoch:
Wie kann ich der Bevölkerung erklären,
dass sie dieses Verhalten trotzdem in
ihr Vertrauen einbeziehen soll, wenn zu
Recht gesagt wird, dass das, was hier ge-
schieht, mit den Verträgen nicht verein-
bar und deshalb nach normaler rechtli-
cher Beurteilung rechtswidrig ist. Es ist
ein Konflikt, der auch im eigenen Land
auftreten kann, aber nicht mit dieser Dra-
matik, wenngleich auch in Deutschland
Gesetze gemacht werden, die anderen
Gesetzen widersprechen. Nur das sind
Probleme, die in jeder Rechtsstaatlich-
keit auftreten.
Wie kann man nun eine derartige Situ-
ation überwinden? Indem man Europa
Ziele setzt, die über die Währungsfra-
gen und die ökonomischen Fragen hin-
ausgreifen. Die deutlich machen, dass
beide dienende und nicht Europa beherr-
schende Strukturen sein dürfen.
Damit kommen wir wieder zurück zur
Rolle Europas in der Welt. Die Aufgaben,
die sich aus unserer Minderheitenstellung
ergeben, sind gewaltig. Wir diskutieren
sie bisher jedenfalls nicht ernsthaft. Wir
zahlen 0,3 bis 0,5 Prozent unseres Brut-
toinlandprodukts für Entwicklungshilfe.
Das entspricht der bisherigen Vorstellung,
man müsse etwa Afrika etwas Geld schi-
cken, um sein Gewissen zu beruhigen.
Aber wir können mit 0,3 bis 0,5 Prozent
unser Gewissen nicht beruhigen, wenn
wir gleichzeitig überlegen, dass wir für
andere Etatpositionen, die nicht die glei-
che existenzielle Bedeutung haben wie
die Bewältigung der nächsten 30 Jahre,
ein Vielfaches aufwenden und noch mehr
verlangen.
Wie können wir also in Europa das Ver-
ständnis für eine gemeinsame Aufgabe
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gewinnen, die eine existenzielle Bedeu-
tung hat? Das geht nur, wenn wir uns aus
der engen Debatte über den Euro lösen
und die weit größeren Probleme in den
Blick nehmen und daraus die gemein-
same Anstrengung ableiten, die Europro-
bleme und andere Integrationsprobleme
zu lösen versuchen. Und dafür müssen
wir vor allen Dingen die Europäischen In-
stitutionen selbst verändern.
Herr Oettinger hat kürzlich harte Kritik
an den Institutionen der Europäischen
Union geübt. Er hat Recht. Stellen Sie
sich mal vor, Stanislaw Tillich hätte ein
Kabinett mit 28 Ministerinnen und Mi-
nistern. Und dieses Kabinett verfügt,
wie auch in der Bundespolitik üblich,
nur über die begrenzte Zuständigkeit
des Landes. Er müsste dann diese be-
grenzten Zuständigkeiten unter 28 Mi-
nistern aufteilen, die wiederum alle den
Wunsch haben, durch die Bewältigung
ihrer Aufgaben öffentliche Aufmerk-
samkeit hervorzurufen. Offenbar geht
das nicht. Genauso verfahren wir je-
doch in Europa.
Wir haben in Europa Strukturentschei-
dungen getroffen, die das, was eigent-
lich geleistet werden soll, nachhaltig
erschweren. Darüber hinaus hat die Eu-
rokrise zu Gewichtsverlagerungen in Eu-
ropa geführt, denen wir ebenfalls nicht
die notwendige Aufmerksamkeit gewid-
met haben.
Es gibt den Europäischen Rat. In ihm ver-
sammeln sich die Regierungschefs der
EU-Länder. Im Zusammenhang mit der
Krise ist diesem Rat, der Not gehorchend,
eine ganze Menge zusätzliche Zustän-
digkeit zugewachsen. Im Grunde ist der
Rat zurzeit die Europäische Regierung.
Er lässt auch keinen Zweifel daran, dass
er sich so sieht. Er betrachtet den Prä-
sidenten der Kommission als eine Art
ausführendes Organ des europäischen
Machtzentrums. Die Kommission soll ihm
zuarbeiten. Das führt zu Konflikten mit
Herrn Barroso und dem Europäischen
Parlament, das ja gegenüber dem Rat
keinerlei Befugnis hat.
Die Mitglieder des Rates berufen sich auf
ihre nationale Legitimation; eine europä-
ische Legitimation haben sie nicht. Aber
der Rat ist als Führungsorgan unverzicht-
bar. So entwickelt sich aus einer Krisensi-
tuation eine Veränderung der realen Ver-
fassungslage. Für den Rat bedeutet es
eine große Versuchung, die Krise so zu
definieren, dass er seine zentrale Rolle
so lange aufrecht erhalten kann, bis sie
sich eines Tages zu einer neuen Struktur
entwickelt hat und aus ihr in der Tat eine
Art Regierung erwächst. Das ist nicht er-
wünscht. Deshalb müssen wir uns damit
befassen.
Herr Oettinger hat Recht, dass die neuen
Institutionen nicht so aussehen können
wie die gegenwärtigen. Steffen Flath hat
15
vorhin eine Reihe obskurer Entscheidun-
gen der Kommission erwähnt; das Oli-
venöl war, glaube ich, das letzte. Gast-
wirte wissen um den Unsinn, Olivenöl in
Plastikflaschen abzufüllen. Das Öl würde
den Plastikflaschengeruch annehmen
und wäre damit verdorben, was ihm in
Glasflaschen nicht passieren kann. Hin-
ter derartigen Vorgängen verbirgt sich
eine gefährliche Entwicklung. Man kann
sie beschreiben als die Expansion staat-
licher Vormundschaft. Herrscht in einem
Land die Auffassung, alle wesentlichen
Fragen, die das Land betreffen, sollten
an der Spitze entschieden werden, dann
verarmt das Land – aus drei Gründen.
Wir wissen aus der Erfahrung mit plan-
wirtschaftlichen Systemen, dass es au-
ßerstande ist, die Vielfalt einer modernen
Gesellschaft in seinen Entscheidungspro-
zessen abzubilden. Das heißt, der Plan
muss diese Vielfalt gewissermaßen re-
duzieren. Er muss alles gleich behandeln.
Denn er kann nur einheitliche Verhält-
nisse regeln. Dieses Problem ist auch in
unserem Sozialsystem angelegt. Hartz
IV ist ein typisches Beispiel. Das Ge-
setz sieht einen einheitlichen Satz vor
für diejenigen, die auf die Grundsiche-
rung angewiesen sind, gleichgültig, ob
sie in München oder in Mecklenburg-Vor-
pommern leben. In der Realität genießt
derjenige, der in Mecklenburg-Vorpom-
mern lebt, einen sehr viel höheren Le-
bensstandard als der, der in München
lebt. Denn seine Kaufkraft ist – gemes-
sen an der Höhe der Lebenshaltungskos-
ten – real höher. Das ist eigentlich unge-
recht. Aber der zentrale Staat kann das
nicht ändern. Er kann nicht differenzie-
ren, regional oder noch kleinräumiger.
Er würde eine Flut von Gerichtsprozes-
sen provozieren.
Das ist nur ein Beispiel von vielen dafür,
welche Grenzen der zentralen Bewälti-
gung von Problemen gezogen sind.
Der zweite Grund: je wohlhabender und
leistungsfähiger eine Gesellschaft und
ihre Wirtschaft werden, umso komple-
xer werden sie. Nun ist die Handhabung
komplexer Situationen eine sehr schwie-
rige und anspruchsvolle Sache. Der kom-
plexeste Prozess, an dem Sie alle teil-
nehmen, ist der Markt. Der Markt ist
eine geniale Erfindung der Menschen,
eine Erfindung, die mit vier Bausteinen
auskommt: nämlich Eigentum, Haftung,
Wettbewerb und Vertrag. Diese vier Ele-
mente sind in millionenfacher Weise un-
terschiedlich kombinierbar, vergleichbar
den vier Basiselementen einer DNA, die
praktisch in unendlichen Kombinationen
denkbar sind.
Niemand könnte selbst eine weit gerin-
gere Anzahl von Kombinationen plan-
wirtschaftlich organisieren. Das kön-
nen wir mit Hilfe des Marktes, der aber
Bedingungen erfüllen muss. Wer in ihm
16
Macht besitzt, muss begrenzt werden.
Diejenigen, die versuchen, Macht zu bil-
den, müssen daran gehindert werden.
Die Verträge, die geschlossen werden,
sind nur dann vernünftig und gerecht,
wenn kein Machtgefälle sie bestimmt,
wenn also beide Parteien die Möglich-
keit haben, den Vertrag auch zu verwei-
gern, also frei sind.
Diese Freiheit garantiert ein offener
Wettbewerb den Konsumenten im gro-
ßen Umfang. Wenn sie bei A nicht or-
dentlich bedient werden, gibt es B bis X,
wo sie auch hingehen können. Gibt es nur
A, dann hat A ein Monopol und es muss
kontrolliert und begrenzt werden. Das ist
die Grundidee einer marktwirtschaftli-
chen Ordnung.
Wie aber steht es mit dem Management
der Komplexität eines Schulsystems, ei-
nes Gesundheitssystems, eines Sozial-
systems, eines Arbeitsmarktsystems?
Überall dort, wo der Staat versucht, es
selbst zu steuern, stellen wir fest, dass
die Ergebnisse unwirtschaftlicher erzielt
werden.
Anderes Beispiel: im Deutschlandfunk
wurde von den Anstrengungen der Bun-
desregierung berichtet, möglichst viele
der rund 300.000 jungen Leute, die in
Deutschland keine ausreichende Aus-
bildung haben, für einen Beruf zu qua-
lifizieren. Keine Bundesregierung kann
eine derartige Aufgabe bewältigen. Das
ist offensichtlich. Schon die Erfassung
der 300.000 und die Art und Weise, wie
man die 300.000 motivieren kann, dass
sie da überhaupt mitmachen, statt sich
für Hartz IV als Beruf zu entscheiden,
ist unendlich komplex. Bewältigen kön-
nen eine derartige Aufgabe nur die Ebe-
nen des staatlichen Aufbaus, auf der die
Menschen einander begegnen. Dort, wo
sie miteinander solche Probleme lösen
können. Es sind die Ebenen der Bürger-
oder der Zivilgesellschaft, die kommuna-
len Ebenen. Auf ihnen vollzieht sich eine
Fülle von Lösungen, ohne großes Aufse-
hen, ohne große Publizität, gewisserma-
ßen selbstverständlich. Ab und zu wird
berichtet, was da inzwischen Erstaunli-
ches geschieht und wie die einzelnen In-
itiativen voneinander lernen wollen.
Dieses Voneinander-lernen ist ein ent-
scheidender Punkt. Kommt jetzt der
Staat und zieht die Aufgabe an sich,
dann wird ihre Bewältigung nicht nur
unwirtschaftlicher und bürokratischer.
Der Staat legt damit zugleich nicht nur
die Lernbereitschaft sondern auch die In-
novationsfähigkeit der engagierten Be-
völkerung praktisch lahm. Denn, so die
Erfahrung: sagt der Staat, „ich erledige
das“, dann sagen die Bürger, „ich brau-
che mich nicht mehr darum zu kümmern,
denn Vater Staat kümmert sich“. Denn
immer dann, wenn wir die Grenzen staat-
licher Möglichkeiten nicht respektieren,
17
wird die Balance zwischen der Ordnung
des Ganzen und der Ordnung der Viel-
falt auf verschiedenen Ebenen zerstört,
nicht nur in Deutschland, sondern auch
in Europa.
Und schließlich ist es immer gefährlich,
einheitlich regeln zu wollen, was sich von
Region zu Region und von Land zu Land
kulturell, historisch oder traditionell un-
terscheidet. Die Griechen haben nie ver-
standen, warum wir eine ganze Reihe von
Dingen regeln, die für sie vollkommen
klar sind. Oder die sie ganz anders re-
geln würden. Zwingen wir sie jetzt, es so
zu machen wie wir, dann verletzen wir
sie, verlieren ihre Mitwirkung oder erwe-
cken in ihnen Erinnerungen an die deut-
sche Besetzung im Zweiten Weltkrieg. Er-
folgreich sind derartige Methoden selten
– und dann nur unter Druck. Aber es ist
anscheinend schwer, den Regierenden
klarzumachen, dass sie etwas versuchen,
was nicht geht.
In einer freien Gesellschaft können wir
das den Regierenden sagen oder sie ab-
wählen. In der DDR konnte man es nicht.
Deshalb konnten die Menschen in der
DDR nicht auf die katastrophalen Folgen
aufmerksam machen, die mit der Ver-
staatlichung nicht nur der Großindust-
rie, sondern auch der Verstaatlichung des
Mittelstandes in Kombinaten verbunden
waren. Letztlich führte beides zum wirt-
schaftlichen Ende der DDR. Zwar dauerte
es eine Weile, bis die Folgen sichtbar wur-
den. Und dann half man sich mit einer Art
Wechselreiterei, um die Lage zu beschö-
nigen. Im Grunde kam das Ganze einer
verschleppten Insolvenz gleich.
Als Ergebnis können wir aus der Entwick-
lung planwirtschaftlicher Systeme lernen
und feststellen: Sie sind nicht nur unfä-
hig, die Vielfalt zu beherrschen, die not-
wendig ist, um die Innovationsfähigkeit
der Bevölkerung zu aktivieren. Deshalb
sind sie auch nicht bereit, diese Viel-
falt als Ausdruck von Freiheit zu dulden.
Denn beides gefährdet ihre Herrschafts-
struktur und damit ihre Macht.
Gorbatschow ist letztlich daran geschei-
tert, dass er sowohl Glasnost wie Perestro-
ika verwirklichen wollte. Er glaubte, wenn
er der Wirtschaft Spielräume gewährte,
würde sie diese Spielräume nutzen, ohne
politische Freiheit zu verlangen. Aber Frei-
heit in der Wirtschaft ist mit politischer
Freiheit untrennbar verbunden. Deshalb
scheitern planwirtschaftliche Systeme frü-
her oder später, je nachdem, wie lange es
ihnen gelingt, die Forderung nach Freiheit
zu unterdrücken.
Es ist interessant und wichtig zugleich
zu beobachten, wie man in China zuneh-
mend erkennt, dass ein Einparteiensys-
tem wahrscheinlich auf Dauer nicht funk-
tionieren kann. Und dies, obwohl sich das
chinesische Experiment vor einem völlig
18
anderen historischen Hintergrund voll-
zieht: einem 3.000 Jahre in sich geschlos-
senen Reich, das Reich der Mitte, das
nach Wegen sucht, sich aus der gegen-
wärtigen Klemme zu befreien, ohne seine
Regierbarkeit zu verlieren. Wir könnten
auf dem Weg sein, uns ohne Not in eine
ähnliche Klemme zu begeben, wenn wir
das, was Herr Oettinger zu Recht ange-
mahnt hat, nicht ernst nehmen.
Und nun zum letzten Punkt. Es muss uns
gelingen, die Grundelemente einer frei-
heitlichen Gesellschaft zu erneuern, sie
wieder nutzen zu lernen. Und das in einer
Ordnung, in der verwirklicht wird, was
wir mit dem etwas schwerfälligen Wort
Subsidiarität bezeichnen. Wir haben es
dabei mit einem sehr interessanten Pro-
zess zu tun. Subsidiarität heißt eigent-
lich: der Staat ist subsidiär, das heißt der
Verantwortung und Initiative der Bürger
nachgeordnet zuständig – und nicht die
Bürger gegenüber dem vormundschaft-
lichen Anspruch des Staates. In der poli-
tischen Debatte haben wir das Verhältnis
zwischen Bürger und Staat inzwischen
auf den Kopf gestellt. Denn heute sind
die Bürger aus der Sicht der Regierenden
subsidiär. Sie sollen die Lücken füllen, die
der Staat nicht angemessen füllen kann,
und im Übrigen ihre Verantwortung an
Vater Staat abtreten.
Unter der Herrschaft einer derartigen
Vorstellung muss der Staat ein Interesse
daran haben, möglichst viele der Berei-
che zu besetzen, in denen die Bürger
sonst vorführen könnten, dass man es
auch besser machen kann. Wenn Sie da-
rauf achten, werden Sie sehen, dass un-
sere Sozialsysteme eine starke Tendenz
haben, genau das zu tun.
So betrachten die großen Sozialver-
bände, die überwiegend aus Steuern fi-
nanziert werden, selbständige bürger-
gesellschaftliche Initiativen häufig eher
mit Misstrauen. Denn sie müssten ihre
eigene Legitimation hinterfragen, sollte
es sich erweisen, dass ein wichtiger Teil
der von ihnen beanspruchten sozialen
Aufgaben auf der Ebene der Zivilgesell-
schaft durch die Bürger besser und le-
bensnäher gelöst und bewältigt wer-
den kann – in Zusammenarbeit mit dem
kommunalen Sachverstand und den bür-
gerlichen Initiativen, den Schulen und
den Vereinen. Deutschland besitzt eine
weit verzweigte Vereinsstruktur, in der
sich ein großer Teil bürgerlichen Enga-
gements verwirklicht. Diese Energie
können wir nutzen und sie wird auch
genutzt. Wird sie erfolgreich genutzt,
könnte es dazu führen, dass die Sozial-
verbände einen Teil ihrer Legitimation
gefährdet sehen. Sie müssten sich dann
auf die Tätigkeitsfehler zurückziehen,
für deren Regelung man auf die höhere
subsidiäre Ebene nicht verzichten kann.
Ob sie zu diesem Verzicht bereit sind,
ist nicht nur für sie sondern für das ge-
19
samte Sozialsystem, zu dem sie gehö-
ren, ist eine Machtfrage.
Und so kommen wir, wenn wir es rich-
tig bedenken, zu dem Ergebnis, es geht
um eine politische Machtfrage. Wir müs-
sen diese Machtfrage entscheiden: Wie
gelingt es uns, die staatliche Zuständig-
keit in dem Raum zu halten, in dem der
Staat äußerst Nützliches tun kann, ohne
dass er seine Fähigkeit, das Nützliche
zu tun, durch eine ständige Ausweitung
schwächt? Denn der Staat, der überall
präsent ist, ist ein schwacher, für Son-
derinteressen anfälliger Staat.
Der Grund dafür ist wiederum einfach: Im
Parlament sitzen viele, viele Abgeordnete,
die sich auf das eine oder andere Gebiet
spezialisiert haben. Eine ziemlich große
Zahl der Abgeordnete betrachtet sich in-
zwischen als Experte. Darin liegt eine Ver-
suchung für das Parlament als Ganzes: die
Neigung, dem jeweiligen Experten gewis-
sermaßen die Entscheidung zu überlas-
sen. Das beeinträchtigt nicht nur den Ge-
samtzusammenhalt des Parlaments, das
ja eigentlich die Exekutive kontrollieren
soll. Es öffnet auch die Türen für den Ein-
fluss von Sonderinteressen.
Diese wiederum drängen auf Sonderre-
gelungen und Subventionen und damit
zu einer Flut von Einzelentscheidungen.
Man nennt sie auch Intervention. Prak-
tisch heißt das: es gibt ein spezielles Pro-
blem, das nach einer speziellen Lösung
drängt. Die Experten lösen das Problem,
können jedoch nicht erkennen, welche
Wirkungen ihre Lösung für andere po-
litische Entscheidungen haben könnte.
Denn im Unterschied zur Medizinwer-
bung im Fernsehen gibt es keinen Arzt
oder Apotheker, den man nach den Risi-
ken und Nebenwirkungen fragen kann,
die mit politischen Interventionen ver-
bunden sind.
Treten die Nebenwirkungen jedoch ein
– wie beim Erneuerbare-Energie Gesetz
–, werden sie von anderen Experten als
neues Problem gesehen. Das wiederum
muss durch eine weitere Intervention ge-
löst werden und so fort. Wobei es inner-
halb der Experten keine verlässliche Ab-
stimmungsmöglichkeit darüber gibt, wie
sich ihre Interventionen auf das Ganze
auswirken.
Was ergibt sich daraus? Die dringende
Notwendigkeit, Veränderungen zu erken-
nen und den politischen Willen zu mobili-
sieren – und der wiederum wird nur von
unten kommen – die besetzten Berei-
che, in denen die Bürger Verantwortung
übernehmen können und über Kompe-
tenz und auch Leistungswillen verfügen,
zu entstaatlichen, das heißt: den Bür-
gern zurückgeben. Das ist sehr schwie-
rig. Denn welche Räume auch immer der
Staat durch seine Institutionen erst ein-
mal besetzt hält, gleich ob es sich um Be-
20
reiche der Sozialsysteme oder um andere
Bereiche handelt; sie müssen dem Staat
auch wieder abgetrotzt werden.
Praktisches Beispiel: in einer Kommune
tun sich Bürger zusammen, um „Schul-
abbrechern“, also denjenigen zu helfen,
die keine abgeschlossene Schulausbil-
dung haben und deshalb auch keine Lehr-
stelle bekommen können. Sie nehmen
sie an die Hand und versuchen, ihnen
doch noch – zusammen mit der Schule
und mit Hilfe der kommunalen Unter-
stützung und Professionalität – zu einem
Abschluss und zu einer Lehrstelle zu ver-
helfen und ihnen damit die Chance einer
Qualifikation zu sichern, die ihnen ein ei-
genständiges und menschenwürdiges Le-
ben ermöglicht.
Was ist derzeit unsere Antwort? Wir be-
klagen den Fachkräftemangel und ver-
suchen, uns die fehlenden qualifizierten
jungen Leute aus dem Ausland zu holen.
Die gleiche Arbeitsministerin, die in einer
Sendung das erstere Problem definiert
hatte, war anschließend stolz darauf, alle
Voraussetzungen geschaffen zu haben,
nicht nur junge Leute aus der Europäi-
schen Union sondern auch aus Drittlän-
dern nach Deutschland zu holen.
Was das in Wirklichkeit bedeutet? Dass
wir die Ausbildungsleistungen anderer
Länder ohne Gegenleistung für uns in
Anspruch nehmen. Weil wir nicht in der
Lage sind, eine ausreichende Zahl von
Fachkräften selbst auszubilden und da-
mit die Facharbeiternot zu überwinden.
Von den Ländern, aus denen diese jun-
gen Leute abwandern – ob aus Spanien,
Portugal oder anderen – kommt schon
heute der Vorwurf der Ausbeutung ih-
rer durch den Geburtenrückgang ohne-
hin geschmälerten Generation und ihrer
Ausbildung. Das ist angesichts der wirt-
schaftlichen Stärke Deutschlands ebenso
plausibel wie für den europäischen Zu-
sammenhalt gefährlich.
Wir müssen deshalb zu einer Struktur so-
wohl in Deutschland wie in Europa fin-
den, die es ermöglicht, das enorme In-
novationspotenzial der Bevölkerung zu
aktivieren. Auch dafür brauchen wir die
Mitwirkung der Bürgerschaft. Wiederum
werden wir hören, die könne das nicht
leisten. Das ist jedoch, wie sich bereits
zeigt, ein großer Irrtum. Denn die Be-
reitschaft der Älteren, sich an der Mo-
bilisierung unserer Potenziale zu betei-
ligen, nimmt ständig zu. Eine der dafür
bedeutsamen Nebenwirkungen einer al-
ternden Gesellschaft besteht im Inter-
esse der Älteren, länger gesund und fit zu
leben als früher. Als Folge ist der Gesund-
heitszustand der heranwachsenden älte-
ren Bevölkerung besser als früher. Wer
heute mit 65 in Rente geht – das effek-
tive Verrentungsalter ist noch immer ge-
ringer – hat die Aussicht, rund 80 Jahre
alt zu werden. Viele von ihnen werden
21
sich auch weiterhin engagieren wollen.
Nicht nur beruflich sondern auch in der
Bürgergesellschaft. Viele wissen, dass es
lohnt, jungen Leuten zu helfen, noch eine
Lehrstelle zu bekommen. Denn sie wis-
sen: wenn sie eine Lehrstelle bekommen,
dann können sie später auch zu einer si-
cheren Rente beitragen.
Fehlt es jedoch an ausreichendem Nach-
wuchs von Fachkräften: wer soll dann das
Wirtschaftswachstum erwirtschaften,
von dem wir dauernd reden? Es sind die
Menschen, ihr Fleiß, ihr Einsatz und ihr
Erfindungsgeist, die unseren Wohlstand
sichern, nicht die Finanzmärkte. Noch so
viel Geld, das wir in die Wirtschaft pum-
pen, wird nichts bewirken, wenn es zu
wenige gibt, die mit dem Geld Unterneh-
men gründen, sich einer Aufgabe stel-
len, Produkte entwickeln und die Men-
schen finden, die mit ihnen zusammen
eine wirtschaftliche Leistung erbringen
und damit zur Wertschöpfung beitragen.
Das Fazit meiner und hoffentlich auch
Ihrer Einsicht lautet demnach: Wir kön-
nen das verlorene Vertrauen nur wie-
dergewinnen, wenn die Menschen das
Gefühl haben, dass sie nicht nur mitge-
nommen werden sollen, wie das in der
Politiksprache so schön heißt, sondern
dass es auf sie ankommt. Und wenn die
politischen Institutionen sich als Einrich-
tungen begreifen, die unsere Fähigkeiten
suchen und sie freisetzen wollen und uns
die Möglichkeiten bieten, durch Beispiel
andere zu ermutigen, das auch tun.
Sicherlich braucht man auch hier und da
Hilfe, aber man braucht vor allen Dingen
Freiräume. Diese Freiräume sind zum er-
heblichen Teil besetzt. Wenn sie besetzt
bleiben, wird unser Misstrauen wachsen.
Denn je größer der bürokratische Einfluss
auf unser Leben einwirkt und je undurch-
sichtiger er wegen der unüberschauba-
ren Zahl der Regelungen und sich zum
Teil widersprechenden Interventionen
wird, umso weniger werden wir bereit
sein, den politischen Institutionen mit
Vertrauen zu begegnen.
Das Vertrauen wird wiederkommen,
wenn es zu einer Partnerschaft kommt
zwischen einer lebendigen Zivilgesell-
schaft und einem politischen und staatli-
chen Raum, der sorgfältig darauf bedacht
ist, dass die seinen Zuständigkeiten
durch das Prinzip der Subsidiarität gezo-
genen Grenzen nicht ständig überschrei-
ten und zu Lasten der Freiheitsräume der
Bürgergesellschaft immer neue Zustän-
digkeiten begründet werden.
Das sollte unser aller Wunsch sein. Sie
alle können zu seiner Verwirklichung bei-
tragen. Der Comenius-Club ist ein schö-
ner Ort für eine weitere Befruchtung der-
artiger Vorhaben. Meine Frau und ich
zum Beispiel arbeiten schon viele Jahre
an der großen Aufgabe, die Schulmedi-
22
zin mit der Erfahrungsmedizin zu verbin-
den. Jetzt beginnen Wissenschaftler hier
in Sachsen, große, interessante Projekte
zu entwickeln: wie man Menschen hel-
fen kann, auch unter veränderten Bedin-
gungen, die uns ins Haus stehen, gesund
zu leben. Und auf diese Weise ihre Neu-
gier, ihre Einsatzfreude und ihre Fähig-
keit zur Teilnahme zu erhalten; Fähigkei-
ten, die sie dann auch einbringen können
für sich selbst und in der Gemeinschaft,
in der sie leben.
Und nichts, lassen Sie mich das aus mei-
ner persönlichen Erfahrung hinzufügen,
ist befriedigender und beglückender als
eine Teilhabe, die nicht nur das eigene
Leben wertvoller sein lässt, sondern das
Gefühl vermittelt, auch für andere wert-
voll zu sein.
23
Dr. Fritz Hähle
So meine sehr geehrten Damen und Her-
ren, jetzt kommen wir an den Punkt des
Abends, an dem Sie ein wenig mitwirken
können, denn wir sind heute in sehr gro-
ßer Zahl versammelt. Ich glaube, wir ha-
ben heute ein Rekordergebnis. Es haben
sich über 800 Teilnehmer angemeldet
und wie ich sehe, sind es auch etwa so
viele. Also so viele hatten wir noch nie.
Zunächst ein herzlicher Dank an Kurt Bie-
denkopf. Wir durften eines seiner großen
Talente nutzen, dass er nämlich die Fähig-
keit hat, komplizierte Sachverhalte allge-
meinverständlich darzustellen.
Und, wie immer, zum Schluss noch ein
Ausblick auf die nächste Veranstaltung
des Johann Amos-Comenius-Clubs. Die
findet am 07. September 2013, 10:00 Uhr
in Schwarzenberg anlässlich des Tages
der Sachsen statt. Es referiert dann Frau
Staatsministerin Christine Clauß. Sie
können sich drauf freuen und sich in den
Kalender eintragen.
Und jetzt noch mal Steffen Flath. Ich bin
entlastet, ich muss heute keine Zusam-
menfassung oder das Schlusswort halten.
Ich hab dazu einen Ministerpräsidenten.
24
Steffen Flath MdL
Weil wir eben eine Terminankündigung
gemacht haben und damit Sie auch se-
hen, dass wir das ernst nehmen als CDU-
Fraktion, dass wir in diesem Jahr ganz be-
sonders europäische Themen diskutieren
wollen, werden wir bereits am 10. Juni
in der Dreikönigskirche in Dresden eine
Veranstaltung zur Europapolitik durch-
führen, zu der ich Sie einladen möchte.
Am Ausgang finden Sie entsprechende
Flyer. Dort wird 18:00 Uhr eine Veranstal-
tung stattfinden mit unserem Minister-
präsidenten Stanislaw Tillich. Frau Gene-
ralkonsulin Dr. Krejčíková hat uns einen
Botschafter besorgt, den Tschechischen
Botschafter und wir haben den ehemali-
gen Botschafter der Republik Polen. Au-
ßerdem werden wir mit den entsprechen-
den Experten der Fraktion, lieber Kurt
Biedenkopf, europäische Themen disku-
tieren. Dazu seien Sie eingeladen.
Und da wir heute einen ganz ungewöhn-
lichen Comenius-Club haben, übergebe
ich jetzt für ein Schlusswort an Stanislaw
Tillich das Wort. Bitteschön, Herr Minis-
terpräsident.
25
SchlusswortMinisterpräsident Stanislaw Tillich
Lieber Steffen Flath, lieber Fritz Hähle und lieber Professor Kurt Biedenkopf, meine sehr verehrten Damen und Herren,
ich glaube wir haben einen wunderba-
ren und uns auch sehr nachdenklich ma-
chenden Vortrag von Kurt Biedenkopf
gehört. Wir haben eine sehr lebendige
Diskussion gehabt und auch durchaus die
eine oder andere Frage, die man heute
zwar beantworten kann, aber sicherlich
nicht abschließend. Da werden wir in den
nächsten Tagen, Wochen, Monaten die
gegebene Antwort immer wieder über-
prüfen und auch neu bewerten müssen.
Als Ministerpräsident habe ich einige
Bemerkungen. Ich will jetzt nicht das
co-kommentieren, was meine drei Vor-
redner, jeweils einzeln oder zusammen
gesagt haben, sondern Ihnen noch mal
zusammenfassend einige wenige Thesen
vorstellen.
Erstens bin ich stolz darauf, als Nachfol-
ger von Kurt Biedenkopf bei Angela Mer-
kel am Präsidiumstisch zu sitzen und mir
immer mal wieder Eines vorhalten zu las-
sen: „Ihr Sachsen habt immer eine an-
dere Meinung. Das hat schon mit Bie-
denkopf so angefangen, mit Milbradt hat
sich das fortgesetzt und mit Tillich geht
das weiter.“
Um es ganz kurz und deutlich zu sagen:
Ich kann es nicht leiden, wenn Kritik, ob
nun an der Energiepolitik oder auch an
der europäischen Politik, gleich als feind-
licher Akt ausgelegt wird. So wie früher
in der DDR, als es hieß: „Wenn du nicht
für den Frieden bist, dann bist du für den
Krieg.“ Ich glaube vielmehr, sachliche Kri-
tik kann sehr viel dazu beitragen, eine
bessere Lösung zu finden.
Kurt Biedenkopf hat über das heutige
Thema etwas gestellt, dem ich vollstän-
dig zustimmen kann: Man muss sich,
über den Euro hinaus und die heutige
Verschuldungskrise hinweg, ein Ziel for-
mulieren, das wir erreichen wollen.
Ich hatte vor kurzem die Gelegenheit,
Fritz Stern, einen der engsten Freunde
Kurt Biedenkopfs in den USA, treffen zu
können. Auf die Frage, wie er, Fritz Stern,
die Situation beurteilt, ein Politologe, ein
Humanist, ein ehemaliger Wissenschaft-
ler, hat er mir gesagt: Er mache sich Ge-
danken über den Fortbestand der west-
lichen Gesellschaft. Ihm würde zu wenig
über die westliche Werte-Gemeinschaft
gesprochen. Und er hat das dann noch
deutlich gemacht: Es gab mal den Ost-
block. Und es gab den Westen. Im Wes-
ten waren Freiheit und Demokratie et-
was Grundsätzliches. Das hat auch die
26
Sehnsucht der Menschen im Osten nach
eben dieser Freiheit und Demokratie be-
stimmt. Nicht zuletzt hat dies auch zur
friedlichen Revolution hier in diesem
Land geführt. Und darüber wird heute
viel zu wenig geredet.
Und ich glaube, dass Freiheit und Demo-
kratie ein anderes Begriffspaar sofort mit
einbeziehen, nämlich Freiheit und Ver-
antwortung. Kurt Biedenkopf hat ja so
schön gefragt, was eigentlich Europa mit
den Olivenölkännchen zu schaffen hat?
Und was macht denn die Bundesrepub-
lik Deutschland mit Hartz IV?
Was machen wir, wenn wir glauben,
als Staat etwas regeln zu müssen? Wir
schränken die Freiheit ein und wir neh-
men den Menschen die Verantwortung,
die sie an und für sich selber würden
wahrnehmen wollen, wenn wir ihnen die
Freiheit ließen. Und das ist, glaube ich,
die entscheidende Frage, die sich Europa,
die sich die Bundesrepublik Deutschland
und die wir uns alle stellen müssen. Näm-
lich, dass wir in der Tat mehr und mehr
in der Situation sind, dass der Staat im-
mer mehr Zuständigkeiten an sich zieht.
Da kann man über die Bürokratie und die
Beamtenschaft schimpfen wie man will.
Selbstverständlich gibt es auch da Ver-
treter, die gerne ihren Fortbestand da-
durch sichern, dass sie eine Regelung er-
finden. Aber das ist meistens politisch
gedeckt. Es ist nicht die Beamtenschaft,
die unkontrolliert so etwas tut, sondern
dafür gibt es Gemeinderäte, dafür gibt es
Kreistage, dafür gibt es Landtage, Bun-
destage und europäische Parlamente, die
ihre Verantwortung entweder wahrneh-
men oder eben nicht.
Und wenn man von Freiheit und Verant-
wortung spricht, dann fällt mir ein, was
wir vor zwei Wochen unweit von hier ge-
meinsam mit den Freunden der Christ-
demokratischen Fraktion aus dem Eu-
ropäischen Parlament diskutiert haben.
Die haben mich gefragt, was wir hier ei-
gentlich anders gemacht haben als zum
Beispiel die Spanier. Spanien hat ja auch
seit Anfang der 90er-Jahre die Struktur-
fondsmittel. Und jetzt haben sie 50 Pro-
zent Jugendarbeitslosigkeit und wir eben
nicht. Bei uns hat sich die Wirtschaft er-
folgreich entwickelt, bei ihnen liegt sie
vielleicht noch nicht am Boden, aber sie
strauchelt.
Und ich hab damals deutlich gesagt: Wir
haben uns die Freiheit genommen, ei-
nen eigenen, eben einen originär säch-
sischen Weg zu gehen. Wir haben nicht
das nachgemacht, was jeder macht. Und
ich glaube, das ist der große Unterschied.
Wir sind bereit, andere nicht zu belehren,
sondern bei uns ins „Heft gucken“ zu las-
sen. Was in der Schule verboten ist, ist in
der Politik erlaubt. Man muss schließlich
die Fehler der anderen nicht noch mal
27
wiederholen, sondern man kann aus den
Erfahrungen der anderen lernen.
Was ich da auch gesagt habe, ist, dass die
Europäische Union jetzt über neue Pro-
gramme nachdenkt. Wir sind ja glücklich
und dankbar für die Hilfe der vergange-
nen Jahre. Es sind immerhin 14 Milliarden
Euro aus Europa nach Sachsen geflos-
sen. Das hat uns die Möglichkeit eröff-
net, nicht nur Schulen zu bauen, nicht nur
Straßen zu bauen. Sondern wir konnten
auch in eines der wichtigsten Kapitale,
das dieses Land hat, nämlich in die Köpfe
investieren – beginnend vom Kindergar-
ten über die Schule bis zur Hochschule.
Das macht Sachsen zurzeit erfolgreich
und wird es auch zukünftig erfolgreich
machen.
Und ich habe den Kollegen aus Europa
auch gesagt: Lasst uns doch die Freiheit,
selbst darüber zu entscheiden, wofür wir
das Geld verwenden. Ihr könnt kontrol-
lieren, wofür wir es verwendet haben. Ihr
könnt uns das auch wegnehmen, wenn
wir es nicht richtig verwendet haben,
wenn die Arbeitslosigkeit steigt, wenn
wir vom Niedergang betroffen sind. Aber
lasst uns doch die Freiheit, wenn wir er-
folgreich sind, auch dieses Geld nach ei-
genem Ermessen, nach eigenen Vorstel-
lungen zukunftsorientiert und nachhaltig
zu investieren. Und nicht dafür auszuge-
ben, dass wir – von Finnland bis Sizilien –
alles einheitlich machen müssen.
Und das ist der wesentliche Unterschied
bei der Subsidiarität, den Kurt Bieden-
kopf eben beschrieben hat: Wir wollen
größere Freiheiten. Und wir nehmen
dann sehr gerne die gesteigerte Verant-
wortung in Kauf, dass wir auch dafür Re-
chenschaft ablegen müssen, was wir mit
dem Geld getan haben.
Damit komme ich zum nächsten Punkt.
Bei diesem Treffen kam ein Kollege aus
Frankreich und sagte: „Na ja, aber wir
können doch gar nichts gestalten, wenn
wir kein Geld haben.“ Sie kennen die Dis-
kussion über die Austeritätspolitik. Das
ist so ein Wort, das merkt man sich, weil
das was mit Auster zu tun hat. Aber nein,
Austeritätspolitik heißt Sparsamkeit.
Und ich kenne die Diskussion auch bei
uns hier in Sachsen. Manche sagen „Wir
müssen immer so sparen.“ Meine Ant-
wort ist: Nein, wir müssen nicht. Aber wir
tun das, damit wir zukünftig noch Geld
ausgeben können. Und nicht das Geld in
Form von Zinsen zur Bank tragen müs-
sen. Wenn wir heute Schulden machen
würden, dann müssten nachfolgende Ge-
nerationen das bezahlen. Die Banken las-
sen sich das vergüten. Die lassen uns das
nicht durchgehen.
Das führt nicht nur zu einem Verlust an
Geld, sondern auch an Gestaltungsfrei-
heit. Und das sieht man jetzt in Grie-
chenland, das sieht man jetzt in Spa-
nien. Dort ist kein Geld da, um Politik
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zu gestalten. Die müssen das Geld als
Zinsen zu den Banken schaffen. Wenn
man sich aber die richtigen Prioritäten
setzt und von Anfang an mit dem aus-
kommt, was man hat, dann, glaube ich,
hat man nicht nur für die heutige Gene-
ration die Verantwortung übernommen,
sondern erst recht auch die Verantwor-
tung dafür getragen, dass die zukünf-
tige Generation auch die eigenen Prio-
ritäten setzen kann.
Und deswegen ist für mich Verschuldung
eine Machtfrage. Wer sich verschuldet
hat, wer sich gerade jetzt verschuldet,
der hat die Macht missbraucht. Nämlich
die Macht einer zukünftigen Generation,
selbst entscheiden zu können. Und ich
glaube, das ist der wesentliche Punkt,
wo wir in Sachsen eine Antwort gefun-
den haben. Wir halten uns an das Grund-
prinzip, dass wir nur das ausgeben, was
wir auch eingenommen haben.
Und jetzt komme ich zu dem, was Kurt
Biedenkopf auch sagte. Wir waren letzte
Woche zusammen als Fraktion in Est-
land. Der Wirtschaftsminister von Est-
land hat mir in einem Gespräch unter
vier Augen gesagt: Sie haben ein Pro-
blem. Ein amerikanischer Investor hat
sich aus Estland zurückgezogen. Estland
hat 1,6 Millionen Einwohner, es ist nicht
so groß wie Sachsen, aber sie hätten ar-
beitslose Softwareingenieure und Hard-
wareingenieure. Und er fragte, ob denn
nicht sächsische Unternehmen nach Est-
land kommen könnten.
Ein Vorteil der Europäischen Union ist
die Freizügigkeit. Ich bin dafür, dass Men-
schen zu uns kommen und hier arbeiten.
Ich bin genauso dafür, dass unsere Un-
ternehmen nach Estland gehen, wenn es
da Arbeit gibt und dort auch die Fach-
leute sind.
Wir haben heute tschechische, polni-
sche, ungarische Ärzte an unseren Klini-
ken. Wir freuen uns darüber, dass wir die
ärztliche Versorgung sicherstellen. Und
jeder von uns, dem es schlecht geht und
der in ein Krankenhaus muss, fühlt sich
besser, wenn er ärztlich ordentlich be-
handelt worden ist. Aber haben wir uns
einmal die Frage gestellt, was eigentlich
in Ungarn und in Tschechien und in Po-
len passiert, wenn die Ärzte nicht mehr
da sind? Ich glaube, dass wir diese Frage
ehrlich auch miteinander diskutieren
müssen.
Die jungen Leute sollen die Möglichkeit
haben, dahin zu gehen, wo sie wollen.
Aber wir sollten das nicht als die Ideallö-
sung betrachten, wenn wir selbst nicht
in der Lage sind, die Leute zielgerichtet
auszubilden.
Und da habe ich das schönste Beispiel
aus meinem Wahlkreis: Seit 1990 war der
Kfz-Mechaniker bei den Jungs die Num-
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mer 1 auf der Auszubildenden-Hitliste.
Bis zum Jahr 2011. Seit dem Jahr 2012 gibt
es eine neue Nummer 1. Die neue Num-
mer 1 ist der Koch. Wahrscheinlich hat
das etwas mit dem Nachmittagsfernse-
hen in Deutschland zu tun, meine Da-
men und Herren. Aber die Frage ist doch:
Brauchen wir in meinem Wahlkreis so
viele neu ausgebildete Köche? Mit Si-
cherheit nicht.
Aber wir müssen uns die Frage stellen,
was die denn dann werden sollen. Wie
reden wir mit den jungen Menschen,
dass die letztendlich auch andere Aus-
bildungsberufe attraktiv finden? Damit
uns das gelingt, und das hast du, Kurt,
so schön gesagt, müssen wir uns als Ers-
tes um die Menschen kümmern. Und das
können wir viel besser auf der gemeind-
lichen Ebene. Das können viel besser die
Unternehmerinnen und Unternehmer,
wenn sie mit den jungen Menschen spre-
chen. Viel besser, als ein Programm der
Europäischen Union, das von Finnland bis
nach Sizilien alles gleich macht.
Noch eine Bemerkung: Wenn ich durch
unser Land fahre, macht mich eines
stolz. Immer wieder zu sehen, was die
Menschen aus diesem Land gemacht ha-
ben. Und gleichzeitig sehe ich, dass es
aber auch große Unterschiede gibt in
diesem Land. Diese Unterschiede sind
von Menschenhand gemacht. Kommt
man in eine Gemeinde, die über die glei-
chen finanziellen Voraussetzungen ver-
fügt wie andere, dann kann man sehr
wohl erkennen, ob dort Kommunalpo-
litik gemacht wird, die auf Zukunft ori-
entiert ist. Ist da das Rathaus das Erste,
was saniert worden ist, oder war‘s der
Kindergarten, die Schule, vielleicht auch
die Gemeinschaftseinrichtung? Man
sieht also ob was getan wird, damit die
Bürger sich in dieser Gemeinde wohl-
fühlen, damit es Kinder gibt, und da-
mit die Gemeinschaft auch weiter lebt.
Das sind die feinen und kleinen Unter-
schiede, die auch Subsidiarität ausma-
chen, indem man die Spielräume nutzt.
Sachsen hat gemeinsam mit den ande-
ren Bundesländern – und das wollte ich
hier nur noch mal als Einschub sagen –
ein neues Recht nach dem Lissabonner
Vertrag, nämlich die Möglichkeit der
Subsidiaritätsrüge. Das heißt, wir kön-
nen als Bundesrat beschließen, dass wir
die Richtlinien der Europäischen Union
nicht akzeptieren und die Bundesregie-
rung auffordern, noch einmal nachzuver-
handeln. Aber man muss sich auch des-
sen gewiss sein, dass es Länder gibt, die
darauf hoffen, dass ihnen Europa hilft.
Und die deswegen alles akzeptieren, was
Europa tut, wenn es nur Geld verspricht.
Das heißt also, unsere Auffassung über
Subsidiarität liegt den Franzosen sehr
fern. Den Italienern oder den Spaniern
liegt diese schon eher. Aber unter den
Umständen, unter denen diese Länder
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heute wirtschaften, ist natürlich auch die
Situation eine andere, als eben in Ge-
meinden oder Ländern in Deutschland,
die sich selbst helfen können. Anders als
viele italienische und spanische Kommu-
nen oder Regionen.
Und deswegen, glaube ich, kann ich Kurt
Biedenkopfs Vortrag mit einem Satz zu-
sammenfassen, den ich von einem Hun-
dertjährigen gehört habe. Als alle zu
seinem Jubiläum gratuliert hatten und
fragten, was er von seinem Leben hält
und wie es so weiter geht, da hat er ge-
antwortet – und so könnte man das auch
über Europa sagen: Man muss das Leben
nehmen, wie es ist. Aber man muss es
nicht so lassen.
In diesem Sinne lassen Sie uns diskutie-
ren. Ich glaube, dass Europa für uns große
Chancen bietet, wenn wir es nicht so las-
sen, wie es ist. Wenn wir alle tatkräftig
mit daran arbeiten, dass es sich so än-
dert, wie wir es uns vorstellen: Nahe bei
den Menschen. Aber auch gleichzeitig
wiederum fern genug von den Menschen,
wenn es um Regelungen für Ölkännchen
und Glühlampe geht.
Herzlichen Dank.
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Impressum
Zum Vertrauen in die Einhaltung von Recht und Gesetz zurückkehrenVeranstaltung am 29. Mai 2013
HerausgeberCDU-Fraktiondes Sächsischen Landtages
RedaktionJan Donhauser
Satz, Gestaltung und DruckZ&Z Agentur Dresden
Dresden, Januar 2014
Diese Broschüre wird im Rahmen der Öffentlichkeitsarbeit der CDU-Fraktion des Sächsischen Landtages herausgegeben. Sie darf weder von Parteien noch von Wahlhelfern im Wahlkampf zum Zwecke der Wahlwerbung verwendet werden. Den Parteien ist es gestattet, die Druck-schrift zur Unterrichtung ihrer Mitglieder zu verwenden.