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Joseph Beuys und die Pfegeoase
Um Menschen mit schwerer Demenz am Ende ihres Lebens besser begleiten
zu können und ihrem räumlichen Schutzbedürfnis Rechnung zu tragen, müssen
althergebrachte Konzepte überdacht und durch kreative neuen Ideen ergänzt wer-
den. Christine Sowinski, Dr. Franca D’Arrigo und Georg Rindermann erklären, wie
die Arbeiten des Künstlers Joseph Beuys ihnen bei der Entwicklung des Pflege-
oasen-Konzepts und der „Hausgemeinschaft plus“ geholfen haben.
Was brauchen Menschen, die immobil und
in vielfältiger Weise eingeschränkt sind,
um sich wohlzufühlen? Es muss etwas sein,
wo sie sich geborgen fühlen, eine Art Nest, das
Wärme und positive Sinneseindrücke vermittelt.
Wer sich im Zusammenhang mit der Begleitung
und Pfege von Menschen mit Demenz am L-e
bensende beschäftigt und gleichzeitig auch mit
dem künstlerischen Schaffen von Joseph Beuys,
der fndet hier viele Parallelen. Beuys’ -Wer
ke drehen sich oft um „Wärme“, „Einwickeln“,
„Einsalben“ und „Leid“. Ebenso spielt das Phä -
nomen des Heilens eine große Rolle. In seinen
Installationen verwendet er Heilmittel wie Tab-
letten, Pfaster, Mullbinden, Medikamente. Die -
se stehen nicht selten in Verbindung mit so-ge
nannten metaphorischen Requisiten. So tauchen
in seinem Werk häufg Filz (Wärme) und Fett
(Salbung) auf.
Der „Tatarenlegende“ zufolge wurde der Kampf -
pilot Joseph Beuys 1944 auf der Krim a-bge
schossen und von umherziehenden Tataren g-e
rettet. Nach eigenen Aussagen überlebte Beuys
nur durch das Einreiben mit Fett und wärmende
Filzdecken. Die Tataren sind ein Nomadenvolk
und so taucht die nomadische Kultur auch i-m
mer wieder in Beuys’ Kunstwerken auf.
Übertragen auf das Leben alter Menschen am
Lebensende, die nicht mehr zu Hause, sondern
in einer stationären Wohnform leben, dienen
diese Werke Beuys’ als gute Zustandsbeschre-i
bung: Die alten Menschen sind gewissermaßen
Wanderer zwischen den Welten. Die alte Welt
haben sie schon verlassen müssen und in der
neuen Welt – dem Himmel oder Jenseits – sind
sie noch nicht angekommen.
Pfegeoase als Soziale Plastik
Für die Entwicklung der Pfegeoase war Joseph
Beuys auch deshalb so inspirierend, weil er die
Kunst und den Alltag der Menschen eng mitein-
ander verbunden und sich so von der Kunst hin
zur Wirklichkeit bewegt hat. So war Beuys zum
Beispiel der Auffassung, dass dem Menschsein
formgebende bzw. plastische Prinzipien inne-
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Hausgemeinschaft plus
Angeregt durch den Begriff der „Sozialen
Plastik“ und dem Erfolgsmodell der Pfegeoa-
se in Zwickau (s. S. 19) wurde auch in Nord-
rhein-Westfalen ein Wohnmodell für Menschen
mit Demenz am Lebensende entwickelt: Im rhei-
nisch-bergischen Overath betreibt die geme-in
nützige Vivat GmbH seit Dezember 2011 acht
stationäre Hausgemeinschaften mit jeweils zehn
wohnen. Erst durch sein Denken und sein kreati-
ves Handeln forme sich der Mensch selbst. Diese
schöpferische Kraft nannte er „Soziale Plastik“.
Mit ihr werde jeder Mensch zu einem Künstler,
erschafft und verändert sich selbst und damit
auch die Gesellschaft. Durch die Kunst kann da-
mit die materialistische Welt zu einer sozialeren
und demokratischen Lebensform gewandelt wer -
den.
Heute wird die „Soziale Plastik“ auch zuneh-
mend mit Unternehmen gleichgesetzt. Das Un-
ternehmen als „Soziale Plastik“ ist nie vollendet
und wandelt sich ständig durch die Energie der
Mitarbeitenden. In diesem Sinn ist auch die Pfe-
geoase eine „Soziale Plastik“, die sich durch die
schöpferische Kraft der Menschen, die hier leben
und arbeiten, verändert und sich so ihren Bedürf-
nissen anpasst.
Dr. Franca Franca D’Arrigo hat
Joseph Beuys noch persönlich
erlebt und ist tief beeindruckt
von seinem Schaffen.
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Literatur
D’Arrigo, Franca (2011): Sinneswelten für Menschen mit
Demenz in der stationären Altenhilfe. Eine Lokalstudie.
Universität Siegen, Hochschulschriften
Gohde, J.; Sowinski, C.; Strunk-Richter, G.; Sachse, M.
(2015): Großer Erfolg: ein Jahr Pfegeoase Zwickau. In:
ProAlter 5/15, S. 53–58
Kuratorium Deutsche Altershilfe (2014): Arbeiter-Sama-
riter-Bund eröffnet in Sachsen die erste KDA-Pfege-
oase. Pressemitteilung vom 4. Juni 2014
Lebenswelten Ermen, Reinhard (2010): Joseph Beuys.
Hamburg
Rutenkröger, A.; Kuhn, C. (2008): „Im Blick haben“.
Evaluationsstudie zur Pfegeoase im Seniorenzentrum
Holle. Stachelhaus, Heiner (2010): Joseph Beuys. Berlin
Szeemann, Harald (2008): Beuysnobiscum. Hamburg
Harlan, Volker; Rappmann, Rainer; Schata, Peter (1984):
Plätzen, eine Tagespfege und ambulant betreutes
Soziale Plastik. Achberg
Wohnen. Die gesamte Einrichtung fühlt sich so-
wohl der „Sozialen Plastik“ im Sinne von Beuys
als auch der „Dreigliederung des sozialen Orga-
nismus“ verpfichtet. Die soziale Dreigliederung
geht auf den Anthroposophen Rudolf Steiner zu-
rück, der damit von 1917 bis 1922 ein Leitbild
für die gesellschaftliche Entwicklung entwarf.
Heute gilt die soziale Dreigliederung von
Freiheit im Geistesleben,
Gleichheit im Rechtsleben,
Brüderlichkeit im Wirtschaftsleben
vielen als Urbild einer sinnvollen Gestaltung des
sozialen Lebens. Jeder einzelne Mensch hat nach
diesem Leitbild Einfuss auf die Gesellschaft und
gestaltet sie mit. Sie gilt in Overath auch für das
Unternehmen Vivat GmbH, seine Mitarbeiter
und Bewohner. In Teamsitzungen und Gesamt-
teams wird regelmäßig das Konzept von allen
Beteiligten weiterentwickelt. Insbesondere das
Zusammenspiel zwischen Pfege und Alltags-
managerinnen stellt die Mitarbeiterinnen immer
wieder vor neue Herausforderungen, die nur von
den Akteuren selbst gelöst werden können. Die-
se Herangehensweise hat Erfolg. Die Nachfrage
nach den Plätzen in den stationären Hausgemein-
schaften war so groß, dass nun zusätzlich ein
neues Gebäude mit vier weiteren Wohngruppen
geplant wird. Bei diesen Wohngruppen handelt
es sich um „Hausgemeinschaften plus“ für Men-
schen mit schwerer Demenz am Lebensende,
die auch Zielgruppe der KDA-Pfegeoase sind.
In den „Hausgemeinschaften plus“ wird es wie
in der Pfegeoase in Zwickau (s. S. 19) ebenfalls
keine Flure geben. Die zehn Appartements grup-
pieren sich um die gemeinsame Wohn- und Ess-
küche. Für jedes Appartement ist anders als in der
Pfegeoase in Zwickau ein eigenes Bad geplant,
dadurch entsprechen die „Hausgemeinschaften
plus“ den Bedingungen des Wohn- und Teilh-a
begesetzes in Nordrhein-Westfalen (WTG) und
fallen nicht unter die Experimentierklausel ( s.
S. 18). ?
Christine Sowinski
… ist Krankenschwester und Diplom-Psychologin. Sie leitet
den Bereich „Beratung von Einrichtungen und Diensten“ im
KDA. Schon im Studium hat sie sich viel mit Kunst beschäf-
tigt: „Immer, wenn ich glaubte, nicht weiterzukommen, hat
mir die Kunst geholfen, einen neuen Weg zu finden.“
Dr. Franca D‘Arrigo
… ist Diplom-Sozialarbeiterin, Diplom-Pädagogin, Referentin
für stationäre Altenhilfe, Geschäftsführerin der AG Hospizar-
beit und Sterbebegleitung bei der Diakonie Hessen – Dia-
konisches Werk in Hessen und Nassau und Kurhessen-Wal-
deck e. V., Kassel.
Georg Rindermann
… ist Pädagoge, Kunsttherapeut und freier Künstler, Ge-
schäftsführer der Vivat gemeinnützige GmbH in Overath
und hat u. a. mit dem KDA das Modell „Hausgemeinschaft
plus“ für Menschen mit Demenz am Lebensende entwickelt.
Autoren
Georg Rindermann ist selber
Künstler. Neben Beuys steht ihm
auch Rudolf Steiner nahe, auf den
die Dreigliederung des „Sozialen
Organismus“ zurückgeht.