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36 Via medici 2.13 medizin Kampf im Kopf Die Multiple Sklerose galt lange als eine Art unbesiegbares, neurologisches Monster. Doch jetzt findet die Medizin immer bessere Wege, sie zumindest zu zähmen. Text: Martin Wolff Heruntergeladen von: Thieme Verlagsgruppe. Urheberrechtlich geschützt.

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36 Via medici 2.13

medizin

Kampf im Kopf

Die Multiple Sklerose galt lange als eine Art unbesiegbares, neurologisches Monster. Doch jetzt findet die Medizin immer bessere Wege, sie zumindest zu zähmen.

Text: Martin Wolff

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Jean-Martin Charcot war ratlos. Woran litt die junge Frau nur? Ihre Augen zuckten hin und her, die Sprache klang abgehackt. Sie zeigte einen sonderbaren Tremor,

der nur bei gezielten Bewegungen auftrat. Morbus Parkinson war das nicht. Doch der französische Neurologe und Chefarzt der be-rühmten Pariser Klinik Salpêtrière musste nicht lange rätseln. Wenig später starb die Patientin – und er konnte direkt am Hirnschnitt nachforschen, welche Strukturen zerstört waren. Siehe da: Er fand an mehreren Stellen in der weißen Substanz narbige Ver härtungen. Als Name für die Erkrankung wählte er in seiner Veröffentlichung 1868 daher die Bezeichnung „Sclérose en plaques“. So heißt die Multiple Sklerose (MS) bei unseren Nachbarn bis heute. Zwar sind schon im 13. Jahrhundert Fälle be-schrieben worden, die heute als MS interpretiert werden, Charcot war aber der Erste, der die klinischen Symptome mit pathologischen Auf-fälligkeiten im Gehirn zusammenbrachte. Des-halb gilt er zu Recht als Vater der MS-Forschung – obgleich er weit davon entfernt war, die Krankheit therapeutisch beeinflussen zu können. Von der Beschreibung der „Charcot-Trias“ (Nys-tagmus, Intentionstremor und skandierende Sprache) bis zur ersten Behandelbarkeit von MS-Schüben mit Kortikoiden sollte noch fast ein ganzes Jahrhundert vergehen.

> Aufstand des ImmunsystemsDer erste Schritt zu einer effektiven Bekämp-fung der Krankheit war die Erkenntnis, dass sie eine chronisch entzündliche Autoimmuner-krankung des ZNS ist. Deren Auslöser ist bis heute unbekannt. Die klassische MS-Theorie geht aber davon aus, dass eine Kombination aus Genen, Umwelteinflüssen und einer Auto­immunreaktion gegen Myelin dahintersteckt. Vermutlich läuft die Pathogenese so ab, dass autoreaktive T-Zellen nach Aktivierung in der Peripherie durch ein bislang unbekanntes Anti-gen (z. B. Virus) die Blut-Hirn-Schranke durch-

wandern und im ZNS erneut aktiviert werden. Zytokine wie IFN­γ und TNF­α locken weitere Entzündungszellen wie Plasmazellen, Makro-phagen und Mikrogliazellen an. Antikörper und T-Zellen attackieren die Myelinscheiden. Es kommt zur Demyelinisierung und zur Axon-degeneration. Das pathologische Korrelat sind verstreute Entmarkungsherde (Plaques) in Gehirn und Rückenmark, weshalb die MS auch als Encephalomyelitis disseminata (ED) be-zeichnet wird. Die Tatsache, dass verschiedene Bereiche des ZNS betroffen sein können, erklärt auch, warum die Symptome so vielfältig sind. Die MS kann sich zunächst eher diskret durch Sehstörungen, Parästhesien oder Ataxien äußern. Sie kann aber auch mit massiven motorischen Ausfällen einhergehen. Meistens und besonders zu Beginn verläuft die MS schubförmig mit zwischenzeitlichen Remissionen („relapsing-remitting“: RRMS). Seltener und prognostisch ungünstig ist die primär progrediente Ver-laufsform (PPMS) (Kasten, re.).

> Kortison: gegen den akuten SchubVon der Verlaufsform hängt ab, welche Wirk-stoffe zum Einsatz kommen. Prinzipiell unter-scheiden Neurologen die Schubtherapie von Basis- und Eskalationstherapien. Für die Therapie des akuten Schubes verwenden Ärzte seit den 1960er Jahren Glukokortikoide. Die Applikation eines hochdosierten Pulses von 1g/Tag Methyl-prednisolon (z. B. Urbason®) i.v. über 3–5 Tage gilt heutzutage als Standard. Die gute Wirk-samkeit beruht darauf, dass Kortikoide nicht nur sehr effektiv die zelluläre und humorale Abwehr supprimieren, sondern auch das herd-umgebende Ödem reduzieren und die Blut-Hirn-Schranke stabilisieren. Bessern sich die Beschwerden nicht, können die Ärzte die Be-handlungsdauer verlängern oder im Rahmen einer „ultrahochdosierten“ Pulstherapie Dosen bis 2 g/Tag verabreichen. Bei weiter therapie-refraktärer Klinik muss als Eskalation der Schub-therapie eine Plasmapherese in Erwägung gezogen werden. Dabei wird das körpereigene

Fakten zur Multiplen Sklerose

Epidemiologie: In Deutschland leiden ca. 90.000 Frauen und 30.000 Männer an MS, viele erkranken um das 30. Lebensjahr. Tendenziell ist das Erkrankungsrisiko in Nordamerika und Nordeuropa höher als in südlicheren Ländern. Klinik: Bei vielen Patienten zeigt sich die Krankheit zunächst mit Sehstörungen (Optikusneuritis) sowie Gang- und Gefühlsstörungen. Die motorischen Symptome beruhen auf einer spastischen Hemi-, Mono-, Para- oder Tetra - parese. Auch psychische Probleme kommen vor: Manche Patienten sind euphorisch, andere depressiv oder chronisch müde. Diagnostik: Die Entmarkungsherde (oft periventrikulär, juxtakortikal und infra-tentoriell) werden mit einem kraniellen MRT mit Kontrastmittel (Gadolinium) identifiziert. Weitere Standbeine der Diagnostik sind die Elektrophysiologie und die Untersuchung des Liquors. Die vier Verlaufs typen: Beim klinisch isolierten Syndrom (KIS) zeigen sich radiologisch keine Auffälligkeiten. Die RRMS („relapsing-remitting multiple sclerosis“) verläuft in Schüben mit zwischenzeitlicher Remission. Bei der sekundär progredienten Form (SPMS) kommt es nach anfänglichen Schüben zu einem progredienten Verlauf. Bei der primär progredienten Form (PPMS)ist der Verlauf sofort progredient.Fo

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Literaturquellen zu diesem Artikel unter http://bit.ly/WrwDpQ

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Plasma mit den Auto-Antikörpern gegen eine Plasma-Ersatzlösung ausgetauscht.

> Interferon-β und Copaxone: Therapeutika mit LangzeiteffektErnüchternde Bilanz der Kortikoid-Therapie: Obwohl sie im akuten Schub sehr effektiv hilft, verbessert sie die Langzeitprognose vermutlich nicht. Deshalb ist eine kontinuierliche Basis-therapie wichtig, die die Symptomstärke und die Frequenz erneuter Schübe vermindert. Hier unterscheidet man zwischen immunmodu-latorischen und ­suppressiven Wirkstoffen. Seit Anfang der 90er Jahre stehen als immun-modulatorische Agenzien die Interferon­β­Präparate zur Verfügung. In Studien konnte gezeigt werden, dass IFN­β bei RRMS nicht nur die Schubrate und -schwere sowie die Zahl neuer Entzündungsherde im MRT senkt, sondern auch den Krankheitsverlauf insgesamt lang-fristig positiv beeinflusst. Diesen Effekt scheint es v. a. durch eine Antagonisierung von IFN­γ zu entfalten. Man unterscheidet das mit genetisch veränderten E.­coli­Bakterien hergestellte β­ Inter feron­1b (Betaferon®) und das aus Hamster-Ovarialzellen gewonnene β­Interferon­1a (Avonex®, Rebif®). Je nach Substanz werden die Wirkstoffe einmal oder mehrmals pro Woche subkutan bzw. intramuskulär verabreicht.

Ein weiterer Immunmodulator ist das seit 2001 zugelassene Glatirameracetat (Copaxone®). Diese Substanz hatte in Studien gleichwertige Erfolge wie β­Interferone. Der Name des Wirk-stoffs beruht auf den darin enthaltenen Amino-säuren Glutamin, Lysin, Alanin und Tyrosin

(„GLAT“). Die Wirkung könnte damit zu tun haben, dass der Aufbau von Glatiramer dem von Myelin ähnelt. Eventuell besetzt es also die Bindungsstellen von Immunzellen und Anti-körpern, die sonst an die Myelinschicht binden würden. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass Glatirameracetat die zytotoxische Th1­Ant-wort zum eher entzündungshemmenden Th2-Typ verschiebt. Das Medikament wird täglich in einer Dosis von 20 mg subkutan injiziert.

Als Reservepräparat setzte man früher das Immunsuppressivum Azathioprin (Imurek®) ein. Ebenfalls nicht mehr aktuell ist die Appli-kation von intravenösen Immun globulinen (IVIG). Es ist unklar, ob sie bei MS tatsächlich was bringen. Deshalb haben sie auch keine offi zielle Zulassung für die MS – obgleich sie ab und an im Off­Label­Gebrauch noch verabreicht werden.

> Schübe am Fließband? Eskalation!Leider gelingt es nicht bei allen Patienten, die Krankheitsaktivität mit einer Basistherapie in den Griff zu bekommen. In solchen Fällen greift man zum Mittel der Therapie-Eskalation. Erste Wahl sind dabei der seit 2006 in der EU zuge-lassene, monoklonale Antikörper Natalizumab (Tysabri®) und der Immunmodulator Fingolimod (Gilenya®). Natalizumab verhindert, dass Leuko-zyten ins ZNS einwandern, indem es an ihre Oberflächenmoleküle bindet und so die Ad­häsion ans Gefäßendothel blockiert. Die Pa-tienten erhalten alle vier Wochen 300 mg i.v. Aufmerksamkeit erregte das Medikament aufgrund einer seltenen Nebenwirkung, der progressiven multifokalen Enzephalopathie

Multiple Sklerose: Wie fühlt sich das an?

Seit wann leben Sie schon mit der Diagnose?

Seit 16 Jahren. Bisher hatte ich sechs Schübe.

Meine schlimmste Beeinträchtigung ist aber

das Fatigue-Syndrom. Das bedeutet, ich er-

schöpfe sehr schnell und unvorhersehbar.

Welche Symptome haben Sie außerdem?

Die wechseln von Schub zu Schub. Mein erstes

Symptom war eine schmerzhafte Parästhesie in

den Beinen. 2001 hatte ich zum Beispiel eine

Hemiparese rechts, die dank Kortison wieder

wegging, 2004 eine lokale Ataxie im Bein.

Was sind Ihre Therapieerfahrungen?

Seit 2010 nehme ich nichts mehr, da entweder

die Nebenwirkungen oder meine allergischen

Reaktionen auf bisherige Therapien zu stark

waren. Im Moment geht es mir aber sehr gut.

Sie sind selbst Ärztin. Ist das ein Vorteil?

Viele Ärzte haben Angst, mir zu nahe zu treten,

indem sie Dinge erklären, die man als Kollege

bereits weiß. Deswegen leidet manchmal die

Aufklärung etwas. Andererseits ist es für mich

einfacher, mich selbst zu informieren.

Was würden Sie jungen Kollegen für den

Umgang mit MS- Pa tienten empfehlen?

Patienten erinnern sich vor allem an das erste

Gespräch nach der Diagnose. Der Arzt sollte sich

grundsätzlich Zeit nehmen, umfangreich zu in-

formieren. Zudem sollte er realistisch Hoffnungen

wecken, auf einen guten Verlauf, effektive The-

rapien, eine gute symptomatische Versorgung

und eine hohe Lebensqualität. tape .

Dr. med. Jutta Scheiderbauer ist selbst an Multipler Sklerose erkrankt. Sie engagiert sich bei TAG-Trier, einer MS-Aktionsgruppe.

Das ausführliche Interview online unter: bit.ly/15ezIg0

www.

Mitmachen und gewinnen !Für neurologische Tests bei Krankheiten wie der MS unentbehrlich: der

Reflexhammer! Wir verlosen drei Exemplare von DocCheck. Wer für die ersten praktischen Fingerübungen gerne auch etwas Praxiswissen im

Gepäck hat, liegt mit der Checkliste Neurologie richtig, von der wir fünf Stück verlosen. Teilnahme unter: www.thieme.de/viamedici/zeitschrift/spezial. Stichwort „Charcot“. Teilnahmeschluss: 13.5.2013

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Martin Wolff ist Assistenzarzt in der Klinik für Neurologie und Neurophysiologie des

St. Bernward-Krankenhauses in Hildesheim und freier Mitarbeiter von Via medici. Kontakt: [email protected]

Autor

(PML), einer meist bei immunkompromittierten Patienten beobachteten, oft tödlichen Viruser-krankung. Ein kleiner Durchbruch ist das 2011 zugelassene Fingolimod. Es ist das erste oral applizierbare MS­Medikament. Der Wirkstoff zeigte in einigen Studien Erfolge in der Be-handlung der RRMS. Ergebnisse einer Phase-III-Studie mit PPMS-Patienten stehen aller-dings noch aus [1]. Fingolimod bindet an Sphingosin1­Phosphat­Rezeptoren auf Lympho-zyten und verhindert so deren Auswanderung aus den Lymphorganen ins Blut.

Eine weitere Möglichkeit zur Eskalation bietet das (leider kardiotoxische) Immunsuppressivum Mitoxantron (Ralenova®). Als zweite Wahl kann auch Cyclophosphamid (Endoxan®) als Off­Label-Therapie eingesetzt werden. Ein neues vielversprechendes Medikament ist das seit September 2012 in den USA zugelassene Teri­flunomid (Aubagio®). Dieser ebenfalls oral ver-fügbare Wirkstoff ist ein Pyrimidin­Synthase­Hemmer, der vor allem die Zellteilung von T­Zellen hemmt. Weitere Wirkstoffe sind in der klinischen Erprobung. Aus der Gruppe der immunsuppressiven monoklonalen Antikörper

sind das z. B. Rituximab, Ocrelizumab, Ofatu-mumab, Alemtuzumab und Daclizumab.

> Newcomer und VisionenMit dieser breiten Auswahl an Medikamenten gelingt es meist, die MS gut im Zaum zu halten. Trotzdem gibt es natürlich noch progrediente Verläufe, bei denen Patienten mit schweren Paresen bettlägerig werden und früh sterben. Darum geht die Suche nach neuen Ideen weiter. Besonders ein Wirkstoff sorgte zuletzt für Schlagzeilen: die Fumarsäure. Diese seit langem in der Behandlung der Schuppenflechte ein-gesetzte Substanz zeigte 2012 in zwei großen Studien äußerst überzeugende Ergebnisse bei RRMS­Patienten [2][3]. Das Besondere an diesem Medikament: Es ist als erste Basis-therapie oral verfügbar und wirkt nicht nur anti- inflammatorisch, sondern durch die Minderung von oxidativem Stress möglicherweise auch direkt neuroprotektiv.

In eine ähnliche Richtung gehen die Ideen von Wissenschaftlern des UKE, die vor kurzem ihre Ergebnisse zum Molekül TRPM4 vorge-stellt haben [4], einem Ionenkanal in der Nerven-

> In der Pathophysiologie der Multiplen Sklerose gibt es zahlreiche Ansatzpunkte, wo Medikamente effektiv den patho­genetischen Prozess bremsen können.

zellmembran. Bei einer chronischen Ent-zündung wie der MS wird TRPM4 aktiviert und führt durch Natrium-Einstrom zum Ab-sterben der Zelle. Im Mausmodell schafften es die Forscher nun, diesen Kanal mit dem Anti-diabetikum Glibenclamid zu deaktivieren und die Neuronen vor dem Untergang zu schützen.

Ideal wäre, dem Immunsystem beizubringen, dass es die Myelinscheiden nicht mehr angreifen soll. Dafür könnte man z. B. das gestörte Immun-system durch aggressive Immunsuppression eliminieren und danach „unbelastete“ autologe Stammzellen reinfundieren. Erste kleine Stu-dien mit Patienten zeigen, dass dieser Ansatz prinzipiell funktioniert und viele Patienten danach über Jahre schubfrei bleiben [5]. Leider ist jede knochenmarksuppressive Therapie ex-trem gefährlich. Zudem könnte man erst dann von einer echten Heilung sprechen, wenn die Stammzellen genetisch so verändert werden, dass sich die fatale Kreuzreaktion zu den Myelinscheiden nicht erneut aufbauen kann. Dafür müsste man erst einmal herausfinden, welches ominöse Antigen für die MS verant-wortlich ist. Forscher der TU München ent-deckten kürzlich einen Antikörper, der bei 47% aller MS-Patienten im Blut vorkommt und sich gegen das Kaliumkanalprotein „KIR4.1“ richtet [6]. Bei nicht an MS erkrankten Patienten kommt der Antikörper nur in 1% der Fälle vor. Ist „KIR4.1“ das gesuchte Antigen? Da bliebe die Frage, was mit den restlichen 53% der MS­Patienten ist, die den Antikörper nicht im Blut haben. Doch ruhig Blut: Die MS-Forschung ist so weit gekommen. Auch auf diese Frage wird sie irgendwann eine Antwort finden. .

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