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Dietrich Busse: Historische Semantik Kapitel 1 (S. 17 © 42) 12 ü Dietrich Busse 1987 Kapitel 1: Das Interesse an der Sprache Fu r die Sprachwissenschaft muä , nach Saussures Unterscheidung von synchronischer und diachronischer Sprachbetrachtung und der folgenden Beschra nkung auf den (synchronischen) System-Aspekt der Sprache 2 das Interesse an der Sprache in ihrer geschichtlichen Entwicklung erst wieder neu geweckt werden. Dagegen ist das Interesse der Geschichtswissen- schaft an der Sprache schon artikuliert. Historische Semantik ist in den Rang einer der wichtigsten historiographischen Methoden erhoben worden. Die theoretische Begru ndung und Aufgabenstellung dieser Forschungsrich- tung wird im folgenden so ausfu hrlich dargestellt, weil sie der Sprachwis- senschaft die Zielbestimmung vorgibt, d. h. die Fragestellungen, welche sie bei der theoretischen Begru ndung der historischen Semantik in bewuä t- seinsgeschichtlichem Interesse zu beachten hat. 3 1. Sprache und Geschichte Das sprachwissenschaftliche Defizit in der historischen Semantik, das in ju ngster Zeit zunehmend bemerkt wird 4 geht zuru ck auf die Enthistorisie- rung der Linguistik nach Saussure, an der weder das Fortdauern begriffs- und wortgeschichtlicher Studien in der altengermanistischen Sprachwis- senschaft, noch die anhaltenden lexikologischen Diskussionen etwas a n- dern konnten. Wenn noch im Jahr 1974 festgestellt wird, daäsich die histo- rische Semantik bedeutungstheoretisch auf dem Stand von Ullmans Prin- ciples of Semanticsö(1951 !) befinde 5 so zeigt dies, daä eine Vermittlung 2 Saussure 1967, 28. 3 Bedeutungsanalyse als Grundlage fu r eine Untersuchung der gesellschaftlichen Konstituti- on von Wissen wird nicht nur im geschichtlichen Ru ckblick, sondern auch gegenwartsbezo- gen relevant. So hat z.B. auch die Bedeutungsanalyse politischer Sprache den Zusammen- hang von Sprache und politischem Bewuä tsein zum Gegenstand. Sprachtheoretisch gese- hen greifen politische Sprachanalyse und Sprachkritik auf dieselben Grundlagen zuru ck wie die historische Semantik. 4 Wellmann 1974, 185; Koselleck 1978 b, 10; Stierle 1978, 156; Cherubim 1979, 325; Presch 1981; Gessinger 1982; Keller 1982, 1; Reichardt 1982, 56; Schlieben-Lange/Gessin- ger 1982, 7; Bax 1983, 2. Schlieben-Lange 1983, kritisiert das (bisherige) vo llige U bergehen der historiographischen Theorie- und Methodendiskussion durch die Sprachhistoriker. 5 Das behauptet wenigstens Wellmann 1974, 174; Ullmann 1967. 17

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Dietrich Busse: Historische Semantik Kapitel 1 (S. 17 © 42) 12

ü Dietrich Busse 1987

Kapitel 1:

Das Interesse an der Sprache Fu r die Sprachwissenschaft muä, nach Saussures Unterscheidung von synchronischer und diachronischer Sprachbetrachtung und der folgenden Beschrankung auf den (synchronischen) System-Aspekt der Sprache2 das Interesse an der Sprache in ihrer geschichtlichen Entwicklung erst wieder neu geweckt werden. Dagegen ist das Interesse der Geschichtswissen-schaft an der Sprache schon artikuliert. Historische Semantik ist in den Rang einer der wichtigsten historiographischen Methoden erhoben worden. Die theoretische Begru ndung und Aufgabenstellung dieser Forschungsrich-tung wird im folgenden so ausfu hrlich dargestellt, weil sie der Sprachwis-senschaft die Zielbestimmung vorgibt, d. h. die Fragestellungen, welche sie bei der theoretischen Begru ndung der historischen Semantik in bewuät-seinsgeschichtlichem Interesse zu beachten hat.3 1. Sprache und Geschichte Das sprachwissenschaftliche Defizit in der historischen Semantik, das in ju ngster Zeit zunehmend bemerkt wird4„ geht zuru ck auf die Enthistorisie-rung der Linguistik nach Saussure, an der weder das Fortdauern begriffs- und wortgeschichtlicher Studien in der “alten‘ germanistischen Sprachwis-senschaft, noch die anhaltenden lexikologischen Diskussionen etwas an-dern konnten. Wenn noch im Jahr 1974 festgestellt wird, daä sich die histo-rische Semantik bedeutungstheoretisch auf dem Stand von Ullmans „Prin-ciples of Semanticsö (1951 !) befinde5„ so zeigt dies, daä eine Vermittlung

2 Saussure 1967, 28. 3 Bedeutungsanalyse als Grundlage fu r eine Untersuchung der gesellschaftlichen Konstituti-on von Wissen wird nicht nur im geschichtlichen Ru ckblick, sondern auch gegenwartsbezo-gen relevant. So hat z.B. auch die Bedeutungsanalyse politischer Sprache den Zusammen-hang von Sprache und politischem Bewuätsein zum Gegenstand. Sprachtheoretisch gese-hen greifen politische Sprachanalyse und Sprachkritik auf dieselben Grundlagen zuru ck wie die historische Semantik. 4 Wellmann 1974, 185; Koselleck 1978 b, 10; Stierle 1978, 156; Cherubim 1979, 325; Presch 1981; Gessinger 1982; Keller 1982, 1; Reichardt 1982, 56; Schlieben-Lange/Gessin-ger 1982, 7; Bax 1983, 2. Schlieben-Lange 1983, kritisiert das (bisherige) vo llige U bergehen der historiographischen Theorie- und Methodendiskussion durch die Sprachhistoriker. 5 Das behauptet wenigstens Wellmann 1974, 174; Ullmann 1967.

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zwischen neueren sprachtheoretischen Positionen (etwa in der „Linguisti-schen Pragmatikö) und einem geschichtlichen Blickwinkel nicht hergestellt wurde. Wissenschaftsgeschichtlich mag dies / damit zusammenhangen, daä, nachdem der Strukturalismus den Zusammenhang zwischen Synchro-nie und Diachronie zerrissen hatte, die Behandlung des Zusammenhangs zwischen Sprache und Geschichte (seit dem in Deutschland verspateten systemlinguistischen Boom ab Mitte der Sechziger Jahre) nicht mit dem theoretischen Fortschritt identifiziert, sondern vielfach als Teil einer „ver-staubtenö, „altenö Germanistik empfunden wurde.6 Sprachtheoretische, methodische und wissenschaftstheoretische Weichen-stellung war Saussures Einteilung der Sprachwissenschaft in synchroni-sche und diachronische Betrachtungsweise und seine Aufteilung ihres Ge-genstandes in langue und parole7„ welche in seiner Nachfolge zur Vernach-lassigung von Diachronie und parole, bei Beschrankung der Forschung auf langue und Synchronie fu hrte. Die (damals) neue Sicht ist konstitutiv fu r die Bestimmung des Gegenstands der “Sprachwissenschaft schlechthin‘ (Saussure), welche sich nurmehr mit der Sprache als einem eigenstandi-gen, einer inneren Ordnung folgenden System8 zu beschaftigen hat, nicht jedoch mit dem umfassenden Bereich der / menschlichen Rede, welche zu einem lediglich “sekundaren Problem‘9 herabgestuft wird. Ebenso wird “die diachronie [— ] der synchronie untergeordnet und so zu einem randbereich erklart‘.10 Saussures Dichotomien bleiben grundlegend fu r fast die gesamte

6 Exemplarisch kommt diese Haltung in der programmatischen Erklarung eines der einfluä-reichsten Texte der modernen deutschen Linguistik zum Ausdruck, welche es verdient, ganz zitiert zu werden (allein schon, weil sie fu r heutige Ohren so unglaublich klingt). Es handelt sich um die von K. Baumgartner verfaäte Einleitung zum “Funk-Kolleg Sprache‘ (Bd. 1, S. 18): “Unser Kolleg zum Thema Sprache wird diesen Standpunkt durchweg einnehmen: Sprache wird als Instrument der Kommunikation und als sozial vereinbartes System von Zeichen behandelt. Andere mo gliche Standpunkte, etwa: die Sprache als einen geschichtli-chen Prozeä oder als ein geschichtliches Produkt, als Kulturgut, als Ausdruck einer Mentali-tat oder gar als jeweilige Gliederung der Wirklichkeit aufzufassen, werden im folgenden auäer acht gelassen. Damit konzentrieren wir unsere Einfu hrung auf den inhaltlichen und methodischen Bereich, unter dem heute die moderne Linguistik allgemein verstanden wird.‘ é Der Gerechtigkeit halber sei hinzugefu gt, daä die beschriebene Empfindung des “ver-staubten‘ durch die Tatsache gestu tzt wurde, daä (anders als die Historiographie) “die Sprachgeschichtsschreibung in ihrer Selbsteinschatzung von Krisenbewuätsein und Selbst-reflexionszwang unberu hrt‘ blieb, so Jager 1977, 332. é Cherubim 1983, 173 weist darauf hin, daä “deutsche Sprachgeschichte [— ] bisher fast ausschlieälich Analyse und Rekon-struktion der historischen Erscheinungsformen deutscher Sprache‘ (in Phonetik, Syntax und Morphologie) gewesen ist. Die Geschichte historischer Bewuätseinsformen und Handlungs-formen, welche die Sprachgeschichte erst vollstandig machen, sei dagegen “nur am Rande oder punktuell mitbehandelt‘ worden. 7 Saussure 1967, 91 u. 96; L. Jager (1975, 1976) hat inzwischen u berzeugend nachgewie-sen, daä der von Bally und Sechehaye edierte Text des “Cours de linguistique generale‘ die Sprachidee F. de Saussures erheblich verfalscht hat. Wenn im folgenden von “Saussure‘ die Rede ist, so ist damit stets der “Cours‘ gemeint, der das Paradigma der strukturalisti-schen Linguistik entscheidend gepragt hat. 8 “La langue est un syst`me qui ne connait que son ordre propre.‘ Saussure 1967, 27 (im Original S. 43). 9 Stierle 1978, 156. Fu r Reichardt 1985, 68 erweist sich diese Trennung “immer mehr als u bertrieben, ku nstlich, gesellschaftsfremd‘. 10 Presch 1981, 208.

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moderne Sprachwissenschaft, wo sie (modifiziert) noch in der Trennung von Kompetenz und Performanz bei Chomskys Generativer Transformati-onsgrammatik weiterleben.11 Das System-Paradigma fu hrt zur Vernachlassigung aller auäersystemati-schen Aspekte der Sprache, insbesondere der Frage nach auäersprachli-chen Einflu ssen auf das sprachliche System (der langue). Daä damit auch gleichzeitig diejenigen Momente der Sprache vernachlassigt wurden, die nicht in gleicher Weise systematischer Erklarung zuganglich sind wie Syn-tax, Morphologie und Phonetik, insbesondere alle Probleme, die mit der Bedeutungshaftigkeit der Sprache zusammenhangen, erscheint dann fast schon plausibel. Insbesondere muä die System-Hypothese zur Ausgren-zung des Entstehungsbereichs von Bedeutungen, der Rede, fu hren. Se-mantik wird so zu einer “Semantik einer von ihrer Vergangenheit abge-schnittenen Sprache‘.12 Entstehung und Wandel von Bedeutungen sprach-licher Zeichen ko nnen nur mit Bezug auf den Ort des Gebrauchs der Spra-che erklart werden; seine Instanz, die Rede, wurde jedoch u ber sechs Jahrzehnte lang aus der Sprachwissenschaft ausgegrenzt. Damit wurde eine Einsicht verschu ttet, die den Sprachforschern des 19. Jahrhunderts selbstverstandlich war, daä Sprache nur als Wechselbeziehung zwischen Sprachsystem und Gebrauch in der Rede hinreichend verstanden werden kann, daä jede Beschrankung auf einen Faktor eine Verku rzung des Ge-genstandes ist. So war es Humboldt, der davor warnte, bei der Analyse der Sprache von der “Sprache u berhaupt‘ auszugehen, und stattdessen den Blick auf die konkrete, einzelne Sprache, die “Unendlichkeit von Einzelhei-ten‘ lenkte.13 Das Wesen der Sprache liegt fu r ihn im Sprechen: “Die wahre Sprache ist nur die in der Rede sich offenbarende.‘14 Er nimmt dabei eine Einsicht vorweg, die erst u ber ein Jahrhundert spater, vor allem durch den spaten Wittgenstein neu formuliert, zu wirken begann.15 Nur die “verbunde-ne Rede‘ ist fu r Humboldt “das Wahre / und Erste‘ bei allen Sprachunter-suchungen, wahrend er “das Zerschlagen der Sprache in Wo rter und Re-geln‘ nur fu r “ein todtes Machwerk wissenschaftlicher Zergliederung‘ halt.16 Fu r ihn ist die Sprache demnach “kein Werk (Ergon) sondern eine Thatig-keit (Energeia)‘17, das “Wesen‘ der Sprache liegt in der aktuellen Rede. Sie muä untersucht werden, will man das Funktionieren der Sprache verste-

11 Vgl. Presch 1981, 208 (Chomsky 1972). 12 Stierle 1978, 158. 13 Humboldt 1835, 417 f. (VII 44 f.). Zu Humboldts Sprachtheorie in unserem Zusammen-hang vgl. Gerhardt 1974, Brown 1967, Conte 1976, Schmitz 1979. (Ein ausfu hrliches Hum-boldt-Kapitel konnte aus Platzgru nden nicht in die Druckfassung aufgenommen werden.) 14 Humboldt 1835, 485 (VII 105). 15 So auch Gerhardt 1974, 17. 16 Humboldt 1829, 304 (VI 249). 17 Humboldt 1835, 418 (VII 46): “Die Sprache, in ihrem wirklichen Wesen aufgefasst, ist etwas bestandig und in jedem Augenblicke Voru bergehendes. [— ] Sie selbst ist kein Werk (Ergon), sondern eine Thatigkeit (Energeia). Ihre wahre Definition kann daher nur eine ge-netische seyn. Sie ist nemlich die sich ewig wiederholende Arbeit des Geistes, den articuli r-ten Laut zum Ausdruck des Gedanken fahig zu machen. Unmittelbar und streng genommen, ist dies die Definition des jedesmaligen Sprechens; aber im wahren und wesentl ichen Sinne kann man auch nur gleichsam die Totalitat dieses Sprechens als die Sprache ansehen.‘

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hen.18 Mit der Miäachtung der Ebene der parole ging zugleich die histori-sche Betrachtung der Sprache, die im 19. Jahrhundert noch u berwogen hatte, verloren; die Konzentration auf die strukturellen Momente verdeckte, daä die Systemhypothese “zumindest auf der Bedeutungsebene der Spra-che [...] nicht einlo sbar ist.‘19 Die diachronische Perspektive auf die Sprache muäte wegfallen, da nach Saussure die diachronischen Momente weder in einem systematischen Zusammenhang untereinander, noch in einer systematischen Beziehung zum Sprachsystem stehen.20 Da in der Dichotomie von Synchronie und Diachronie der System-Aspekt immer mitgedacht ist, sind beide Begriffe ungeeignet zur Behandlung von sprachlichem Wandel.21 Der darin behaup-tete „Ergonö-Charakter der Sprache ist mit einer genetischen Sichtweise un-vereinbar. Allein ein Sprachbegriff, der den Ort der Erzeugung sprachlicher Strukturen, Einheiten und Funk- / tionen zum Gegenstand hat, namlich die Sprache in ihrem Gebrauch, kann die Erklarung genetischer wie auch funk-tionaler Aspekte wieder integrieren. Wenn wir verstanden haben, wie, auf-grund welcher Regeln wir sprachlich kommunizieren, dann verstehen wir auch, warum sich die Sprache verandert.22 Mit der System-Hypothese (d.h. dem Miäverstandnis der Sprache als Er-gon) wurde Sprachgeschichte auf die Beschreibung des Wandels von For-men und als statisch aufgefaäten Strukturen beschrankt23; die Geschichte der Bedeutungshaftigkeit der Sprache wurde, aufgrund ihres dynamischen Charakters, ausgegrenzt.24 Erst die Ru ckbesinnung auf die Instanz der Re-de (vor allem in der sog. „linguistischen Pragmatikö) in neuerer Zeit hat zur Wiederentdeckung sprachhistorischer Fragestellungen gefu hrt.

18 Dies betonen nach Humboldt auch andere Sprachwissenschaftler des 19. Jahrhunderts. Boeckh 1886: “Der Sprechende [— ] ist somit ein Organ der Sprache selbst. Aber die Spra-che ist zugleich Organ des Sprechenden.‘ (125) Man muä “in jedem einzelnen Falle die letzte Begrenzung des Wortsinns durch eigene Thatigkeit aus der sprachlichen Umgebung, das heiät aus dem Zusammenhang finden.‘ (107) é Mauthner definiert schon 1901 die Sprache als Gebrauch: “Die Sprache [— ] ist gar nichts anderes als ihr Gebrauch. Sprache ist Sprachgebrauch.‘ (23) é Vgl. auch die zentrale Rolle des Verhaltnisses von usueller und okkasioneller Bedeutung in H. Pauls Konzept der Sprachgeschichte (1880, 24 ff.). Zu Paul s. a. Seppanen 1984, 9 u. o . 19 Stierle 1978, 159. 20 Vgl. Presch 1981, 210. 21 Keller 1982, 14. Dies stellt von strukturalistischer Warte aus Coseriu 1974, 245 fest; vgl. auch Coseriu 1975. Es ist das Verdienst von Coseriu, die Notwendigkeit und Mo glichkeit einer diachronen Semantik auf Seiten der strukturalistischen Linguistik stets betont zu ha-ben (u. a. in Coseriu 1964). Fu r eine historische Semantik in wissensgeschichtlichem Inter-esse ko nnen seine U berlegungen freilich nicht als Grundlage dienen. 22 So Keller 1982, 14; vgl. auch Presch 1981, 221. 23 Saussure 1967, 96 selbst bezeichnet die Sprachwissenschaft in seinem Sinne als sta-tisch. é Noch Fritz 1974 bleibt trotz Betonung der Wichtigkeit des pragmatischen Aspekts gerade fu r die Erklarung von Bedeutungswandel der traditionellen systemlinguistischen Sprachgeschichte verhaftet. 24 So ist es z.B. bezeichnend, daä es bis in die siebziger Jahre hinein seit den Bemu hungen des 19. Jahrhunderts kein bedeutendes neues Wo rterbuch-Projekt der deutschen Sprache gegeben hat.

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Die Art, wie fu r die Forschung Fragen gestellt werden, bestimmt die Ant-worten, die dann mo glich sind. Daä die Fragen haufig falsch gestellt wer-den, hat Keller in Auseinandersetzung mit neueren Diskussionen zur Theo-rie des Sprachwandels gezeigt. U ber die Einschrankung durch die struktu-ralistischen Hypothesen hinaus entdeckt er “sprachwissenschaftliche Hypo-stasierungen und wissenschaftstheoretische Dogmen‘25„ die das Stellen richtiger Fragen bis heute behindern. Seiner Ansicht nach (fu r die vieles spricht) liegt der grundlegende Fehler in der Dichotomie von „natu rlichö und „ku nstlichö. Diese Dichotomie fu hrt dazu, daä Sprache einem der beiden Pole zugeordnet wird, was, vor allem bei Konzepten des Sprachwandels, zu Aporien fu hren muä.26 Denn weder ist die Sprache eine Naturtatsache in der Weise, daä ihr Wandel nach Gesetzen, die den Naturgesetzen ver-gleichbar sind, stattfindet, noch ist sie ku nstlich in dem Sinne, daä sie „von Menschen gemachtö ist wie etwa ein Tisch. Soziale Phanomene entziehen sich dieser Dichotomie, da sie (Sprache ebenso wie etwa Inflation oder an-dere gesellschaftliche Prozesse) zwar auf menschlichen Handlungen beru-hen, aber nicht als solche (als sprachliche Funktionen, Strukturen, Regeln) Ziel menschlicher Handlungsintentionen sind. So tragt zwar jede einzelne sprachliche Handlung zur Bestatigung bzw. geringfu gigen Anderung einer Re- / gel bei, doch ist diese, erst als Summierung einer Vielzahl einzelner Handlungen u berhaupt bemerkbare, Veranderung nicht das eigentliche Handlungsziel.27 Die Veranderlichkeit der Sprache ist genuiner Bestandteil ihres Funktionierens, und muä mit diesem zusammen, in einer Theorie, er-klart werden.28 Um Funktion und Wandel, vor allem bei der Erklarung und Beschreibung von Bedeutungswandel, gemeinsam erklaren zu ko nnen, muä erst der seit Saussure vorherrschende Homogenitatsanspruch der Linguistik aufgege-ben werden, der eine sozialgeschichtliche Analyse der Sprache aus-schlieät.29 Mit einer U berwindung dieser Hindernisse ist verbunden, daä Sprachgeschichtsschreibung und Geschichtsschreibung mittels Sprachbe-schreibung nicht nur ein rezeptives Verhaltnis gegenu ber der Sprachtheorie haben du rfen. Vielmehr mu ssen Erklarungsmuster sprachlicher Vorgange, die im Rahmen sprachhistorischer Methodenfindung und Forschungspraxis gewonnen und theoretisch gefaät werden, Ru ckwirkungen auf die Sprach-theorie haben. Ebenso mu ssen die Ergebnisse sprachtheoretischer Refle-xion immer ru ckgebunden bleiben an die Erkenntnisinteressen der jeweili-gen Forschungspraxis, d.h. sie mu ssen empirisch u berpru fbar bzw. dem

25 Keller 1982, 1. Zur Frageformulierung beim Bedeutungswandel vgl. auch Busse 1986, 51 ff. 26 Z.B. wenn Lu dtke 1980, 6 meint “Sprache ist [— ] fu r den Menschen ein genauso natu rli-ches “Ausstattungsstu ck‘ wie fu r den Hirschen sein Geweih.‘ 27 Keller 1982, 6 ff.; Keller 1984, 72; Heringer 1985, 267. Diese Einsicht findet sich auch schon bei Paul 1880, 87. 28 Dies betont auch Schlieben-Lange 1983, 31. 29 Vgl. Dieckmann 1973, 148 ff.

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jeweils im Forschungsprozeä konstituierten Gegenstand der Untersuchung adaquat sein.30 Dazu geho rt auch, daä vorgangig der “Sinn einer Erzeugung sprachgeschichtlichen Wissens und damit die Aufgabe der Sprachgeschichtsschreibung‘

naher bestimmt wird.31 Historische Semantik im Sinne des in dieser Arbeit vorgestellten sprach-theoretischen Ansatzes soll der Erzeugung sprachgeschichtlichen Wissens dienen, welches eingebunden ist in den Kontext historiographischer, sozio-logischer und politologischer Forschungsziele. Sie “dient der Sinnvermitt-lung unter den je unterschiedlichen Bedingungen der „historischen Diffe-renzö‘32 von Wissen und Weltwahrnehmung zwischen dargestellter und dar-stellender Zeit und zielt auf eine / Geschichte des Wissens u ber die Ver-wendungsregeln und -bedingungen sprachlicher Zeichen33, welche zugleich eine Geschichte des Wissens u ber die gesellschaftliche Wirklichkeit der jeweiligen Epochen ermo glicht.34 Beschreibung und Analyse von Bedeu-tungswandel ko nnen einen wichtigen Beitrag liefern zum besseren Ver-standnis von Wandlungen im gesellschaftlichen Bewuätsein sozialer und historischer Gegebenheiten. Die Geschichte der Verstandigung u ber Wirk-lichkeit kann von der geschichtlichen Veranderung dieser Wirklichkeit nicht getrennt werden, wenn man annimmt, daä die Gegenstande und Sachver-halte der Welt, in der Bedeutung die sie fu r die Menschen einer jeweiligen Gesellschaft (Sprachgemeinschaft) haben, durch ihre sprachliche Aneig-nung erst konstituiert werden. In der Veranderung sprachlicher Bedeu-tungsmuster scheint die Veranderung der Wahrnehmung von Welt auf, was mit sich bringt, daä die Veranderung des Einen nicht ohne die des Anderen begriffen werden kann.

30 Laut Cherubim 1977, 62 ’Ko nnen sprachtheoretische Positionen keine ’Wesensaussa-gen‘ sein, sondern nur Hypothesen u ber Sprache (oder Sprachen allgemein), deren Brauch-barkeit ebenfalls Gegenstand sprachwissenschaftlicher Forschung ist.‘ Vgl. auch Cherubim 1975 b u. 1980. 31 Jager 1977, 335; vgl. Cherubim 1979, 327; ahnlich Presch 1981, 213 und Schlieben-. Lange 1983, 9. 32 Wolf 1983, 290. Historische Semantik im hier vertretenen Sinne grenzt sich von der rein lexikographischen historischen Semantik, wie sie Wolf vorschlagt, ebenso ab wie von einer Bedeutungsgeschichte, der es nur um eine Geschichte der (im traditionellen Sinne verstan-denen) Wortbedeutungen geht. 33 Bax 1983, 3: “In historisch-pragmatischer Forschung [— ] wird versucht: (a) Sprachge-brauchskonventionen in einer (bestimmten) historischen Sprach(gebrauchs)gemeinschaft zu beschreiben und diese Konventionen zu erklaren; (b) die Entwicklung bestimmter Sprach-gebrauchskonventionen u ber einen bestimmten Zeitverlauf zu beschreiben und diese Ent-wicklung zu erklaren.‘ 34 Schlieben-Lange 1983, 116: ’Eine Geschichte der Wissensbestande hinsichtlich einer Sprache schreiben heiät also gerade eine Geschichte der Genese, der Verbreitung und der Konkurrenz von Wissensbestanden zu schreiben.‘ é Ahnlich Gru nert 1983, 45: “Sprachge-schichte laät sich in unserem Zusammenhang darstellen als die Geschichte von Sprach-spielen, der Geschichte des Verfu gens und Verhinderns, der Durchsetzung und der Wirkung von Sprachspielen.‘

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Es ist wiederum Humboldt, der in seiner Sprachphilosophie den Zusam-menhang zwischen Sprache und Weltkonstitution hergestellt hat, nachdem schon Herder davon ausgegangen war, daä “ein Volk keine Idee hat, zu der es kein Wort hat‘35, und daä “denken fast nichts anderes sei als spre-chen.‘36 Fu r Humboldt leitet die “sprachbildende Kraft‘ des Menschen in dessen dialogischer Auseinandersetzung mit Welt und Anderem den “Akt der Verwandlung der Welt in Gedanken.‘37 “Die Sprache ist gleichsam die auäerliche Erscheinung des Geistes der Vo lker; ihre Sprache ist ihr Geist und ihr Geist ihre Sprache, man kann sich beide nie identisch ge-nug denken. [— ] Wenn wir Intellectualitat und Sprache trennen, so existiert eine solche Scheidung in der Wahrheit nicht.‘38

Die dem Menschen gegenu berstehende Welt der Objekte ist, als gedank-lich auf genommene Welt, Erzeugnis seiner Subjektivitat; einer Subjektivitat allerdings, / die durch die Sprache, in der Notwendigkeit zwischenmensch-licher Verstandigung, kollektiv und intersubjektiv geworden ist. So mag sie dem Menschen, der innerhalb eines Kulturkreises verbleibt, als Inkarnation aller Wirklichkeit erscheinen, wo sie doch nur eine von vielen Wirklichkeiten ist: “so liegt in jeder Sprache eine eigenthumliche Weltansicht‘ lautet Hum-boldts zentrale Aussage.39 Die Aneignung der Welt ist dabei doppelt gesellschaftlich vermittelt: Die Sprache, mit der die Menschen sich die Welt aneignen, tragt die Sedimente vergangener Weltdeutungen schon in sich; daru ber hinaus geschieht jede Erarbeitung der Welt dialogisch: indem u ber sie geredet wird; hier wird Ge-sellschaftlichkeit konkret. Sprache als System von Sprachspielen, als ge-sellschaftliche Praxis heiät: Form und Stoff der (sprech-)tatigen Aneignung von Welt. Sprache ist darum der Ort der Aufbereitung und Aufbewahrung

35 Herder 1960, 73. 36 Herder 1960, 100. 37 Humboldt 1835, 413 (VII 41). 38 Humboldt 1835, 414 f. (VII 42). 39 Humboldt 1829, 224 (VI 179). Der laut Brown 1967, 16 u ber Steinthal und Boas von Humboldts Ideen beeinfluäte Sapir formulierte dies noch eine Spur radikaler: “Es ist eine Illusion, sich einzubilden, man passe sich im wesentlichen ohne den Gebrauch der Sprache der Realitat an. [— ] In Wahrheit wird die „wirkliche Weltö in weitem Masse unbewuät durch die Sprachgewohnheiten der Gruppe gebildet. Es gibt nicht zwei Sprachen, die einander so ahnlich sind, daä man sagen ko nnte, sie reprasentierten dieselbe Realitat. Die Welten, in denen verschiedene Gesellschaftssysteme leben sind verschiedene Welten, nicht dieselbe Welt mit verschiedenen Aufklebern.‘ (Sapir 1929, 69; dt. U bers. zit. nach Rossi-Landi 1973, 154.) Sapirs Ideen wurden vor allem von seinem Schu ler Whorf (1963) ausgefu hrt. Da das sogenannte “sprachliche Relativitatsprinzip‘ und das Problem des Zusammenhangs von Sprache, Denken und Wirklichkeit in der Literatur ausfu hrlich dargestellt ist (zu ersterem vgl. Gipper 1972 und Rossi-Landi 1973; zu letzterem vgl. u. a. Seebaä 1981, Wygotski 1977, Olson 1974, Ulmann 1975) wurde auf die U bernahme eines entsprechenden Abschnittes in die Druckfassung verzichtet. Ich mo chte hier nur auf den zentralen Stellenwert hinweisen, den die Zusammenhangsthese fu r die historische Semantik insgesamt, und (wittgensteinia-nisch reflektiert) in meinem Konzept hat.

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historischen Wissens. In der Geschichtlichkeit der Sprache spiegelt sich die Erfahrung der Geschichte selbst.40 Um mit Humboldt zu sprechen: “Die Sprache tragt immer den Hauch ihres in ihren Schicksalen im wirklichen Sprechen erfahrenen Lebens an sich.‘41

Indem das Reden u ber die Geschichte sich verandert, sich also die Kom-munikationserfahrungen andern, andern sich auch die Begriffe (in ihren Be-deutungen) / und ihr Gefu ge. Die veranderte historische Erfahrung spricht sich aus in einer neuen Art des Redens u ber die Geschichte. Gleichzeitig ist dieses neue Reden (in gewissem Sinn) die neue Weise der Erfahrung. Diese Zusammenhange herausgestellt zu haben, ist Humboldts Verdienst.

Es ist sinnlos, Bedeutungswandel zu erklaren, ohne den damit einherge-henden Wandel im Verhaltnis der Sprecher zu ihrer Wirklichkeit zur Spra-che zu bringen; ebenso ware es verku rzt, den Wandel in der Wirklichkeits-auffassung ohne den entsprechenden sprachlichen Niederschlag zu be-trachten, in dem er (besonders im Bereich der Geschichte und der Politik) u berhaupt erst zum Ausdruck kommt. Sprachgeschichte im Bereich der Be-deutungsgeschichte steht somit immer in Beziehung zu auäerlinguistischen Forschungsbereichen; eine rein „innerlinguistischeö historische Semantik im Sinne einer Systemlinguistik ist nicht denkbar. Historische Semantik weitet den Bereich sprachwissenschaftlicher Forschung u ber die ohnehin zu eng gezogenen Grenzen der strukturalistischen Linguistik aus. Zugleich macht sie die Einbeziehung sozialwissenschaftlicher Fragestellung notwendig; fu r sie ist nurmehr die Sprache als soziale Tatsache von Interesse.42 Daä sprachtheoretische Begru ndungen der Sprachgeschichte oft erst im oder sogar nach dem konkreten Forschungsprozeä erfolgen43, unterstreicht die Notwendigkeit einer grundlegenden Reflexion auf die sprachtheoreti-schen Grundlagen der historischen Semantik. Gerade die Begriffsgeschich-te ist in besonderem Maäe auf sprachtheoretische Reflexionen ihrer Metho-de und Praxis angewiesen. Jedoch stellt man eher das Gegenteil fest: “Eine Analyse der Beziehungen zwischen Sprachwandel und Begriffsgeschichte, spe-ziell in der historischen Semantik [unterbleibt, DB] meist deswegen, weil sie die schwie-rige Abgrenzung von Bedeutung und Begriff voraussetzt.‘44

40 Insofern “jede einzelne Wortbedeutung [— ] als Resultat die gesamte bisherige Erfahrung der Menschheit (bzw. eines naher bestimmten Teils von ihr) in sich enthalt‘ (Schmitz 1979, 71), tragt jedes Reden in historischen Begriffen schon eine historische Hypothek in sich. Das Reden u ber die Historie ist selbst historisch gepragt. “Die geschichtlich gewachsene Welterfahrung einer Menschengruppe, die in ihrer Sprache aufbewahrt ist, liegt jedem be-wuäten individuellen Denken vorauf.‘ (Gipper 1972, 245). 41 Humboldt 1829, 284 (VI 231). 42 Fu r Gessinger 1982, 122 ist Sprachgeschichtsforschung gar nur als “Sozialgeschichte der Sprecher‘ sinnvoll. Vgl. auch Schlieben-Lange 1982, 116. Auch fu r Williams 1976, 20 steht fest, daä “the area of signification [— ] necessarily extends to the users of language.‘ 43 Dies meint wenigstens Cherubim 1977, 62. 44 Cherubim 1979, 320; letzteres gilt zwar nicht z.B. fu r das Konzept von Brunner u.a. 1972 ff. (Koselleck 1972 a), doch bringen deren Reflexionen wenig Klarheit u ber diese Abgren-zung.

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Fu r dieses Problem (das von keiner historischen Semantik, die mehr sein will als Wort- oder Ideengeschichte, ausgeklammert werden kann) kann eine Sprachgeschichtsschreibung, die das Verhaltnis Wort/Bedeutung im Sinne der „Abbildtheorieö oder strukturalistischer Modelle als statisch be-schreibt, keine Lo sungen anbieten. Das um so weniger, als mit solchen Auffassungen die Entstehung von Wortbedeutungen (und damit auch von Begriffen) aus dem alltaglichen Ge- / brauch der Sprache in der Rede (als Instanz kommunikativer Interaktion) u bergangen wird, was notwendig da-zu fu hrt, daä Bedeutungsveranderungen nur noch festgestellt, nicht aber erklart werden ko nnen. Damit gerat aus dem Blick, daä Innovationen von Bedeutungen auf die “natu rliche Differenz von Sprecherintentionen und Ho rerverstehen‘45 zuru ckgehen. Konstitution und Veranderung von Be-deutungen ko nnen nicht ohne Bezug auf die hinter den kommunikativen Akten stehenden Sprecherintentionen wie auf die von den Sprechern be-folgten Verwendungsregeln der Wo rter erklart werden. Gerade Regelab-weichungen, d.h. Differenzen in der Regelbeherrschung bzw. © aktualisie-rung zwischen verschiedenen Kommunikationspartnern, sind haufig Indi-katoren von Innovationen. Das einzelne sprachliche Zeichen fu r sich genommen gibt fu r die Bedeu-tungsgeschichte nichts her; erst der Umgang der Sprecher mit diesem Zei-chen gibt Aufschluä u ber die Voraussetzungen der Realisierung von Be-deutungen und deren Veranderung. “Gegenstand pragmatischen Sprachverstehens ist [— ] nicht das Zeichen, sondern der Zeichenprozess und in seinem Rahmen die Relation zwischen den am Prozess Beteilig-ten und den Zeichen.‘46

Das Umgehen der Sprachteilhaber mit den ihnen zuhandenen Mitteln muä die Aufschlu sse bieten, die eine Analyse der Sprache als System nicht er-mo glichen wu rde.47 Fu r die Ziele der historischen Semantik muä dabei die situative Einbindung der kommunikativen Akte immer mit beru cksichtigt werden; allein darin, wie sprachliches Regelwissen in aktuellen Situationen konkretisiert wird, kommt das Wissen der Sprachteilhaber u ber die Welt zum Ausdruck. Mit Bedeutungsanalyse wird immer auf “die Sprache als Form des Wissens‘48 Bezug genommen. Sitta verweist deshalb zurecht da-rauf, daä es das Problem des Erforschers historischer Bedeutungsentwick-lungen ist, “prinzipiell in einem gleichen Zeichenprozess befangen [zu sein] wie die Objekte seiner Untersuchung‘ und damit auch “analog fehlbar.‘49

45 Cherubim 1979, 330. 46 Sitta 1980 b, 24. 47 “Die sprachlichen Zeichen bilden kein System fu r sich, das den Interpretationsvorgang in einem eindeutigen Sinne steuern ko nnte.‘ Sitta 1980 b, 27. 48 Boeckh 1886, 144. 49 Sitta 1980 b, 24.

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Er spricht damit das grundlegende erkenntnistheoretische Problem der Ge-schichtlichkeit unserer historischen Erklarungen, das besonders die Histori-ker beschaftigt, von sprachwissenschaftlicher Seite aus an. Historische Rekonstruktion vergangener kommunikativer Akte ist ein Inter- / pretationsvorgang, bei dem allzu oft die eigene Sprachfahigkeit der For-scher unreflektiert zur Grundlage der Bedeutungsfindung gemacht wird. Das Vorwissen der Analytiker ist ohne Zweifel eine wichtige Voraussetzung zur Erschlieäung der Bedeutung vergangener Sprache; allerdings muä fu r die historische Semantik, die sich gerade fu r das wie der Entstehung histo-rischen Sinns interessiert, dieses Vorverstandnis standig reflektiert werden. Die „Befangenheit im Zeichenprozessö muä wahrend der Analyse standig bewuät gehalten werden, soll sich die historische Semantik von purer Ideengeschichte unterscheiden. Die Einbindung der Entstehung gesellschaftlicher (und damit auch histori-scher) Erfahrung in sprachliche Kommunikation war die Entdeckung der „Linguistischen Wendeö in den Geisteswissenschaften seit dem Ende des letzten Jahrhunderts. Auäerte die sich in der Sprachwissenschaft nach Saussure als Einschrankung des Gegenstandsbereichs, so fu hrte sie bei den anderen Disziplinen, angefangen mit der Philosophie, zu neuen Sicht-weisen, die geeignet waren, alte Aporien zu vermeiden. Die Begriffsge-schichte als Versuch, einem ontifizierenden Miäverstandnis zu entkommen, war ein erster Ausdruck davon. Gerade der Stillstand geschichtstheoreti-scher und methodischer Reflexion hat in der Historiographie dazu gefu hrt, in der historischen Semantik einen Weg zu suchen, geschichtliche Erfah-rungsbildung (und damit die Geschichte schlechthin) zu thematisieren und zugleich die historische Gebundenheit des analytischen Standpunktes im Blick zu behalten. Die Sprachwissenschaft muä sich erst durch Aufheben der Abspaltung der Sprachentwicklung von dem Funktionieren der Spra-che, d.h. durch Erklarungsmodelle sprachlicher Kommunikation, die beide Aspekte als unlo sbar verknu pft begreifen lassen, eine sprachtheoretische Grundlage geben, die dieses Ziel der historischen Semantik stu tzen kann.

Die Sprachwissenschaft muä die epistemischen Voraussetzungen des Gelingens kommunikativer Akte, und damit auch die Konstitution des ge-sellschaftlichen Wissens durch die Gesamtheit der sprachlichen Handlun-gen einer Gesellschaft als Thema wiedergewinnen50; erst dann kann eine Geschichtsschreibung, die in der Bewuätseinsgeschichte dem Prozeä „der Geschichteö nachzuspu ren versucht, sich von der Sprachwissenschaft wirk-liche Hilfe erhoffen. Das Wissen von den Sachverhalten, die unsere Ge-schichte konstituieren, ergibt sich aus dem Wissen um die Verwendungs-bedingungen unserer (historischen) Termini; d.h. aus dem Vermo gen, im historischen Diskurs unsere Erfahrungen kollektiv zu artikulieren. Das histo-rische Faktum ist, wie Barthes anmerkt, immer nur in der Sprache, mit der wir es bereden, existent; es ist auäerhalb des Diskurses u ber die Geschich-

50 Sprachgeschichte als Wissensgeschichte war bisher im Repertoire deutscher Sprachwis-senschaft nicht vertreten. (Vgl. das Zitat von Cherubim 1983, 173 in Anm. 6.)

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te nicht zu fassen.51 Die Geschichte verhalt sich dabei als / “u berindividuel-les kollektives Bewuätsein‘ zum individuellen Bewuätsein, wie é um Gu n-therös Bemerkung52 auf unsere Sprachauffassungen zu transponieren é unser durch die Gesamtheit aller kommunikativen Akte der Sprachgemein-schaft reprasentiertes Sprachbewuätsein zu den kommunikativen Fahigkei-ten des einzelnen Individuums, aus diesem Bewuätsein heraus Sinn zu realisieren. Es ware dabei fatal, als Repertoire der Rekonstruktion historischen gesell-schaftlichen Bewuätseins nur jene kommunikativen Bereiche zu wahlen, in denen theoretische Reflexionen einer kleinen Schicht von Privilegierten stattfinden.53 Wenn es zutrifft, daä der Zustand eines Vokabulars soziale Zustande reflektiert54, dann muä die historische Semantik auch die Sprache in ihrer sozialen (d.h. horizontalen und vertikalen) Vielfalt zum Gegenstand machen, weil sie nur so an die Vielfalt der unterschiedlichen bis gegensatz-lichen Quellen her ankommt, aus denen sich das kollektive Bewuätsein einer Gesellschaft speist. Seit der Vernachlassigung der Vielfalt der Ge-schichten zugunsten von „Der Geschichteö haben die Auffassungen erfah-rener Wirklichkeit, wie sie sich je nach Standpunkt der Beteiligten in ihren Erzahlungen unterscheiden, an Gewicht verloren zugunsten der theoreti-schen Reflexion einer Wissenschaft.55 Die historische Semantik, will sie nicht auf Ideengeschichte als der Geschichte von Wirklichkeitsauffassun-gen, die lediglich die wissenschaftliche Erfahrungsbildung leiteten, be-schrankt bleiben, muä sich die Vielfalt der Geschichten wieder zu eigen machen. Ort dieser Aneignung ist die Untersuchung kommunikativer Hand-lungen in ihrer ganzen gesellschaftlichen Streuung und Breite. Dabei mu s-sen die Verknu pfungen verschiedener diskursiver Stro mungen, ihre Einbin-dung in die Weltanschauung einer Epoche, im Blickfeld bleiben. Historische Semantik, sei sie nun als Begriffsgeschichte oder weiter gefaät, behandelt die Sprache, hier in Hinblick auf die in ihr enthaltenen und durch sie vermittelten Inhalte, als soziale Tatsache und als historische Gegeben-heit. So- / zial ist die Sprache, wie wir gesehen haben, in zweierlei Hinsicht: als Medium der Verstandigung zwischen Menschen hat sie ihren Grund im Dialog (der Wechselrede), als Instrument und Institution menschlicher Ver-standigung tragt sie den Charakter gemeinschaftlicher Weltdeutung in sich.

51 “Das Faktum ist immer nur linguistisch existent (als Terminus eines Diskurses), und doch spielt sich alles so ab, als ware seine Existenz lediglich die einfache und genaue „Kopieö einer anderen Existenz, die in einem extrastrukturalen Bereich liegt, dem „Realenö. Diese Art des Diskurses ist zweifellos die einzige, bei der das Bezugsobjekt als etwas auäerhalb des Diskurses liegendes aufgefaät wird, ohne daä es indessen je mo glich ware, es auäerhalb des Diskurses in den Griff zu bekommen.‘ Barthes 1968, 179. 52 “Sie [die Geschichte, DB] ist u berindividuelles, kollektives Bewuätsein, das sich zum indi-viduellen Bewuätsein verhalt, wie das Sprachgebilde (langue) zum einzelnen Sprechakt (parole).‘ Gu nther 1980, 32. 53 Darauf insistiert mit Nachdruck Reichardt 1985, 84, wenn er die in der Begriffsgeschichte (auch und gerade der “Geschichtlichen Grundbegriffe‘) so u beraus verbreitete “ideenge-schichtliche Gipfelwanderung‘ angreift. 54 Girard 1963, 1130. 55 “Das Zeichen der Historie ist nunmehr das Intelligible‘ bezeichnet Barthes 1968, 180 die-sen Vorgang.

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Historisch ist die Sprache, weil jede Verstandigung, sich auäern und ver-stehen, von den Kommunikationserfahrungen der Einzelnen abhangt (jeder bringt seine Kommunikationsgeschichte mit ein), und weil die Sprache ins-gesamt die Kommunikationserfahrungen é als Erfahrungen der Verstandi-gung u ber die Welt é der ganzen Gesellschaft in sich tragt. Geschichte ist so immer Geschichte der Verstandigung u ber gemachte Erfahrungen. Da-bei wird das Erleben des Einzelnen (sollte er an einem sog. „geschichtli-chen Ereignisö beteiligt gewesen sein) durch die Raster sprachlich gefaäter Geschichtsdeutung gejagt, um die unverbundenen Einzelheiten in den Zu-sammenhang einer Deutungsweise von (historischer) Welt zu stellen. Keine historische Semantik kommt daran vorbei, daä die untersuchte Spra-che letztlich „Bilder der historischen Welt, die dem gegenwartigen Verhalten entspringenö56 enthalt. Genausowenig, wie sich der Bedeutungs-Historiker aus seinem eigenen Sprachgebrauch entfernen kann, der die historischen Gegenstande fu r ihn immer schon definiert, kann er sich davon freimachen, daä vergangener Sprachgebrauch in einem System von epistemischen Verweisungen und Beziehungen steht57, das die Welten vergangener Men-schen bestimmt, und das als Ganzes rekonstruiert werden muä, will man die erfahrungsbildende Kraft der in ihm zum Ausdruck kommenden Begriffe verstehen. Die Sprachwissenschaft muä mehr als bisher fu r diese Rekon-struktionsaufgabe die notwendigen und zureichenden sprachtheoretischen Mittel zur Verfu gung stellen. 2. Historische Semantik im Rahmen historischer Forschung Historische Semantik ist, anders als die Sprachgeschichte im Bereich der Formen und Strukturen, kein allein é ja noch nicht einmal vorrangig é sprachwissenschaftlicher Forschungsbereich. Die intensivste Auseinander-setzung mit der Geschichtlichkeit von Bedeutungsentwicklungen findet é auäer in der philosophischen, rein ideengeschichtlichen Begriffsge-schichte é im Bereich der Geschichtsschreibung statt. Das historiographi-sche Interesse an der Sprache ist selbst Resultat einer neuen Aufgabenfin-dung der Geschichtswissenschaft nach U berwindung des naiven Historis-mus des 19. Jahrhunderts. Geschichte als erfahrene Geschichte, als Be-wuätmachung von Erfahrungswandel historischer Zeiten, bedient sich der Bedeutungsgeschichte als Indikator vergangenen Bewuätseins. Um zu / dieser geschichtstheoretischen Selbstdefinition zu kommen, muäte die Ge-schichtswissenschaft erst eine wechselhafte Entwicklung durchmachen. Ich werde deshalb im folgenden kurz den geschichtstheoretischen Standort heutiger historischer Semantik beschreiben, weil nur dann deren zentraler Stellenwert fu r die heutige Historiographie deutlich wird; die Aufgabenstel-lung der historiographischen historischen Semantik kann nicht ohne Aus-wirkungen auf eine Theorie der historischen Semantik bleiben. 56 Koebner 1953, 135. 57 Vgl. Girard 1963, 1128 und Neubert 1974, 85.

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a. Der Begriff der Geschichte und die Entstehung der Geschichtswissenschaft

Die Entwicklung des modernen Geschichtsbewuätseins ist von dem gerade fu r die historische Semantik interessanten Umstand gekennzeichnet, daä mit dem Entstehen des neuen Begriffs „die Geschichteö, mit dem eine neue Sichtweise, eine neue Art der Wirklichkeitsauffassung installiert wird, auch zugleich die dazugeho rige Wissenschaft entsteht; dies bewirkt, daä Ge-genstand und Wissenschaft untrennbar miteinander verbunden sind. We-der ist die Wissenschaft ohne den neuen Begriff der Geschichte denkbar, noch bleibt das Geschichtsbewuätsein vom Erkenntnisparadigma der Wis-senschaft unberu hrt. Die Geschichtstheorie der Gegenwart muä sich erst wieder an die Haltung heranarbeiten, die den Anfang der Geschichtswissenschaft bestimmt hat, und die Benjamin so beschreibt: “Der Chronist, welcher die Ereignisse hererzahlt, ohne groäe und kleine zu unterschei-den, tragt damit der Wahrheit Rechnung, daä nichts was sich jemals ereignet hat, fu r die Geschichte verloren zu geben ist.‘58

Der Begriff der Geschichte, wie er uns heute é als „die Geschichteö é ge-laufig ist, ist eine Pragung der Neuzeit. Die im Mittelalter allein gebrauchli-chen Ausdru cke „historiaö, „das Geschichtö und „die Geschichteö (als Plural von „Geschichtö) deuten den andersartigen Erkenntnis-Zugang zu ge-schichtlichen Gegenstanden an. Das Interesse richtete sich auf einzelne „Geschichtenö (von Fu rsten, Klerikalen, einzelnen Ereignissen wie Kriege), wobei der subjektive Zugang zu diesen Ereignis-Geschichten, als Erzah-lung eines Beteiligten oder eines im Fu rstensold stehenden Hagiographen immer mitgedacht war. Dabei ordnete sich die Ereigniserzahlung in den Zusammenhang der religio sen Weltdeutung ein. Die Erkenntnisweise war vorherbestimmt durch die Wahrheit christlicher Wirklichkeitsdeutung.59 /

Das Bewuätsein der Relativitat von Ereignis (Geschichten) sowohl hin-sichtlich der subjektiven Pragung jeder Erzahlung, als auch hinsichtlich der Einordnung in einen das einzelne Ereignis u bersteigenden mythischen Deutungszusammenhang verhinderte die Herausbildung einer objektivisti-schen Umdeutung historischer Erfahrungen.60 Daä Geschichte im Ge-dachtnis é memoria é wurzelt, war noch allseits bewuät. Dem Humanismus diente die Geschichte (historia) der moralischen Beleh-rung anhand antiker Historiographien, fu r Luther war sie exemplum und Machiavelli wollte sie zur politisch-pragmatischen Unterrichtung der Staats-

58 Benjamin 1974, 694. 59 “Die isoliert gesehene Ereigniskette besaä einen geringen Wahrheitsgehalt, erst als Be-standteil der dies- und jenseitigen Gegenwirklichkeit erschloä sie sich in ihrer vollen Bedeu-tung.‘ Engels 1975, 642. 60 Dies zeigt sich auch daran, daä die Historie im Kanon der artes liberales nicht vertreten war.

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manner benutzen. Die Bindung der Historie an Moral und Rhetorik blieb bis ins 18. Jahrhundert erhalten.61 Eine erste Hinwendung zu neuzeitlichen Geschichts-Begriffen deutet sich bei Vico an. Fu r ihn begreift der Mensch in der Geschichte sich selbst, und indem er sie sich erzahlt, schafft er sich die Geschichte selbst nach seinen eigenen Gesetzen.62 Damit ist ein Vorgriff geleistet auf die Geschichtsauf-fassung z.B. des Idealismus, wie sie sich in Hegels Bemerkung ausdru ckt: “Dieser Prozeä, dem Geiste zu seinem Selbst, zu seinem Begriffe zu ver-helfen, ist die Geschichte.‘63 Die Gegenposition eines sich seit dem 18. Jahrhundert langsam etablierenden Objektivismus markiert Rankes Wunsch: “Ich wu nschte, mein Selbst gleichsam auszulo schen und nur die Dinge, die machtigen Krafte erscheinen zu lassen.‘64 Diese Entwicklung vollzog sich mit einer Bedeutungsveranderung in der Verwendung von „Geschichteö. Die etymologische Herkunft des Ausdrucks von „geschehenö legte es nahe, mit ihm “auf den Geschehenszusammen-hang selbst, und den Bewegungszusammenhang des Dargestellten‘65 zu verweisen, anstatt, wie mit „Historieö, nur den Bericht zu meinen. Was vor-her die Geschichten einzelner Menschen, von einzelnen Geschehnissen war, gewinnt nun objektiven Charakter, wird zu der Geschichte des Men-schen, und damit zu einer metaphysischen Kategorie. Herder kann nun formulieren: “Die Geschichte ist die Wissenschaft dessen, was da ist.‘66 /

Mit der Anderung der Geschichtsauffassung einher geht eine neue Zeiter-fahrung als „Neuzeitö. Die (im 18. und 19. Jahrhundert) stattgefundenen Umwalzungen lassen die Erwartung ku nftiger, besserer Zeiten (besonders fu r das noch unmu ndige Bu rgertum, das zugleich Diskurstrager ist) auf-kommen, was eine Zukunftsausrichtung der Geschichtsvorstellung bewirkt. „Die Geschichteö wird zum Agens, einem antropomorphisierten Kollektiv,be-wuätseinö, das zielgerichtet die Handlungen der Menschen zu einem ein-heitlichen Gesamtsinn vereinigt, der sich aus den Resultaten ablesen laät. Sind diese nach eigenem Geschmack, so kann die Geschichte als rationale und notwendig auf den gegenwartigen Zustand zustrebende Entwicklung interpretiert werden. Trotz der dieser (fu r den Historismus des 19. Jahrhunderts kennzeichnen-den) Haltung innewohnenden Relativierung historischer Erklarung auf die Interessen der Interpreten fu hrt die nunmehr fast ausschlieälich betriebene

61 Scholtz 1974 a, 348 ff. 62 Gu nther 1975, 640; vgl. auch Gu nther 1979, 185é 249 (hier 230). 63 G. W. F. Hegel, Die Vernunft in der Geschichte (Hg. Hoffmeister), Hamburg 1955 72; zit. nach Gu nther 1975, 643. 64 64 Ranke, Englische Geschichte, samtl. W. 15 (1870), 103; zit. nach Gu nther 1975, 644. 65 Scholtz 1974 a, 359. 66 Zit. nach Scholtz 1974 a, 359. Fu r Blumenberg 1971, 168 ist “die Geschichte‘ freilich nicht zur Ho he des Begriffs erhoben. Vielmehr handele es sich dabei um “eine absolute Meta-pher, eines der groäen Worte aus der Welt der Substantive, die uns die groäen Probleme und die ihnen entsprechenden Metaphysiken schaffen.‘ Der Sinn dieser Metapher, so meint er, sei noch nicht erschlossen: “Wir wissen, was eine erzahlte Geschichte ist. Aber wir wis-sen nicht, was es bedeutet, daä wir eine Gesamtheit mo glicher Geschichten unter einem schwer bestimmbaren Auswahlprinzip „die Geschichteö nennen ko nnen.‘

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politische Geschichte67 mit ihrer Orientierung an Handlungen und Ereignis-sen zunachst zu einem ausgepragten Objektivismus. Die Motive handeln-der Personen (die als Agenten der Geschichte verstanden werden) werden in einem platten Kausalismus mit den Ergebnissen gleichgesetzt, die fu r sich selbst sprechen; das Resultat ersetzt die Interpretation. Der Historis-mus stellt daher eine eigenartige Mischung von positivistischen (objektivis-tischen) Forschungsmethoden und einer relativistischen Gegenstandsauf-fassung dar. Das historische Geschehen ist zwar kausal (und damit „objek-tivö) ableitbar, ist aber insgesamt den Zufalligkeiten historischer Entwicklun-gen unterworfen und damit relativ zu den jeweils handelnden Menschen. Diese Relativierung jedes historischen Geschehens dringt nicht auf das ei-gene Forschungsverstandnis durch; als an einzelnen Ereignissen orientier-te Aufreihung von „Tatsachenö entzieht sich der Historismus der Einsicht in die historische Relativitat auch der eigenen Erkenntnis. Sein „Relativismusö ist nicht erkenntnistheoretisch gemeint.68 Die Einsicht “daä erst durch eine subjektive, standpunktgebundene Leistung des Historikers [...] sich jene Einheit der Geschichte [enthu llt, DB], die dann zunehmend in der geschichtlichen Wirklichkeit selbst gefunden werden sollte‘69, /

war in dieser Phase des Historismus nur bei wenigen (vorzugsweise bei Kritikern der Historie wie Nietzsche) vorhanden. Die dann relativ fru h schon wieder einsetzende Erkenntnis, daä die “Subjektivitat des Nacherlebens‘ Bedingung des Erkennens ist (Simmel), somit jede Ordnung vermeintlicher Fakten “ihre Motive in der Gegenwart hat und dem gegenwartigen Leben entspringt‘ (Croce)70, hat sich bis heute noch nicht vo llig in der Historiogra-phie durchgesetzt. Th. Lessings Versuch der Rekonstitution der Geschichte als Ansammlung von Geschichten (“Geschichte ist eine nie beendete menschheitliche Mythendichtung‘71) war zum Scheitern verurteilt. All diese Auseinandersetzungen spiegeln das (bei der Geschichtswissen-schaft besonders auffallende) Problem jeder Erkenntnis wider, die Untrenn-barkeit von Gegenstand und Betrachtungsweise. Die “Kontamination von Ereignis und Historie‘72 hat sich im Begriff „die Geschichteö niedergeschla-gen. Wurde im Historismus die Geschichte als Einheit des Geschehens von der Einheit des Erkennens in der Historiographie getrennt, so wird heute in der geschichtstheoretischen Diskussion dieser Zusammenhang wiederher-zustellen versucht. Das Bewuätsein, daä jedes Erkennen historisch gebun-

67 Die Geschichten wurden schon zu „der Geschichteö reduziert; diese wird nun auch noch auf einen bestimmten Ausschnitt, die politische Geschichte, beschrankt. Der humanistische Anspruch, den „ganzen Menschenö in seiner Gewordenheit zu betrachten, wird eine zeitlang ausgeklammert. 68 Vgl. Scholtz 1974 b, 1142 ff. 69 Koselleck 1975, 662. 70 Zit. nach Scholtz 1974 a, 383 f. 71 Scholtz 1974 a, 384. Allerdings findet heute eine Annaherung an solche Standpunkte statt é allerdings eher bei historisch interessierten „Laienö als in der institutionalisierten Historie. 72 Koselleck 1975, 647.

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den ist, und somit auch die Betrachtung von „der Geschichteö, kann nicht daran vorbeifu hren, daä eine Argumentation nur mit den uns zuhandenen Begriffen mo glich ist. Die Reifikation abstrakter Gegenstande wie „die Ge-schichteö ist auch ein historisch-semantisches Problem. b. Geschichtstheoretische und methodische Positionen

der gegenwa rtigen Geschichtswissenschaft Die heutige geschichtstheoretische und methodologische Diskussion é die Tatsache ihres Stattfindens é wird vielfach als “Krisenerscheinung der Kri-se des Historismus‘ wahrgenommen.73 Dabei sind die Gegenpole der Aus-einandersetzung dieselben geblieben. Dem Objektivitatsglauben des Histo-rismus (darin unterstu tzt durch die Methodenpostulate des Positivismus) steht die Forderung gegenu ber, aufgrund der unhintergehbaren Subjektivi-tat jeder Erkenntnis (und der historischen im Besonderen) die erkenntnislei-tenden Ideen sichtbar zu machen, d.h. jede historische Forschung durch eine explizit gemachte und be- / gru ndete Theorie leiten zu lassen.74 Dabei bleibt das Bewuätsein erhalten, daä eine Theorie der Geschichtswissen-schaft (und damit ihre Methodik) “ihre Fundierung letztlich in einer Theorie der Geschichte oder der Gesellschaft selbst finden muä.‘75

Im Zuge hermeneutischer Theoriebildung (Gadamer) geriet zunehmend auch der Begriff des Verstehens ins Zentrum der Diskussion. Die dabei gelegentlich getroffene Unterscheidung zwischen normativer und nicht-normativer Hermeneutik76 (eine Folge des Werturteilsstreits) setzt sich dem Verdacht aus, daä mit einer solchen Aufteilung in Hermeneutiken letztlich eine positivistische Geschichtsauffassung gerettet werden soll, vor allem wenn gefordert wird, daä der Historiker sich um ein “unverfalschtes Bild‘ des “vorgegebenen Gegenstandes Vergangenheit‘ bemu hen soll.77 Einem solchen Denken ist jeder Versuch einer theoriegeleiteten historischen For-schung grundsatzlich dem Ideologie-Verdacht ausgesetzt. Rumpler be-merkt zu recht, daä die Frage nicht ist, ob Werturteile in der Wissenschaft wu nschenswert oder notwendig sind, sondern ob gesellschaftswissen-schaftliche Erkenntnisse ohne sie u berhaupt mo glich sind.78

73 Vgl. Rumpler 1974, 210. 74 Am deutlichsten bei Koselleck 1972 b. 75 Rumpler 1974, 210. 76 So Faber 1971, 109 ff. é Dabei, wird u. a. der Forderung Toynbees gefolgt: “Wir haben nicht zu billigen und zu miäbilligen, sondern zu verstehen.‘ (Zit. nach Scholtz 1974 a, 386.) 77 Faber 1971, 39. 78 “Der Neopositivismus verdammt die Wissenschaft zu genau jenem ethischen Neutralis-mus, der im Rahmen des Historismus zur Rechtfertigung der „Normativitat des Faktischenö, zur Stabilisierung der jeweils bestehenden Wert- und Gesellschaftsordnung gefu hrt hat.‘ Rumpler 1974, 213.

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Auch die strukturalistische Geschichtsschreibung entgeht nicht einem ge-wissen Positivismus; wenn anstelle der abgelehnten Ereignisgeschichte jetzt die Strukturen „organisierter Systemeö die Geschichte erklaren sollen und sogar zum Agenten von Entwicklungen gemacht werden79„ so ist man, zumindest mit der Reifizierung von Erkenntnisresultaten, nicht weit entfernt vom urspru nglich angegriffenen Historismus; man braucht bloä noch „die Geschichteö als erstrebtes Ganzes, als “Einheit zwischen Geschichte und Geschichtswissenschaft‘80 durch „die Strukturö zu ersetzen. Zu fragen ist, ob strukturalistische Forschung nicht Gefahr lauft, trotz des erstrebten aufkla-rerisch-emanzipativen Charakters der eigenen Tatigkeit “die Naturwu chsig-keit historischer Fakten, Prozesse und Institutionen wieder herzustellen‘, nur eben auf einer anderen Ebene als der Histo- / rismus, auf der der Strukturen.81 Zudem geht bei dieser Sichtweite (man mag zu den erkennt-nistheoretischen é objektivierenden é Ergebnissen der Aufklarung stehen wie man will) der Blick auf das spezifisch Menschliche historischer Entwick-lungen leicht verloren. Es sollte mo glich sein, diese Perspektive zu bewah-ren, ohne gleich in die vermeintlich objektive Handlungsgeschichte des Historismus zuru ckzufallen. Kritik am Strukturalismus wird auch aus einer Richtung geu bt, die die Ge-schichte als „verstehende Geisteswissenschaftö weiterfu hren will. Dabei soll ein neu begru ndeter reflektierter Historismus gerettet werden, insofern er “Geschichte als sinnhaften Kulturzusammenhang in der zeitlichen Folge menschlicher Lebensformen‘ auffaät.82 Dem Begriff des Verstehens liegt aber inne, daä ein Vorverstandnis, das nicht aus dem zu Verstehenden entnommen werden kann, sondern vom Forscher immer schon mit einge-bracht wird, vorausgeht. Zwar ermo glicht dieser Begriff, das spezifisch Menschliche historischen Erkennens herauszustellen, da der „Sinnö histori-scher Gegebenheiten ja nur ein Sinn fu r jemanden sein kann, wobei der Sinnhorizont des Verstehenden die Mo glichkeit des Nachvollzugs von Handlungssinn und handlungsleitenden Intentionen von Menschen vergan-gener Zeiten stark einschrankt. Gerade ein solcher Nachvollzug “objekti-vierter Intentionalitat vergangenen Handelns‘ wird aber gefordert.83 Auch eine methodisch reflektierte und quellenkritische, verstehende Geisteswis-senschaftö kommt nicht daran vorbei, daä der „Kulturzusammenhang� letzt-lich durch die Blickrichtung und Auswahlkriterien historischer Forschung konstituiert wird. Chr. Meier bemerkt zu recht, daä die Beziehung zwischen den Faktoren und Zusammenhangen in dem, was die Quellen sagen, in der Regel nicht steht.84 Ein verstehender Zugang zur Vergangenheit ist nicht generell falsch, nur muä der Einfluä des Vorverstandnisses der Forscher auf Konstitution und Beschreibung des Gegenstandes beru cksichtigt wer-den. 79 L. Sebag: “Die Struktur erscheint hier als das eigentliche Subjekt.‘ (Zit. nach Scholtz 1974 a, 394). 80 Rumpler 1974, 225. 81 Groh 1971, 303 (zit. nach Rumpler 1974, 214). 82 Ru sen 1976, 77. 83 Ru sen 1974, 242; vgl. zu Ru sen auch Berding 1977, 209 ff. 84 Meier 1976, 46.

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Eine gelungene Rettung des Historismus ist also nicht in Sicht, auch wenn man nicht so weit gehen will wie Baumgartner, fu r den “der Begriff des „Ganzenö der Geschichte eine nicht realisierbare Fiktion darstellt.‘85 Fu r das Gros der Historiker stellt die Einheit von Ereignis und Historie, die die „Geschichteö ergibt, ein unhintergehbares Axiom dar. Dagegen ist solange nichts einzuwenden, wie die Konstitution des historischen Gegenstandes (dessen, was als „Faktumö aus der Serie der ausgewahlten Daten ausge-grenzt wird) aus dem Erkenntnisinteresse und Vorwissen des Forschers zugegeben, und nicht einer vermeintlichen „Objektivitat der Faktenö zuliebe u bergangen wird. Allerdings ist die Einsicht, daä / historische Erklarungen immer auf Theorien zuru ckgreifen, und dies, soll die Historie redlich sein, auch bewuät reflektieren mu ssen, noch keineswegs Allgemeingut gewor-den. Dabei sollte die Reflexion auf die “Bedingungen der Mo glichkeit von Erkenntnis gesellschaftlicher Wirklichkeit‘86 immer mit der auf die Grundla-gen und Mo glichkeiten von Erkenntnis u berhaupt einhergehen. An deren Ende kann meines Erachtens nur die Einsicht in die Relativitat jeder Er-kenntnis, und der historischen im Besonderen, stehen.87 Daä man die Interessen- und Wert-Gebundenheit sozialwissenschaftlicher und historischer Erkenntnis auch positiv sehen kann, wird selten zugege-ben. Darin, daä “jede gesellschaftswissenschaftliche Analyse [...] wesentlich an die Verantwortlichkeit subjektiver Sinngebung gebunden [bleibt, DB]‘88„

liegt gerade der zentrale erkenntnistheoretische Beitrag von kritischer Theorie wie Hermeneutik. Dieser Verantwortung suchen sich (nicht nur) viele Historiker allenthalben zu entziehen, um sich stattdessen hinter der vermeintlichen Objektivitat (und damit Normativitat) des Faktischen zu ver-stecken.89 Die historische Semantik greift hier mit einem eigenstandigen Beitrag in die historiographische Selbstverstandnis-Debatte ein. Zumindest in ihren wich-tigsten Begru ndungsversuchen versucht sie gerade der historischen Ge-bundenheit geschichtlicher Erkenntnis gerecht zu werden durch Bemu hen um Reflexion der eigenen Erkenntnisgrundlagen und Werthaltungen. Einer Theorie, die mit dem engen Zusammenhang geschichtlicher Erfahrung und

85 Baumgartner 1972, 340é 342 (zit. nach Rumpler 1974, 225). 86 Rumpler 1974, 208. 87 Auch die kritische Theorie, die den Begriff der erkenntnisleitenden Interessen zu Recht ins Spiel gebracht hat, vertraut mit dem Rekurs auf einen „herrschaftsfreien Diskursö und auf die apriorische Einsehbarkeit der selbstkritischen Maästabe der Selbstreflexion, letztlich auf die U berwindbarkeit der Geschichtlichkeit und damit auch der Relativitat historischer Erkennt-nismo glichkeiten. “Auch das subtilste Mitbedenken ihrer Geschichtlichkeit kann die „kritische Theorieö nicht aus dem Wirkungszusammenhang von Tradition und Zukunftsinteresse aus-brechen.‘ Rumpler 1974, 220. 88 Rumpler 1974, 220. 89 Der Einschatzung von Rumpler 1974, 226 ist daher nicht zu widersprechen: “Geschichts-wissenschaft als wertende Entscheidung bedeutet volle Verantwortlichkeit, sie verwehrt den Ru ckzug in das sichere Gedankengebaude eines erkenntnistheoretischen Objektivismus, der von perso nlicher Verantwortung entlastet.‘

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ihrer sprachlichen Erfassung die Relativitat historischer „Tatsachenö zum Ausgangspunkt nimmt, stu nde ein vermeintlicher Objektivismus auch schlecht an. Fu r die Vertreter der historischen Semantik kommt der Dop-pelcharakter der Geschichte, durch die Verschrankung von ru ckwarts be-schriebenem Ereignis und seiner Erzahlung immer sowohl Vergangenheit als auch Gegenwart zu sein90„ in der Analyse historischer / Sprache am besten zum Ausdruck. Indem in der „Selbstauslegungö vergangener Epo-chen91 dem Einfluä zeitbedingter Paradigmata nachgespu rt wird, kommt der subjektive Charakter jeder Geschichtsschreibung, und damit die histori-sche Relativitat der vermeintlich feststehenden „Tatsachenö zum Vorschein. Als „metahistorische Kategorieö92 hat „die Geschichteö als agierendes Sub-jekt kein Objekt, es sei denn sich selbst. Analyse der Geschichtsschrei-bung, als Hindurchlegen einer dem zeitgebundenen Verstandnis der Schreiber entspringenden Linie durch die auch schon subjektiver Deutung ausgesetzten „Ereignisseö, legt subjektive Implemente (auch des kollektiven Subjekts einer Gesellschaft) als solche frei, ohne selbst wieder in den Feh-ler zu verfallen, darunter die „wirkliche Geschichteö zu suchen. Geschichtliche „Erzahlungö als solche zum Thema historischer Forschung gemacht, das ermo glicht durch die Untersuchung der sprachlichen Verar-beitung gesellschaftlicher Erfahrungsbildung u ber Vergangenes die “Bedin-gungen der Mo glichkeit von Geschichten u berhaupt‘93 zu erkennen. Die „Geschichteö kommt erst im „Text der Geschichteö zum Ausdruck.94 Diese Relation ist Anlaä der Historiographie, sich als historische Semantik neu zu begru nden. Fu r Stierle stellt sich diese Relation allerdings als dreigliedrig dar: Geschehen, Geschichte und Text der Geschichte.95 „Geschehenö be-zeichnet fu r ihn die Ebene der Ereignisse, die als solche, als Gegenstande der Beobachtung und Erfahrung, keinen eigenstandigen Sinn haben.96 Im Gegensatz zum Geschehen hat die „Geschichteö einen Sinn, und zwar in Form einer Handlung der Aneignung von Geschehen, die das Angeeignete eingrenzt und formt.97 Obgleich das Geschehen der Geschichte voraus-geht, hat das die Aneignung leitende „Schema der Geschichteö Prioritat, insofern unter seinen Bedingungen erst das Geschehen angeeignet wird. Diese „ideelle Linieö beruht auf einem “Wissen von der Welt, fu r das sich der Name Ideologie an bietet‘.98 U ber der Geschichte liegt dann der „Text der Geschichteö, als sprachlich ausformuliertes Ergebnis der Aneignungs-

90 Koselleck 1970, 17. 91 Koselleck 1972 a, XIII. 92 Koselleck 1972 b, 41. 93 Koselleck 1972 b, 39. Ro ttgers 1982, 11 sieht im Begriff der Erzahlung den wesentlichen Unterschied zwischen Geschichte und Soziologie. “Der Begriff des Erzahlens ist fu r die Ge-schichten und fu r die Geschichtswissenschaft fundamental; jede Reduktion der Erzahlquali-tat von Geschichten ist eine Abweichung von dem Begriff der Geschichte.‘ 94 Vgl. Stempel 1973, 325. 95 Stierle 1973, 531. 96 D. h. “keine intentionale Relation seiner Momente.‘ Stierle 1973, 532. 97 “Im Hinblick auf das Geschehen ist die Geschichte eine Reduktion. Diese Reduktion folgt einem Sinn, der beschreibbar ist als „Hindurchlegen einer ideellen Linieö (Simmel).‘ Stierle 1973, 532. 98 Stierle 1973, 532.

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handlung der Geschichte. Ihn darf man nicht als pure sprachliche Wieder-gabe miäverstehen; vielmehr wirkt sich auch auf / dieser Ebene die spezifi-sche Wirklichkeitsauffassung einer Gesellschaft und Epoche aus, indem die sprachliche Form der Aneignung selbst die Ausgrenzung von Momen-ten des Erfahrenen zu bewuät gemachten „Ereignissenö der Geschichte pragt. Historische Semantik nimmt, ist die historische Bindung geschichtli-cher Erfahrung erkannt, einen zentralen Rang in der historischen For-schung ein, da sie die Mo glichkeitsbedingungen der Konstitution geschicht-licher Erfahrung in den sprachlichen Formen der Artikulation von Auffas-sungen u ber die Vergangenheit aufzuspu ren versucht. c. Das Interesse an der Sprache Das Interesse an der Sprache, das sich im Rahmen der geschichtstheoreti-schen und methodischen Neubestimmung der Geschichtswissenschaft entwickelt hat, auäert sich in anhaltenden Versuchen, eine fu r die historio-graphische Zielsetzung zureichende Methode und Begru ndung der histori-schen Semantik zu finden. Die Erforschung vergangener Bewusstseins-konstitution historischer Erfahrung nimmt den Weg der Bedeutungsanalyse geschichtlicher Texte, weil allein in den Bedeutungsveranderungen der Sprache, in welcher Geschichte be- und geschrieben wird, Veranderungen im Wirklichkeitsverstandnis aufzuspu ren sind. Dabei richtet sich das Inter-esse vornehmlich auf die Begriffe, welche historische Sachverhalte erst zum Bewuätsein bringen, ja, sie allererst als Gegenstande der Erfahrung konstituieren. Die Begriffsgeschichte, welche lange vor der neueren Selbst-verstandnisreflexion der Geschichtswissenschaft existierte, wurde aufge-griffen und zu einer genuin historiographischen Methode umgedeutet. He-rausragend ist dabei das Projekt des begriffsgeschichtlichen Lexikons “Ge-schichtliche Grundbegriffe‘99„ in dessen Umfeld die wichtigsten Diskussio-nen zu Ziel und Methode der historischen Semantik stattfanden.100 Der historiographischen Begriffsgeschichte geht es darum, in der Bedeu-tung zentraler historischer Begriffe und in deren Veranderung Indizien fu r das Geschichtsverstandnis einer Epoche zu finden und Punkte beschreib-bar zu machen, an denen durch die Bildung neuer Bedeutungen neue Wirklichkeitsauffassungen sich auszubreiten beginnen. Geschichte ist nur als „begriffene Geschichteö vorstellbar; in der Terminologie des Begreifens von Geschichte liegt der geschichtliche Prozeä selbst.101 Fu r das von Ko-selleck entwickelte Konzept der Begriffsgeschichte werden vor allem solche Zeitraume interessant, in denen die Bedeu- / tungen geschichts(be)schrei-bender Sprache einen starken Umbruch erfahren.102 So sieht er ab dem 18.

99 Brunner u. a. 1972 ff. 100 Wichtig sind die Einleitung von Koselledc 1972 a (vgl. auch Koselleck 1967), und der Dis-kussionsband Koselleck 1978 a. 101 Koselleck 1978 c, 30; vgl. auch Koselleck 1973. 102 Koselleck 1972b, 41.

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Jahrhundert ein neues Zeitgefu hl entstehen, dem neue „zeitlich aufgelade-neö Begriffe entsprachen.103 Die Projektion dieser „Sattelzeitö genannten Epoche auf die Quellen stellt einen jener bewuäten theoretischen Vorgriffe dar, ohne den fu r Koselleck die Geschichtswissenschaft nicht auskommen kann.104 Begriffsgeschichte will also die Erkenntnis, daä fu r uns nur wirklich ist, u ber was wir reden ko nnen, umsetzen in ein Forschungsprogramm, welches die Sprache in ihrer wirklichkeitskonstitutiven Funktion direkt untersucht. Sie vermeidet damit, daä dem nur vermeintlich direkteren Zugriff auf die „Sach-verhalteö der unvermeidliche Katzenjammer der Fragwu rdigkeit des er-kenntnistheoretischen Statusö von Objekt wie Erkenntnis folgt und zieht die einzig vernu nftige Schluäfolgerung: Erkenntnis geschichtlicher Sachverhal-te muä als Konstitutionsakt von Wirklichkeit begriffen werden, der seinen Ort in den sprachlichen Verstandigungshandlungen der u ber Geschichte redenden Menschen hat.105 Wer den Voraussetzungen dieser Verstandi-gungsakte nachspu ren will, muä die Voraussetzungen der Sinnkonstitution durch Sprache schlechthin aufhellen. Hier steckt die historische Bewuätseinsforschung jedoch in einem Dilem-ma: Begriffsgeschichte muä zur historischen Semantik erst gemacht wer-den; sie ist es keineswegs von vorneherein. Die Begriffsgeschichte wurzelt in der klassischen Ideengeschichte, fu r welche die Ideen ohne Bezug auf ihre sprachliche Realisierung untersucht wurden. Begriffsgeschichte, die Bewuätseinsgeschichte betreiben will, ist deshalb standig in Gefahr, Ideen-geschichte zu bleiben, solange das Verhaltnis von Begriff und Bedeutung nicht aufgeklart ist. Sie wird zur historischen Semantik erst, wenn sie die Konstitution historischer Erfahrung als Prozeä der Bedeutungskonstitution in den einzelnen sprachlichen Akten darstellt. Die “Quellensprache als eine einzige Metapher fu r die Geschichte‘106 wird zum Reservoir, aus dem die Analyse der Bedeutungsentwicklung scho pft; keineswegs darf durch vor-schnelle Hypostasierungen die wirklichkeitskonstitutive Kraft dieser Spra-che auf einzelne Begriffe eingegrenzt werden. In der Konzentration auf Begriffe liegt immer die Gefahr, daä unter dem Etikett der historischen Se-mantik nur Ideengeschichte betrieben wird. Selbst wenn die Historiker na-tu r- / lich keine Sprachgeschichte, sondern Geschichtsschreibung betreiben wollen107, so ko nnen sie sich der Mu he der Bedeutungsanalyse von ge-schichtliche Wirklichkeit konstituierenden sprachlichen Akten nicht entzie-hen, wenn ihr hoher geschichtstheoretischer Anspruch erfu llt werden soll.

Das historische Interesse an der Sprache, d.h. ihrer bedeutungskonstitu-ierenden Funktion, hat seine Berechtigung; besonders in einer sich zuneh-

103 Koselleck 1972 a, XVIII. 104 Koselleck 1972 a, XV. 105 So sind, wie Reichardt 1982, 53 noch tastend formuliert, “Begriffe und ihre jeweiligen Bedeutungen nicht bloäe Indikatoren der Sachgeschichte, sondern Wahrnehmungsfahigkeit, kollektivem Bewuätsein und Handeln vorgegebene Faktoren, die keinen geringeren Wirk-lichkeitscharakter besitzen, als die materiellen Verhaltnisse.‘ 106 Koselleck 1972 a, XIII. 107 Koselleck 1978 c, 20.

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mend differenzierenden und strukturierenden Welt, in der die Herausbil-dung neuer gesellschaftlicher und politischer Zusammenhange in engem Zusammenhang mit der Entwicklung einer sie beschreibenden abstrakten Sprache steht.108 Soll allerdings durch die historisch-semantische Analyse nur die hinter den Begriffen sich befindende Sachgeschichte freigelegt werden109, wie die Weigerung vermuten laät, die Trennung zwischen Sach-geschichte und Begriffsgeschichte in der é m. E. nur als Konstitutionsge-schichte gesellschaftlichen Wissens (und damit gesellschaftlich erfahrener Wirklichkeit) ihren erkenntnistheoretischen Voraussetzungen gerecht wer-denden é historischen Semantik aufgehoben zu sehen, dann besteht die Gefahr, daä damit „die Geschichteö wieder eingefu hrt wird, die (als u berin-dividuelles, einzelne Epochen transzendierendes Agens) in der Kritik am Historismus doch gerade u berwunden werden sollte.110 Die geschichtswissenschaftliche historische Semantik, an deren Anfang die Kritik an dem fragwu rdigen Objektivismus vergangener Historiographie stand, muä zur historischen Relativitat ihrer Aussagen stehen. Fu r sie gilt in besonderem Maäe, was Foucault von der Geschichtsschreibung erhofft: “Je besser sie [...] ihre Relativitat akzeptiert, desto mehr dringt sie in die Bewegung ein, die ihr mit dem gemeinsam ist, was sie erzahlt.‘111

Sie muä sich klar machen, daä ihre Aufgabe einzig in der Schaffung neuer Texte aus dem „Text der Geschichteö besteht, daä sie die Voraussetzungen bewuät macht, die den Menschen einer historischen Epoche erlaubten (oder die sie dazu zwangen), so zu denken, wie sie gedacht haben. Bedeu-tungsanalyse historischer Sprache ist nur sinnvoll, wenn sie die Konstituti-onsbedingungen historischer Bedeutungen in den sprachlichen Verstandi-gungsakten u ber geschichtliche und gesellschaftliche Wirklichkeit aufspu rt. Dabei darf sie nicht, wie die herko mmliche Begriffsgeschichte, mit der Be-schreibung der „Ideenö das ohnehin schon Offensichtliche noch einmal pa-raphrasieren, sondern muä die epistemischen Voraussetzungen des sich in den sprachlichen Akten verwirklichenden Denkens gerade dort freilegen, wo sie das scheinbar Selbstverstandliche, und darum niemals Ex- / plizierte und nie bewuät Gemachte betreffen. Um dies zu leisten bedarf die histori-sche Semantik einer eigenen erkenntnistheoretischen und sprachtheoreti-schen Grundlegung, fu r die in der bisherigen historiographischen Diskussi-on allenfalls die Eckpunkte markiert sind. Das historische Interesse an der Sprache muä dabei erganzt werden in eine Richtung, die es erlaubt, die historische Semantik zu einem Kernstu ck historischer Bewuätseinsfor-schung zu machen. Als solche muä sie u ber die rein historiographische Terminologie hinausgehen und die Sprache in ihrer ganzen alltaglichen Breite thematisieren. Nur so kann sie sich dem, was gesellschaftliche Be-wuätseinskonstitution bedingt und was sie bewirkt, wirklich nahern.

108 Conze 1957, 19. 109 Diesen Anschein erwecken z.B. manche Ausfu hrungen Kosellecks. 110 Darauf verweist auch Taubes 1973, 496. 111 Foucault 1966 a, 382 (dt. 444).

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Bedeutungsanalyse als Mittel der Bewuätseinsanalyse bekommt in einem Bereich aktuellen Charakter é in der semantischen Analyse politischer Sprache. Wenn die historische Semantik geeignet sein soll, die Vorausset-zungen und das Funktionieren sprachlicher Wirklichkeitskonstitution zu er-klaren, dann muä sie das auch fu r die Analyse politischer Sprache in der Gegenwart leisten ko nnen. Diese Forderung mag verblu ffen; es ko nnte ge-fragt werden, was denn noch das „historischeö an der Semantik politischer Sprache sei. Der Zusammenhang stellt sich aber her, wenn man auf die Grundlagen semantischer Analyse reflektiert. Jede semantische Analyse, die das Entstehen und die Veranderung von Bedeutungen erklaren will, kann sich nur per se vergangener kommunikativer Akte als Quellenmaterial bedienen. Der Unterschied zwischen historischer und gegenwartiger Se-mantik betrifft also nur den gro äeren zeitlichen Abstand dessen, was wir schon „historischö und nicht mehr als „Gegenwartö zu bezeichnen geneigt sind. Die Vergleichbarkeit der semantischen Verfahren der Analyse beruht also auf der Identitat der Prinzipien von Wissensgeschichte in Form der Seman-tik. Verschieden sind allerdings die inhaltlichen Voraussetzungen, mit de-nen die Analyse angegangen wird. Historische Semantik behandelt Formen der Bedeutungskonstitution, die auf epistemischen Voraussetzungen beru-hen, welche durch semantische Forschung erst erschlossen werden mu s-sen, weil sie dem Forscher nicht mehr gegenwartig sind. Semantische Ana-lyse „gegenwartigerö Sprache kann zwar auf der Sprachkompetenz der For-scher, welche mit derjenigen der Autoren seiner Quellen vergleichbar ist, aufbauen; jedoch besteht dabei die Gefahr, daä epistemische Vorausset-zungen der Bedeutungsrealisierung vom Forscher unkritisch identisch ge-setzt werden, obwohl sie dies vielleicht gar nicht sind, bzw. gar nicht als bedeutungsbedingende Faktoren erkannt werden, weil sie zu den impliziten und daher unbewuäten Grundlagen seiner eigenen Wirklichkeitsauffassung geho ren. Das Bewuätmachen aller bedeutungskonstituierenden epistemi-schen Momente geho rt zur Aufgabe historisch-politischer Semantik. Des-halb sind sprachtheoretische Grundlagen und die Herangehensweise an die Untersuchung fu r beide Formen, d.h. fu r jede semantische Forschung im Sinne von Bewuätseinsanalyse, dieselben. Politische Sprachanalyse é auch zum Zwecke linguistischer Sprachkritik é / untersucht Sprache auf die in ihren Bedeutungen enthaltenen Auffas-sungen der Wirklichkeit aus demselben Grund wie die historische Seman-tik, weil gesellschaftliche Wirklichkeit é betreffe sie nun Erfahrungen von Geschichte oder von „gegenwartigerö politischer Realitat é durch die sprachliche Aneignung konstituiert und zum Bewuätsein gebracht wird. Wenn im Folgenden von „historischer Semantikö die Rede ist, dann ist die Semantik aktueller politischer Sprache immer mitgemeint.

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