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DAS MAGAZIN FÜR SCHULE IN SACHSEN KLASSE Einer von uns! Über Inklusion an Sachsens Schulen 3/2015

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KLASSE - Das Magazin für Schule in Sachsen "Einer von uns! Über Inklusion an Sachsens Schulen"

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Page 1: KLASSE 3/ 2015

DAS M AGA ZI N FÜR SCH U LE I N SACHSEN

KLASSE

Einer von uns!Über Inklusion an Sachsens Schulen

3/2015

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3 / 20152 KLASSE

Natalie und Antonia sind Kunstscouts bei der Ausstellung »Luther und die Fürsten«.

Ausstellungsbesuchern auf spannende Weise Wissen über Exponate und eine Epoche zu vermitteln, ist sicher nicht leicht. Besonders aufregend wird es, wenn die Vermittler selbst erst 15 Jahre alt sind.

Genau das passiert derzeit in Torgau bei der ersten nationalen Sonderausstellung »Luther und die Fürsten« – ein Kooperations-projekt der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden, des Landkrei-ses Nordsachsen und der Stadt Torgau. Die Ausstellung ist die erste von insgesamt vier nationalen Sonderausstellungen, die im Rahmen der Lutherdekade stattfinden. Nach dem Auftakt in Tor-gau vom 15. Mai bis 31. Oktober 2015 folgen 2017 Wittenberg, Eisenach und Berlin.

An drei Standorten in Torgau, die alle einen wichtigen Anteil an der Durchsetzung der Reformation hatten, können die Besucher durch fast 100 Jahre Geschichte wandeln. Neben dem Hauptan-ziehungspunkt Schloss Hartenfels sind die Kurfürstliche Kanzlei und die Superintendentur weitere Ausstellungsorte. Dort warten jeden zweiten Sonntag auch die Kunstscouts der neunten Klasse vom Torgauer Johann-Walter-Gymnasium auf ihren Einsatz.

Ihre Aufgabe besteht darin, Ausstellungsobjekte aus ihrer per-sönlichen Perspektive zu betrachten und interessierten Besuchern zu erläutern. »Ich habe über unseren Klassensprecher von dieser

Chance erfahren und mich direkt für die Teilnahme gemeldet«, er-zählt Natalie Müller. »Ich verspreche mir von der Aktion wichtige Kenntnisse und Erfahrungen für mein späteres Leben, denn Infor-mationen kurz und knackig zu verpacken und dann auch noch frei vorzutragen, ist gar nicht so leicht.« Das bestätigt auch Antonia Viereckl, die mit Natalie in dieselbe Klasse geht. »Aus dem Unter-richt sind wir es ja gewohnt, uns Inhalte zu erarbeiten und Vor-träge zu halten. Aber im Rahmen einer so großen Ausstellung ist das schon etwas ganz Besonderes und vielleicht ja auch interessant für mein späteres Berufsleben«, so die 15-Jährige. Beide Mädchen sind stolz auf ihre Teilnahme und freuen sich besonders darauf, den Besuchern zu erklären, welchen enormen Einfluss Luthers Ideen und die Reformation auf die Gegenwart haben.

»Wir von den Staatlichen Kunstsammlungen wollen natürlich auch unser junges Publikum ansprechen und haben uns gefragt, welchen Mehrwert wir Schülern bieten können, der gleichzeitig positiv für die Ausstellung ist«, erklärt Nora Manukjan von den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden. »Dank der finanziellen Unterstützung durch die Ostsächsische Sparkassenstiftung kön-nen wir für sächsische Schulklassen einen kompletten Tagesaus-flug anbieten. Neben dem Transfer nach Torgau gehören eine Stadtrallye, verschiedene Workshop-Angebote und Themenfüh-rungen für Schulklassen dazu. Für Lehrer bieten wir sogar einen pädagogischen Tag und Unterrichtsmaterialien an.«

Die Kunstscouts von TorgauVom 15. Mai bis 31. Oktober findet in Torgau die Sonderausstellung »Luther und die Fürsten« statt. Die Schülerinnen Natalie und Antonia gehören zum Ausstel-lungsteam und erklären aus ihrer Perspektive einzelne Ausstellungsobjekte.

TEXT: CAROLINE VOGT, KLASSE-REDAKTION; FOTO: ANJA JUNGNICKEL

Das Angebot umfasst den Eintritt in die Ausstellung inklusive Führung sowie die Teilnahme an einem Work-

shop und die Fahrtkostenübernahme für den Bustransfer. Jeder Schüler zahlt einen Eigenbeitrag von 5 Euro.

Buchungsformular zum Download unter: http://bit.ly/1HOeHOGWeitere Infos: www.luther.skd.museum

Junge Ausstellung: Luther und die Fürsten – Aufbruch in ein neues Zeitalter

�­­ Förderung

für sächsische

Schulklassen

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3 / 2015 3KLASSE

Liebe Leserinnen und Leser,

in unserer Titelgeschichte lernen Sie Florian kennen, der im Scheinwerferlicht für seinen ersten Auftritt als Zauberer in einer Zirkusmanege probt. Eine Projektwoche der Grundschule Niederlößnitz macht ihn und seine Mitschüler zu Akrobaten, Seiltänzern und Jongleuren. Was für eine Herausforderung für die Kinder!

Dass Florian geistig behindert ist, ist für seine Mitschüler kein Thema mehr. Er gehört dazu. Sein Besuch der Grundschule Nie-derlößnitz ist Teil des Schulversuchs »ERINA«. Seit drei Jahren werden so im Freistaat Sachsen an 26 verschiedenen Schulstand-orten Erfahrungen mit inklusivem Unterricht gesammelt. Als ein Schwerpunkt des Schulversuchs gilt der lernzieldifferente Unterricht. Denn was bisher rechtlich nicht möglich ist, soll das neue Schulgesetz realisieren: den lernzieldifferenten Unterricht an weiterführenden Schulen.

Beim Thema Inklusion setzen wir auf die Vielfalt der Förderor-te. Im Mittelpunkt aller Entscheidungen muss immer das Kinds-wohl stehen. Ob dies der Fall ist, kann nur im Einzelfall beurteilt werden. So unterschiedlich die Art der Behinderung ausfallen kann, so vielfältig müssen auch die schulischen Förderorte sein. Eine solche Vielfalt schafft Wahlmöglichkeiten für Eltern und Schüler. Folglich wird die Förderschule weiterhin Bestand haben.

Inklusion ist ein Anspruch, dem sich die Lehrerinnen und Lehrer stellen. In unserer Titelgeschichte bringt das Mirko Israel, Lehrer

an der Oberschule Kötzschenbroda, zum Ausdruck. Er ist über-zeugt, dass sich mit dem lernzieldifferenten Lernen die Qualität des eigenen Unterrichts verbessert. Demnach kann Inklusion zur Unterrichtsentwicklung an den Schulen beitragen. Ohne Zweifel ist das Ziel, mehr Kinder mit und ohne Handicap gemeinsam zu unterrichten, erstrebenswert.

Brunhild Kurth Sächsische Staatsministerin für Kultus

Inhalt Meldungen – Seite 4

Aus Lehrersicht – Seite 5 Lehrer Dirk Jentsch führt im Netz ein Online-Tagebuch

Titelgeschichte – Seite 6 Schulversuch ERINA: Inklusion an Sachsen Schulen

Aus Schülersicht – Seite 10/11 Schulwechsel: Zwei Schüler erzählen

Interview: Prof. Dr. Rolff – Seite 12 Von der Schul- zur Unterrichtsentwicklung

Recht und Ordnung – Seite 14 Handyverbot an Sachsens Schulen

Der KLASSE-Fragebogen – Seite 15 Robin Szolkowy, Eiskunstläufer

Impressum – Seite 4

»10

»06

E D I T O R I A L / I N H A LT

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3 / 20154 KLASSE

Alle Infos zum Spendenaufruf unter www.nepalfreiberg.de

IMPRESSUM Herausgeber: Sächsisches Staatsministerium für Kultus (SMK), Referat Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, Carolaplatz 1, 01097 Dresden | Redaktion: Anja Niemke (V. i. S. d. P. ), Telefon: (0351)564 25 11, E-Mail: [email protected], Twitter: www.twitter.com/bildung_sachsen; Nicole Kirchner, Peter Stawowy, stawowy media | Mitarbeit in dieser Ausgabe: Anja Niemke, Beate Diederichs, Sebastian Martin, Caroline Vogt | Fotos: Anja Jungnickel, Mike Hille- brand, Arvid Müller, Oliver Schaper, Daniel Scholz, Eléonore H. - Fotolia (S. 14), pico - Fotolia (S.15) | Gestaltung: stawowy media | Auflage: 40.000 Exemplare | Druck: Druckerei Vetters | Verteilerhinweis: Die Informationsschrift wird von der Sächsischen Staatsregierung im Rahmen der Öffentlichkeitsarbeit herausgegeben. Sie darf weder von Parteien noch von Wahlhelfern zum Zwecke der Wahlwerbung verwendet werden.

Am 25. April 2015 erschütterte ein schweres Erdbeben Nepal, am 12. Mai bebte dort wieder die Erde. Mitten im Epizentrum beider Beben das kleine Bergdorf Gati, der Partnerort der Schü-lerfirma »Namaste Nepal S-GmbH« vom Geschwister-Scholl-Gymnasium in Freiberg. 2005 haben Schüler des Gymnasiums die Schülerfirma gegründet, um mit finanziellen Mitteln das nepalesi-sche Bergdorf Gati und die umliegende Bergregion zu unterstützen. Durch die langjährige Partnerschaft hatten die Freiberger Schüler schon viel erreicht: Sie konnten u. a. das Schulgebäude erweitern, neue Lehrer einstellen, eine Schulbibliothek gründen, einen Kin-dergarten wiedereröffnen und beim Aufforstungsprogramm hel-fen. Durch verschiedene Aktionen wie Benefizveranstaltungen und den Verkauf von selbst geröstetem nepalesischem Kaffee sammelt die »Namaste Nepal S-GmbH« jährlich rund 50.000 Euro ein.

Nach den schweren Erdbeben stehen in Gati von insgesamt 112 Haushalten nur noch drei Häuser: der neue Kindergarten, ein Teil der neuen Schule und ein neues Ziegelhaus. Für die Freiberger ein gewaltiger Schock, denn über die vielen Jahren haben sich zwi-schen Freiberg und Gati viele Freundschaften entwickelt. Um ihrem Partnerort so schnell wie möglich beim Wiederaufbau zu helfen, starteten die Schüler die Spendenaktion »Erdbebenhilfe Nepal – jeder Euro zählt«. Erste Hilfstransporte mit Nahrungs-mitteln und medizinischer Versorgung sind bereits vor Ort an-gekommen. Doch für den Wiederaufbau des Bergdorfes braucht die »Namaste Nepal S-GmbH« weiter dringend Geld. Mit ihrem Aufruf möchte die Schülerfirma andere Schulen in Sachsen dazu ermuntern, ebenfalls Spenden für die Region zu sammeln.

E Hilfe für Gati: Schüler sammeln für Nepal

25 Jahre nach der Friedlichen Revolution und 25 Jahre nach der deutschen Einheit gibt es in Sachsen viele Projekte, die sich mit der politischen Wende 1989/1990 beschäftigen. So hat beispielsweise die Sächsische Landeszentrale für politische Bildung (SlpB) den Comic »Herbst der Entscheidung« im EPUB-Format veröffentlicht. Die Geschichte erzählt die Ereignisse um die Friedliche Revolution 1989 aus Sicht des 17-jährigen Leipzi-ger Abiturienten Daniel. Klickt man in der digitalen Version des Comics auf die Symbole innerhalb der Zeichnungen, gelangt man automatisch zu eingebetteten historischen Fotos, Dokumenten,

Videos und Tonaufnahmen aus dem Jahre ’89. Das EPUB-For-mat bietet auf diese Weise eine Menge zusätzlicher Informatio-nen und eröffnet jüngeren Lesern einen spielerischen Zugang zur Geschichte. Auch das Sächsische Kultusministerium (SMK) unterstützt dieses Jahr Schülerprojekte zur Deutschen Einheit. So fördert das SMK insgesamt 25 Schülerprojekte mit jeweils 1.000 Euro, die sich mit lokalen oder regionalen Ereignissen vor, während und nach der deutschen Wiedervereinigung auseinanderzusetzen.

E Projekte zur Deutschen Einheit

Von 2011 bis 2015 wurden an mehreren öffentlichen allgemeinbildenden Schulen in Sachsen verschiedene Projekte zum Thema »Un-terstützung des schulischen Qualitätsmanage-ments (QM)« durchgeführt. Diese wurden durch ESF-Mittel gefördert. Die neue SMK-Publika-tion »Schulisches Qualitätsmanagement in der Praxis« möchte nun die Projektergebnisse einem größeren Kreis von Interessierten zugänglich

machen. Die Broschüre wendet sich als Ratgeber vor allem an Schulleitungen – sowohl von Schu-len, die noch wenig praktische Erfahrungen mit QM-Prozessen haben, als auch von Schulen, die ihr Wissen erweitern wollen. Das Handbuch soll dazu beitragen, das Verständnis für die Ziele von Qualitätsmanagement zu vertiefen, und bietet viele Ansatzpunkte und lösungsorientierte Infor-mationen für die praktische Umsetzung.

E QM-Handbuch erschienen

Download »Herbst der Entscheidung«: www.slpb.de/herbst-der-entscheidungAndere Initiativen, die sich in Sachsen mit der Thematik beschäftigen, finden Sie unter: www.89-90.sachsen.de

Bestellung »Schulisches Qualitätsmanagement in der Praxis« und Download als pdf unter: https://publikationen.sachsen.de/bdb/artikel/23924

M E L D U N G E N

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Als Lehrer habe ich einen sehr abwechslungsreichen und kuriosen Be-rufsalltag. Ich bin in der Lage, meine Schüler mit dem Flüsterfuchs zur Ruhe zu bringen, kaufe 1.200 Streichhölzer, damit sie Drei- und Vierecke legen, oder erklä-re ihnen anhand zweier Badeenten mit integriertem Radio, wie sie den Empfang stören. Kurzum, ich mache Erfahrungen, die andere Menschen normalerweise nicht machen, und die möchte ich natürlich tei-len und Interessierten einen Einblick in die Arbeit geben.

Meinen Blog habe ich bereits in der Über-gangszeit zwischen Studium und Referen-dariat vorbereitet, denn ich habe schon während der ersten Praktika gemerkt, wie spannend der Alltag in der Schule sein kann. In erster Linie habe ich dann begon-nen alles aufzuschreiben, weil ich meine Erlebnisse und Gedanken reflektieren und für andere Referendare und Studieninter-essierte zugänglich machen wollte – eine

Art Supervision für mich mit Mehrwert für andere.

Als ich schließlich mein Referendariat be-gann, wurde dieser Drang noch stärker und die Themen vielfältiger. Welche Un-terrichtsmethoden sind für mich wirklich sinnvoll? Wie läuft ein Referendariat in Sachsen überhaupt ab? Wie viel kann man für einen Muffin auf dem Kuchenbasar verlangen? All das sind Themen, die Re-ferendare und junge Lehrer beschäftigen. Hinzu kommen auch rechtliche Fragen oder praktische Tipps, wie man etwa als Lehrender seinen USB-Stick verschlüsselt.

Viele Referendare haben außerdem Zwei-fel und sind unsicher, ob sie gute Lehrer werden – all das kenne ich natürlich aus eigener Erfahrung und da wollte ich als Blogger einfach Fragen beantworten, Ängste nehmen und Ratgeber sein.

Seit ich im Februar 2015 meine Stelle am

Gymnasium Dresden-Plauen angetreten habe, blogge ich nur noch gelegentlich. Obwohl mir das Schreiben leichtfällt, feile ich an einem Eintrag etwa drei Stunden. Viele Ideen landen aus Zeitmangel also erst mal in meiner Schublade. Ich samm-le Anekdoten und hoffe immer, dass mir auch Lehrer und Referendare aus meinem Umfeld und der Leserschaft Geschichten oder Zitate liefern, die ich verarbeiten kann. Ohnehin sind viele meiner Beiträge eine Mischung aus Erlebtem und Gehör-tem.

Die Leser reagieren durchweg positiv auf meinen Lehrerblog, auch wenn sie man-ches anders sehen oder erleben. Was meine Lehrerkollegen und Schüler angeht – sie gehören bisher noch nicht zur Leserschaft. Ich habe nämlich noch niemandem verra-ten, dass ich blogge. Spätestens durch diese KLASSE-Ausgabe werden sie es allerdings erfahren. Aber sie können ganz entspannt sein, Namen oder Fotos sind tabu.

AU S L E H R E R S I C H T

Zum MitlesenDirk Jentsch unterrichtet Mathe und Physik am

Gymnasium Plauen in Dresden. Über seinen

Schulalltag führt der 29-Jährige Online-Tage-

buch auf seinem Blog www.buntekreide.de.

PROTOKOLL: CAROLINE VOGT, KLASSE-REDAKTION;

FOTO: ARVID MÜLLER

Sie können KLASSE kostenlos abonnieren. Dazu genügt eine E-Mail mit Angabe Ihrer Adresse an [email protected]. Ansprechpartner für Ihre Hinweise, Meinungen und Themenvorschläge für die kommenden Ausgaben der KLASSE ist das Referat Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, Carolaplatz 1, 01097 Dresden; Telefon: (0351) 564 25 11; E-Mail: [email protected] (kein Zugang für elektronisch signierte sowie für verschlüsselte Dokumente).

Dirk Jentsch mag seinen manchmal kuriosen Job als Lehrer, deswegen bloggt er darüber.

AU S L E H R E R S I C H T

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Erfolgreich integriertEiner von uns! Der Freistaat stellt sich der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention. Im schulischen

Bereich setzt Sachsen auf die Vielfalt der Förderorte. Seit nunmehr drei Jahren wird inklusiver Unterricht

in dem Schulversuch »ERINA« erprobt. Von dem profitieren nicht nur Schüler wie Florian und Jonathan.

VON SEBASTIAN MARTIN, KLASSE-REDAKTION; FOTOS: MIKE HILLEBRAND

Die Klasse 6 der Oberschule Kötzschenbroda: Jonathan (1. Reihe links) lernt im Rahmen des Schulversuchs ERINA an der Oberschule gemeinsam mit nicht-behinderten Schülern.

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Florian kann es kaum erwarten. Er wird heute das Zaubern lernen, mit magischen Tricks wird er eine Tau-be in ein Kaninchen verwandeln. Doch zunächst wird der Einmarsch in die Manege geübt. Im Gleichschritt sollen die Kinder der Grundschule Niederlößnitz nacheinander in das Zirkuszelt einlaufen. »Die linke Hand hinter den Rücken le-gen und mit der rechten winken«, erklärt der Zirkusdirektor. »Und immer schön lächeln.« Die Schüler formieren sich. Ih-nen macht die Projektwoche sichtlich Spaß. Zwei Tage haben sie noch Zeit, im Scheinwerferlicht ihre Rollen zu proben. Dann ist Vorstellung. Als Akrobaten, Seiltänzer oder Jong-leure wollen sie das Publikum begeistern.

Florian hat sich entschieden, als Zauberer aufzutreten – für ihn ist das eine enorme Herausforderung, denn Florian ist geistig behindert. Es fällt ihm schwer, innerhalb weniger Tage so viele Dinge auf einmal zu lernen – also akkurat in die Manege einzumarschieren und dann auch noch die gelernten Zaubertricks zu beherrschen. Ohne Souffleuse werde es wohl kaum gehen, sagt Ines Pletsch. Die 48-Jährige beobachtet die Probe von der ersten Reihe aus.

Sie ist die Klassenlehrerin der 3a, in der neben Florian noch zwei weitere Kinder mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung lernen. An der Grundschule Niederlößnitz ist sie zudem für Integration zuständig. »Ich bin zu der Aufga-

be gekommen wie die Jungfrau zum Kind«, erzählt sie. Vor sechs Jahren habe sie sich weiterbilden lassen. Damals sei das erste geistig behinderte Kind an der Grundschule aufgenom-men worden. Heute lernen in der Bildungseinrichtung unter-halb der Radebeuler Weinberge viele Kinder, die körperliche Einschränkungen oder Defizite in der Entwicklung haben. Denn in dem ehrwürdigen Bau aus der Mitte des 19. Jahr-hunderts ist man überzeugt, dass sich Schüler wie Florian erfolgreich in den Regelunterricht integrieren lassen. Deshalb nimmt die Grundschule Niederlößnitz auch am Schulversuch ERINA teil. Das steht für »Erprobung von Ansätzen zur in-klusiven Beschulung von Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf in Modellregionen«.

Inklusion muss wachsen

Der vor drei Jahren vom Sächsischen Kultusministerium ge-startete Schulversuch ERINA ist eine Maßnahme, die UN-Behindertenrechtskonvention im schulischen Bereich umzu-setzen. Perspektivisch soll die grundsätzliche Möglichkeit des integrativen Unterrichtens von Schülern mit sonderpä-dagogischem Förderbedarf an allgemeinen Schulen in allen Schularten geschaffen werden. Dies gilt insbesondere für die lernzieldifferente Unterrichtung von Schülern mit sonder-pädagogischem Förderbedarf in den Förderschwerpunkten »Lernen« und »geistige Entwicklung« an weiterführenden

Schulen. Kinder wie Florian, die geistig behindert sind, kön-nen bereits jetzt an Grundschulen integriert werden, doch spätestens ab der fünften Klasse lernen viele von ihnen an einer Förderschule. Das wünscht sich eine Reihe von Eltern anders. Deshalb startete der Freistaat den Schulversuch. Das Ziel sei, den gemeinsamen Unterricht von behinderten und nicht-behinderten Schülern zu verbessern und Möglichkeiten der lernzieldifferenten Unterrichtung – vor allem in der Se-kundarstufe I – zu entwickeln und zu erproben, heißt es aus dem Kultusministerium in Dresden. Dafür werden an ausge-wählten Standorten Schüler mit sonderpädagogischem För-derbedarf in Regelschulen integriert. Für geistig behinderte und lernbehinderte Kinder werden zudem lernzieldifferente Bildungsangebote umgesetzt.

Die Grundschule Niederlößnitz arbeitet eng mit der Förder-schule Anne Frank zusammen. Mit dieser bildet sie soge-nannte Kooperationsklassen, in denen jeweils zwei bis drei Förderschüler gemeinsam mit nicht-behinderten Schülern unterrichtet werden. In einer dieser Klassen lernt Florian – ein offener und herzlicher Junge. Wer ihn im Zirkuszelt be-obachtet, der bemerkt schnell, dass er gern und viel lacht. Das Lernen und soziale Miteinander erleichtert ihm und den anderen die Sonderpädagogin Belkis Lorenz. Sie hilft mit ge-eigneten Methoden, den Lehrstoff der Regelschule auf die in-dividuellen Bedürfnisse der behinderten Kinder anzupassen.

Einmal die Woche setzt sie sich mit den Kollegen der Grund-schule zusammen, um den Wissensstand von Florian und anderen Förderschülern zu analysieren, deren Förderpläne fortzuschreiben und die Aufgaben für die nächsten Tage mit vorzubereiten. Außerdem ist sie im Unterricht mit dabei. Den unterstützen auch Inklusionsbegleiter, die an ausgewählten Schulversuchsschulen eingesetzt werden, sowie zeitweise In-tegrationshelfer, die auf Antrag der Eltern das Sozial- oder Jugendamt finanziert.

»Der Vorteil gegenüber der Einzelintegration ist, dass in den Kooperationsklassen immer mindestens zwei Lehrer unter-richten und dadurch besser auf die individuellen Bedürfnisse der Kinder eingehen können«, sagt Cornelia Schuricht von der Landesarbeitsstelle Schule-Jugendhilfe e. V., die die Pro-jektleitung des Schulversuchs übernimmt. Die Diplom-Päda-gogin ist von einem lernzieldifferenten Unterricht fest über-zeugt. »Es gibt ohnehin keine Homogenität in den Klassen. Die kognitiven Leistungen sind sehr verschieden«, sagt sie. Deshalb müsse man die Schüler auch individuell fördern.

Das werden die meisten Lehrer zwischen Görlitz und Plauen ähnlich sehen. Denn während manche Kinder bei der Ein-schulung schon lesen und schreiben können, haben andere Probleme, einen Stift zu halten. Und die Unterschiede setzen sich im Lauf der Jahre fort. Der eine braucht mehr, der ande-

Die Klasse 6 der Oberschule Kötzschenbroda: Jonathan (1. Reihe links) lernt im Rahmen des Schulversuchs ERINA an der Oberschule gemeinsam mit nicht-behinderten Schülern.

»INKLUSION IST EINE GESAMTGESELLSCHAFTLICHE AUFGABE, NICHT NUR IM BILDUNGSBEREICH.«

CORNELIA SCHURICHT, LANDESARBEITSSTELLE SCHULE-JUGENDHILFE E.V.

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3 / 20158 KLASSE

re weniger Unterstützung. Da könne man doch auch Schüler wie Florian in den Un-terricht integrieren, sagt Ines Pletsch von der Grundschule Niederlößnitz, während im Zirkuszelt eine Fanfare ertönt und die Kinder in einer Reihe winkend in die Ma-nege einmarschieren. »Und immer schön lächeln.«

Bedenken bei den Lehrern

Trotz der ohnehin großen Heterogeni-tät tun sich manche Lehrer schwer, sich für einen lernzieldifferenten Unterricht zu begeistern und sich dem Anspruch zu stellen, möglichst jeden Schüler immer wieder neu auf seinem Leistungsniveau abzuholen. Kein Wunder. Der Zeitauf-wand für die Stundenvorbereitung steigt. Die Aufgaben zu jedem Thema müssen auf die individuellen Bedürfnisse ange-passt werden. »Das Problem ist, dass die Lehrer viel selbst recherchieren und häu-fig noch eigene Materialien entwickeln müssen«, sagt Cornelia Schuricht von der Landesarbeitsstelle. Daher werden Fort-bildungen angeboten, um die Pädagogen weiter zu qualifizieren. Mit dem Schul-versuch ERINA sollen zudem regionale Netzwerke und Kooperationsstrukturen aufgebaut werden.

Auch in der Grundschule Niederlößnitz konnte das Kollegium nur mit viel Mühe begeistert werden, am Schulversuch ERINA teilzunehmen. Mit einer Stimme Mehrheit hat die Lehrerkonferenz zuge-stimmt. »Die Lehrer haben Bedenken«, sagt Schulleiterin Silke Huge. »Sie haben Angst, dass sie mit dem Aufwand allein-gelassen werden.« Aus heutiger Sicht war diese Angst größtenteils unbegründet. Mit zusätzlichen Ressourcen werden die beteiligten Schulen unterstützt. Die zu-ständigen Lehrer erhalten Freiräume, um Fortbildungen zu besuchen, Absprachen zu treffen sowie Entwicklungsberichte und Förderpläne zu erarbeiten. Außerdem gibt es Gelder, um beispielsweise Förder-zimmer einzurichten. An der Grundschule Niederlößnitz entstand so ein Raum mit Arbeitsmitteln, die den handlungsorien-tierten Unterricht unterstützen. In den können sich Kinder mit Konzentrations-schwierigkeiten zurückziehen oder in Kleingruppen die Fein- und Grobmoto-rik trainieren. »Inklusion geht nicht zum Nulltarif«, sagt Silke Huge.

Aber es gibt noch andere Ängste. Man-chen Lehrern fällt es schwer, ihren Unter-richt zu öffnen, im Team zu arbeiten und

neue Methoden auszuprobieren. Denn Inklusion bedeutet auch, neben Frontal-unterricht andere Unterrichtsformen zu praktizieren. Der Lehrer wird stärker zum Begleiter. Er betreut die Schüler beim Lösen der auf sie individuell an-gepassten Aufgaben. Er hilft ihnen, ihr Wissen zunehmend selbst zu erarbeiten. Das stärkt die Leistungsbereitschaft und fördert die Bereitschaft zum lebenslangen Lernen. Die Schüler profitieren in den of-fenen Unterrichtsformen aber nicht nur von der individuelleren Betreuung. Sie sollen sich auch gegenseitig helfen und so ihr Wissen vertiefen.

Für Erhalt der Förderschulen

In der Kooperationsklasse von Florian funktioniert das Prinzip schon gut, wie man bei der Projektwoche im Zirkuszelt beobachten kann. Denn Florian und die

anderen Förderschüler sind bestens inte-griert und werden von den anderen lie-bevoll unterstützt – auch bei der Probe für den großen Auftritt, bei der sie gera-de den Einmarsch in die Manege üben. Während der geistig behinderte Junge als größtes Kind der Gruppe winkend vorneweg durchs Zirkuszelt läuft, geht hinter ihm ein Mitschüler, der ihm not-falls sagen würde, was zu machen ist, er-klärt Lehrerin Ines Pletsch. Doch Florian braucht diesmal keine Hilfe. Souverän dreht er die Begrüßungsrunde durch die Manege. Auch der Zirkusdirektor ist zu-frieden. »Bravo.«

Im übernächsten Schuljahr wird der Drittklässler vielleicht an die Oberschule Kötzschenbroda wechseln, die ebenfalls am Schulversuch ERINA teilnimmt. Für Florian hätte ein Wechsel in die zehn Mi-nuten zu Fuß entfernte Einrichtung Vor-teile. Er könnte den Großteil seines sozia-len Umfeldes behalten. Das würde seiner Entwicklung helfen, sagt Ines Pletsch. In anderen Fällen rät sie aber durchaus dazu, dass Kinder mit geistigen oder an-deren Einschränkungen ausschließlich von Sonderpädagogen unterrichtet wer-den. Nicht jeder Schüler könne an allge-meinen Schulen integriert werden, sagt sie. Deshalb plädiert sie dafür, dass die Förderschulen erhalten bleiben.

Damit Florian an der Oberschule Kötz-schenbroda von Anfang an richtig inte-griert und gefördert wird, nehmen Ines Pletsch und andere bald Kontakt mit den dortigen Kollegen auf. Sie werden ihnen die Entwicklungsberichte und Förderplä-ne vorlegen. Und sie werden dafür wer-ben, dass Florian mit seinen Freunden in eine fünfte Klasse kommt – so wie Jonathan vor einem Jahr, der heute mit anderen in einem Gruppenraum sitzt und Englisch paukt. Von seinem Klassenleh-rer wird der ebenfalls geistig behinderte Junge nur liebevoll Joni genannt. »Joni unterscheidet sich von den anderen Jungs in der sechsten Klasse eigentlich nur da-durch, dass er sich noch nicht für Mäd-chen interessiert«, sagt Mirko Israel. Er mache gute Lernfortschritte und helfe teilweise sogar den Schülern ohne För-derbedarf – zum Beispiel beim Theater-spielen. »Wenn Joni dabei ist, kommt im-mer etwas Gutes heraus.« Der 35-Jährige traut Joni eine Menge zu für die Zukunft – auch im Hinblick auf das spätere Be-rufsleben, für das der Junge später einmal an der Oberschule besonders vorbereitet werden soll. Auch Mirko Israel ist daher

»INKLUSION GEHT NICHT

ZUM NULLTARIF.« SILKE HUGE, SCHULLEITERIN

GRUNDSCHULE NIEDERLÖSSNITZ

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vom Konzept überzeugt. »Inklusion ist nicht nur eine Belastung, sondern auch eine Entlastung. Denn mit allen Kindern das Gleiche zu machen, ist ein wesentlich größerer Kraftakt. Außerdem verbessert sich die Qualität des Unterrichts«, sagt er.

Inklusion transparent erklären

Davon hat die Oberschule Kötzschenbro-da inzwischen auch viele Eltern überzeu-gen können. Denn anfangs gab es mehr kritische Stimmen. Sie befürchteten ei-nen Leistungsabfall der Kinder. Wichtig sei, dass man rechtzeitig mit den Eltern spricht und ihnen das Konzept transpa-rent darstellt, sagt Schulleiterin Antje Ambos. Weit vor der Aufnahme der künf-tigen fünften Klassen lädt sie deshalb die Eltern ein, um ihnen die Arbeit der Schu-le zu erklären. Sie zeigt ihnen dabei auch die nach Leistungsniveau gestaffelten Wochenaufgaben – mit Erfolg. Erstmals kann die Oberschule Kötzschenbroda im September nicht alle für die fünfte Klas-se angemeldeten Kinder aufnehmen, weil die zweizügige Einrichtung zu wenig Platz hat.

Ähnliches berichtet Stefan Kolke von der Universität Leipzig, die den Schulversuch ERINA wissenschaftlich begleitet. Im Fo-kus der Forscher stehen dabei die Ober-schulen. Die bisherigen Ergebnisse von Tests belegen, dass sich die Leistungen

der Oberschüler verbessern – vor allem beim Lesen, Schreiben und in der emotio-nal-sozialen Entwicklung. »Das von eini-gen Eltern und Lehrern gefürchtete Ein-brechen der Leistungen können wir auf Grundlage unserer Ergebnisse nicht be-obachten«, sagt Stefan Kolke. Drei Viertel der befragten Eltern würden sich vielmehr mit der Gesamtentwicklung ihres Kindes bezogen auf die Fächer Deutsch und Ma-thematik zufrieden zeigen. Das gelte auch für das Wohlbefinden und die soziale, emotionale Situation sowie die Motivati-on. Die Forscher beobachten zudem, dass mehr als die Hälfte der Eltern der Inklu-sion aufgeschlossen gegenüberstehen. »56 Prozent der von uns befragten Eltern gehen davon aus, dass der integrative Unterricht sowohl Kindern mit als auch ohne sonderpädagogischen Förderbedarf zugute kommt«, sagt der Erziehungswis-senschaftler.

Ausbildung muss sich anpassen

Stefan Kolke weist aber auch auf Defizite hin, die der Freistaat angehen muss. Die Lehrkräfte der Oberschulen bräuchten mehr Unterstützung bei der Unterrichts-vorbereitung, sagt er. Sie seien dazu an-gehalten, eigenaktiv und mit externer Beratung gute Unterrichtskonzepte zu entwickeln und zu erproben. Auch die Vernetzung der an der Inklusion beteilig-ten Einrichtungen und Personen sowie die

Verteilung der vorhandenen Ressourcen könnten besser sein. Die Forscher monie-ren zudem die universitäre Ausbildung. Die müsse weiter optimiert werden, um den Anforderungen der Inklusion an all-gemeinen Schulen gerecht zu werden. Vor allem in den Fachdidaktiken seien ent-sprechende Anstrengungen nötig, fordern die Wissenschaftler. Cornelia Schuricht von der Landesarbeitsstelle Schule-Ju-gendhilfe spricht zudem von Herausfor-derungen bei der Schülerbeförderung und hohen Kosten für die Integrationshelfer, die nach Antrag der Eltern vom Sozial- oder Jugendamt finanziert werden und die Förderschüler stundenweise begleiten. »Inklusion ist eine gesamtgesellschaft-liche Aufgabe, nicht nur im Bildungsbe-reich«, sagt sie.

In der Manege lernt der geistig behinderte Florian unterdessen bereits das Zaubern vom Zirkusdirektor. Und das ziemlich schnell. Innerhalb weniger Sekunden ver-wandelt er die im Käfig sitzende Taube in ein Kaninchen. Wie er das gemacht hat, bleibt sein Geheimnis. Auch die anderen Kinder sind fasziniert. In zwei Tagen ist es hoffentlich auch das Publikum bei der Vorstellung, mit der die Projektwoche der Grundschule Niederlößnitz enden wird.

Florian (2. v. l.) probt zusammen mit seinem Schulfreunden für das große Zirkusprojekt. In der Grundschule Niederlößnitz besucht er eine Kooperationsklasse.

Informationen zum Schulversuch »ERINA« unter: www.schule.sachsen.de/15591.htm

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3 / 201510 KLASSE

Eine E-Mail von Klassenlehrerin Hannelore Kaltofen führte drei Wochen vor den Winterferien dazu, dass Familie Werterbach entschied: Lilly würde ihre derzeitige Schule, das Gymnasium Dres-den-Plauen, verlassen und die Oberschule besuchen. »Es wackelt mächtig!«, hatte die Lehrerin an Ramona und Lutz Werter-bach geschrieben.

»Lilly fielen die guten Zensuren nie in den Schoß. In den vergangenen Jahren konnte sie das noch durch Fleiß kompensieren«, sagt Hannelore Kaltofen. Doch seit Be-ginn der achten Klasse schaffte das Mäd-chen kaum noch gute Noten, dafür gab es Vieren und Fünfen, vor allem in Mathe und Physik, den beiden Fächern, die der 14-Jährigen am schwersten fallen. »Wir beschlossen dann gemeinsam, dass unsere Tochter auf die Oberschule wechseln wird, entweder nach den Ferien oder zum neuen Schuljahr«, berichtet Ramona Werterbach. Die Eltern fragten bei Oberschulen in den benachbarten Stadtvierteln an, ob sie ei-nen Platz für Lilly frei hätten. Schon beim

zweiten Versuch hatten sie Glück: Der Leiter der 35. Oberschule in Dresden-Löbtau erklärte sich bereit, das Mädchen schon nach den Winterferien aufzuneh-men.

Während der Ferien war Lilly gespannt, was in der neuen Schule auf sie zukommen würde. »Am ersten Morgen saßen ich und ein weiterer Schüler, der auch vom Gym-nasium gekommen war, erst einmal allein mitten in der Klasse. Doch als diese nach einer Stunde in kleinere Gruppen geteilt wurde, kam ich schnell mit meinen Klas-senkameraden ins Gespräch«, erzählt Lil-ly. »Dass unsere Tochter nach der ganzen Aufregung am ersten Tag fast jubelnd nach Hause kam, hat uns sehr erleichtert«, sagt Lutz Werterbach.

Auch jetzt, einige Monate später, fühlt sich Lilly in ihrer neuen Umgebung immer noch wohl. »Die Lehrer vermitteln den Stoff langsamer: Was im Gymnasium an einem Tag gelehrt wurde, dafür braucht die Oberschule zwei Tage. Früher gingen

wir die Themen so schnell durch, dass ich es kaum schaffte, sie mit dem Stoff zu ver-knüpfen, den ich bereits beherrschte, oder das Gelernte anzuwenden. Das ist hier anders«, sagt Lilly. Da die Noten, die sie vom Gymnasium mitgebracht hat, an der Oberschule nicht gewertet werden, hat sie sich jetzt in ihrem Sorgenfach Mathe von Sechs auf Drei verbessert. Auch in anderen Fächern schreibt sie Dreien, Zweien, sogar Einsen.

Das heißt nicht, dass nun alles perfekt ist. Lillys neue Mitschüler sind zu ihr nett, aber manche stören den Unterricht, vor allem in Fächern, die einem Großteil oh-nehin schwerfallen – etwas, was Lilly vom Gymnasium weniger kannte. Auch an der neuen Schule fällt Unterricht aus. Den-noch überwiegt das Positive. Lilly möch-te an ihrer 35. Oberschule in zwei Jahren einen guten Realschulabschluss machen. Was danach kommt, Ausbildung oder viel-leicht doch Abitur, darüber denkt sie noch nicht nach.

Von sechs auf dreiLilly wechselte im Februar vom Gymnasium auf die Oberschule. Hier hat sie sich in den meisten Fächern um mindes-

tens eine Note verbessert. Das Unterrichtstempo an der Oberschule gibt ihr Zeit, den Stoff gründlich zu durchdenken.

TEXT: BEATE DIEDERICHS, KLASSE-REDAKTION; FOTO: ARVID MÜLLER

Lilly wechselte vom Gymnasium auf die Oberschule.

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Die stabile Entwicklung der schulischen Leistungen gepaart mit dem Gefühl von Unterforderung sind gute Gründe, von der Mittelschule an ein Gymnasium zu wechseln. Genau das ha-ben sich auch Michelle und ihre Familie gedacht, als sie zum Schuljahr 2011/2012 ans Gymnasium Bühlau wechselte. Die Schulleiterin Sylvia Sobieraj führte damals die Vorgespräche mit allen Beteiligten und erinnert sich noch gut daran.

Viele Eltern haben die Befürchtung, dass der Wechsel ihr Kind überfordert und die schulischen Anforderungen am Gymnasi-um doch zu hoch sind. So war es auch bei Michelle. »Die zentrale Frage der Fami-lie war: Schafft unser Kind den erneuten Schulwechsel? Ich war jedoch positiv ein-gestellt, ganz nach dem Motto: Bildungs-chancen sind Lebenschancen. Die Bil-dungsempfehlung steht zunächst nur auf dem Papier, nutzen müssen sie die Schüler selbst. Wenn das Kind den Wechsel aber

wirklich will, kann eigentlich nichts schief-gehen und ich kann die Entscheidung nur bekräftigen«, erklärt die Schulleiterin.

Michelle war sich absolut sicher mit dem Wechsel und Sylvia Sobieraj musste nur noch die passende Klasse aussuchen.

Bei der Wahl hat sie sich auf ihre Erfah-rung und auf den Wunsch von Michelle verlassen. »Ich kannte bereits einige aus der Grundschule und das hat mir ein si-cheres Gefühl gegeben«, erinnert sich die 15-Jährige.

Dennoch gab es kleine Startschwierig-keiten. »Ich war natürlich sehr aufgeregt und musste mich erst im neuen, großen Schulgebäude zurechtfinden. Zum Glück kannten sich ja meine Mitschüler aus und haben mir alles erklärt – das hat geholfen.

Schwieriger war der Unterrichtssoff. Ma-the und Englisch haben sich als Problem-

fächer entpuppt, meine Leistungen sind abgefallen. An der Mittelschule hatte ich stets Einsen und Zweien und plötzlich kam der Umschwung.«

Der Schultag am Gymnasium ist nicht nur länger, der Unterrichtsstoff wird auch viel-mehr vertieft. Um das Versäumte aufzuho-len, hat Michelle Nachhilfe in Anspruch genommen. »Mir hat zunächst eine ältere Schülerin geholfen, den Unterrichtsstoff aus Klasse 5 nachzuholen. Später habe ich private Nachhilfe in Englisch bekommen«, sagt sie.

Dass sich die Mühe gelohnt hat, zeigt sich heute. Michelle ist in der neunten Klasse, ihre Noten sind gut und sie belegt sogar das sprachliche Profil mit Spanisch, neben Französisch und Englisch. Ihr nächstes Ziel ist das Abitur. Ob sie danach studie-ren oder eine Ausbildung machen wird, hält sie sich offen.

Michelle war sich sicherMichelle ist 15 und besucht die neunte Klasse am Gymnasium

Dresden-Bühlau. Erst in Klasse 6 wechselte sie von der Mittelschule

Weißig ans Gymnasium. Der Neustart war holprig und zunächst

geprägt von Zweifeln. Bereut hat sie diesen Schritt aber nie.

TEXT: CAROLINE VOGT, KLASSE-REDAKTION; FOTO: DANIEL SCHOLZ

Stichwort: Bildungsempfehlung Sächsische Schüler der vierten sowie Oberschü-ler der sechsten Klasse erhalten eine Bildungs-empfehlung, eine Art Kompass für die weitere Schullaufbahn. Im Schuljahr 2014/15 bekamen 47 Prozent von insgesamt 28.300 Grundschülern

eine Empfehlung für das Gymnasium. Grund-lage dafür ist der Notendurchschnitt in den Fächern Deutsch, Mathe und Sachkunde sowie ein Beratungsgespräch mit den Eltern. Das Bil-dungssystem ist durchlässig – Schulartenwechsel von der Oberschule ans Gymnasium und umge-

kehrt sind möglich.Auch alle 15.200 Sechstklässler der Oberschu-len haben im laufenden Schuljahr eine verpflich-tende Bildungsempfehlung erhalten – für ca. 10 Prozent gab es eine Empfehlung für das Gym-nasium.

Michelle wechselte in der 6. Klasse auf das Gymnasium.

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»Vom Schulleiter hängt es ab« Schulforscher Prof. Dr. Hans-Günter Rolff über erfolgreiche Schule und die Bedeutung von Schulstudien.

INTERVIEW: NICOLE KIRCHNER, KLASSE-REDAKTION, FOTO: OLIVER SCHAPER

E Was macht eine erfolgreiche Schule aus?

Eine erfolgreiche Schule ist eine Einrichtung, in der es fördernde und fordernde Lerngelegenheiten für alle Schülerinnen und Schü-ler gibt. Ich beziehe mich bewusst nicht auf Unterricht. Unterricht ist ein notwendiges Mittel, um zu gutem Lernen zu kommen, und gutes Lernen ist das letzte Ziel. Lehrpersonen schaffen also gute Lerngelegenheiten und sie brauchen Gelegenheiten, um sel-ber weiter lernen zu können. Außerdem müssen sich Schüler und Lehrpersonen an der Schule wohlfühlen. Das ist ein wichtiger Er-folgsfaktor: In einer Schule, in der Schüler sich nicht wohlfühlen, können sie sich auch nicht für das Lernen begeistern und dann wird es auch keine guten Lernergebnisse geben.

E Sie haben vor einiger Zeit im Rahmen einer Studie herausge-arbeitet, was wichtige Wohlfühlfaktoren in einer Schule sind. Welche sind das?

Wohlfühlen in der Schule hat wesentlich mit der Schulleitung zu tun. Wir sind durch die Studie auf ein Konzept »salutogener

Leitung« gekommen. Salutogen ist das Ge-genteil von patho-gen. Ich wundere mich sowieso,

warum »Kran-kenhäuser«

nicht

»Gesundheitshäuser« heißen. Das kann man auch auf Schulen übertragen. Die Schule darf kein Krankenhaus sein, sondern muss eine Einrichtung sein, in der es um Gesundheit geht. Und diese kann, das geht aus unserer Studie hervor, durch drei Faktoren ge-fördert werden:

Erstens: Verständlichkeit. Das heißt, dass Dinge, die in der Schule passieren oder die Ministerien erwarten, verstanden werden – in ihrem Sinn und Zusammenhang. Der zweite Faktor ist Machbar-keit: dass klar wird, was man machen kann und was nicht. Die Forschung sagt, zwei bis drei Dinge kann man schwerpunktmäßig im Jahr weiterentwickeln. Mehr ist meist nicht machbar. Der drit-te Faktor ist Bedeutsamkeit. Es muss klar sein, wie wichtig Schule geworden ist. Nicht nur als Standortfaktor für die Qualifizierung von Arbeitskräften. Was Schulen machen, hat viel mit persönlicher und gesellschaftlicher Entwicklung zu tun.

E Was genau muss verständlicher gemacht werden?

Die Politik und die Ministerien laden den Schulen häufig Dinge auf, die den Schulen gar nicht plausibel sind, weil sie andere oder auch keine Vorerfahrungen damit haben. Deshalb müsste die Um-setzung viel prozesshafter erfolgen. Also nach und nach anlaufen und nicht mit einem Schlag angeordnet werden, ohne die Beteilig-ten mit einzubeziehen.

Beispiel PISA: Alle wundern sich darüber – und die Forschung zeigt, dass die Schulen wenig aus den Ergebnissen machen. Es ist nicht verständlich, was mit den vielen Zahlen, die den Schulen über den Zaun geworfen werden, geschehen soll.

E Wie könnte das geändert werden? Worauf müsste denn der Fokus beispielsweise bei der Schulentwicklung gelegt werden?

Auf die Unterrichtsentwicklung, weil Unterricht der Kern der Schularbeit ist. Das ultimative Ziel ist, wie ge-sagt, das Lernen, das Dazulernen der Schülerinnen und Schüler und zunehmend auch der Lehrer und Lehre-rinnen, weil es so viel Neues in der Schule gibt. Lernen durch Unterricht zum Fokus zu machen, das passiert seit einigen Jahren. Da hat PISA auch ein Verdienst. In

Prof. Dr. Hans-Günter Rolff ist Gründer und emerititer Professor am Institut für Schulentwicklungs-forschung (IFS) der TU-Dortmund sowie Gründer und Akademieratsvorsitzender der Deutschen Akademie für Pädagogische Führungskräfte (DAPF) in Dort-mund. Seine Schwerpunkte: Schulentwicklungsfor-schung und Schulentwicklung.

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den Jahren davor war Schulentwicklung mehr oder weniger nur Organisationsentwicklung.

Internationale Studien sagen, dass in Deutschland der fragend-entwickelnde Unterricht vorherrscht. Es gibt Leute, die darüber lästern. Die sagen, das ist »Osterhasenpädagogik«: Da werden irgendwo Eier, also die richtigen Lösungen, versteckt und die Schülerinnen und Schüler werden durch Fragen auf einen Pfad gebracht, der zum Osterei führt. Dagegen ist modernes Lernen schüleraktivierendes Lernen, kognitiv-aktivierendes Lernen. Zum Lernen gehören aber auch Lust und Frust, also Emotionen, sowie Haltungen und Werte, also letztlich die Entwicklung gebildeter Persönlichkeiten.

Es gibt noch einen weiteren Punkt, der bei erfolgreicher Schul-entwicklung stärker beachtet werden müsste: Der hat mit Ganz-heitlichkeit zu tun. Wir nennen das holistische Schul- und Unter-richtsentwicklung – letztlich Entwicklung und Ermöglichung von Lerngelegenheiten. Finnland ist ja viermal PISA-Sieger geworden. Und Finnland macht all das, was wir auch machen. Aber sie ma-chen es anders: Sie bringen es in einen Gesamtzusammenhang. In Deutschland läuft vieles sehr fragmentiert, sehr isoliert.

Ein kleines Beispiel: Man weiß, auch aus der vielzitierten Lehrer-studie von Hattie, dass Feedback einen großen Einfluss auf die Lernleistung der Schülerinnen und Schüler hat. Das gilt auch für Hospitationen von Lehrern: Lehrer besuchen sich gegenseitig im Unterricht und ge-ben sich ein Feed-back über die Lern-prozessgestaltung, z. B. zum Kooperati-ven Lernen. Aber In-novationen werden nicht aufeinander bezogen, sie bleiben isoliert voneinander.

E Es gibt sehr viele Studien zum Thema Schule. Lernen wir nicht genug aus diesen Studien?

Die meisten Studien sind ja nur Zustandsbeschreibungen. So auf-wendig und teuer, wie PISA gemacht ist: PISA liefert nur Daten über den Ist-Zustand und sagt nicht, warum die Leistungen in Deutschland im Lesen in den letzten Jahren wenig, aber in den Na-turwissenschaften und Mathematik deutlich mehr gestiegen sind. Niemand weiß, woran das liegt, weil man keine Kontrollgruppen und kein Experimental-Design hat und vielleicht auch gar nicht haben kann.

Was zu tun ist, ist ja auch in jeder Schule abhängig von der Aus-gangssituation: Von der Zusammensetzung der Schüler und der Lehrerkollegen. Es ist auch viel vom Schulleiter abhängig. Man muss offensichtlich ganzheitliche Schulentwicklung betreiben, Entwicklungsschwerpunkte entwerfen, realisieren und diese eva-luativ begleiten. All das gibt uns Hinweise, wie wir Unterricht, Lernen und Schule insgesamt verbessern können. Im Ansatz pas-siert das auch über Landesinstitute, Universitäten und Stiftungen. Aber es passiert zu wenig.

Es kommen immer mehr große Aufgaben auf die Schulen zu. Die Schülergruppen werden immer heterogener – bei Inklusion noch

mehr. Deswegen brauchen wir vordringlich Unterrichtsentwick-lung zur Verbesserung der Lernsituation für heterogene Gruppen.

E Ist es für einen Lehrer heutzutage überhaupt noch leistbar, Schüler mit so unterschiedlichen Leistungsbereitschaften und Leis-tungsvermögen in einer Klasse gemeinsam zu unterrichten?

Ja, das zeigen viele Länder der Welt. Auch die prämiierten Schulen des Deutschen Schulpreises zeigen, dass es geht. Aber es geht nur mit viel Unterstützung. Beispielsweise durch Coaching, durch ko-operative Unterrichtsentwicklung und Schulentwicklungsbeglei-tung, was es ja auch alles gibt in Deutschland – aber, wie gesagt, zu wenig. Zum Beispiel haben die guten Schulen in der Schweiz und alle deutschen Auslandsschulen einen Verwaltungsleiter. Sol-che Personen können sehr gut die Schulleitung und zum Teil auch die Lehrer entlasten. In Finnland gibt es Assistenten für Lehrer, die Korrekturaufgaben und Ähnliches machen.

E Einige Studien zeigen, dass Sachsen in Tests besser abschneidet als andere Bundesländer. Sind die Lernbedingungen hier idealer? Sind wir da auf einem guten Weg?

Ganz klar antworten kann ich als Westdeutscher nicht. Aber plau-sible Hypothesen gibt es schon. Zum einen hat Sachsen nicht eine ganz so heterogene Schülerschaft wie etwa Nordrhein-Westfalen. Die Anteile von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshin-tergrund sind deutlich kleiner. Vielleicht wirken auch Haltungen

nach, die in der DDR entstanden sind, nämlich dass es vor allem Schulleistungen sind, die eine Karriere außerhalb der politischen Opportunität ermöglichen. Das Dritte ist das durchweg zweiglied-rige Schulsystem, das schwächere Schüler besser zu fördern ver-mag als das mehrgliedrige Schulsystem, das in Westdeutschland noch immer vorherrscht.

E Wie wichtig ist Schule geworden?

Immer wichtiger. Ich weiß gar nicht, welche Institution wichtiger wäre als die Schule. Und zwar deshalb, weil wir uns in die Wis-sensgesellschaft begeben und mit einem Bein schon drin sind. Wis-sen ist zum wichtigsten Produktivfaktor geworden. Die Grundlage für Wissen legt die Schule. Und da Wissen weltweit immer wichti-ger wird, wird auch die Schule immer wichtiger.

Wichtig ist die Schule auch im Bereich der Erziehung. Wo gibt es noch gemeinsame Erziehung? Wo gibt es noch Werteerziehung? Durch die globale Technologisierung verschwindet eine Wertbasis, die aus dem Lebenszusammenhang selbst entsteht. Der Lebens-zusammenhang wird ausgedünnt durch technologisches Wissen, durch technologische Beziehungs- und Ordnungssysteme. Also wird die Schule auch in der Sozialisationsfunktion, bei der es um Erziehung, Werte und Haltungen geht, immer wichtiger, als sie es sowieso schon war.

»WIR BRAUCHEN UNTERRICHTSENTWICKLUNG ZUR VERBESSERUNG DER LERNSITUATION FÜR HETEROGENE GRUPPEN.« HANS-GÜNTER ROLFF

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Handys nur in der unterrichtsfreien Zeit

»Unsere Schüler nutzen das Mobiltelefon so selbstverständlich, wie sie essen und trinken«, berichtet Stephan Lamm, Leiter des Chemnitzer Johannes-Kepler-Gymnasi-ums. »Wir müssen ihnen daher zeigen, dass es in der Schule Grenzen für den Umgang mit den Mobiltelefonen gibt.«. An seinem Gymnasium legt die Hausordnung fest, dass Handys nur in der unterrichtsfreien Zeit genutzt werden dürfen. In Ausnahme-fällen kann der Lehrer erlauben, dass die Schüler ihre Geräte im Unterricht einset-zen, zum Beispiel wenn in der Musikstunde Stimmen aufgenommen werden. Verstößt ein Schüler gegen diese Regeln, ermahnt ihn der Lehrer. »Für die seltenen Härtefäl-le haben wir gemeinsam mit dem Eltern-rat entschieden, dass der Betreffende sein Mobiltelefon abgeben muss und es später im Sekretariat abholt, gegebenenfalls auch mit seinen Eltern. Weigert sich der Schüler, das Gerät herauszugeben, muss er den Un-terricht verlassen und wird in mein Büro gebracht. Das wirkt«, sagt Stephan Lamm. Der Schulleiter findet es wichtig, alle Betei-ligten für dieses Thema zu sensibilisieren. »Unser Schülerrat hat sogar ein Handyver-bot auf dem Schulgelände vorgeschlagen, weil die Schülervertreter noch besser als wir Lehrer wissen, wie oft Handys bei-spielsweise auch benutzt werden, um Schü-ler und Lehrer unerlaubt zu filmen. Wir haben abgelehnt, weil wir die Kommuni-kation zwischen Schülern und Eltern nicht behindern wollen.« Um seine Schüler dazu zu bringen, ihre Handys überlegt zu nut-zen, plant er gemeinsam mit den Eltern ein Pilotprojekt: Er möchte mit einer 7. Klasse seiner Schule deren Handykonsum erforschen. Die TU Chem-nitz soll das wissen-schaftlich be-gleiten.

Keine Handys während der Schulzeit

Einen etwas strikteren Kurs fährt die Freie Waldorfschule Dresden. »Bei uns regelt die Hausordnung, dass Schüler während der Schulzeit keine elektronischen Ton-wiedergabegeräte und Handys benutzen dürfen. Diese sind während der Schul-zeit auszuschalten und in der Schultasche aufzubewahren«, sagt Holger Kehler, Ge-schäftsführer Schulbetrieb und Öffentlich-keitsarbeit. Die Schulentwicklungskonfe-renz, die aus Schulleitung und Vorstand des Vereins besteht, hat diese Regelung beschlossen. So ist sie allgemein akzeptiert. Es gibt Ausnahmen, bei denen vor allem Schüler der 12. und 13. Klassen im Auftrag der Schule mit dem Mobiltelefon arbeiten dürfen. Was zu tun ist, wenn Schüler ge-gen diese Festlegung verstoßen, entscheidet der entsprechende Lehrer. »Die Bandbrei-te der Sanktionen reicht von Abgabe des Gerätes und Rückgabe im Klassenzimmer bis dahin, dass Eltern es nach dem Ende des Schultages im Schulbüro abholen müs-sen«, zählt Holger Kehler auf.

Das Smartphone als Unterrichtsmittel

Das Berufliche Schulzentrum 7 in Leipzig hat sich entschlossen, gewissermaßen aus der Not der exzessiven Handynutzung der Schülerschaft eine Tugend zu machen. »Wir wollen das, was die Geräte können, mehr für unseren Unterricht nutzen«,

erläutert Uwe Schneider, der stellvertreten-de Schulleiter. An seiner Schule hat nach einer Erhebung nahezu jeder Schüler ein Smartphone. »Seit 2009 ist bei uns durch die Schulordnung festgeschrieben, dass alle Mobilgeräte im Unterricht verboten sind. Verstößt der Schüler dagegen, muss der Lehrer das ahnden. Und genau diese Grenzen testen 30 Prozent unserer Schü-ler gern aus. Hinweise helfen irgendwann nicht mehr, Ordnungsmaßnahmen kann man nur bedacht und angemessen einset-zen. Außerdem kostet all das wertvolle Un-terrichtszeit«, berichtet Schneider. So erar-beitet die Schule momentan einen Passus in der Hausordnung, der das Smartphone zum Unterrichtsmittel macht, das gezielt unter anderem für Recherchen eingesetzt wird. Selbst während Tests sollen die Schü-ler die Geräte nutzen, um beispielsweise Informationen zu finden, wenn der Leh-rer es steuert. »Unsere Lehrkräfte wollen wir weiterbilden und ihnen medienpäd-agogische Berater an die Seite stellen, da-mit sie möglichst auf dem neuesten Stand sind, was die Mobiltelefone betrifft«, sagt Schneider.

Rechtlicher Hintergrund: Eine rechtliche Vorgabe des Kultusministeriums, wie mit Mobiltelefonen im Unterricht und auf dem Schul-gelände umzugehen ist, gibt es nicht. Normalerweise regelt es die Hausordnung der jeweiligen Schule. Da diese durch die Schulkon- ferenz beschlossen wird, können alle Beteiligten mitbestimmen. Ein generelles Handyverbot kann problematisch sein, weil es in Eigen- tums- und Persönlichkeitsrechte eingreift, die grundgesetzlich geschützt sind. Dagegen kann es Sinn haben, per Hausordnung den Schü- lern zu verbieten, das Handy auf dem Schulgelände zu nutzen, ihnen jedoch zu erlauben, es ausgeschaltet in der Tasche zu tragen.

Streitpunkt HandyDie meisten Schüler an weiterführenden sächsischen Schulen besitzen ein Mobiltelefon, viele sogar ein

Smartphone. Nutzen sie dieses unerlaubt im Unterricht, kann das ablenken, stören oder Ergebnisse ver-

fälschen. Schulen müssen also möglichst verbindlich regeln, wann und wo Schüler Handys auf dem Schul-

gelände einsetzen dürfen. KLASSE stellt drei Beispiele vor. TEXT: BEATE DIEDERICHS, KLASSE-REDAKTION

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»Ich bin tiefenentspannt«Was macht einen guten Lehrer aus? Und einen guten Schüler? Mit dem KLASSE-Fragebogen bitten wir Bildungsträger und Prominente aus Sachsen, uns einen Einblick in ihre persönlichen Lernerfahrungen zu geben.

ANTWORTEN: ROBIN SZOLKOWY, EISKUNSTLÄUFER, CHEMNITZ

Als ich klein war, wollte ich Kosmonaut, Arzt oder Lokführer werden. Meine Eltern wollten, dass ich ein Studierter werde, wenn ich groß bin (beide sind Mediziner).

Als Schüler war ich gut in Mathe.

Heute bin ich gut in Lebenserfahrung.

Mein liebstes Schulfach war: Mathe, Physik.

Das Schulfach, das ich überhaupt nicht mochte, war: Deutsch, Englisch, Geographie.

Das hat mich in der Schule am meisten genervt: Schlechte Leistungen in einer Klausur – ich konnte es doch eigentlich.

Das hat mir an Schule am besten gefallen: Pausen und Wandertage.

Ein guter Lehrer: weiß seine Schüler im richtigen Maße zu fordern.

Ein guter Schüler: hat Spaß in der Schule – auch am Unterricht.

In meinem Leben will ich noch: Russisch lernen.

Am besten kann ich mich konzentrieren, wenn: der Tag zu Ende ist und es langsam Nacht wird.

Mein Lieblingsbildungsort ist: ein Gespräch mit meinen Freunden – da lerne ich am liebsten und am meisten.

Wenn ich meinen Beruf noch einmal wechseln würde, dann würde ich nichts anderes werden wollen.

Als Ausgleich zu meiner Arbeit schraube ich an meinem Motorrad herum – das entspannt mich.

Ich liebe an meinem Job, dass: ich mit vielen jungen Menschen und mit vielen neuen Ideen in Kontakt komme.

Ohne Handy und gute Laune verlasse ich nie das Haus.

Meine Kollegen/Freunde sagen von mir, dass ich: tiefenentspannt bin.

Robin Szolkowy, geboren 1979 in Greifswald, gewann als Paarläufer im Eiskunstlauf fünf Welt- und vier Europameisterschaf-ten. Gemeinsam mit seiner Eiskunstlaufpartnerin Aljo-na Savchenko holte er bei zwei Olympischen Spielen die Bronzemedaille. 2014 nach Sotschi beendete der Chemnitzer seine Karriere als Hochleistungssportler. Seitdem arbeitet er als Nach-wuchstrainer für das russische Eiskunstlaufteam. Außerdem ist er Koordinator für Paarlauf-Nachwuchsprojekte bei der deutschen Eislaufunion.

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