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JAHRESRÜCKBLICK 2017-18 KUNSTKREDIT BASEL-STADT

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JAHRESRÜCKBLICK

2017-18

KUNSTKREDIT

BASEL-STADT

KUNSTKREDIT BASEL-STADT 2017 – 18 JAHRESRÜCKBLICK

2

Vorwort4

Bildteil

auszeichnen

35

Werkbeiträge

initiieren

38

Performancepreis Schweiz

ermöglichen

46

Projektbeiträge

58

Personelles

vermitteln

48

Kunst im öffentlichen Raum 49

Kunst und Bau

52

Am Anfang war die KunstKunst-und-Bau-Projekt von Eric Hattan

im Foyer der St. Jakobshalle Basel von der Architektengemeinschaft

Degelo/Berrel Berrel KräutlerSibylle Ryser

40

Kommen wir zusammen?Ein Plädoyer für Uneinigkeiten und Unschärfen

in der PerformancekunstMarcel Bleuler

pflegen

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Sammlung

2

Der Jahresrückblick des Kunstkredits liegt vor – er erscheint zur Ausstellung in der Kunsthalle, die in diesem Jahr von Jean-Claude Freymond-Guth kuratiert wird. Die Ausstellung zeigt, wie das Geld, das letztes Jahr von der Kommission für Werkbeiträge gesprochen wurde, gearbeitet hat: Sie versammelt Werke von sieben Künstlerinnen und Künstlern, die 2017 mit Werkbeiträgen ausgezeichnet wurden. Der Jahresrückblick gibt darüber hinaus Auskunft über weitere Förder-massnahmen und über die Sammlungstätigkeit des Kunstkredits.

Der intensive Austausch in der Kunstkreditkommission über aktuelle künstlerische Tendenzen und kulturpolitische Themen hat den Kunst-kredit in den letzten Jahren stark vorangebracht. Eine Pionierrolle im nationalen Vergleich nimmt die Kunstkreditkommission beispiels- weise in der Diskussion um Künstlerhonorare ein. Bereits seit 2015 werden Projektförderanträge nur zugelassen, wenn sie im Budget ein Künstlerhonorar ausweisen. Mit dem Pilotprojekt Kunst im öffent-lichen Raum – Gundeli Plus erprobte der Kunstkredit, in Zusammen-arbeit mit der Kantons- und Stadtentwicklung und mit dem Bau- und Verkehrsdepartement, erstmals verschiedene Möglichkeiten des Ein- bezugs der Bevölkerung ins Juryverfahren. Dies blieb in der Öffentlich-keit nicht unbemerkt und führte teilweise zu Kritik, die sich an der Frage entzündete, wer die abschliessende Entscheidung trifft. Die Verordnung des Kunstkredits ist hier klar: Die letzte Verantwortung über die Vergabe der Fördergelder liegt bei der Kommission. Dass der Kunstkredit erstmals in seiner über 90-jährigen Geschichte die Bevölkerung zu Entwürfen für Kunst im öffentlichen Raum befragt hat, entsprang dem Anliegen, den städtischen Raum als einen Ort des Verhandelns von unterschiedlichen Meinungen, Setzungen und Stand-punkten ernst zu nehmen.

VORWORT

3

Am 13. Oktober 2018 wird die Verleihung des Performancepreises Schweiz in Basel stattfinden. Die Förderinitiative, die ursprünglich von Basel ausging und an der heute fünf Kantone und eine Stadt als Partner beteiligt sind, will die Wahrnehmung der Vielfalt und Qualität der Schweizer Performancekunst erhöhen. Der Kunstkredit Basel-Stadt ist dieses Jahr für die Durchführung der Wettbewerbs- veranstaltung zuständig. Wir freuen uns sehr, dass wir hierfür die Kaserne Basel und das Museum Tinguely als Partner gewinnen konn-ten. Um die Diskussion über aktuelle Ansätze der Performance, die in den letzten Jahren wieder sehr an Popularität gewonnen hat, anzu- regen, publizieren wir im vorliegenden Jahresrückblick einen Text des Kunstwissenschaftlers Marcel Bleuler. Er geht der provokanten Frage nach, ob Performance eine eigene Gattung sei, ein Medium oder vielmehr eine Methode.

Das vergangene Jahr brachte Veränderungen in der Leitung der Abteilung Kultur und im Kunstkredit. Nachdem Philippe Bischof im November 2017 sein neues Amt als Direktor von Pro Helvetia an- getreten hatte, wurden Sonja Kuhn und ich als neue Co-Leiterinnen der Abteilung Kultur gewählt. Im Mai 2018 übernahm der Kunst-, Film- und Medienwissenschaftler Simon Koenig die Leitung des Kunst-kredits. Gemeinsam mit der Kommission und dem Team wird er die Basler Kunstförderung künftig weiterentwickeln und stabil auf Kurs halten – immer mit dem Ziel vor Augen, die überregionale Ausstrahlung des qualitativ hochstehenden Basler Kunstschaffens zu befördern.

Dr. Katrin GrögelCo-Leiterin Abteilung Kultur

BILDTEIL

5 –13 Werkbeiträge 14 Performancepreis Schweiz 15–18 Kunst im öffentlichen Raum, Kunst und Bau 19–27 Ankäufe für die Sammlung 28–32 Sammlung in situ

Mia Sanchez dallidallidillydally, 2016

Installationsansicht Wallriss, Fribourg

4

5W E R K B E I T R Ä G E

6

Mia Sanchez Body Time, 2017 Installationsansicht Gärtnergasse Wien

Mia Sanchez One thing and not another, 2017

Installationsansicht Kunstverein Freiburg, Liquid Fertilizer

W E R K B E I T R Ä G E6

7W E R K B E I T R Ä G E

Dominique KochHolobiont Society, 2017

Video- & Soundinstallation Installationsansicht

CAN / Centre d'art, Neuchâtel

Raphael LinsiDog Walk I (Torstrasse), 2017Vitrine, Diverse Objekte, 80 x 80 x 20 cm

Clare KennyPastel dream on a midsummer morn (reloaded), 2017 Vinyltapete, Holz, Neon, Farbe, 390 x 190 cm

8 W E R K B E I T R Ä G E

9W E R K B E I T R Ä G E

10 W E R K B E I T R Ä G E

11W E R K B E I T R Ä G E

Matthias HuberKrawatte, 2018

Acryl auf Leinwand, 6 von 9 Teilen, je 250 x 190 cm

Roche Basel, Bau 1

1212 W E R K B E I T R Ä G E

Karin BorerWe’re home II–III, 2018Juteseil, Zimmerpflanzenblätter, Stahl Ausstellungsansicht Kulturraum La Rada, Locarno

Karin BorerChoose a character, 2017

Holz, Stahl, Seil, Heissleim, Mineralsteine: Canto-Vit (Singen), Ferti-Vit (Singen &

Fruchtbarkeit), Omni-Vit (Zucht & Kondition), Vogelsand, gravierte Zange, Drip Tip,

Räucherkugel: Muira Puama (euphoric, narcotic, pleasantly hallucinant)

Ausstellungsansicht Kunstraum Milieu, Bern

13W E R K B E I T R Ä G E

Reto PulferZustand Work-Life-Balance (Zum Todesrhizom mit den Machern!), 2012–2018

Stoff, verschieden Materialien, Soundtrack, Installation auf zwei Etagen, 240 x 520 x 330 cm und 100 x 520 x 330 cm.

Installationsansicht Very Berlin

P E R F O R M A N C E P R E I S S C H W E I Z

Gregory HariI’m sitting here driving. Doing all the driving, man.Publikumspreis 2017, Gessnerallee Zürich, 22. Oktober 2017

14

15K U N S T I M Ö F F E N T L I C H E N R A U M , K U N S T U N D B A U

Guido NussbaumHybris-Helix Basiliensis, 2018Wandmalerei mit Erdfarben. Gundeldingerstrasse 57 → Seite 48

16 K U N S T I M Ö F F E N T L I C H E N R A U M , K U N S T U N D B A U

Beat BrogliBerlin 27022017, 2017. Hinterglasdruck, 2.70 x 42.60 m Universitätsspital Basel, Erweiterung OP-Ost

K U N S T I M Ö F F E N T L I C H E N R A U M , K U N S T U N D B A U 17

Urs Cavelti Seelöwe, 2017. Bronze, H 320 cm

Primarschule Erlenmatt→ Seite 49

Eric HattanUnverrückbar, 2017Findling, Granit, ca. 200 x 350 x 280 cmSt. Jakobshalle Basel→ Seite 52

K U N S T I M Ö F F E N T L I C H E N R A U M , K U N S T U N D B A U18

A N K Ä U F E 19

Doris LaschNonobjective, 2017

Farbe auf Fotopapier, gerahmt, 204 x 125 cm (Blatt)

20 A N K Ä U F E

2121A N K Ä U F E

Doris LaschQuelques erreurs d’interprétation, 2016

8 Heliogravüren, Papier, gerahmt, je 47 x 39.5 cm (Blatt)

22 A N K Ä U F E

Dadi WirzMemorabilia, 1980–19993 Blechregale, ca. 150 Objekte, Masse variabel

23A N K Ä U F E

24 A N K Ä U F E

Geneviève Morin Dents de Lion, 2017

Öl auf Leinen, 160 x 90 cm

Daniel KarrerOhne Titel, 2017 Öl auf Glas, 72 x 87 cm

25A N K Ä U F E

Geneviève Morin Dents de Lion, 2017

Öl auf Leinen, 160 x 90 cm

26 A N K Ä U F E

Renée LeviAngelika, 2014 Acryl auf Leinwand, 190 x 190 cm Youssef Limoud

Untitled (Ruins), 2016/2017Installation, Karton, Holz, Leim, Sand,

Masse variabel

Ivan MitrovicDon’t Fuck with an Artist, 2014Öl auf Leinwand, 180 x 150 cm

Ivan MitrovicOhne Titel, 2017Öl auf Leinwand, 100 x 70 cm

27A N K Ä U F E

28 S A M M L U N G I N S I T U

Renée LeviOrange Fluo 3, 2001 Sprayfarbe auf MDF, 199 x 399.4 cm

Gymnasium Kirschgarten, Besprechungszimmer, Hermann Kinkelin-Strasse 10

29S A M M L U N G I N S I T U

Corsin Fontana Ohne Titel, 2004

Farbholzschnitt auf Baumwolle, 222.5 x 161 cm

Bau- und Verkehrsdepartement, Politikvorbereitung, Münsterplatz 11

30

Samuel BuriVas-y. Mosaikentwurf für eine Turnhalle, 1961

Dispersion auf Papier, 147 x 194 x 3.5 cm

Kunstmuseum Basel, Verwaltung, St. Alban-Graben 8

Andreas LutzTunguska, 1992 Gouache auf Papier, 167 x 249 x 5 cm

S A M M L U N G I N S I T U

31

Hans Rudolf Schiess Leviathan, 1969

Öl auf Leinwand, 120 x 81 cm

S A M M L U N G I N S I T U

32

Gilbert Uebersax, Ohne Titel, 1985 Öl auf Jute, 120.2 x 163 x 2.2 cm

S A M M L U N G I N S I T U

Bau- und Verkehrsdepartement, Generalsekretariat, Münsterplatz 11

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Das Fördergefäss «Werkbeitrag» ist ein bedingungsloses Stipendium für jeweils sechs bis acht Künstlerinnen und Künstler. Die Nachwuchs-förderung und das Ermöglichen eines kontinuierlichen Schaffens stehen als Anliegen im Zentrum dieser Auszeichnung. Die prämierten Kunstschaffenden erhalten mit dem Werkbeitrag nicht nur eine subs- tantielle finanzielle Unterstützung, sondern auch die Möglichkeit, ihre künstlerische Arbeit im Rahmen einer kuratierten Ausstellung in der Kunsthalle Basel einem grösseren Publikum zu vermitteln. Gastkurator der diesjährigen Ausstellung ist der Basler Künstler, Kul-turwissenschaftler und Kunstvermittler Jean-Claude Freymond-Guth, Gastjuror ist Stephan Kunz, Co-Direktor Bündner Kunstmuseum.

2017 wählte die Kunstkreditkommission aus den 47 eingesandten Dos- siers zunächst 14 Kunstschaffende aus, die ihre Arbeit jeweils einem Ausschuss von Kommissionsmitgliedern bei einem Atelierbesuch oder in einer persönlichen Präsentation an einem selbstgewählten Ort vorstellen konnten. In der abschliessenden Jurysitzung wurden nach eingehender Diskussion im Plenum sieben Künstlerinnen und Künstler bestimmt, die mit Beiträgen von je CHF 20 000 ausgezeichnet wurden.

WERKBEITRÄGE

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(*1981, Laufen) lebt und arbeitet in Basel. Sie studierte von 2003 bis 2006 Visuelle Kommunikation an der Hochschule für Gestaltung und Kunst Basel und von 2013 bis 2016 an der Zürcher Hochschule der Künste (MA Fine Arts). Sie war von 2011 bis 2017 Teil des artist-run-space Schwarzwaldallee in Basel. Ausstellungen (Auswahl): Kunsthaus Langenthal (2018); «Space Invaders», la rada, Locarno (2018); Urgent Paradise, Lausanne (2017); «Choose a character», Milieu, Bern (2017). Atelierstipendium Atelier Mondial in Berlin 2017.

(*1980, Bottmingen) lebt und arbeitet in Basel. Er studierte von 2003 bis 2007 Visuelle Kommunikation an der Hochschule der Künste Bern und von 2010 bis 2012 Bildende Kunst an der Hochschule für Gestaltung und Kunst Basel. Ausstellungen (Auswahl): «Optic Mountaineering», TENT, Rotterdam (2016); «Anstelle von GELB muss es richtig heissen SCHWARZ», Kunsthaus Baselland, Jahres- aussenprojekt (2016); «Nimm's mal easy», Ausstellungsraum Klingen-tal, Basel (2015); «All I ever see is matchstick men and you», Kunsthalle Bern (2015). Werkbeitrag Kunstkredit Basel-Stadt 2013.

(*1976, Manchester) lebt und arbeitet in Basel und London. Sie studierte von 1999 bis 2002 an der Chelsea School of Art and Design London und von 2008 bis 2010 an der Hochschule für Kunst und Gestaltung Luzern. Ausstellungen (Auswahl): «Industrial Romantic», Rochdale Art Gallery, Manchester (2017); «enough rope to hang ‘emselves», VITRINE Gallery, London (2016); Galerie Gisèle Linder, Basel, (2014); «Yesterday’s Labour is the Future’s Folly», Vitrine Gallery, London (2013). Werkbeitrag Kunstkredit Basel-Stadt 2014.

(*1983, Luzern) lebt und arbeitet in Basel und Paris. Sie studierte von 2004 bis 2011 an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig. Ausstellungen (Auswahl): «Holobiont Society», CAN / Centre d’art, Neuchâtel (2017, solo); «Biotopia», Kunsthalle Mainz (2017); «Maybe We Should Rejuvenate the Words rather than the Bodies», Rinomina, Paris (2016, solo); «Beyond Chattering and Noise», Centre Cultu- rel Suisse, Paris (2015, solo); Kiefer Hablitzel-Stipendium 2010 und 2012; Werkbeitrag Kunstkredit Basel-Stadt 2012 und 2014, Swiss Art Award 2016.

Karin Borer

Matthias Huber

Clare Kenny

Dominique Koch

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(*1982, Zürich) lebt und arbeitet in Berlin und Basel. Er studierte bis 2010 am Institut Kunst der HGK FHNW Basel (Bachelor of Arts). Von 2015 bis 2017 studierte er Psychologie und Kunstgeschichte an der Universität Zürich. Ausstellungen (Auswahl): «Foundation Painting Show», Glasgow International, Glasgow (2018); «I dropped a stick at the side of the road», Oslo10, Basel (2017, solo); «Der Geruch des noch warmen Motors eines am Fusse des Berges geparkten Fahr-zeugs», Oracle, Berlin (2016, solo); «Swiss Art Awards», Messehalle, Basel (2014); «Pump up pose down», Kunsthaus Baselland, Muttenz (2012, solo).

(*1981, Bern, aufgewachsen in Arlesheim), lebt und arbeitet in Berlin und Basel. Künstlerischer Werdegang ohne akademische Ausbildung. Einzelausstellungen (Auswahl): «Ursus Olfaciens», Bärenzwinger, Berlin (2017); «Dehydrierte Landschaft», Centre d’Art Contemporain Genève (2015); «Zustand der Intensivierung», Kunstverein Nürnberg – Albrecht Dürer Gesellschaft (2013); «Zustandseffekte», Swiss Institute, New York (2013). Christina Spoerri-Preis 2016, Swiss Art Award 2016, Werkbeitrag Kunstkredit Basel-Stadt 2012.

(*1988, Sevilla) lebt und arbeitet in Basel. Sie studierte an der HKB Bern (Bachelor of Arts), mit einem Gastjahr an der Hochschule für bildende Kunst Hamburg. Derzeit absolviert sie den Masterstu-diengang an der HGK, FHNW, Basel. Sie ist Mitinitiantin des Raums «Riverside» in Worblaufen (seit 2015). Ausstellungen (Auswahl): «Body Time», Gärtnergasse, Wien (2017); «A Word is a Shadow that falls on a Lot of Things», Ausstellungraum Klingental, Basel (2017); «dallidallidillydally», Wallriss, Fribourg (2016); «Old Friends New Ideas — Old Ideas New Friends», Milieu, Bern (2015). Kiefer Hablit-zel-Stipendium 2018.

Raphael Linsi

Reto Pulfer

Mia Sanchez

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Der Performancepreis Schweiz ist eine gemeinsame Förderinitiative der Kantone Aargau, Basel-Landschaft, Basel-Stadt, Luzern und Zürich sowie der Stadt Genf. Er erhöht die Sichtbarkeit der Schweizer Perfor- mancekunst, zeigt ihre Vielfalt und Qualität und stärkt ihre Anerkennung. Der jährlich national ausgeschriebene Wettbewerb ist offen für Bewer-bungen von Kunstschaffenden mit einer performativen Praxis aus allen Sparten. 2017 erhielt der Performancepreis Schweiz einen neuen visu-ellen Auftritt in drei Landessprachen. Per Ende Jahr übergab Andrea Saemann nach sieben Jahren hohen Engagements die Koordination an Madeleine Amsler.

Im vergangenen Jahr gastierte der Performancepreis Schweiz erstmals in Zürich – dem jüngsten Partner im Bunde. Im Vorfeld der Veranstaltung hatte eine fünfköpfige Fachjury aus insgesamt 98 eingegangenen Be- werbungen sieben Künstlerinnen und Künstler ausgewählt und nominiert, die am 22. Oktober 2017 in der Gessnerallee Zürich ihre Performances einem breiten Publikum aus allen Landesteilen präsentierten. Den mit CHF 30 000 dotierten Hauptpreis erhielten Leo Hofmann und Benjamin van Bebber mit einer auf Schuberts Winterreise basierenden Arbeit, welche die Fragilität von Existenz eindrucksvoll erlebbar machte. Das Publikum favorisierte indes die Performance von Gregory Hari und zeich-nete ihn mit dem Publikumspreis aus. Der Anlass wurde von insgesamt 400 Personen besucht.

PERFORMANCEPREIS SCHWEIZ

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Nominationen und Preise 2017

Nicolas Cilins & Tina Smoljko (GE/VD) Simulation, 2017

Gregory Hari (ZH) I’m sitting here driving. Doing all the driving, man., 2017Publikumspreis CHF 6500

Leo Hofmann & Benjamin van Bebber (ZH/Hamburg) Preliminiary Study for a Nomadic Life, 2017Preis der Jury CHF 30 000

Jérôme Leuba (GE) battlefield #122 / missing living sculpture, 2017

Annina Machaz & Mira Kandathil (ZH) Orakel Spektakel, 2017

Dawn Nilo (BL) The Kingdom of Fools, 2017

Ramaya Tegegne (GE) Wet Circle, 2017

Jury 2017Madeleine Amsler, freie Kuratorin, Genf (Jurymitglied 2017)Yan Duyvendak, Künstler, Genf/Marseille (Jurymitglied 2017–2019)Sophie Jung, Künstlerin, Basel/London (Jurymitglied 2017–2019)Roger Marguin, künstlerische Leitung und Geschäftsführung Gessneralle Zürich (Jurymitglied 2017)Pascal Schwaighofer, Künstler, Zürich (Jurymitglied 2015–2017)

KoordinationAndrea Saemann, Basel

www.performanceartaward.ch

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KOMMEN WIR ZUSAMMEN? EIN PLÄDOYER FÜR UNEINIG- KEITEN UND UNSCHÄRFEN IN DER PERFORMANCEKUNST MARCEL BLEULEREs ist auffällig, dass sich viele Performancekünstler*innen dafür einsetzen, ihr Medium als eine eigene, spezifische Kunstsparte zu profilieren. Zugleich fällt auf, dass die Zugänge und Auffassungen diesbezüglich stark auseinandergehen. Je nachdem, mit wem man spricht, erhält man ein anderes Bild davon, was Performance ist, worum es dabei geht und wie sich Performancekunst im Verhältnis zu anderen künstlerischen Praktiken positioniert. Diese nur selten ausdiskutierten unterschiedlichen Meinungen hängen vermutlich eng mit der Raum-Zeit-Gebundenheit der flüchtigen Kunst zusammen. Die Beschäftigung mit Performance bedarf einer relativ unmittelbaren Nähe. Es liegt somit auf der Hand, dass sich in lokalen Szenen Übereinkünfte herauskristallisieren. Durch gegenseitige Wahrnehmung und Austausch festigen sich gemeinsame Bezugssysteme und eine Verständigung darüber, worum es bei Performance geht. Man muss jedoch nicht weit gehen, um auf ganz andere Verständigungen zu stossen.

Festigung und Verflüssigung Im Frühling des Jahres 2010 verkündeten internationale Kunstzeitschriften, dass Perfor- mancekunst im Mainstream angekommen sei und fortan das gleiche Blockbuster-Potential wie etwa eine Impressionismus-Ausstellung habe. Damals fanden Marina Abramovi s Ausstellung «The Artist Is Present» und ihre gleichnamige Performance im Museum of Modern Art in New York statt. Abramovi zog Unmengen an Besucher*innen an. Der Hype ging so weit, dass das Publikum zum Teil bereits am Vorabend anstand, um an der Performance im Atrium des Museums teilzunehmen. Hier sass die Künstlerin während der gesamten Ausstellungsdauer täglich sieben Stunden lang auf einem Stuhl. Vor ihr stand ein zweiter Stuhl, auf dem die Be- sucher*innen nacheinander Platz nehmen und der zeremonienhaft gekleideten Künstlerin in die Augen schauen konnten. Auch in den Ausstellungsräumen waren Performances von Abramovi zu sehen. Diese wurden als Reenactments präsentiert, verkörpert von wechseln-den, anonymen Performer*innen. Die Ausstellung war insgesamt eine durch die Rahmung der Ausstellungsinstitution auratisierte Grammatik der Körper- und Selbstbeherrschung.

Einige Stassen weiter, im Guggenheim Museum, gab es eine weitere Performanceausstellung. Tino Sehgal zeigte im leergeräumten Atrium «The Kiss» und auf der spiralförmigen Rampe des Gebäudes «This is Progression», zwei bereits früher durchgeführte Live-Performances, die in New York erneut gezeigt wurden. «The Kiss» bestand aus einem Paar, das sich endlos küssend über den Fussboden rollte. «This is Progression» bestand aus mehreren Personen unterschied-lichen Alters (vom Kind bis zu*r Greis*in), die einen mit Fragen zum Leben in Gespräche ver- wickelten. Die Performances waren weit weniger spektakulär inszeniert als jene in Abramovi s

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Show. Von einigen unvorbereiteten Besucher*innen wurde die eine oder andere Performance sogar übersehen. Bei Kritiker*innen erzeugten sie jedoch eine grosse Aufmerksamkeit. Die Arbeit von Sehgal, der aus dem zeitgenössischen Tanz kommt und ausgebildeter Choreo-graf ist, liess sich sehr gut mit einem Diskurs verbinden, der damals an der Ostküste der USA Konjunktur hatte: In den 2000er-Jahren wurde hier das Werk von Yvonne Rainer aufgear-beitet, die seit den 1960ern an einer Schnittstelle von Konzeptkunst und zeitgenössischem Tanz arbeitet. Mit der Publikation «Being watched» (2008) der Harvard-Professorin Carrie Lambert-Beatty war diese Schnittstelle prominent in der Performance-Geschichtsschreibung platziert worden. Sie wurde – neben Abramovi s Grammatik der selbstbeherrschten Body Art – zur Diskurs-Referenz, wonach in Performances zeitgenössischer Tanz und bildende Kunst gleichermassen weitergeschrieben werden.

Die stark choreografierten und für die Performer*innen sehr anspruchsvollen Arbeiten von Abramovi und Sehgal bildeten 2010 die Eckpfeiler einer Übereinkunft darüber, was Perfor-mancekunst ist, die international wahrgenommen und vielerorts übernommen wurde. Dennoch hatte sie keine universelle Gültigkeit. Als ich 2011 mit einer befreundeten Performancekünstle-rin aus Argentinien am Institute of Contemporary Art in Boston auf die Aufführung einer Per-formance von Jérôme Bel wartete, sprachen wir von den beiden Ausstellungen in New York im Frühling 2010. Sie zeigte sich irritiert und etwas verärgert über das Bild von Performance-kunst, das damals mit so viel internationaler Strahlkraft gezeichnet worden war. In ihren Augen barg es die Gefahr, aufgrund der Deutungsmacht der beteiligten Institutionen und Personen andere Zugänge und Auffassungen zu verdrängen. Die Künstlerin aus Buenos Aires stammt aus einem Umfeld, wo Performance eine betont offen gehaltene und lebensnahe Praxis ist. Wie ich selbst bei einem mehrmonatigen Aufenthalt erlebte, hat Performancekunst hier einen zentralen Stellenwert und zugleich unscharfe Konturen. Die Kunstszene, in der ich mich bewegte, fand unabhängig von etablierten Institutionen statt und war sehr vielfältig. Eine Abgrenzung etwa von bildender Kunst gegenüber Popkultur, Street Art oder Musik und Tanz gab es kaum. Die Künstler*innen waren DJs, Tänzer*innen, Musiker*innen und Nachtvögel. Es zog sie in Clubs, Trainingsräume und Musikstudios oder sie positionierten sich an einer Schnittstelle zum politischen Aktivismus. Vereinigt war die Szene hauptsächlich dadurch, dass sie kaum in der Logik von Ausstellungen, sondern von Aufführungen und Interventionen funktionierte. Eine Trennung von Kunst und Leben, also das Entrücken der Kunst aus der körperlichen, sozialen und urbanen Lebensrealität erschien dabei undenkbar.

In Boston fanden wir uns nun in einer Institution wieder, in einem kleinen Kreis von kunst- interessierten Bildungsbürger*innen. Gespannt warteten wir auf die Performance von Jérôme Bel, die im Rahmen der Ausstellung «Dance/Draw» (2011/12) stattfand, einer Aus-stellung über die Vermählung von bildender Kunst und zeitgenössischem Tanz, die mit ihrem Fokus der Sehgal-Rainer-Genealogie von 2010 entsprach. Vom ersten Moment an brachte Bels Performance «Cédric Andrieux» jedoch etwas hervor, was sie grundsätzlich von der Übereinkunft im Frühling 2010 unterschied. Denn im Kontrast zur aalglatten Professionalität von Abramovi s und Sehgals Arbeiten war sie radikal persönlich. Der Tänzer Cédric Andrieux stand knapp zwei Stunden allein auf der Bühne und erzählte von seinem Lebensweg. Tänzerische Bewegungen kamen dabei nur zu Illustrationszwecken vor. Wie Andrieux bei seinem Auftritt sagte, hatten er und Bel die Erzählung nach mehrtägigen Gesprächen festgelegt. Es ging um Lebensentscheidungen und Fehlbarkeit, um den eigenen Körper, Erfolgsgier und fehlende Motivation, sexuelles Begehren und Freundschaft – vorgetragen

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von einem Menschen, der jeglichen Repräsentationsdruck abzulegen und sein Persönlichstes offenzulegen schien. So schlicht es klingen mag, bestand die Performance darin, dass sie die Wahrnehmung eines Menschen ermöglichte. Andrieux stand einfach da und zeigte sich. Dies ermöglichte mir als Zuschauer eine sehr direkte, innerliche Verbindung. Es war ein Sich-Wiederfinden in einer Menschlichkeit, die im Kunstbetrieb normalerweise wenig Platz findet, hinter Repräsentationstechniken oder einer Persona verborgen bleibt.

Durch das Hervortreten dieser Menschlichkeit entsprach die Performance einer Sensibilisie-rung, die sich bei mir im Austausch mit einem Künstler*innenduo, das um 2010 herum in Zürich aktiv war, gefestigt hatte. Das Duo eggerschlatter führte damals Versuchsanlagen durch, bei denen Menschen, zuweilen auch Tiere und Orte zusammenspielten, die eigentlich nicht zusam-mengehörten. Den Zusammenkünften haftete immer etwas Hypothetisches und Verletzliches an. Sie setzten Verständigungen darüber in Gang, wie Gemeinschaft und soziale Verbindung möglich sind, wenn man zusammen agiert. Unsicherheiten und Zögerlichkeiten beim Performen waren massgeblicher Bestandteil ihrer Ästhetik. Rückblickend fällt mir auf, wie stark diese Arbeiten meinen Zugang zu Performances geprägt haben, obwohl durchaus strittig ist, ob es sich überhaupt um Performances handelte. Das Duo zeichnete ihre Versuchsanordnungen, bei denen lediglich die Teilnehmenden anwesend waren, auf und überführte sie in Videoarbeiten. In nachfolgenden Ausstellungen wurden diese in Form von Installationen präsentiert, die neben der Projektion auch andere Elemente enthielten. Was also war das? Performance-, Video- oder Installations-Kunst?

In Boston, wo ich mich ein Jahr aufhielt, wurde mir diese Frage oft gestellt. Ich wich jeweils aus und konterte, dass mich gerade das Sich-Widersetzen gegen eine Kategorisierung interes-sierte. Um meine Argumentation zu stärken, verwies ich auf den Künstler Pierre Huyghe. Denn seine Arbeit umfasst so ziemlich alle Medien, die Künstler*innen verfügbar sind, zudem ist er im Gegensatz zu eggerschlatter international anerkannt. Während Abramovi anfangs des 21. Jahrhunderts an der Eingrenzung und Spezifizierung von Performancekunst arbeitete, tat Huyghe genau das Gegenteil. In seinen Grossprojekten in den 2000er-Jahren liess er Performances in transmedialen Zusammenhängen aufgehen. Huyghe ging es um die Auflösung von Zeit-Raum-Gefügen, um Mythenbildung und die Mehrdeutigkeit von Realität. So präsen-tierte er beispielsweise 2004 mit «This is not a time for dreaming» in Boston eine Performance und zeitgleich ihre Videodokumentation. Aufgrund der räumlichen Anlage konkurrenzierten die Performance, die in einem brechend vollen Pavillon aufgeführt wurde, und das Video, das auf einer monumentalen Kinoleinwand dahinter projiziert war. Und sie widersprachen sich. Beim Video handelte es sich nicht um eine Live-Übertragung, sondern um eine äusserst elaborierte Version davon, wie die Performance sein könnte. Da sich nicht beides zugleich betrachten liess, war ein Vergleich unmöglich, sodass sich Live-Ereignis und mediale Vermittlung unlösbar verzahnten.

Indem er Medien ineinander fliessen liess, kratzte Huyghe genau an dem, was Abramovi (und in weniger aufgeregter Weise auch Sehgal) hervorstrich: die Authentizität des Live-Ereig-nisses. Huyghe ging es um die Verfangenheit des postmodernen Individuums in einer Wahr- nehmung, die kein Gefühl von Wahrheit und Verbindlichkeit kennt und immer fragmentarisch ist, sodass es auch unmöglich wird, eine künstlerische Arbeit – geschweige denn die Lebenswelt – als Ganzes zu erfassen. In seiner Arbeit lassen sich Züge eines Gesamtkunstwerks erkennen, bei dem es um eine Weltsicht geht, um einen umfassenden Zusammenhang und die Forcierung

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einer Condition d’Être. Performance ist darin nur ein Teil, nur eine Methode unter anderen zur Vermittlung dieser Weltsicht.

Diese Verbindung von Transmedialität und umfassender künstlerischer Vision ist gerade für den anderen Hintergrund entscheidend, der ebenso wie Body Art und zeitgenössischer Tanz als kunsthistorische Referenz von Performancekunst herhalten kann: Die Kunstbewegun-gen der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, etwa Futurismus oder Dadaismus, die mit allen Mitteln und möglichst unmittelbarer Wirkung eine Vision der Welt entwarfen. Sie arbeiteten mit Aufführungen, hätten sich aber niemals ins Korsett einer Medieneinteilung zwingen lassen. Performances waren für sie Methode und nicht Medium.

Insistieren – aber worauf? Grob gesagt lassen sich bis heute diese zwei Tendenzen im Bereich von Performancekunst feststellen: Die einen nutzen und diskutieren sie als eine Methode der zeitgenössischen Kunst, die mit anderen Methoden verfliesst. Die anderen insistieren auf der Festigung von Perfor- mance als einem eigenen, medienspezifisch definierten Kunstbereich. Natürlich gibt es für die-ses Insistieren eine pragmatische Dringlichkeit. Obwohl sich die letzten Jahre diesbezüglich viel getan hat, ist es schwierig, als Performancekünstler*in Geld zu verdienen. Flüchtige Kunst lässt sich nur indirekt verkaufen und in Sammlungen aufnehmen und nur sehr beschränkt um die Welt schicken, wie dies etwa mit Videoarbeiten geschieht. Nimmt man diese Perspektive auf die mangelnde Vereinbarkeit mit den wirtschaftlichen Strukturen des Kunstbetriebs ein, dann erscheint es richtig, wenn hier Lobbyarbeit stattfindet, damit staatliche und gemeinschaftliche Förderungen einspringen. Und für diese Lobbyarbeit braucht es Performanceszenen und spezifische Netzwerke.

Zugleich steht Performance bezüglich ihrer Sperrigkeit dem Kunstbetrieb gegenüber längst nicht allein da. In einer Zeit, da Künstler*innen an übergreifenden Projekten arbeiten, sich dabei oftmals ausserhalb von Kunstinstitutionen und in den Gefilden anderer Disziplinen bewegen, finden sich verschiedenste Werke, die sich etwa aufgrund ihrer Ort- und Kontextbe- zogenheit, ihrer Vielschichtigkeit oder materiellen Flüchtigkeit nur schwer vermarkten lassen. Die an Kunsthochschulen aktuell hochgehaltenen Paradigmen der Transdisziplinarität und des Artistic Research befördern solche Produktionen. Es hat sich längst eine Kluft zwischen verkaufbarer Kunst und anderer Kunst gebildet, die nicht nur Performance betrifft. Daher erscheint es fraglich, ob die Lösung in der Festigung von eigenen Sparten liegt, damit sich spezifische Szenen bilden, die dann für sich einstehen. Läge es nicht viel mehr an den Förder- und Ausstellungsinstitutionen, generell ihre Haltung gegenüber einer Kunst zu schär-fen, die sich nicht direkt in eine wirtschaftliche Logik fügt (oder sich sogar dagegen wehrt)?

Jenseits dieser Frage scheint mir das Insistieren auf einer Abgrenzung von Sparten und Medien auch deshalb fragwürdig, da sie unweigerlich zu einer Orthodoxie führt. Sie impliziert das Festlegen von Kriterien, die eine Performance als solche auszeichnen. Wer diesen Weg einschlägt und anhand von medienspezifischen Charakteristika definiert, was eine Perfor-mance ist, verfällt in einen Essentialismus. Paradoxerweise wird damit gerade ein Erbe aus dem Bereich von Performance untergraben, das mir besonders relevant erscheint. Gegen Ende des 20. Jahrhunderts haben Künstler*innen und Theoretiker*innen vor dem Hinter- grund der kritischen, feministisch geprägten Theoriebildung Performances als Anlass genom-men, ein essentialistisches Denken zu dekonstruieren. Autorinnen wie Amelia Jones und

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Peggy Phelan verbanden Performance stattdessen mit Pluralität und Kontingenz. Das politi-sche Potential von Performance sahen sie darin, Vorgänge der Festschreibung und Inbesitz-nahme ausser Kraft zu setzen und Deutungshoheiten auszuschalten. In diesem Sinne bedeutet das Insistieren auf einer Festigung und Eingrenzung immer auch ein Zurückbuchstabieren. Wer dies umgehen will, sollte sich dafür einsetzen, dass sich die Verständigung darüber, was Performance ist, nicht verfestigt.

Uneinigkeiten und Unschärfen müssen nicht als ihr Untergang, sondern können als Puls-schlag von Performancekunst gesehen werden. Dies muss man als Künstler*in, Kunstwissen-schaftler*in oder Kurator*in natürlich aushalten können. Es liegt jedoch ein Potential darin, Performance als queeres Phänomen aufzufassen, das sich der Tendenz zur Zuordnung und Kategorisierung widersetzt: erstens treten dadurch zuvor unbeachtete Mechanismen der Diskriminierung hervor, da sie plötzlich nicht mehr zu greifen vermögen. Zweitens wird eine Offenheit gegenüber Ansätzen freigehalten, die man selbst nicht bedacht hat und die vielleicht nicht einer vorherrschenden Übereinkunft entsprechen.

Gerade letztere Überlegung erscheint mir mit Blick auf die jüngsten gesellschaftspolitischen Entwicklungen wichtig. Seit 2010 haben in öffentlich geführten Debatten der westlichen Welt Polarisierungen und Forderungen nach Abgrenzung massiv zugenommen. Diese Ten- denz ist zumindest teilweise eine Reaktion auf die Migrationsbewegungen nach Westeuropa, über die spätestens seit 2015 nicht mehr hinweggeschaut werden kann. In demselben Jahr begann ich in Salzburg zu arbeiten, wo täglich eine sehr hohe Anzahl an Migrant*innen von der Balkanroute ankam. Die lokale Kunstszene reagierte unmittelbar und mit besten Absichten. Kunsträume wurden zum Versuchsfeld sozialer Inklusion, und es dauerte nicht lange, bis sich unter den Migrant*innen Künstler*innen fanden, die eingeladen wurden, ihre Arbeiten zu zeigen. Die guten Absichten wurden jedoch schnell von einer gewissen Ratlosigkeit einge-holt. Junge zugewanderte Musiker*innen spielten beispielsweise auf traditionellen Instrumen-ten sentimental anmutende Volksmusik oder professionelle Bühnenschauspieler*innen aus Syrien führten mit hochtheatralen Techniken dramatische Monologe vor. Obwohl sich kaum jemand traute dies zu benennen, entsprachen ihre Beiträge so gar nicht der Ästhetik und den Übereinkünften der Salzburger Kunstszene, wo traditionelle Musikinstrumente nur in absolu-ten Ausnahmefällen zur zeitgemässen und kritischen Kunstproduktion gehören und wo ein der-art illustratives Schauspiel höchstens als Zitat oder Persiflage eingesetzt wird. Der Versuch eines Zusammenkommens forderte plötzlich ein Überdenken der eigenen Auffassungen ein. Es drängte sich eine Neuverhandlung davon auf, was Kunst ist und wann etwas in Nicht-Kunst oder Vielleicht-Kunst kippt.

Es ist anzunehmen, dass diese Fragen nach den Eigenschaften und Abgrenzungen von Kunst typisch sind für die westliche Welt. Geht es nach dem Kunst- und Bildungswissenschaftler Rubén Gaztambide-Fernández, dann stellt der Begriff der Kunst überhaupt eine westliche Kon-struktion dar, die durch den Kolonialismus in die Welt gebracht wurde. Der Begriff zeichnet sich demnach nicht primär dadurch aus, dass er ein spezifisches Phänomen benennt, sondern dass er seine Domäne bildet, indem er kulturelle Praktiken und symbolisch-kreative Fähigkei-ten annektiert – oder ausschliesst. Aus dieser Perspektive plädiert Gaztambide-Fernández dafür, den Begriff gänzlich aufzugeben. Er fordert ein Umdenken, das sich stattdessen an einem umfassenden Konzept von Kulturproduktion orientiert. Damit ist er auf einer Linie mit dem Kulturwissenschaftler Paul Willis, der mit seinem Begriff einer «grounded aesthetic» jegliche

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Unterscheidung von Kunst und Nicht-Kunst respektive von Hochkultur und ihren Gegenstü-cken (Popkultur, Alltagskultur etc.) verwarf. Es ist dieser Diskurskontext, der das Potential der «Queerness» von Performance verdeutlicht. Wenn die Unschärfen des Bereichs gegenüber anderen Aufführungskünsten, vielleicht sogar gegenüber alltäglichen Handlungen zugelassen werden, wenn also undeutlich sein darf, ob etwas ein Popkonzert oder ein «Kunstwerk», Volks- tradition oder «Performance» ist, dann kann hier eine inklusive Haltung gestärkt werden.

Autor*innen aus dem Bereich von Performance haben Ende des 20. Jahrhunderts deutlich herausgestrichen, dass sich in der Art, wie wir über Kunst sprechen und mit ihr umgehen, immer auch gesellschaftliche und ideologische Denkmuster spiegeln. Aus dieser Perspektive ist es erstaunlich, wie stark jegliche gesellschaftspolitische Dimension in dem 2010 ge- festigten Bild von Performancekunst ausgeblendet ist und wie sehr sich der mächtige Kunst- betrieb damit wohlzufühlen scheint. Das ist auch, was mich an Abramovićs Erfolg irritiert. Die Künstlerin erreichte zwar eine nie dagewesene Aufmerksamkeit für Performancekunst, sie reproduzierte dabei aber auch den Habitus und die Schwellen, mit denen sich der Kunst- betrieb gesellschaftlich und kulturell abgrenzt. So wird es jenen, die seine Sprache nicht spre-chen, unmöglich beizutreten. Ich plädiere nicht dafür, dass Kunst zur politischen oder sozialen Arbeit werden soll. Es erscheint mir jedoch zentral, sich zu den Mechanismen der Abgrenzung und des Ausschlusses bewusst zu verhalten. Gerade in dieser Hinsicht birgt Performance ein Potential. Nimmt man die Perspektive ein, dass hier Menschen meist ziemlich direkt vor anderen Menschen stehen, dann kann man Performances als zwischenmenschlichen Kommunikationsvorgang auffassen, bei dem es darum geht, sich zu zeigen und andere wahr-zunehmen. Dies klingt denkbar einfach. Eine Performance wie Jérôme Bels «Cédric Andrieux» sticht jedoch gerade deshalb heraus, weil sie ein seltenes Beispiel ist, das diese Reduktion wagt. Ebenso wie die performativen Versuchsanordnungen von eggerschlatter, die die Verletz-lichkeiten hervortreten lassen, die einen beschleichen können, wenn man auf andere zugeht. Dies sind Empfindungen, die wir alle kennen. Sie haben etwas Vereinendes, in ihnen können wir zusammenkommen.

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Seit 2015 haben Kunstschaffende in der Region Basel zweimal im Jahr die Möglichkeit, sich um Unterstützungsbeiträge für die Herstellungskos-ten neuer Werke zu bewerben, die im Hinblick auf eine öffentliche Prä-sentation in einer Ausstellung, an einem Festival etc. entstehen. Formale Voraussetzung für die Behandlung eines Gesuchs ist unter anderem, dass im Projektbudget ein Künstlerhonorar ausgewiesen wird. Die Kunstkre-ditkommission Basel-Stadt nimmt somit in der kulturpolitischen Diskussi-on um Künstlerhonorare eine Pionierrolle ein und stützt die Position der Kunstschaffenden in diesem berechtigten Anliegen.

Die Förderung durch Projektbeiträge ermöglicht Künstlerinnen und Künstlern, Einladungen zu institutionellen Ausstellungen effektiv zu nut-zen und neue repräsentative Arbeiten zu realisieren. Darüber hinaus können auch Künstlereditionen und Künstlerbücher unterstützt werden. 2017 wurden insgesamt 19 Gesuche eingereicht; die Kommission entschied sich für eine Förderung von elf Projekten mit einer Förder-summe von insgesamt CHF 69 500.

PROJEKTBEITRÄGE

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Förderentscheide 2017

Anna Amadio, Objekte und Malereien / Installation, CHF 15 000Produktion von Werken für zwei Einzelausstellungen im Kunsthaus Grenchen, 27.8. bis 5.11.2017, und im Kunst(Zeug)Haus Rapperswil-Jona, 25.2. bis 6.5.2018

Anja Braun, Jardin des Arts, CHF 3500Produktion von Werken und skulpturalen Objekten für eine Einzelausstellung in der Städtischen Galerie Weil am Rhein, 10.3. bis 15.4.2018

Martin Chramosta, Rideau Bavard, CHF 6500Produktion einer ortsspezifischen Arbeit für den «Pavillon Suisse» in der Pariser «Cité Internationale Universitaire», Februar bis September 2018

Markus Gadient, Live Set Landscape, CHF 4500Produktion von Werken für eine Gruppenausstellung in der Kunsthalle Palazzo in Liestal, 3.2. bis 18.3.2018

Anja Ganster, Constellation 6 / Gezeitenreibung, CHF 5000Produktion von Werken und skulpturalen Objekten für eine Einzelausstellung im Kabinett des Museums Franz Gertsch in Burgdorf, 1.9.2017 bis 28.1.2018

Olga Gehr-Zimmelova, Freies Sehen, CHF 5000Produktion von Werken für eine Einzelausstellung in der Galerie Klatovy/Klenovà, 14.4. bis 10.6.2018

Dunja Herzog, Living on the Edge / Lagos Biennial, CHF 4500Produktion von ortsspezifischen Werken für die erste Biennale zeitgenössischer Kunst in Lagos, 14.10. bis 22.12.2017

Max Leiß, Embauchoir, CHF 4500Produktion von skulpturalen Objekten für eine Gruppenausstellung in der Kunsthalle Recklinghausen, 3.12.2017 bis 4.2.2018

Garrett Nelson, Blind Audition, CHF 10 000Produktion einer performativ-installativen Arbeit, gezeigt im Januar 2018 im Rahmen des Projekts «New Swiss Performance Now» in der Kunsthalle Basel und im April 2018 im Cleveland Museum of Arts, eingebunden in das Projekt «Bellwether».

Paolo Thorsen-Nagel, Space Unheard, CHF 6000Produktion von ortsspezifischen Audio-Arbeiten, präsentiert mit einer Performance im Avantgarde Institut, Krasinski Studio in Warschau, 6. bis 17.7.2018

Katharina Anna Wieser, Tetraeder II und III, CHF 5000Produktion von ortsspezifischen skulpturalen Objekten für eine Gruppenausstellung im Kunstmuseum Luzern, 9.12.2017 bis 17.1.2018

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In Zusammenarbeit mit der Stadtentwicklung «Gundeli Plus» und der Abteilung Städtebau & Architektur im Bau- und Verkehrsdepartement führte der Kunstkredit im letzten Jahr im Gundeldingerquartier das zwei-te Pilotprojekt zur Kunst im öffentlichen Raum durch. Die Kunstkredit-kommission hatte sich für eine von Weitem sichtbare Wandfläche an einer privaten Eckliegenschaft an der Gundeldingerstrasse 57 entschieden. Die Wandfläche am 70er-Jahre-Bau ist keine Brandwand wie im ersten Projekt, sondern eine Fassadenscheibe, die als integraler Bestandteil der Architektur gelesen werden muss. Dies evoziert Fragen zum Bezug der Kunst zur Architektur. Wie selbstständig kann ein Kunstwerk unter diesen Bedingungen sein?

62 regionale Kunstschaffende reichten eine Vielfalt an Vorschlägen ein. Den Wettbewerbsentscheid traf nicht alleine das Fachgremium, auch die Bewohnerinnen und Bewohner des Quartiers und der Stadt wurden mit- einbezogen. Eine Webseite und im Quartier verteilte Abstimmungskarten luden die Interessierten ein, ihre Stimmen für ihren Favoriten abzugeben. Das Gesamtergebnis dieses Quartiervotings zählte in der Endjurierung als eine von vier Quartierstimmen einschliesslich Eigentümerschaft.

Aus diesem Prozess ging «Hybris-Helix Basiliensis» von Guido Nussbaum als Siegerprojekt hervor. Die Wandmalerei zeigt im unteren Teil High- lights neuster Basler Architektur, die der Künstler in der im 17. Jahrhun-dert aufkommenden Tradition der Vedute darstellt. Über die Hochhäuser erhebt sich ein immenser Korkenzieher, der den 2006 präsentierten ersten Entwurf des Roche-Turms in Form einer DNA-Doppelhelix persif-liert. Im unvollendeten untersten Teil der Fassade steht eine Hand, die einen Pinsel führt, für einen wichtigen Bestandteil in Nussbaums Œuvre: die Selbstreferenz. Der Künstler mischt sich mit seinem Werk ein, nimmt kritisch Stellung. Nussbaums Wandmalerei dient der Profilierung, der Identifizierung des Orts. Sie sucht Reibungsflächen im städtischen Alltag und wirkt aktivierend für städtische Diskussionen.

→ Abbildung Seite 15

KUNST IM ÖFFENTLICHEN RAUM

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KUNST UND BAU

Ein Seelöwe auf dem Dach des Erlenmattschulhauses bildet den Auftakt zum neuen Stadtteil auf dem ehemaligen Güterbahnhof der Deutschen Bahn. Schülerinnen und Schüler sowie Lehrpersonen weihten im August 2017 den öffentlichen Bau von Luca Selva Architekten feierlich ein.

Die Skulptur von Urs Cavelti wählte die Wettbewerbsjury des Kunst- kredits 2014 als Kunst-am-Bau-Projekt aus 27 eingereichten Vorschlägen für das neue Primarschulhaus aus. Seelöwen sind wahre Artisten. Im Zolli werfen sich die verspielten und neugierigen Tiere Bälle zu und fangen sie mit der Schnauze auf. Der Tierpfleger belohnt sie jeweils mit einem Stück Fisch. Der übergrosse bronzene Seelöwe balanciert kopfüber auf der Terrassenbrüstung des vierten Geschosses. Tollkühn stemmt er seinen eigenen schweren Körper mit seiner Stupsnase. Auf dem Kopf betrachtet, scheint es, als ob das Tier das Schulhaus und den ganzen Erdball balancierte. Die Skulptur ist ein treffendes Symbol für Lebensfreude und Optimismus. Sie steht für eine Schule, in der Spielen und Lernen eine fruchtbare Verbindung ein- gehen. Schnell wurde der Seelöwe zu einem beliebten Signet mit iden- titätsstiftender Wirkung für das neue Schulhaus.

→ Abbildung Seite 17

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Förderentscheide 2017–2018

1Kunst im öffentlichen Raum im GundeldingerquartierGundeldingerstrasse 57, 4053 BaselGuido Nussbaum, Hybris-Helix BasiliensisCHF 40 000 aus dem KunstkreditAusführung Frühling 2018

Realisierte Projekte 2017–2018

1Kunst im öffentlichen Raum im GundeldingerquartierGundeldingerstrasse 57, 4053 BaselGuido Nussbaum, Hybris-Helix BasiliensisWettbewerb 2017/2018Einweihung 22.6.2018

2Kunst und Bau – Primarschule ErlenmattErlenstrasse 6, 4058 BaselUrs Cavelti, SeelöweWettbewerb 2014Einweihung 4.11.2017

3Kunst und Bau – St. JakobshalleBrüglingerstrasse 19–21, 4052 BaselEric Hattan, UnverrückbarWettbewerb 2014Einweihung 8.11.2017

4Kunst und Bau – Klinikum 1 und 2Spitalstrasse 21/Petersgraben 4, 4031 BaselBeat Brogle, Berlin 27022017Wettbewerb 2012Einweihung 22.11.2017

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AM ANFANG WAR DIE KUNST KUNST-UND-BAU-PROJEKT VON ERIC HATTAN IM FOYER DER ST. JAKOBSHALLE BASEL VON DER ARCHITEKTENGE-MEINSCHAFT DEGELO/BERREL BERREL KRÄUTLERSIBYLLE RYSERZum Making-of des Werks «Unverrückbar» von Eric Hattan im Foyer der St. Jakobshalle Basel gibt es einen bemerkenswerten Kurzfilm von Severin Kuhn.1 Er beginnt mit einem Blick von weit oben auf einen unberührten Gletscher. Wolken gleiten im Zeitraffer über die bläuliche Eisfläche, die Tonspur von Julian Sartorius evoziert Windgeräusche – eine vorzeitliche, menschenleere Welt. Schnitt: Der Mensch kommt ins Bild. In zeitgenössischer Outdoorklei-dung stapft ein Mann über die nun von Geröll und Steinen bedeckte Oberfläche des Gletschers.

Der poetische Dokumentarfilm datiert die Entstehung von Eric Hattans Werk zurück in eine urvordenkliche Zeit. Tatsächlich ist Hattans künstlerischer Beitrag kein Artefakt, sondern ein natürlicher Stein, genauer: ein Findling, jahrmillionenalt. Aber erst mit dem Sprung in die Gegenwart fängt die Geschichte des Kunst-und-Bau-Projekts an. Sie beginnt mit der Suche des Künstlers nach einem Findling, den er als «Grundstein» in das neue Foyer der St. Jakobs-halle Basel integrieren will.

Kunst als «Grundstein» der ArchitekturFür die Sanierung und Modernisierung der 1975 erbauten St. Jakobshalle Basel wurde 2013 ein Architekturwettbewerb durchgeführt. Mit dem Projekt «Giovanni» ging die Basler Architektengemeinschaft Degelo/Berrel Berrel Kräutler siegreich aus dem Wettbewerb hervor. Im folgenden Jahr schrieb der Kunstkredit Basel-Stadt gemeinsam mit dem Bau- und Verkehrsdepartement einen Wettbewerb für eine künstlerische und ortspezifische Intervention aus. Gefragt war ein künstlerisches Konzept, das gemeinsam mit den Architekten zu einem integralen Projekt weiterentwickelt werden sollte. Der Künstler Eric Hattan setzte sich mit sei-nem Vorschlag in einem national ausgeschriebenen Wettbewerb gegen vier andere Projekt- ideen durch.

Berrel und Degelo erweitern die Event- und Sporthalle um ein attraktives Foyer. Eine einzige Stütze trägt dessen weit auskragendes Dach und ein Technikgeschoss. 2800 Tonnen lasten auf ihr. Diese kühne architektonische Geste wird durch Hattans Werk noch geschärft:

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Sein künstlerischer Beitrag setzt als Basis dieser Stütze einen Findling ein. Dieser «Grundstein», ebenso unübersehbar wie unverrückbar, bildet einen im Wortsinn integralen Bestandteil der Architektur.

Bei Neubauten wird der Grundstein als erstes Element und häufig in feierlicher Zeremonie gelegt. Hattans «Grundstein» behauptet somit selbstbewusst, dass hier die Kunst an den Anfang der Architektur zu stehen kommt und keineswegs einen nachträglichen Schmuck des Baus darstellt. Die Stütze, die das enorme Dach trägt, bildet dessen Verbindung zum Boden, sie «erdet» den Bau. Der Findling als natürlicher Stein ist auch ein Bild für diese Verbindung von Architektur und Erdboden. Der wuchtige Findling und die elegante Betonstütze fügen sich zu einer interessanten skulpturalen Einheit. Der Findling, organisch gerundet durch Jahr- tausende von Gletscherstreicheleinheiten, zeigt seine raue Oberfläche ungereinigt. Reste von Moos und Erde haften noch in seinen Poren. Die rechteckige, konische Stütze ist aus hellem, glattem Beton. Ihre Basis fügt sich passgenau auf den Findling, die Materialien des natürlichen und des künstlichen Steins berühren sich nahtlos.

Die Reise des FindlingsDie Entstehungsgeschichte von Eric Hattans künstlerischem Beitrag ist Teil des Werks. Seine Suche nach einem geeigneten Stein gestaltete sich schwieriger als angenommen. Es sollte ein natürlich geformter, «intakter» Stein sein, kein aus einem Steinbruch herausge- brochenes Stück. Ein Findling also, von Gletschern auf eine unvorstellbar langsame und lange Reise mitgenommen. So lange, bis der Eisfluss ihn irgendwann und irgendwo lie- gen liess, in einer Gegend, in die er geologisch gesehen nicht hingehört.

Der Künstler suchte an verschiedenen Orten nach Findlingen, reiste nach Uri,Graubünden und ins Tessin. Auch ins Internet führte die Suche und landete dabei in einem norddeutschen Vorgarten. Im Zuge der Recherche erfuhr Hattan, dass Findlinge geschützte Objekte sind, was deren Verkauf, Erwerb und Transport kompliziert. Letztlich kam der Zufall dem Künstler zu Hilfe.

Die Region, die heute Basel heisst, war nie von Gletschern bedeckt. Hattans Findling wurde immerhin bis in die Nähe von Brugg transportiert. Viele tausend Jahre später gruben ihn Bauarbeiter aus und deponierten ihn am Rand einer Kiesgrube, weil sich der 25-Tonnen- Brocken nicht zerkleinern liess. Dort lag er ein paar Jahre, bevor ihn Eric Hattan zufällig entdeckte und mit freundlicher Genehmigung des Kantons Aargau per Tieflader nach Basel brachte. (Womit dem Stein im Übrigen das Schicksal erspart wurde, künftig die leere Mitte eines Strassenkreisels zu markieren.) Im Foyer der St. Jakobshalle hat die Wanderung des erratischen Blocks nun ihr vorläufiges Ende gefunden.

Hattans Werk thematisiert nicht zuletzt diesen zeitlichen Aspekt. Auf listig-dialektische Weise erzählt hier ausgerechnet ein Stein, oft verstanden als Inbegriff des Unveränderlichen, von unaufhörlicher Bewegung und einer Reise ohne Ende. Der Findling stammt aus dem Gott-hardmassiv, das zu den ältesten Gesteinsformationen dieses Planeten gehört. Damit ver- weist seine Herkunft auf eine Dimension, die weit über die Zeiträume menschlicher Artefakte hinausreicht, auch über jene von Kunst und Architektur. In Basel wird der Findling, der als Migrant hier auch ein «Fremdling» ist, nun mindestens so lange Halt machen, wie die St. Jakobshalle Basel stehen bleibt.

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Kunst und Bau als interdisziplinäres ProjektDass bei diesem Kunst-und-Bau-Projekt die Zusammenarbeit zwischen Architekten und Künstler besonders fruchtbar gewesen sein muss, wird der Betrachterin sofort klar. Offen-sichtlich war der Stein zuerst da: Die tragende Stütze wächst gleichsam aus ihm empor. Auch davon erzählt der kurze Dokumentarfilm: Im Zeitraffer wachsen Gerüste in die Höhe, die ganze Baustelle entwickelt sich um den Findling herum.

Eine enge Zusammenarbeit zwischen Architektenteam und Kunstschaffenden bleibt oft ein Desiderat. Am Beispiel der St. Jakobshalle Basel wird deutlich, wie die optimalen Rahmenbe-dingungen für ein gelungenes Zusammengehen von Kunst und Bau aussehen könnten. Gegeben war zunächst ein grosses Interesse seitens der Architekten. Namentlich das Büro Degelo Architekten engagiert sich für den Einbezug von Kunst in Bauprojekte. So initiiert Heinrich Degelo auf Baustellen seines Büros immer wieder künstlerische Interventionen: Zu einem passenden Zeitpunkt des Bauvorhabens – sei es noch vor Baubeginn, sei es kurz vor der Fertigstellung – lädt er zur Baustellenbegehung mit ortspezifischer Performance.2 Architektur sei per se interdisziplinär, so Degelo, weshalb er in seine architektonischen Pro-jekte Kunstschaffende und Ingenieure gleichermassen integrieren will.

Beim projektierten Wettbewerb für Kunst und Bau in der St. Jakobshalle Basel waren die Architekten bereits an der Ausschreibung mitbeteiligt. Dieser frühe Einbezug von Kunst und Bau in die Architekturplanung erwies sich bereits mehrfach als wesentliche Voraussetzung für gelungene Projekte. Im Fall der St. Jakobshalle Basel wurde zudem eine vertiefte Zusam-menarbeit gesucht: Man wollte nicht einfach ein eingereichtes Werk auswählen. Gefragt war vielmehr ein künstlerischer Partner, dessen Grundidee gemeinsam mit den Architekten weiter- entwickelt werden sollte. Für das Kunst-und-Bau-Projekt wurde denn auch kein bestimmter Perimeter vorgegeben. Solche Offenheit seitens der Architekturbüros ist nicht selbstverständ-lich; ebenso gefordert war aber die Bereitschaft zur Zusammenarbeit aufseiten der Kunst-schaffenden.

Beide Parteien, Künstler wie Architekt, sind hochzufrieden mit der Kooperation. Hand in Hand sei sie verlaufen, meint Degelo; sein Projekt habe immer volle Unterstützung erhalten, berichtet Hattan. Dabei war das Unterfangen keineswegs problemlos. Vielmehr stellten sich bautechni-sche Fragen, die zuvor noch nie jemand zu beantworten hatte. So war etwa die Statik des Find-lings unberechenbar und damit die ganze Baustatik nicht auf klassische Weise zu ermitteln.

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Die Betonstütze hat einen quadratischen Grundriss, der sich nach oben zu einem länglichen Rechteck verformt. Aufgrund der statischen Probleme diskutierte man eine Placierung des Findlings als Kapitell statt als Grundstein. Dies hätte jedoch eine Veränderung der Stützenform bedingt und wurde verworfen. Im Wissen um diesen angedachten «Plan B» lässt sich das Ganze nun etwas augenzwinkernd auch als umgedrehte Säule lesen. Ein «Köpfchen im Kopfstand», formuliert der Künstler. Letztlich aber bewiesen die Ingenieure Schnetzer Puskas ihren Erfin-dergeist und entwickelten eine einzigartige Lösung für die Tragkonstruktion: Sie hängten den Stein gewissermassen an der Säule auf. Durch Stütze und Stein führt ein verborgener Stahlträ-ger, dessen gerundetes Ende im Boden unterhalb des Findlings in einer Stahlschale ruht. Diese Gelenkpfanne fängt kleinste Bewegungen des Baus und des Untergrunds auf. Auch die feine Verfugung, die durch den Baumeister ausgeführt wurde, ist meisterhaft. Stütze und Stein berüh-ren sich nahtlos, während eine normale Kittfuge störend sichtbar gewesen wäre.

Solche Lösungsfindungen für unerwartete Problemstellungen sind Teil des Kunst-und-Bau-Prozesses. Standardisierte Verfahren erweisen sich als ungenügend, um zu massge- schneiderten Lösungen zu gelangen. Das mag manche Baustellen komplizieren und gewisse Bauherren und Architekten nervös machen. Wenn jedoch Offenheit auf allen Seiten gegeben ist und die Vielfalt an Kompetenzen ausgeschöpft werden kann, wird der Prozess für alle Beteiligten zu einer Bereicherung. Im besten Fall fügen sich Kunst und Bau zu einer Einheit, die so selbstverständlich und überzeugend wirkt wie im Fall der St. Jakobshalle Basel. → Abbildung Seite 18 1 «Zuerst der Stein», Film von Severin Kuhn mit Musik von Julian Sartorius, entstanden im Auftrag von Eric Hattan: http://www.hattan.ch/works/#c27002 Weitere Baustelleninterventionen des Büros Degelo Architekten: https://www.degelo.net/#kunstinterventionen

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Die Kriterien, die neu für das Sammlungskonzept ausgearbeitet worden sind, haben sich schon im ersten Jahr auf die jüngsten Ankaufsentscheide der Kunstkreditkommission ausgewirkt. Das Tradieren und Vermitteln des qualitativ hochstehenden regionalen Kunstschaffens ist eine zentrale Aufgabe der Sammlungstätigkeit. Dementsprechend werden aktuelle Werke von lebenden Künstlerinnen und Künstlern angekauft, die sich durch eine hohe Qualität auszeichnen und für das regionale Kunstschaffen repräsentativ sind. Der Sammlungsbestand wird einerseits jedes Jahr gezielt ergänzt, anderer-seits kommt mindestens ein substantieller Ankauf von einer Position dazu, die noch nicht in der Sammlung vertreten ist.

2017 verfügte die Kommission über ein Ankaufsbudget von rund CHF 85 000. In Künstlerateliers und regionalen Institutionen wurden Werke angekauft, die in ihrer Vielfalt das reiche regionale Kunstschaffen mehrerer Genera- tionen darstellen (Geburtsjahre 1931 bis 1989). Wertvolle Ergänzungsankäufe konnten bei Dadi Wirz, Daniel Karrer, Geneviève Morin sowie Renée Levi getätigt werden. Neu vertreten in der Sammlung Kunstkredit sind Werke oder Werkgruppen von Doris Lasch, Ivan Mitrovic und Youssef Limoud.

Das 2016 im Kuratorium ausgearbeitete Konzept zur Langzeitarchivierung von Medienkunst dient als Grundlage für die aktuelle und zukünftige Konser- vierung von Film-, Video- und anderen Arbeiten aus dem Bereich der Neuen Medien. Der Kunstkredit hat nun als erste Sammlung in der Region seinen Medienkunstbestand unter Beiziehung externer Fachpersonen in ex-emplarischer Weise für die langfristige Erhaltung aufbereitet.

Dank langjährig aufgebauten Kontakten mit den jeweiligen institutionellen Partnern hat der Kunstkredit geeignete Depotlösungen für Werke mit speziel-len Lager- und Vermittlungsansprüchen finden können: Interaktive Werke im Bereich der Medienkunst wurden dem Haus für elektronische Künste als Deposita übergeben, eine raumgreifende Installation von Dadi Wirz wurde dem Kunstmuseum Olten anvertraut.

Der rege Leihverkehr innerhalb und ausserhalb der kantonalen Verwaltung führt dazu, dass die Sammlung Kunstkredit in der Öffentlichkeit wahrgenom-men wird. Das, aber auch das Alter der Bestände, bringt eine zunehmende konservatorische Betreuung der Werke mit sich.

SAMMLUNG

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Doris Lasch (*1972)«Quelques erreurs d’interprétation», 2016 8 Heliogravüren, Papier, gerahmt, je 47 x 39.5 cm (Blatt)CHF 12 000

«Nonobjective», 2017 Farbe auf Fotopapier, gerahmt, 204 x 125 cm (Blatt)CHF 8000 Renée Levi (*1960) «Angelika», 2014 Acryl auf Leinwand, 190 x 190 cm CHF 15 000

«Angelika», 2014/2017 Acryl, Öl auf Leinwand, 190 x 190 cm CHF 15 000

Daniel Karrer (*1983) «Ohne Titel», 2017 Öl auf Glas, 72 x 87 cm CHF 4700

Geneviève Morin (*1963)«Dents de Lion», 2017 Öl auf Leinen, 160 x 90 cmCHF 5000

Ivan Mitrovic (*1989) «Don’t Fuck with an Artist», 2014 Öl auf Leinwand, 180 x 150 cmCHF 3850

«Ohne Titel», 2017Öl auf Leinwand, 100 x 70 cmCHF 1550

Dadi Wirz (*1931)«Memorabilia», 1980-1999 3 Blechregale, ca. 150 Objekte, Masse variabelCHF 10 000

Youssef Limoud (*1964) «Untitled (Ruins)», 2016/2017 Installation, Karton, Holz, Leim, Sand, Masse variabelCHF 12 000

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PERSONELLES

Mitarbeitende der Abteilung Kultur, Kunstkredit Basel-StadtDr. Katrin Grögel, Beauftragte für Kulturprojekte und Leitung Kunstkredit; bis 31.12.2017Dr. des. Simon Koenig, Beauftragter für Kulturprojekte und Leitung Kunstkredit; seit 1.5.2018Isabel Fluri, Kuratorin der SammlungRené Schraner, Kurator der SammlungClaudia Gürtler Subal, RestauratorinLivia Möckli, SachbearbeiterinOliver Minder, Technischer Mitarbeiter Leihverkehr (im Auftragsverhältnis)Jan Kiefer, Technischer Mitarbeiter Depotbewirtschaftung (im Auftragsverh.); bis 31.12.2017David Berweger, Technischer Mitarbeiter Depotbewirtschaftung (im Auftragsverh.); seit 1.1.2018

temporäre MitarbeitendeMadeleine Amsler, Beauftragte für Kulturprojekte und Leitung Kunstkredit; 1. 1. bis 30.4.2018Nina Wolfensberger, wissenschaftliche Mitarbeitende; 1.3. bis 31.5.2018

Kunstkreditkommission 2017Dr. Katrin Grögel, Vertreterin des Präsidialdepartements (Vorsitz)Beat Aeberhard, Vertreter des Bau- und Verkehrsdepartements Basel-StadtClaire Hoffmann, Kunstwissenschaftlerin und Kuratorin deuxpieceKarin Hueber, KünstlerinSamuel Leuenberger, freier Kurator und Initiant Kunstraum SALTSClaudia Müller, KünstlerinKilian Rüthemann, KünstlerNele Stecher, KünstlerinJudith Welter, Direktorin Kunsthaus Glarus

Kunstkreditkommission 2018Madeleine Amsler, Vertreterin des Präsidialdepartements a. i. (Vorsitz); 1.1. bis 30.4.2018Dr. des. Simon Koenig; Vertreter des Präsidialdepartements (Vorsitz); seit 1.5.2018Beat Aeberhard, Vertreter des Bau- und Verkehrsdepartements Basel-StadtKarin Hueber, KünstlerinSamuel Leuenberger, freier Kurator und Initiant Kunstraum SALTSClaudia Müller, KünstlerinKilian Rüthemann, KünstlerSarina Scheidegger, KünstlerinPhilipp Selzer, wissenschaftlicher Mitarbeiter Kunstmuseum Basel, GegenwartskunstJudith Welter, Direktorin Kunsthaus Glarus

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BILDNACHWEIS

Sofern nicht anders angegeben, wurden die Fotos von den jeweiligen Künstlerinnen und Künstlern zur Verfügung gestellt. Wir danken allen Rechteinhabern für die Genehmigung zur Reproduktion.

Performancepreis SchweizLee Li Photography / Performancepreis Schweiz 2017

Kunst und Bau / Kunst im öffentlichen RaumSerge Hasenböhler

Kunst und Bau – St. JakobshalleOlivier Christe

Kunst und Bau – Klinikum 1 und 2Marc Straumann, Beat Brogle

Karin Borer Muriel Hediger, Courtesy the artist, Valentina Suter, Courtesy the artist

Werkbeiträge Matthias HuberBernhard Strauss

Werkbeiträge Dominique Koch Julien Félix, Courtesy the artist

Werkbeiträge Raphael LinsiAlex Kern

Werkbeiträge Mia SanchezMax Reitmeier, Marc Doradzillo

Ankäufe für die SammlungKunstmuseum Olten & Kaspar Ruoff (Dadi Wirz), Stefanie Herrmann und Tomas Germann, Herrmann Germann Conspirators (Daniel Karrer), Kunstkredit Basel-Stadt.

Sammlung in situGina Folly

IMPRESSUM

Herausgeberin und Information Abteilung Kultur Basel-Stadt, KunstkreditPräsidialdepartement des Kantons Basel-StadtMarktpatz 30aCH-4001 BaselTel. +41 (0) 61 267 43 [email protected]

AutorentexteMarcel Bleuler, Sibylle Ryser, © Abteilung Kultur Basel-Stadt, Kunstkredit

Alle anderen Texte und RedaktionIsabel Fluri, Katrin Grögel, René Schraner, Abteilung Kultur Basel-Stadt

LektoratKatrin Grögel, Simon Koenig, René Schraner, Abteilung Kultur Basel-Stadt; Patrizia Guarnaccia, Fachmandat Kunst und Bau, Hochbauamt Basel-Stadt

KorrektoratHubert Bächler, Zürich

Gestaltung Andreas Hidber, accent graphe, Basel

DruckSchwabe AG, Basel / Muttenz

Auflage1000 Exemplare

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