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Katalog zur Ausstellung von Franz Riegel im Kornspeicher Lelkendorf

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Franz Riegel

Le lait c’est moi

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Le lait c’est moi Franz Riegel

Ausstellung im Kunstsalon Lelkendorf 12. bis 19. Juli 2008

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Franz Riegel

Le lait c’est moi

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Marek hatte den Drehwurm bekommen und wurde geschlachtet, dieKatze, die fünfzehn Jahre auf seinem Bauch gelebt hatte, erstickte an einerlebendig verschluckten Maus, und Herr Liddl hatte sich nicht für seineMilchtüten interessiert. Bauer Eggert sagte zu Rosi, Unsereiner müsse damitauf die MELA gehen, Milchtüten haben in einer Kunstausstellung nichts zusuchen.

Am Samstag war dann Eggerts 211 im Ostkurier abgebildet, und amSonntag kamen die Bauern, wie abgesprochen, in Stallkleidern. Sie fandendie riesigen Kühe schick, nur Eggert war nicht begeistert. Die 211 war so neLiebe, das hatte sich herauskristallisiert, aber doch nicht in den Kleider von‘nem Franzosenkönig. Eines seiner Kälbchen hatte Unsereiner unter eineDDR-Straßenlaterne gelegt und Lilli Marlen darunter geschrieben. Was dasnu wieder sein sollte: einem vier Tage alten Kalb die Lippen anmalen, das isunanständig, und Kunst is was anderes.

Obwohl – neben dem Geschmiere der anderen Künstler waren die Küheein Lichtblick.

Der Künstler Riese rümpfte die Nase, es roch nach Kuhstall.

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power-riegel bastelt ein Kunstplakat

Was kann man falsch machen, wenn man den Text 1. Kunstsalon der MecklenburgischenSchweiz in schwarzen Buchstaben auf weißen Grund schreibt?

Ich hatte es nicht anders erwartet, das Wort “KUNSTSALON” und der alte Speicherbissen sich, und je länger ich auf dem Wort SALON herumkaute, desto wenigerschmeckte es mir. Es roch muffig, nach Gesellschaftszimmer. Der internationale Auto sa-lon von Genf flog vorbei, ein Frisörsalon, ein Hundesalon und ein Waschsalon. DerSALON hatte ein riesiges Maul, das alles fraß, was man hineinstopfte.

Ich versuchte es mit KUNSTSPEICHER. Kunst wird im Speicher gesammelt und ge-zeigt, wird verkauft und über das Land verteilt. Den KUNSTSPEICHER heiterte ich mit453 bescheidenen Gänseblümchen auf, die den elf Künstlern der MecklenburgischenSchweiz den Vortritt ließen.

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Ich fand den Salon de Paris, eine Kunstausstellung, die - initiiert von Ludwig der XIV -erstmals 1667 stattfand. Ludwig der XIV. Der Sonnenkönig.

L'État, c’eSt Moi! – Der Staat bin ich!

Der Salon de Paris war den Mitgliedern der königlichen Kunstakademie vorbehalten unddiente dazu, den offiziellen höfischen Kunstgeschmack zu propagieren. Die Kunst wurdeim Interesse königlicher Politik instrumentalisiert. Sie stand im Dienste der Verherrlichungdes Königs und seiner Ziele.

Also nicht nur L'ÉTAT, C’EST MOI! sondern auch L'ART, C’EST MOI! – Die Kunstbin ich. Der Sonnenkönig konnte gar nicht anders, er war Absolutist.

Erst 1799, nach der Französischen Revolution, stand der Salon de Paris auch anderenKünstlern offen. Die Auswahlkriterien waren konventionell, neue Ideen wurden unter-drückt, es kam zu Intrigen und Unregelmäßigkeiten. 1863 lehnten die Juroren das Gemälde„Frühstück im Grünen“ von Édouard Manet ab. Eine nackte Frau bei zwei bekleidetenMännern hatte im Salon nichts zu suchen. Manet und die anderen abgewiesenen Künstlerprotestierten heftig, und nun geschah etwas Unerwartetes: Napoleon III. verfügte, dass diebgelehnten Werke parallel zum Pariser Salon im SALON DER ZURüCKGEWIESENENgezeigt wurden.

Langsam wurde ich mit dem Salon warm.

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Haben Sie sich schon mit Kühen beschäftigt?Möglicherweise fragen Sie zurück: WOZU? Vielleicht, um etwas Neues zu sehen, Bekanntes einmal anders zu erleben, um zu stau-

nen, um zu lachen. Und weil sich Franz Riegel im Frühjahr 2008 seiner Region mit ihrenKühen widmet und der Milch.

Franz Riegel lebt in der Mecklenburgischen Schweiz. Informationen, die der Lebensortoder seine Wahlheimat ihm darbietet, sei es ein Zeitungsbericht über den Kampf derMilchbauern um angemessene Preise, sei es das Gewahrwerden einer Kuhherde auf derWeide am Rande seines Dorfes, löst einen Synapsensturm in seinem Gehirn aus: Bekanntesverbindet sich mit passenden und mit unpassenden Informationen.

Die Heimat als Kraftfutter für Riegels Synapsen

Was er sieht und hört entwickelt sich traumhaft-assoziativ weiter, beginnt ein eigenesInnenleben und ein verändertes Äußeres anzunehmen, geht Koalitionen mit anderen Bil-dern und Geschichten ein, wird zum Eigenen, zum Phantastischen Blick. Dieser phantasti-sche Blick, über den der Betrachter stolpert- und stolpern soll, wird über die Jahre inseinem Beruf, der Werbung, geschärft und weiter entwickelt - manchmal auch als trotzigesGegenprogramm zu eher konservativen Auftraggebern. In den letzten Jahren ermöglichentechnische Weiterentwicklungen aber auch seine jahrelange handwerklich-technische Erfah-rung die Entstehung neuer Digitaler Kunst. Eigene Fotografien werden als Bilddateien ge-speichert und nachträglich manipuliert, verfremdet, neu zusammengesetzt und komponiertoder zu Bildern alter Meister in Beziehung gesetzt sowie anschließend auf verschiedeneUntergründe gedruckt und schließlich als Bild oder als Objekt weiterverarbeitet.

In der hier gezeigten Serie milk, milk, milk werden wir damit konfrontiert, dass ein Le-bensmittel zur Ware verkommt, die billig sein soll, zu einer Ware, deren Produktionsbedin-gungen uns egal sind. Milch und Kuh gehören nicht mehr zusammen. Milch kommt alsIndustrieware aus dem Supermarkt. Franz Riegel bringt die Kuh wieder ins Spiel und zeigt,dass sie es ist, die die Milch hergibt: La Lait c’est moi – Die Milch bin ich! Er entwickelt ausseinen Porträtfotografien von Kühen Bilder, die das Unverwechselbare, den Charakter derKühe, ihr Gesicht, also ihre Individualität herausarbeiten. Er zeigt diese komponierten Por-traits teilweise in großen Formaten, und ermöglicht es dem Betrachter so, diesen Tierensehr nahe zu kommen, ihnen in die Augen zu schauen. Aber er löst sie auch aus dem ge-wohnten Kontext und zeigt sie ver-rückt - etwa im Spiegelsaal von Versailles, als Lolita imNeonlicht oder als traurige Kuh, die sich Schweinsteiger nennt. Daneben zeigt er Objekte,die an Industrieware erinnern. Franz Riegels Milchtüten aber sind verblüffend anders. Sieverwirren, sind surreal. Sie zeigen die Wirklichkeit hinter der sichtbaren Wirklichkeit. Erversieht die Tetra Pack- Milchtüte mit dem Porträt der Kuh, die die Milch hergegeben hat

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und rekonstruiert damit unsere Beziehung zum Lebensmittel. Er ersetzt die gemalte Idylleder Alditüte durch ein neues, irritierendes Bild, etwa, wenn er die Milchtüte mit einem über-dimensionalen Euter bedruckt. Die Sache hat plötzlich vier Seiten – man kann sie drehenund wenden, wie man will, was neue Assoziationen auslöst, vielleicht diese: Milchquote –Wettbewerb – Meisterschaft – Globalität – deutscher Meister. Die Fußballkühe spielen inder obersten Liga –für 40 Cent?

Die Kuh in Franz Riegels milk, milk, milk - Serie hat Würde. Sie legt sich zu Füßen desSonnenkönigs, umgeben von Goldtressen, Hermelinumhängen und Höflingen. Aber siehat keine Chance: Der Monarch, der Sonnenkönig von heute, die kapitalistische Warenwirt-schaft, ist stärker: Letat c’est moi! Die Kuh geht unter, man sieht sie kaum, das Dekorative,die Symbole für Reichtum und Verfügbarkeit fallen stärker ins Auge. Nur für einen Mo-ment – im Kontrast zum blank geputzten Spiegelsaal in Versailles - wird sie gesehen. DieHöflinge wollen die Milch trinken, aber nicht an die Kuh denken. Ware sollte sauber sein,uns nicht mit verpflichtenden Assoziationen belästigen. Die Kuh verlässt den Spiegelsaal,schleicht sich auf die Milchtüte und blickt den Betrachter an: empört, verletzt, grinsend,ängstlich oder mit einem Augenzwinkern…. L’ art c’ est moi!

Dr. Brigitte Arend

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Die Zweihundertsiebenundzwanzig, das hat sich rauskristallisiert, dass ich die schick finde. Das ist so ne Liebe.2006 Montierte Fotografien, digitalisiert, gerahmt. 42 x 52 cm, 41.512.147 Pixel

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resi und clara, 2008Montierte Fotografien, digitalisiertauf Papier und Sperrholz105 x 160 cm, 289.269.328 Pixel

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Kuhnachten, 2009Montierte Fotografien, digitalisiert235 x 125 cm, auflage 2000

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Durst ist schlimmer als Heimweh

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Miss Lütten Markow:"Ich danke meiner Mutter, meiner Visagistin und dem gesamten Team."

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Nur wo wir auf der Weide stehen, kann man auch Touristen melken.

Wenn de ‘ner Leistungskuh das Euter wegschneidest, fliegt se dir davon.

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clara 2008Montierte Fotografien, digitalisiert auf Papier und Sperrholz, 105 x 160 cm, 289.268.615 Pixel

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An jenem Sonntag Morgen, als es unerwartet so finster wurde, dass ich das Licht anknip-ste, als die Luft schwül und süß nach Urwald und Amazonas roch, legte ich mich zu Elisa-beth ins Bett und, erzählte ihr, dass ich Kühe fotografiert hatte, auf eine Weise, als hätte ichnie zuvor eine Kuh gesehen.

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Eine Kuh für Lütken Markow

Tach schön,heute erzähle ich Ihnen eine Geschichte aus einem Dorf am Ende einer Schlaglochpiste.

Lütken Markow hat keine Kirche, kein Wirtshaus, nicht einmal einen Bolzplatz. Wofürauch? Die Kinder sind längst erwachsen und der Arbeit hinterher nach Berlin und Ham-burg gezogen. Dafür gibt es in Lütken Markow den weiten Blick, und jedes der zehn Häu-ser hat einen Kartoffelacker, einen Gemüsegarten und eine Streuobstwiese. In LütkenMarkow leben mehr Hühner als Menschen, und hier spielt meine Geschichte.

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„Hamsterkäufe lassen Butter knapp werden“, titelte der Ostkurier, „die steigenden Milch-preise hinterlassen Spuren in der Region“.

„Wie sehen Milchpreisspuren aus?“, überlegte Xaver Unsereiner, der bayerische Milchtü-tendesigner, den es nach Lütken Markow verschlagen hatte, als es an der Türe klopfte.Draußen stand Hugo. „Hast du schon gehört, die Butter wird knapp? Darüber wollte ichdir Bescheid geben, man muss sich beeilen, Netto gibt nur noch zehn Stück ab“.

„Ich habe es gerade gelesen“, sagte Unsereiner, „der Einkaufspreis von Magermilch istvon 18 auf 36 Cent hochgeschnellt“.

„Milch is nich das Problem“, sagte Hugo, „bei der H-Milch bleibt alles beim Alten, aberButter kostet morgen doppelt so viel, haste nich gelesen: Milchboom treibt die Preise. Abernu muss ich los. Wir sehn uns ja zun Kaffee heute“.

Xaver Unsereiner saß bereits am Geburtstagstisch, als Frau Siebenhaar durch das Garten-tor trat. „Mein Mann kommt später“, sagte sie und rollte die Augen, „er ist Butter kaufen.“

„Hugo auch“, sagte Anita, „bei Netto is schon ausverkauft, jetzt versucht er es beiLiddl“.

„Dann darf Hugo in Zukunft nur noch dünn Butter auf die Pellkartoffel tun“, sagteXaver Unsereiner.

„Was redest du über mich?“, fragte Hugo, der mit einem Karton vor dem Bauch durchdie Gartentür kam.

„Dass du nur noch dünn Butter auf die Kartoffeln bekommst“, sagte Xaver Unsereiner.„Ich hab genug Butter“, sagte Hugo, „hilf mir lieber mal bein Ausladen, der Dr. Sieben-

haar ist auch schon da.“In diesem Moment sah Xaver Unsereiner das Bild der Milchpreisspuren. Wie Ameisen

fuhren Hugo, Dr. Siebenhaar, Rocco, Guido und Maik in ihren klapprigen Autos überLand, von Netto zu Aldi, von Aldi zu Liddl, und von Liddl zu Norma, schleppten Butter-stücke heraus und stapelten sie in ihren Klapperkisten.

„Ja. Man müsste die Verantwortlichen fragen, wer genau die Leute sind, die ihre klebri-gen Finger im Portemonnaie der Verbraucher haben“, sagte Dr. Siebenhaar, „außerdemhabe ich schon immer gesagt, dass es falsch ist, Korn zu verbrennen. Und was musste ichhören? Neue Zeiten verlangen neue Lösungen und schlimmeres. Na ja, zwar schiebt manes auf die Chinesen und auf die Inder, die neuerdings angeblich auf den Geschmack vonMilch gekommen sind, aber ich sage noch einmal: Korn geht zu Brot und nicht in denOfen. Wer Korn verbrennt, darf sich nicht wundern“. Der studierte Agronom, der seit derWende in Rente war, zog einen Kamm aus der Tasche und fuhr sich durch das gewellte sil-bergraue Haar.

„So, nu is aber genug mit all die Politik“, sagte Anita, „Hugo schenk Kaffee nach.“„Ja. Na ja, eines möchte ich noch erwähnen“, sagte Dr. Siebenhaar, „die heute erfolgten

Preiserhöhnungen sind lediglich eine logische Konsequenz des an sich normalen Verhaltens

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der Lebensmittelerzeuger. Und nun wollen wir einen Toast auf das Geburtstagskind aus-sprechen, ich nehme einen Eierlikör.“

Anita schenkte aus, nur Hugo, der vor vielen Jahren das Trinken gehabt hatte, stieß mitder Kaffeetasse an.

„Jetzt, da die Butter so teuer ist, solltest du dir eine Kuh halten“, sagte Xaver Unsereinerzu Hugo.

„Du weißt doch nich mal ne Kuh zu melken“, lachte Hugo.„Ich muss nicht melken können“, gab Xaver Unsereiner beleidigt zurück. Ich kann mir

Milch kaufen soviel ich will, und dick Butter für die Kartoffeln habe ich auch.“Frau Siebenhaar fragte nach dem Rezept der Sahnetorte. „Ein Pfund Quark, zwei Be-

cher Sahne, ein viertel Pfund Butter …“ zählte Anita auf. „Wenn ich dünn Butter auf die Pellkartoffeln geben muss, is morgen mit so nen Ge-

burtstagskuchen hier auch Schluss“, baffte Hugo.„Ja. Na ja, dann wollen wir die Gunst der Stunde nutzen,“ sagte Dr. Siebenhaar, „könnte

ich noch ein Stück von der Schokoladentorte bekommen?“„Aber Emil, dein Cholesterin!“ rollte Frau Siebenhaar die Augen.„Wenn du eine Kuh hättest“, sagte Xaver Unsereiner, „dann könnte deine Frau weiter so

leckeren Kuchen backen. Genügend Land hast du doch“.„Ja, na ja. Heutiges Tiermaterial gibt 4000 Liter Milch, das kann Hugos Haushalt nicht

verbrauchen“, sagte Dr. Siebenhaar, “Hugo müsste sich eine Kuh mit geringer Milchleis-tung anschaffen“.

„Ich will keine Kuh“, sagte Hugo, „und so ne Billigkuh schon gar nicht, ich habe genugan den Dr. Siebenhaar seine Hühnerkrüppel“.

„Na, dann musst du weiterhin die Pellkartoffeln mit ganz dünn Butter essen“, sagteXaver Unsereiner.

„Du mit dein Land un mit dein Stall! Kommst aus’n Westen rüber, lässt annere für dichschuften und sitzt selber auf deine Veranda und saufst Weißbier“.

„Hugo, nu mach aber halblang“, sagte Anita. Und nun erzählte sie, dass die Arbeitsagen-tur Hugo aufgefordert hatte, sein Grundstück zu verkaufen.

Ab 01.03. wurden Ihnen Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes als Darlehenbewilligt, da sie über Grundstücksvermögen verfügen. Dazu wurden Sie am 11.04. und26.09. beauflagt, das Grundstück zu veräußern und die Bemühungen dazu nachzuweisen.Nach den mir vorliegenden Unterlagen haben sie die überzahlung verursacht. über IhrePflichten als Leistungsempfänger sowie über die Tatbestände, unter denen die Anspruchs-voraussetzungen wegfallen, sind Sie durch das Merkblatt für Arbeitssuchende unterrichtetworden.

So stand das im Schreiben von der Agentur für Arbeit, und unterm Strich bedeutete das,dass Hugo keine Hartz IV mehr bekam und 526,80 Euro zurückzahlen musste. Denn wermehr als achthundert Qudratmeter Grund besaß, musste diesen verkaufen, von dem Erlösleben, erst dann wurde er wieder unterstützt. Aber dann besaß er nichts mehr. Keinen Kar-

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toffelacker, keinen Gemüsegarten und keinen Platz für die Hühner. „Ich verkauf mein Land nich“, sagte Hugo, „nich an West-Agrar, und nich an dich. Dat

is wie mit die Kuh. Jeder bekommt sein Teil, nur ich bekomm den Schwanz und da hängtnoch die Scheiße dran“.

„Ich kenn mich mit Kühen nicht aus“, sagte Xaver Unsereiner, „aber wenn eine ganzeKuh für Dich zu viel ist, dann kaufen wir uns zusammen eine. Ist ja nur so ne Idee.“

„Nu hör aber uff“, bölkte Hugo. „Du redest auch nich anners als die verdammten Partei-bonzen, die anno 56 zu mein Vater aufn Hof kamen und fragten, ob er für `n Frieden ist.Und natürlich war mein Vater für `n Frieden“.

„Ja. Wir waren doch alle für den Frieden damals“, redete Dr. Siebenhaar dazwischen.„Und was haben die Parteibonzen gesagt? Dann stärkst du die Leistungsfähigkeit der

DDR, und wirst Mitglied inne LPG. Und über Nacht waren wir Typ 3, dat Russenmodell,und waren nun alle Millionäre. Un nu kommst du un willst wegen die Kuh mein Boden mitdein Boden zusammenlegen, aber ich geb mein Boden nich her“. Hugo lehnte sich in sei-nem Campingstuhl zurück und guckte triumphierend.

„Melken ist kein Problem“, sagte Anita. „Ich kann auch melken“, sagte Frau Siebenhaar. „Im langfristigen Trend werden sich die Milchpreise nach oben bewegen“, zitierte Xaver

Unsereiner den Ostkurier.

Zu Hause angekommen malte er eine Kuh. Sie hatte ein verdrehtes und ein verkrüppel-tes Horn und große, sanfte Augen. Xaver Unsereiner malte ihr rote und gelbe Streifen aufdie Stirn, dass sie aussah wie die heiligen Kühe in Indien, und über dem Kopf der Kuhschwebte, wie ein Heiligenschein, eine weiße Wolke, so dass Herrn Xavers Kuh aussah wieResi von Weihenstephan.

Ein paar Tage später, als Frau Siebenhaar frische Eier brachte, zeigte ihr Xaver Unserei-ner das Bild.

„Ich glaube, eine Gemeinschaftskuh für Lütken Markow ist eine gute Idee,“ sagte FrauSiebenhaar.

„Dann darf ich Sie als Erste in das Bild hineinmalen?“„Mich und meinen Mann auch, dem kann man gar nicht genug Milch geben“. Dann kam

Anita an die Reihe, sie saß auf dem Melkschemel und trug die Plakette, die sie als besteHandmelkerin Mecklenburgs auswies, und als letzter ließ sich Hugo in das Bild malen. Erhatte seinen Hochzeitsanzug angezogen und stand am Ende der Kuh, neben dem Schwanz.

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Ich hatte Lust zu spielen, albern und einDilettant* zu sein. Mit dem Sonnenkönigund der Kuh Louise setzte ich mich in denSandkasten der Kunst, und während Louisemit dem Sonnenkönig darüber stritt, wer dieKunst und wer die Milch sei, erlernte ichden Beruf des Milchtütendesigners.

----------------------------------------------------------------------------------------------------------------ital. dilettare "sich ergötzen". Der Dilettant übt eine Sache um ihrer selbst Willen aus,

also zum Vergnügen.

thea - objekte 2008tetrabrik-tüten mit Giebelfaltung und DrehverschlussMontierte Fotografien, digitalisiertFotopapier und Kunststoffe

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Milchfit - objekt 2008tüte mit Daschfaltung und Drehverschluss, montierte Fotografien, digitalisiertFotopapier und Kunststoffe

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Wir sind das Volk - objekt 2008tetrabrik-tüte mit Giebelfaltung und DrehverschlussMontierte Fotografien, digitalisiertFotopapier und Kunststoffe

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ich bin die Milch - objekte 2008tetrabrik-tüten mit Giebelfaltung und Drehverschluss, montierte Fotografien, digitalisiertFotopapier und Kunststoffe

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Louise im Spiegelsaal - objekt 2008ausschneidebogen für tetrabrik-tüte mit Giebelfaltung und Drehverschluss, montierte Fotografien, digitalisiertFotopapier und Kunststoffe

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Louise beim Sonnenkönig

Der alte Mann stand in Seidenstrumpfhosen und Schuhen mit roten Schnallen in seinemWohnzimmer. Sein Mantel war mit Bourbon-Lilien bestickt und mit Hermelin gefüttert.Eine Hand hatte er maniriert auf der Hüfte abgestützt, die andere hielt sein Zepter.

„L'État, c’est moi! Der Staat bin ich”, sagte er.„Dann bin ich die Milch“, sagte Louise.„Das ist nicht möglich. Der Staat schließt alle Ressourcen ein, alle Rohstoffe, Energie-

quellen und Mannstunden, die das Land besitzt. Ich bin der Staat, also bin ich die Milch.”"Am Ende wollen Sie auch noch die Kuh sein?” fragte Louise schnippisch.

Der Sonnenkönig lachte irre. Natürlich war er auch die Kuh. „Louise, Sie sind irgendeine Kuh und geben eine bestimmte Menge Milch. Doch weil Sie

Milch geben, sind Sie nicht Milch. Der Staat bin ich, die Milch bin ich, die Kuh bin ich. Wasdem Jupiter erlaubt ist, ist dem Ochsen noch lange nicht erlaubt.“

„Gegen den Ochsen verwahre ich mich!“ Louise wendete sich ab, ihre Hufe klackerten auf dem gewienerten Parkett wie Stöckel-

schuhe, doch als sie vom Wohnzimmer des Sonnenkönigs in die Unendlichkeit der Spiegel-galerie blickte, wurde ihr schwindlig. Durch siebzehn deckenhohe Bogenfenster strömteder Park von Versailles wie Licht herein und durch die ebenso großen Spiegel auf der ande-ren Seite wieder hinaus. Louise verdrehte die Augen und wackelte mit den Ohren.

Als sie später von ihrem Ausflug nach Versailles erzählte, konnte sie nicht mehr sagen,wie sie der Idee verfallen war, sie sei die Kunst. War es das Lampenfieber vor dem cowwalkdurch den Spiegelsaal gewesen? Oder die Diskussion darüber, ob Milchtüten Kunst sindoder zumindest sein könnten? Louise hatte Modell für eine verblüffende, surreale Milchtüte

gestanden. Daran erinnerte sie sich, als König Ludwig sie einen Ochsen genannt hatte.“Ich bin die Kunst!” sagte sie ein wenig selbstverliebt zum Sonnenkönig.

„Der Staat schließt auch die Kunst ein.”„Das hätten Sie wohl gerne, aber Sie haben nicht einmal ein Euter.” Louise, tausendfach gespiegelt, drehte sich ins Profil und wackelte mit dem Hintern; ihr

Euter bebte wie Götterspeise. Sie hatte kein Gramm Fett zu viel, jede Rippe war deutlichabgebildet, das Euter war prall und gut geädert. An Louises Euter war jeder willkommen.Da gab es keine Dogmen, keine Paradigmen, keinen Rassismus, keine Wichtigkeiten undkeine Religionen.

„Ich bin die Kunst”, sagte Louise.Der Sonnenkönig schüttelte den Kopf. „Louise, Sie haben nichts verstanden. Wenn man ihnen das Euter wegschneidet, fliegen

Sie davon!” Aber letztendlich waren ihm Louise und die Kunst egal.

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Die Kuh Louise zu besuch im Kunstsalon Lelkendorf

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Franz Riegel lebt in der Mecklenburgischen Schweiz. In-formationen, die der Lebensort oder seine Wahlheimatihm darbietet, sei es ein Zeitungsbericht über den Kampfder Milchbauern um angemessene Preise, sei es das Ge-wahrwerden einer Kuhherde auf der Weide am Rande sei-nes Dorfes, löst einen Synapsensturm in seinem Gehirnaus: Bekanntes verbindet sich mit passenden und mit un-passenden Informationen. Die Heimat als Kraftfutter fürRiegels Synapsen.

L’ art c’ est moi! Die Kuh in Franz Riegels milk, milk,milk - Serie hat Würde. Sie legt sich zu Füßen des Sonnen-königs, umgeben von Goldtressen, Hermelinumhängenund Höflingen. Aber sie hat keine Chance: Der Monarch,der Sonnenkönig von heute, die kapitalistische Warenwirt-schaft, ist stärker: L’ Etat c’est moi! Die Kuh geht unter,man sieht sie kaum, das Dekorative, die Symbole fürReichtum und Verfügbarkeit fallen stärker ins Auge. Nurfür einen Moment – im Kontrast zum blank geputztenSpiegelsaal in Versailles – wird sie gesehen. Die Höflingewollen die Milch trinken, aber nicht an die Kuh denken.Ware sollte sauber sein, uns nicht mit verpflichtenden As-soziationen belästigen. Die Kuh verlässt den Spiegelsaal,schleicht sich auf die Milchtüte und blickt den Betrachteran: empört, verletzt, grinsend, ängstlich oder mit einemAugenzwinkern….

L’ art c’ est moi!

Dr. Brigitte Arend