lernende fÜr lernende? · 2017. 11. 17. · lernende fÜr lernende? wie lärm unsere...
TRANSCRIPT
LERneNDe FÜR LERnEnDE?wie Lärm unsere Lernfähigkeitbeeinträchtigt
hÖREn ALLEInE gEnÜgT nIchT, um zuhÖREnzu BEwäLTIgEnInterview mitProf. Dr. maria klatte
NR. 20 MRZ/2013
Landesschulamt und Lehrkräfteakademie
hessischeskultusministerium
Landesschulamt undLehrkräfteakademie
Kirchgasse 265185 Wiesbaden
www.lsa.hessen.de
BB20_umschlag_130314_final_RZ.indd 1-2 14.03.13 10:58
EDITORIAL
DAs unTERschäTzTE RIsIkO
Liebe Leserinnen und Leser,
„Frei von Belästigungen zu leben, ist ein anerkannter sozialer Wert“, so das Umweltbundesamt. Das Recht auf körperliche Unversehrtheit ist sogar ein Grundrecht, das auf Bildung ein Menschen-recht. Demgegenüber stehen schockierende Zahlen: 45.000 gesunde Lebensjahre von europäischen Kindern gehen jährlich verloren, weil sie kognitive Störungen haben, 903.000 Lebensjahre pro Jahr sind beeinträchtigt durch Schlafstörungen und 61.000 gesunde Lebensjahre gehen EU Bürgern in jedem Jahr durch koronare Herzerkrankungen verloren. Die Ursache: Lärm.
Der menschliche Organismus ist darauf ausgerichtet, Schall zu empfangen, sonst könnte er nur schwer kommunizieren, interagieren, ein soziales Wesen sein. Wir orientieren uns mit seiner Hilfe und werden durch ihn auch gewarnt. Schall in Form von Sprachsignalen ist wesentlicher Bestandteil des Unterrichts-geschehens. Aber Schall bedeutet auch Störgeräusche, Beeinträchtigungen, Lärmbelastung. Und so sind Stress, Lern- und Konzentrationsprobleme, Herz-Kreislauferkrankungen und ganz aktuell erforscht – auch genetische Veränderungen – nur einige Schattenseiten unerwünschter Schallerlebnisse.
Lärm ist nicht nur für die Gesundheit, sondern auch für die Schule und den Lernerfolg der Schülerin-nen und Schüler ein wichtiges Thema. Denn er behindert massiv Kommunikations- und Behaltens-leistungen. Lautes Reden, verzerrte Sprache, Nachhall, Verständnisschwierigkeiten, Abriss von Gedanken ketten, … ein unwillkommenes Kommunikationsinferno.
Die Problematik, die sich jetzt ihren Weg in das Bewusstsein und die Öffentlichkeit bahnt, ist lange Zeit unterschätzt worden. Welche Auswirkungen die Lärmproblematik auf Lernprozesse, das Arbeits klima und Wohlbefinden hat, erfahren Sie im Leitartikel und Interview. Darüber hinaus bieten wir Ihnen ein kleines Methodenrepertoire zur Lernprozessbegleitung, spannende Einblicke in die Kompetenz-orientierung und in formative Diagnosekompetenzen sowie Ausblicke auf das Abitur.
Die Redaktion der BILDung bewegt wünscht Ihnen ruhige, konzentrierte Lern- und Leseumge-bungen. Grüßen Sie Ihr Gehör!
sabine stahlChefredakteurin
2 BILDung bewegt NR. 20 MRZ/2013
TERmInhInwEIsE
Veranstaltungen im April 2013
26. – Jahrestagung der Deutschen gesellschaft27. für soziale Arbeit (DgsA) Wahrnehmen, Analysieren, Intervenieren. Zugän-
ge zu sozialen Wirklichkeiten Ort: FH Frankfurt am Main nähere Informationen: www.fh-frankfurt.de/de/
fachbereiche/fb4/aktuelles_und_termine/veran-staltungen/dgsa2013.html
27. JuBi – Die Jugendbildungsmesse: messe für schüleraustausch, high school, sprachreisen, Praktika, Au-Pair, work & Travel und Freiwilligendienste
Ort: Wilhelmsgymnasium Kassel nähere Informationen:
http://www.weltweiser.de/jugendbildungsmes-sen/kassel-schueleraustausch-hessen.htm
Veranstaltungen im mai 2013
03. – studyworld 201304. 8. Internationale Messe für Studium, Praktikum,
Jobeinstieg und Weiterbildung Ort: Russisches Haus der Wissenschaft und Kultur, Berlin nähere Informationen: www.studyworld2013.com
22. – Aktionstage24. „Biodiversität im Opel-zoo erleben“
Ort: Opel Zoo, Kronberg nähere Informationen: www.uni-frankfurt.de
27. – „Frischen wind in mInT“ –29. Impulse aus Europa für den mathematisch-natur-
wissenschaftlichen unterricht Ort: Herrenkrug Parkhotel, Magdeburg nähere Informationen: www.kmk-pad.org/nc/aktuelles/termine.html
ADREssEn & AnsPREchPARTnER
Landesschulamt und LehrkräfteakademieHauptsitz: Kirchgasse 2, 65185 [email protected] Tel.: +49 (0) 611 368 2657
Präsident des LsAJörg Meyer-ScholtenTel. + 49 (0) 611 368 2657
Abteilung zZentrale Dienste und ServiceleistungenJoachim Schmidt Tel. +49 (0) 611 368 2659
Abteilung ISchulaufsicht und SchulberatungDr. Marion Steudel Tel. +49 (0) 611 368 2204
Abteilung IIAkademie für Lehrerbildung und PersonalentwicklungFrank SauerlandTel. +49 (0) 69 38989 300
Abteilung IIIQualitätsentwicklung und EvaluationBernd SchreierTel. +49 (0) 611 5827 400
Die Tagungseinrichtungen Rhein-main-gebietErwin-Stein-HausStuttgarter Straße 18 – 2460329 FrankfurtTel. + 49 (0) 69 38989 330
nordhessen/Reinhardswaldschule Rothwestener Straße 2 – 1434233 FuldatalTel. + 49 (0) 561 8101 0
mittelhessen/weilburgFrankfurter Straße 20 – 2235781 WeilburgTel. + 49 (0) 6471 3281 00
ImPREssum
herausgeber: Landesschulamt und Lehrkräfteakademie
gesamtverantwortung: Sabine Stahl
Redaktion: Sandra Buschmüller, Sabine Stahl
Lektorat: Ingrid Walther, KonTeXt Textgestaltung und Lektorat
Layout und gestaltung: www.sixfeetone.de, Frankfurt/Main
Druck und Verarbeitung: Druckerei Hesse, Fuldabrück
mediadaten und Anzeigenannahme: Kerstin Rheingans
Erscheinungsweise: vierteljährlich
Auflage: 6000
Redaktionsschluss für die nächste Ausgabe: 15. April 2013
Landesschulamt und Lehrkräfteakademiestuttgarter straße 18 – 2460329 Frankfurt
BILDung bewegt NR. 20 MRZ/2013 31
BB20_umschlag_130314_final_RZ.indd 3-4 14.03.13 10:58
EDIToRIAL
Das unterschätzte Risiko ........................................................ 2
LEITARTIKEL
LernENDE für Lernende?........................................................ 4Wie Lärm unsere Lernfähigkeit beeinträchtigt
NAChGEFRAGT
hören alleine genügt nicht,um zuhören zu bewältigen ...................................................10interview mit Prof. Dr. Maria klatte
BILDUNG IM BLICK
Ein Methodenrepertoirezur Lernprozessbegleitung ..................................................15
Was ist guter Unterricht? ......................................................18
Kein Abitur „light“ .................................................................21
Lernaufgaben im Politikunterricht ......................................24
ERFoRSChT UND ENTWICKELT
Förderung der formativen Diagnose-kompetenz von Lehramtsstudierenden .............................26
PINBoARD ............................................................ 29
ADRESSEN & ANSPREChPARTNER .................... 31IMPRESSUM
INhALT
Landesschulamt und Lehrkräfteakademie
26 FÖRDERUNG DERFoRMATIVENDIAGNoSEKoMPETENZVoN LEhRAMTS-STUDIERENDEN
10 hÖREN ALLEINEGENüGT NIChT,UM ZUhÖRENZU BEWäLTIGENInterview mitProf. Dr. Maria Klatte
4 LERNENDE FüR LERNENDE?Wie Lärm unsere Lernfähigkeitbeeinträchtigt
BILDUNG BEWEGT NR. 20 MRZ/2013 3
BB20_inhalt_130314_final_RZ.indd 3 14.03.13 10:54
LEITARTIKEL
LERNENDE FüRLERNENDE?WIE LäRM UNSERE LERNFähIGKEITBEEINTRäChTIGT
4 BILDUNG BEWEGT NR. 20 MRZ/2013
BB20_inhalt_130314_final_RZ.indd 4 14.03.13 10:54
LEITARTIKEL
haline ist 7 Jahre alt. Sie ist eine kleine Grundschülerin. Lerntechnisch befi ndet sich die
Zweitklässlerin in einer hoch sensiblen Phase des Schriftspracherwerbs, den Fachexperten den Aufbau der phono logischen Bewusstheit nennen. Er ist wichtige Voraussetzung dafür, die Schriftsprache zu erwerben. Damit Haline gut lernen kann, sollte sie ausgeschlafen und nicht gestresst sein. Und sie muss – viel banaler – erst einmal akustisch hören können, was ihre Grundschullehrerin spricht.
Schulisches Lernen basiert in wesentlichen Teilen auf der mündlichen kommunikation. rein statistisch gesehen verbringen Schulkinder rund drei Viertel ihrer Schulstunden mit Zuhören. Haline schaut noch einmal auf Frau Müller. Aber die Worte der Lehrkraft verschwinden in einem Wortteppich. Haline fühlt sich nicht angesprochen und nicht mitgenommen. Der Lärm stört sie. Sie schaltet ab. Nicht so ihre Mitschülerinnen und Mitschüler. Die haben inzwischen auf anderes umgeschaltet. Sie sind unkonzentriert und beschäftigen sich mit allerlei unterrichtsfremden Dingen. Unterdessen steigt der Lärmpegel sekündlich und erreicht in dieser Schulstunde schließlich einen Spitzenpegel von rund 80 dB (A). im Büro oder an industriellen Arbeitsplätzen müssten die Schulkinder und Frau Müller laut Arbeitsschutzgesetz jetzt bald Gehörschutz tragen.
Sinkende Lernleistung undverringerte LebenserwartungLehrerin Müller stört der Lärm. Ständig muss sie alles wiederholen. Sie merkt, dass sie wegen der Störgeräusche zunehmend einfache Satzkonstruktio
nen, eingeschränktes Vokabular und eine eintönigere Sprache verwendet. Sie weiß, dass damit wichtige Elemente für den Spracherwerbsprozess der Schülerinnen und Schüler verloren gehen. Besonderheiten wie beispielsweise die Betonung oder der Sprachrhythmus (SPrENG 1998). Der Lärm stört das Nachdenken und Zuhören. Er schränkt die konzentrationsfähigkeit ein und beeinträchtigt wesentliche Lernprozesse der kinder. Verlärmung gilt daher als eine Ursache für Sprach und allgemeine Entwicklungsstörungen von klein und Schulkindern. Die
erschreckenden Ergebnisse einer von der EU koordinierten internationalen Studie zeigen zudem auf, dass Lärm auch erhebliche Auswirkungen auf die Gesundheit hat. Er verursacht Belästigungen, führt zu Schlafunterbrechungen und ist Ursache zahlreicher Erkrankungen wie Herzinfarkte, Lernstörungen und Tinnitus (WHO 2011).
Die steigende Lärmbelastung im häuslichen Bereich, in der Schule und an anderen Orten wird immer mehr zu einem Hemmfaktor für das Lernen und Durchführen komplexer Leistungen. Lernbeeinträchtigungen und negative Wirkungen auf geistige Tätigkeiten lassen sich dabei schon bei geringen Lärmpegeln feststellen. So merkten sich Grundschülerinnen und Grundschüler im Vergleich zu einer ruhigen
Lernumgebung rund 30 % weniger, wenn sie unregelmäßigen Hintergrundgeräuschen ausgesetzt waren. Unter schlechter Akustik und Lärm leiden die kommunikation, die konzentration und letztlich die Lernerfolge. Dabei sind gerade „Vorschul und Schulkinder (…) auf optimale Hörbedingungen angewiesen, um sprachliche informationen verstehen und mental verarbeiten zu können“ (EBErLE 2007, S. 5).
Je jünger die kinder sind, desto mehr schränken Hintergrund und Störgeräusche deren Verstehensleistungen ein. Grundschul oder Vorschulkinder
sind daher am stärksten betroffen. Sie lassen sich durch laute, unbekannte oder unerwartet eintretende Geräusche sehr leicht von ihrer aktuellen Tätigkeit ablenken. ihre Aufmerksamkeit verringert sich, mancher Denkvorgang wird unterbrochen, ganze Gedankenketten reißen ab (kLATTE/LAcHMANN 2009). Die Folge: Lernleistungen sinken. könnten wir bei internationalen Vergleichsstudien mal eben an die internationale Spitze anknüpfen, indem wir einfach für ruhige Lern und Lebensumwelten sorgten?
Studien der Psychologin klatte zeigen, dass sich Sprachverständnisleistungen unter guten akustischen Bedingungen deutlich verbessern können. Je nach Untersuchungsdesign stellte die Forscherin bei Grundschul kindern der ersten und dritten klasse satte 10–25 % Verbesserung in der Sprachverständnisleistung fest, wenn die kinder in akustisch günstigen räumen unterrichtet wurden (kLATTE et al 2010).
Haline sitzt mit weit geöffneten Augen in ihrem Klassenzimmer und blickt auf die Lippen ihrer Lehrerin. Sie dreht den Kopf nach rechts, fokussiert ihr klei-nes Ohr in die Richtung, aus der die Stimme klingt. Haline sieht, wie sich dieLippen der Lehrerin bewegen. Haline ist nicht taub. Sie ist kerngesund, aber sieerfasst mitunter nur Wortfetzen. Hintergrundgeräusche und Nachhall im Klassen-raum haben sich zu einer Geräuschwolke verdichtet, in der Halines Ohren nachOrientierung suchen. Haline möchte verstehen, was ihre Lehrerin – Frau Müller –sagt, aber es geht fast nicht. Haline sitzt in der Mitte des Raumes.
Schulisches Lernen basiert in wesentlichen Teilen auf der mündlichen Kommunikation. Rein statistisch gesehen ver-bringen Schulkinder rund drei Viertel ihrer Schulstundenmit Zuhören.
Je jünger die Kinder sind, desto mehr schränken Hinter-grund- und Störgeräusche deren Verstehensleistungen ein.
BILDUNG BEWEGT NR. 20 MRZ/2013 5
BB20_inhalt_130314_final_RZ.indd 5 14.03.13 10:54
LEITARTIKEL
Lärm ist jedoch alles andere als eine günstige Bedingung. Er ist ein Stressfaktor, der lernpsychologische und physiologische Auswirkungen hat und darüber hinaus die Emotionalität und das Sozialverhalten beeinflusst. Seine Wirkungen reichen zeitlich über die eigentliche Expositions phase – also jene Zeit, die eine Person dem Schallereignis direkt ausgesetzt ist – hinaus. Das Hessische Landesamt für Umwelt und Geologie führte schon 2007 in einer Druckschrift zum Thema Lärmminderung in Schulen aus: „Andauernder Stress kann langfristig zu Gesundheitsschäden führen (…). Das gilt insbesondere für Menschen, die sowohl am Arbeitsplatz als auch zu Hause dem Lärm ausgesetzt sind“ (kLATTE/ScHick 2007, S. 15). insbe sondere dann, wenn dieser als unausweichlich oder unkontrollierbar erfahren wird, verstärkt sich sein krankmach endes Moment.
Grundschullehrerin Müller wohnt im gleichen Stadtviertel, in dem auch ihre Schule liegt. Zu dem Geräuschpegel des normalen Schulalltags, den sie in ihren 29 Unterrichtsstunden jede Woche erlebt, kommt der verkehrsbedingte Lärm hinzu. Die Lehrerin ist müde. ihr fehlen Erholungszeiten in der Stille – am Tag und in der Nacht. Sie lebt in einer sie permanent umgebenden Geräuschwelt.
„Lärmbelastung ist nicht nur ein ärgerliches Umweltproblem, sondern eine echte Bedrohung für die öffentliche Gesundheit“, sagt Zsuzsanna Jakab von der WHO. Die Leiterin der EuropaAbteilung kann die Sorgen von Lehrerin Müller mit harten Fakten unterlegen. Lärmbedingt gehen jährlich 45.000 gesunde Lebensjahre von europäischen kindern verloren, weil sie kognitive Störungen haben. 903.000 Lebensjahre pro Jahr sind durch Schlafstörungen beeinträchtigt und 61.000 gesunde Lebensjahre gehen den Bürgerinnen und Bürgern der EU im Durchschnitt pro Jahr verloren, weil sie durch den Verkehrslärm an Herzerkrankungen wie Herzinfarkt, Angina pectoris, Herzinsuffizienz oder Herzrhythmusstörungen leiden.
Was schallt denn da?Schall durchdringt den Alltag. Er ist allgegenwärtig. in seiner positiven Wirkung ist er Medium und Voraussetzung für wesentliche Teile unserer kommunikation und damit entscheidendes Mittel zur Entfaltung der Persönlichkeit und Auseinandersetzung mit unserer Umwelt. Schall hilft bei
der Orientierung, und er kann lebensrettendes Warnsignal sein. Der Erlanger Professor für Physiologie und Biokybernetik, Manfred Spreng, hält das Hören und Sprechen für die mit Abstand dynamischste und komplexeste Leistung der menschlichen informationsverarbeitung überhaupt. Der Erlanger ist überzeugt, dass diese Leistungen die der visuellen Wahrnehmung deutlich übertreffen. Das Gehör sei eben empfindlicher und schneller. Es kann Schwankungen in der Frequenz und Amplitude nicht nur bei Silben oder Worten erkennen. Es kann sogar Zeitstrukturen auflösen und verarbeiten, die akustisch deut
lich kürzer und so klein sind, dass man sie im Sprachfluss kaum wahrnimmt. Genau diese Fähigkeit erlaubt es dem Menschen überhaupt erst, Geräusche als Sprache zu identifizieren. Eine faszinierende Leistung.
Zugleich können Schallereignisse aber auch Belastung bedeuten. Aus Schall wird Lärm, wenn er bewusst oder unbewusst stört. in vielen Schulen dröhnt es in den Fluren, Turnhallen, klassenräumen, sogar in Mensen oder cafeterien. im Unterricht wurden dabei Schallpegel gemessen, bei denen konzentriertes Arbeiten, Lernen und störungsfreie kommunikation nicht mehr möglich sind. Je nach Lernphase und Unterrichtssituation lagen sie zwischen 60 und 77 dB (A). Solche Geräuschpegel werden von vielen Lehrkräften als Lärmstress empfunden, was den Weg zum Burnout, zu psychosomatischen Beschwerden bis hin zum Herzinfarkt ebnet. Wie marternd die „Hörumwelt Schule“ sein kann, zeigen Befragungen von Lehrkräften, wonach sich mehr als 80 % aller interviewten durch Lärm in der Schule belästigt und belastet fühlen ( kLATTE/ScHick 2007). Lehrkräfte oder Erzieh erinnen und Erzieher gewöhnen sich auch nicht an ihn. im Gegenteil: Mit fortschreitendem Dienstalter wird er als noch belastender empfunden ( kLATTE/LAcHMANN 2009).
Dies spiegelt sich auch im krankenstand wider. Und es hat ungünstige Folgen für das Arbeitsklima und so
ziale Miteinander, da lernhinderliche Atmosphären entstehen können, die durch „Unlust und Anspannung“ gekennzeichnet sind (EBErLE 2007, S. 5). Nach Selbsteinschätzung der Lehrkräfte wirkt sich die Lärmbelastung auf ihre Geduld im Umgang mit kindern aus. Und nicht wenige Lehrerinnen und Lehrer sehen eine Ursache für Unruhe und hohe Geräuschpegel in ihrer eigenen Durchsetzungsfähigkeit , so leidet auch noch das Selbstwirksamkeitsbild der Pädagoginnen und Pädagogen.
Es wundert daher nicht, dass die Lärmproblematik bislang vorwiegend unter dem Aspekt der Lehrergesund
heit und Arbeitsbelastung betrachtet wurde. Aber auch Schülerinnen und Schüler sind gestresst und werden in ihrem Wohlbefinden eingeschränkt. Sie fühlen sich wegen des Lärms im Schulraum häufig zu Unrecht getadelt. ihnen wird mangelndes Bemühen um ruhe vorgeworfen, dabei kann in akustisch schlechten räumen auch bei leisem Verhalten der kinder nicht wirklich ruhe eintreten. Hohe Geräuschpegel behindern ihre kommunikation, beeinträchtigen ihre Lernfähigkeit und stören die Aufmerksamkeit. Denkprozesse werden unfreiwillig unterbrochen, die Behaltensleistung vermindert sich. Die physiologischen und psychischen Folgen von Lärm treffen kinder sogar noch stärker als Erwachsene und sie äußern sich in messbaren körperlichen reaktionen.1
Lombard und der RaumEine Ursache für hohe Geräuschpegel in Schulen liegt in der schlechten Akustik vieler klassenzimmer. Größe und Schnitt, akustische Eigenschaften der Flächen, die den raum begrenzen, ja sogar Möbel und Einrichtungsgegenstände nehmen hierauf Einfluss. Messungen des Hessischen Landesamtes für Umwelt und Geologie zeigten, dass der richtwert für Nachhallzeiten in vielen Schulräumen und kindertagesstätten weit überschritten wurde. Auch Untersuchungsergebnisse der Unfallkasse Hessen in Unterrichtsräumen, Fluren, Turnhallen verschiedener
Hohe Geräuschpegel behindern ihre Kommunikation, be- einträchtigen ihre Lernfähigkeit und stören die Aufmerk- samkeit. Denkprozesse werden unfreiwillig unterbrochen, die Behaltensleistung vermindert sich.
6 BILDUNG BEWEGT NR. 20 MRZ/2013
BB20_inhalt_130314_final_RZ.indd 6 14.03.13 10:54
LEITARTIKEL
Schulen und Schulformen in Südhessen legten offen, dass zumindest noch im Jahr 2007 bei jedem dritten klassenraum die akustischen Verhältnisse unzureichend waren (kLATTE/ScHick 2007, S. 16; ScHMiTZ 2007, S. 42).
Erstaunlicherweise trägt neben den räumlichen Voraussetzungen aber auch die veränderte Unterrichtskultur zum Anstieg des Geräusch pegels bei. Denn Formen der Gruppen und Freiarbeitsphasen, in denen sich Schülerinnen und Schüler Arbeitsmaterialien holen, miteinander in kleingruppen arbeiten und diskutieren, werden inzwischen häufiger eingesetzt. Bei diesen Arbeitsformen entsteht automa tisch mehr Lärm als beim konzentrierten Lesen.
in einer klasse herrschen fast immer Geräusche – Stühle werden gerückt, Seiten raschelnd umgeblättert, es wird gesprochen, mit den Füßen gescharrt, einfach nur geatmet oder geseufzt. Selbst während bilateraler Gespräche zwischen Lehrkraft und Schulkind herrscht selten komplette Stille in der klasse. Speziell in räumen mit schlechter Akustik werden die Gespräche der Nachbarn von den Schülern als Störgeräusch empfunden. Sie sprechen dann ihrerseits lauter, bis sie das Gefühl haben, sich selbst wieder gut zu hören. Dies wiederum animiert die Nachbarn, noch lauter zu reden. Der Beginn einer Lärmspirale, die darin gipfelt, dass jedes kind das andere übertönen will. Dieser sogenannte LombardEffekt führt dazu, dass sich der Geräuschpegel im klassenzimmer immer weiter nach oben schraubt, ein typisches Phänomen, wenn Gruppen in räumen mit großem Nachhalleffekt zusammentreffen. Wer je in der Sixtinischen kapelle war, kann bei den gro
ßen Besuchergruppen beobachten, wie die Stille zunächst einem leisen Flüstern Einzelner weicht, dem sich weitere anschließen, bis es schließlich in eine normale Gesprächslautstärke Vieler mündet, die immer weiter bis zum Lärm anschwillt.
Hier kann eine bessere raumakustik, in der die tatsächliche Schallabsorption ausreichend hoch ist, abhel
fen. Sie wirkt sich gleich in mehreren Dimensionen positiv auf den Schallpegel aus, denn die geringere Lautstärke führt bei den kindern insgesamt zu einem leiseren Verhalten.
Wenn Lernumwelten Lärmumwelten sindLehrkräfte wünschen sich, nachhaltig, nicht aber nachhallend zu arbeiten. Wenn das Echo von Stimmen und anderen Geräuschen im klassenraum lange nachwandert, potenziert sich der Lärm, wodurch sich die Verständigung rapide verschlechtert. Eine wichtige kenngröße, an der die akustische Qualität von räumen gemessen wird, ist die sogenannte Nachhallzeit. Sie gibt an, wie viele Sekunden ein Schallereignis nachklingt. Wenn der Pfiff einer Trillerpfeife in einer Turnhalle noch nachhallt, obgleich der Sportlehrer die Pfeife schon wieder aus dem Mund genommen hat, ist dies unzureichend. Bereits bei Nachhallzeiten von über einer Sekunde entstehen Schwierigkeiten in der sprachlichen Verständigung. Nachfolgende Silben werden überdeckt, das Sprachsignal wird verzerrt und die Sprachverständlichkeit verschlechtert sich. Das Umweltbundesamt empfiehlt daher je nach raumcharakteristik Nachhallzeiten von 0,5 bis 0,8 Sekunden.
Eine zweite kenngröße ist der Schall pegel. Arbeitsschutzmedi ziner haben sich mit gutem Grund für geringe Schallpegel ausgesprochen, wenn geistig anspruchsvolle oder kreative Tätigkeiten geleistet werden müssen. Bereits vor 17 Jahren empfahlen sie 35–45 dB (A). Solche Werte werden im Unterricht höchstens während Stillarbeitsphasen erreicht. in anderen Arbeitsphasen kommt es zu Schall
pegeln, die im Sport oder Musikunterricht schon mal 85 dB (A) mit Spitzen bis zu 110 dB (A) erreichen können.
Neben richtwerten zu Nachhallzeit und Schallpegeln gibt es noch einen dritten relevanten Begriff, den sogenannten SignalrauschAbstand. Er beschreibt den Schallpegelunterschied zwischen einem Nutz und einem Störsignal. Der Abstand soll
mindestens 15 dB (A) betragen. Wie können wir uns dies konkret vorstellen? Wenn eine Lehrkraft im Unterricht mit normal lauter Stimme etwas erklärt, dann liegt ihr Sprachpegel durchschnittlich bei 50 dB (A). Störgeräusche wie Verkehrslärm oder Hintergrundpegel wie Schülerschwätzen sollten dann nicht lauter als 35 dB (A) sein. Dann wäre der minimal geforderte SignalrauschAbstand von 15 dB (A) eingehalten, die Verständlichkeit der Sprache gesichert.
Wie helfen diese Erkenntnisse den Lehrkräften? Sie können gezielt darauf hinwirken, in wichtigen Lern und konzentrationsphasen zumindest jene Lärmquellen, die sie beeinflussen können, zu minimieren. Sie können sich überlegen, in welchen Phasen sie eher lärmintensivere Gruppenarbeit einsetzen und in welchen besser nicht. Sie können dem instinktiven Verhalten, schlechterer Sprachverständlichkeit zu begegnen, indem sie einfach lauter sprechen, aktiv entgegenwirken. Denn wenn eine Lehrkraft einfach lauter spricht, um ihre Verständlichkeit zu verbessern, werden zwar die Anteile des nutzenden Schalls größer, aber es wird eben auch der Nachhall stärker, „so dass schließlich die Gesamt situation lauter, aber eben nicht besser wird“ (ScHMiTZ 2007, S. 33). Zudem leiden bei lauter Sprechweise auf Dauer die Stimmbänder.
Lehrkräfte können auch aufklären, welchen Einfluss Lärm auf die Befindlichkeit, das Leistungsvermögen und Lernklima hat. kinder und Eltern sollten sensibilisiert werden, wo immer möglich, für eine ruhige Arbeits und Lernatmosphäre zu sorgen. im Grunde geht es darum, „einen achtsamen und verantwortungsbewussten Umgang mit dem eigenen Gehör und dem anderer zu vermitteln“ (EBErLE 2007, S. 5).
Be, he, de oder was?Sprechen, Lesen oder eine Fremdsprache erlernen stellen hochkomplexe Leis tungen dar. Wenn Hinter grund ge räusche oder Nach hall zu sammen wirken, können Worte allerdings nur schwer erkannt werden. Was tun kinder, um sich zu helfen? Sie handeln wie Haline, indem sie zunächst versuchen, Hintergrundgeräusche aktiv auszublenden und fehlende informationen zu ergänzen.
Schall ist allgegenwärtig. In seiner positiven Wirkung ist er Medium und Voraussetzung für wesentliche Teile unserer Kom-munikation und damit entscheidendes Mittel zur Entfaltung der Persönlichkeit und Auseinandersetzung mit unserer Umwelt.
BILDUNG BEWEGT NR. 20 MRZ/2013 7
BB20_inhalt_130314_final_RZ.indd 7 14.03.13 10:54
Um Silben wie be von he oder de unterscheiden zu können, muss Haline ungemein schnell ablaufende Frequen zänderungen im Sprachsignal erkennen und auswerten. Nur dann kann sie Silben auseinander halten.
Die kleinste linguistische Einheit, die zur Unterscheidung zweier gesprochener Silben notwendig ist, wird ein Phonem genannt. Phoneme setzen sich aus einer konsonantVokal bzw. VokalkonsonantFolge zusammen. Schnelle Sprecher können bei maximaler Sprechgeschwindigkeit bis zu 15 solcher Phoneme pro Sekunde erzeugen. innerhalb von nur einer Sekunde muss also eine immense Menge und Abfolge von Vokalen und konsonanten identifiziert und eingeordnet werden. Eine irrwitzige Leistung.
Sprache kann nur dann verstanden werden, wenn ein Zuhörer über referenzmuster verfügt, mit deren Hilfe er den Sprachfluss gliedern und in Segmente zerlegen kann. Was also geschieht in Halines Ohr und Gehirn, wenn sie die Silbe be identifiziert? Zunächst erkennt und dekodiert ihr Gehör den Geräuschblock des konsonan ten innerhalb von nur 20 bis 400 Millisekunden. Der Buchstabe b unserer Beispielsilbe erzeugt ein sogenanntes Plosivgeräusch, ähnlich wie der Buchstabe p. Jeder konsonant bildet unterschiedliche Geräuschblöcke. Es folgt ein geräuschloses intervall von 30–80 Millisekunden Dauer, das Halines Gehör relativ genau ausmessen muss. Den anschließenden Vokallaut e muss sie dann in rund 300 Millisekunden auf seine Frequenz hin analysieren. Und schon hat Haline die Silbes be gehört. Je nach kombination eines konsonanten mit einem Vokal und je nach Stellung innerhalb der Silbe liegen physikalisch andere Schallgemische vor. Dies stellt sehr hohe Anforderungen an das auditive Wahrnehmungssystem.
Grundschülerin Haline muss nicht nur schnell erkennen, um welche konsonantVokalFolge es sich handelt, sie muss auch auf solche Merkmale achten, die in ihrer Muttersprache relevant sind und sich bei der Analyse auf genau diese konzentrieren. Man spricht von der „kategorialen Wahrnehmung von Sprachlauten“ (SPrENG 1998).
Die Zweitklässlerin muss auditiv und kognitiv in extrem kurzer Zeit enorme Datenmengen reduzieren. ihr Gehör arbeitet bei der Spracherkennung als hochparalleles System. Bereits zu Beginn eines Wortes eröff
net sich eine große Anzahl möglicher Bedeutungskandidaten, die alle mit einer ähnlichen akustischen Folge anfangen. Je länger das akustische Signal dauert, desto mehr Variablen fallen heraus, bis schließlich ein kandidat, also ein Wort, übrigbleibt. in einer
störungsfreien Umgebung erkennen wir Worte daher häufig bereits, bevor das Wort tatsächlich beendet ist. Umgekehrt liegt es auf der Hand, dass Störgeräusche diesen Verarbeitungsprozess beeinträchtigen. Die reduktionsmechanismen bleiben quasi in ihrer ersten Stufe hängen, die schnelle Auswahl entfällt. Es folgt ein zeitlich und für die konzentration aufwändiges Memorieren nach dem Wortende.
Phonetische kategorien werden bereits im Säuglingsalter erworben, und zwar einfach, indem ein kind die Muttersprache hört. Das FineTuning dieser Fähigkeit reicht allerdings bis weit in die Schulzeit hinein. Und weil dieser Prozess erst spät abgeschlossen ist, fällt es Grundschulkindern wie Haline im Vergleich zu älteren kindern schwerer, ähnlich klingende Laute zu unterscheiden und zu erkennen. Wenn Laute lärmbedingt dann auch noch unvoll ständig, verzerrt oder überlagert wahrgenommen werden, ist eine Erkennung für junge Zuhörer fast unmöglich. Wer die Silben schon nicht richtig versteht, hat mit der Worterkennung naturgemäß auch größere Probleme. Und da kinder Wortrepräsen tationen im Langzeitgedächtnis anders ab speichern als Erwachsene und ihr kurzzeitgedächtnis noch nicht ausgereift ist, führen bereits kleine Lücken beim in put dazu, dass ein Wort nicht mehr erkannt werden kann. „kinder können ähnlich klingende Wörter, auch auf Grund ihres noch nicht voll ausge prägten akustischen Gedächtnisses bereits bei solchen Sprachpegeln nicht mehr unterscheiden, die beim Erwachsenen keine Minderung der Sprachverständlichkeit bewirken“ (UBA 1985, S. 97).
Speicher überlastet – das LernENDE für LernendeSchule und Unterricht stellen tagtäglich viel höhere Anforderungen, als
nur Silben zu erkennen. Schülerinnen und Schüler müssen komplexe informationen korrekt wahrnehmen, abspeichern und in Beziehung zu bereits vorhandenem Wissen setzen. Eine unglaubliche Anstrengung und Belastung für das Arbeitsgedächtnis. Wenn
Haline nun nicht nur ständig hinhorchen, sondern auch noch mit großer Anstrengung Hintergrundgeräusche ausblenden muss, ermüdet sie schneller. Selbst wenn es ihr gerade noch gelingt, einzelne Silben und Worte fehlerfrei zu verstehen, schafft sie es nicht mehr, die gehörte information auch zu behalten, geschweige denn sie zu verarbeiten. Speicher überlastet, Schriftspracherwerb adé.
Stellen wir uns vor, Haline soll einen längeren, komplex gebauten Satz behalten. Dann muss sie den Anfang des Satzes im kurzzeitgedächtnis verfügbar halten, um ihm mit dem Satzende in Beziehung setzen zu können. Wem dies zunächst banal vorkommt, der möge sich beispielsweise mit Texten aus der Soziologie auseinandersetzen, in denen ein einziger Satz gerne einmal eine ganze Seite füllen kann. Jeder wird Halines Schwierigkeiten sofort verstehen. Dieses Verfügbarhalten von inhalten im kurzzeitgedächtnis setzt Aufmerksamkeit und geringe Ablenkbarkeit voraus. Genau diese Fähigkeit wird jedoch durch Lärm massiv beeinträchtigt.
Eine reduzierte Leistungsfähigkeit des kurzzeitgedächtnisses wirkt sich in allen Fächern aus. Beispiel Mathematik: Wenn Haline eine kopfrechenaufgabe lösen will, muss sie Operatoren und auch Teilergebnisse im kurzzeitgedächtnis vorhalten, um diese für weitere rechenoperationen nutzen zu können. Es gilt: Je mehr informationen im Gedächtnis behalten werden müssen, je höher die Anforderungen an kontinuierliche konzentration und Aufmerksamkeit, je mehr geistige Operationen wie Schlussfolgern, rechenoperationen durchführen vollzogen werden müssen, desto größer ist der Grad der komplexität (vgl. SUST 1996, S. 4). Umso stärker ist dann auch das Störpotenzial von Lärm und die damit verknüpfte Wahrscheinlich
LEITARTIKEL
Sprache kann nur dann verstanden werden, wenn ein Zuhörer über Referenzmuster verfügt, mit deren Hilfe er den Sprach-fluss gliedern und in Segmente zerlegen kann.
8 BILDUNG BEWEGT NR. 20 MRZ/2013
BB20_inhalt_130314_final_RZ.indd 8 14.03.13 10:54
keit, Stressreaktionen hervorzurufen. Schlechtere Behaltensleistungen sind kein Problem des Spracherwerbs alleine. Nur sind die Auswirkungen beim Spracherwerb so gravierend, weil Sprache Grundvoraussetzung für alle anderen Fächer ist.
Ausreichend Schlaf: bester Partner für Lernerfolg und GesundheitFür den Lernerfolg und die Gesundheit hat auch der ungestörte Schlaf besondere Bedeutung. Unser Gehör ist ein hochsensibles Sinnesinstrument, besonders in der Nacht. Ungewohnte, plötzliche Geräusche besitzen großen informationsgehalt und führen ähnlich wie Geräusche mit hoher subjektiver Bedeutung bereits bei niedrigen Schallpegeln zum Aufwachen, selbst in Tiefschlafphasen.
Auch wenn es zu keinem subjektiv wahrgenommenen Aufwachen kommt, beeinträchtigen schon geringe Schall pegel die Schlaftiefe. Was die Evolution einst als sinnvolles Warnsystem etabliert hat, verkehrt sich in der modernen geräuschintensiven Gegenwart leicht in einen Nachteil. Die Ausschüttung von cortisol oder Adrenalin kann Leben retten, wenn eine Fluchtreaktion gefragt ist. Mehrfach im Schlaf, in der Nacht ausgeschüttet, ist sie jedoch kontraproduktiv und gefährlich. „im Schlaf zeigen (…) auch diejenigen Personen vegetative Veränderungen (Herzfrequenz, Blutdruck) als reaktion auf einzelne Schallereignisse, die am nächsten Morgen sagen, der Lärm hätte sie nicht gestört – und das auch, wenn sie schon viele Jahre in einer lauten Umgebung wohnen“ (BABiScH 2011, S. 29).
Der Zusammenhang zwischen Schlafmangel und gesundheitlichen Problemen beschäftigt die Wissenschaft schon geraume Zeit. Viele Forscher sehen in andauerndem Schlafmangel eine Ursache für Lernschwierigkeiten, Übergewicht oder HerzkreislaufErkrankungen. in den vergangenen Wochen hat die Thematik noch eine neue Dramatik erhalten. Britische Forscher haben nämlich festgestellt, dass bereits eine Woche Schlafmangel ausreicht, um die Aktivität hunderter Gene zu beeinflussen. in der Fachzeitschrift PNAS berichteten sie, dass sieben Nächte mit maximal sechs Stunden Schlaf direkte Auswirkungen auf die Aktivität von 711 Genen, also rund 3,1 Prozent der menschlichen Erbsubstanz, hatten. Betroffen „waren Erbgutsequenzen, die für Entzündungen, immun und Stress
reaktionen im körper verantwortlich sind“ (dpa). Zudem wurden Gene beeinflusst, die im Normalfall einem TagNachtrhythmus unterliegen und zum Beispiel den Stoffwechsel steuern. im Vergleich zu achteinhalb Stunden Schlaf führten also maximal sechs Stunden Schlaf pro Nacht bereits zu den beobachteten genetischen Veränderungen sowie zur Verringerung der Aufmerksamkeit und Leistungsfähigkeit.
Wenn Schlafmangel entsteht, weil Störgeräusche den Schlafrhythmus ungewollt durcheinanderschütteln, die Tiefschlafzeit zwangsweise verkürzen, bewusste oder unbewusste Auf wachreaktionen hervorrufen, wirkt dies auch am Tage nach: in Form von Müdig keit, Lern und konzentrationspro blemen, in der Beein trächtigung der Arbeitseffektivität, des subjektiven Befindens und sozialen Verhaltens. Dies sollte Anlass sein nachzudenken.
Der Wunsch, allen Schülerinnen und Schülern einen möglichst großen individuellen Lernerfolg zu ermöglichen, und die damit verbundene Diskussion um die Bildungs und Unterrichtsqualität, darf angesichts zahlreicher empirischer Daten um eine weitere komponente ergänzt werden: die Betrachtung der akustischen Lern und Lebensumwelten der Schülerinnen und Schüler.
SABINE STAhL
LEITARTIKEL
Literatur
BABiScH, W.: Quantifizierung des Einflusses von Lärm auf Lebensqualität und Gesundheit, Sonderdruck aus: UMiD: Umwelt und Mensch – informationsdienst, 01/2011, S. 28 – 36, Umweltbundesamt Berlin
BUNDESMiNiSTEriUM FÜr UMWELT, NATUr ScHUTZ UND rEAkTOrSicHErHEiT: Lärmwirkung, Stand: April 2008
EBErLE, W.: Lärmminderung in Schulen, in: Umwelt und Geologie, Lärmschutz in Hessen Heft 4, Hessisches Landesamt für Umwelt und Geologie, 2. Aufl. Wiesbaden 2007, S. 5
kLATTE, M.: Wirkungen von Lärm und Nachhall auf das vorschulische Lernen: Erkenntnisse aus der Psychoakustik, Universität Oldenburg, institut für Psychologie ; Manuskript (o.J.)
kLATTE, M.; HELLBrÜck, J; SEiDEL, J; LEiSTNEr, P.: Effects of classroom acoustics on performance and wellbeing in elementary school children: A field study. Environment & Behavior 42 (5) S. 659 – 692, 2010
kLATTE, M., LAcHMANN, T.: Viel Lärm ums Lernen: Akustische Bedingungen in klassenräumen und ihre Bedeutung für den Unterricht; erschienene in: Arnold, r., Schüßler, i., & Müller, H.J. (Hg) (2009). Grenzgänge(r) der Pädagogik. Festschrift für Joachim Münch. Battmannsweiler: schneider Verlag Hohengehren. S.141–156.
kLATTE, M.; ScHick, A.: Lärmminderung in Schulen, in: Umwelt und Geologie, Lärmschutz in Hessen Heft 4, Hessisches Landesamt für Umwelt und Geologie, 2. Aufl. Wiesbaden 2007
rEGiErUNGSPräSiDiUM DArMSTADT: Entwurf Lärmaktionsplan, 3.9.2012
rOckEL, A.: Lärmforscher der Uni Bremen fordern: bessere raumakustik in Schulen, 15.04.2005, 15:16, Fachbereich Human und Gesundheitswissenschaften, institut für interdisziplinäre Schulforschung (iSF) (Pressestelle Uni Bremen)
ScHMiTZ: Lärmminderung in Schulen, in: Umwelt und Geologie, Lärmschutz in Hessen Heft 4, Hessisches Landesamt für Umwelt und Geologie, 2. Aufl. Wiesbaden 2007, S. 42
ScHULTE VON DrAcH, M. c.: Wie laut ist welcher Lärm? 17.05.2010, 21:44, www.sueddeutsche.de
SPrENG, Dr. M.: Physiologische Grundlagen der kindlichen Hörentwicklung und Hörerziehung, institut für Physiologie i, Arbeitsgruppe Biokybernetik, Universität Erlangen, www.schulinfos.de/.../Horen_beim_kind_Spreng_Universitat_Erlang. (1998)
SPrENG, Dr. M.: Lärm und seine Auswirkungen auf die Wahrnehmung und Sprachentwicklung, www.audiva.de/fileadmin/downloads/.../k8_spreng_laerm_ata3.pdf, (Erscheinungsjahr unbekannt)
SUST, cH. A.: Auswirkungen von Geräuschen mittlerer intensität auf Büro und Verwaltungsaufgaben, Arbeitswissenschaftliche Erkenntnisse Nr. 101, Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin, Dortmund 1996
UMWELTBUNDESAMT (1985): Die Beeinträchtigung der kommunikation durch Lärm, interdisziplinärer Arbeitskreis für Lärmwirkungsfragen beim Umweltbundesamt, Berlin; erschienen in: Zeitschrift für Lärmbekämpfung 32, S. 95–99, SpringerVerlag
WELTGESUNDHEiTSOrGANiSATiON: WHOStudie: Lärm zweitgrößtes Gesundheitsrisiko (2011)
WELTGESUNDHEiTSOrGANiSATiON: WHO präsentiert neue Erkenntnisse zu Gesundheitsfolgen von Verkehrslärm. Weltgesundheitsorganisation, regionalbüro für Europa, 30.03.2011, Bonn und kopenhagen
WELTGESUNDHEiTSOrGANiSATiON: WHOBericht für Europa: Lärm raubt jährlich eine Million Lebensjahre, in: N. Weber, Spiegel Online, 31.03.2011
Erläuterungen 1 Nach Angaben des Umweltbundesamtes
können bereits geringe Lärmpegel ab 25 dB zu konzentrations oder Schlafstörungen hervorrufen. Dauerbelastungen können zu einem erhöhten Gesundheitsrisiko führen. Nachgewiesen wurden änderungen in Stoffwechsel und Hormonhaushalt, änderung der Gehirnstromaktivität, aber auch schlechter Schlaf und Stresssymptome wie Hormonausschüttung.
BILDUNG BEWEGT NR. 20 MRZ/2013 9
BB20_inhalt_130314_final_RZ.indd 9 14.03.13 10:54
NAChGEFRAGT
Die Fähigkeit zur zwischenmensch-lichen Kommunikation ist eine der komplexesten und dynamischsten Leistungen menschlicher Informati-onsverarbeitung. Wie funktioniert das Zusammenspiel von Sprechen, hör-verstehen und komplexen Denk- und Lernleistungen?
Klatte: Das Hörverstehen – oder besser – das Zuhörenkönnen ist eine ganz wesentliche Voraussetzung, damit inhalte überhaupt gelernt werden können. Denn die Menge der Wissensinhalte, die über mündliche kommunikation vermittelt wird, ist sehr groß. Zuhören beschreibt eine sehr spezielle Art der informationsverarbeitung, die weit über das Hören hinausreicht. Hören alleine genügt nicht, um Zuhören zu bewältigen. Denn eingehende informationen müssen erst einmal decodiert und der sprachliche input muss analysiert werden – phonologisch, semantisch und syntaktisch. Auf Basis dieser Analyse wird eine mentale repräsentation oder ein Situationsmodell der Bedeutung konstruiert. Das Modell wird dann fortlaufend auf der Grundlage der neu eingehenden informationen aktualisiert.
Ein Zuhörer greift dabei immer auf bereits vorhandenes Wissen im Langzeitgedächtnis, das sogenannte
Vorwissen, zurück und bindet es mit ein. Denn Hörverstehen ist eng mit Schlussfolgern verbunden. Vieles, was explizit gar nicht mitgesagt wird, muss vom Zuhörer ergänzt oder erschlossen
werden. Wenn jemand zum Beispiel hört: „Herr Müller fährt in die Stadt zur Bank“, dann schlussfolgert die Person, dass Herr Müller Geldgeschäfte zu erledigen hat, und nicht, dass er eine Parkbank aufsucht.
Die kognitiven Anforderungen sind beim Zu hören ähnlich hoch wie beim Lesen. Allerdings besitzt das Lesen eines Textes gewisse Vor teile, weil der Leser sein Tempo selbst bestimmen, Abschnitte wiederholen oder eine Pause machen kann, um zu reflektieren oder unbekannte Wörter nachzuschlagen. Beim Zuhören geht das alles nicht, weil sich der Zuhörer dem Tempo des Sprechers anpassen muss.
Er hat in der regel keine Möglich keit, das zu beeinflussen. Ent weder er kann mithalten oder eben nicht. Zuhören ist eine sehr hohe kognitive Anforderung.
Welchen Einfluss haben äußere Rah-menbedingungen auf diesen diffizi-len Prozess und wie sehen optimale akustische Bedingungen in Lernum-welten aus?
Klatte: Wenn die Aufnahme mündlicher information bereits dadurch erschwert wird, dass Störgeräusche vorhanden sind, wird der komplette Prozess des Zuhörens unnötig schwer. Ein Zuhörer muss deutlich mehr mentale kapazität aufwenden, ja sogar verschwenden, damit er die information überhaupt erst einmal decodieren kann. Er wird gezwungen, mehr Hörarbeit zu leisten. Diese Mehrarbeit geht
HöREN ALLEINE GENüGT NIcHT, UM ZUHöREN ZU BEWäLTIGENinterview mit Prof. Dr. Maria klatte
apl. Prof. Dr. Maria Klatte ist seit 2008 am Lehrstuhl Kognitions- und Entwicklungspsychologie der TU Kaisers-lautern tätig. Ihre Schwerpunkte in der Lehre liegen in der
Ausbildung von Lehramtsstudierenden in den Bereichen Entwicklungs- und Pädagogische Psychologie und in der
Betreuung des weiterbildenden Fernstudiengangs „Psychologie kindlicher Lern- und Entwicklungsauffällig-
keiten“. In der Forschung befasst sie sich mit kognitiver Entwicklung und Lernstörungen bei Kindern und den
Wirkungen von Lärm auf geistige Leistungen.
Wenn die Aufnahme mündlicher Information bereits da-durch erschwert wird, dass Störgeräusche vorhanden sind, wird der komplette Prozess des Zuhörens unnötig schwer. Ein Zuhörer muss deutlich mehr mentale Kapazität auf-wenden, ja sogar verschwenden, damit er die Information überhaupt erst einmal decodieren kann.
10 BILDUNG BEWEGT NR. 20 MRZ/2013
BB20_inhalt_130314_final_RZ.indd 10 14.03.13 10:54
NAChGEFRAGT
dabei auf kosten der zentralen Verarbeitungsprozesse.
Man kann das experimentell sehr deutlich zeigen. Versuchspersonen werden Zuhöraufgaben gestellt, bei denen sie umfassende informationen verarbeiten müssen. Sie sollen lange, komplexe Sätze verstehen oder mehrteilige mündliche Anweisungen ausführen. Dabei wird die Quali tät der Hörbedingungen variiert, indem zum Beispiel leise Störgeräusche eingespielt werden. Oder es werden informationen in einem halligen raum gegeben, so dass die Sprache an klarheit verliert. Obwohl die Probanden das Gesprochene noch verstehen, also wahrnehmen können, schneiden sie bei den kognitiven Anforderungen schlechter ab. Sie können das Gesagte zwar noch hören, aber es nicht mehr so gut verarbeiten, weil für den Hörvorgang selbst zu viel kapazität aufgewendet werden muss.
in einer Studie mit Grundschulkindern konnten wir zeigen, dass diese Effekte massiv sind. Obwohl kinder in der akustischen Situation eines halligen raums mit leisen Störgeräuschen Wörter noch gut verstehen konnten, waren sie nicht mehr in der Lage, komplexe Anweisungen auszuführen. Es zeigten sich sehr starke Störeffekte.Wenn eine Lehrkraft bei ihren Schülerinnen und Schülern im Unter richt also nachfragt, ob diese sie verstehen können, und die kinder antworten, dass sie sie verstehen, dann reicht das nicht aus. Denn Schülerinnen und Schüler bemerken die Beeinträchtigung durch schlechte akustische Bedingungen selbst oft nicht!
Wir haben sie nach ihrer Selbsteinschätzung befragt, ob sie sich durch Störgeräusche beim Bearbeiten einer Aufgabe zum Wortverstehen beeinträchtigt gefühlt hätten. Die Antworten lauteten: „Nö, hat mich nicht gestört.“ Oder: „Hat mich ein bisschen gestört.“ Bei der Betrachtung der tatsächlich erbrachten Leistungen der Schülerinnen
und Schüler erschrickt man, wie stark sie tatsächlich gestört wurden, obwohl es ihnen selbst nicht in dieser Form bewusst war.
Ist es nicht denkbar, dass Vokale oder Konsonanten lärmbedingt nicht nur schlecht gehört, sondern ähnlich lau-tende Wörter wie See, Fee und Zeh erst gar nicht verstanden werden? Und welche Folgen hat dies?
Klatte: in einer Studie haben wir die akustischen Bedingungen in verschiedenen Grundschulklassenräumen in einem Seminarraum simuliert und dabei geprüft, wie sich die Halligkeit des raumes je nach Position des Sitzplatzes im klassenraum auswirkt.
Die Ergebnisse zeigen, dass gerade jüngere kinder, die in einem hallenden raum in den letzten reihen sitzen, massive Probleme haben, überhaupt noch etwas zu verstehen. Die Wirkung raumakustischer Bedingun
gen hängt auch vom Alter ab. Bei jüngeren kindern ist die Wirkung stärker als bei älteren oder bei Erwachsenen. Sie können Störgeräusche insgesamt besser kompensieren als kinder.
Zum anderen ist es bedeutsam, an welcher Stelle sich die Lernenden befinden – ob sie vorne, in der Mitte oder ganz hinten im raum sitzen. Der Einfluss des Sitzplatzes ist dabei in akustisch schlechten räumen größer, während er in gut gebauten räumen nicht ganz so bedeutend ist. in einem raumakustisch gut gebauten
raum können kinder an jedem Sitzplatz das Ge sprochene noch ganz gut verstehen. Aber in einem akustisch schlecht gebauten raum macht es einen erheb lichen Unterschied, wo der Zuhörer sitzt.
Deswegen rate ich Lehrkräften in Fortbildungen immer, dass sie sehr genau darauf achten sollen, wo sie ihre Schülerinnen und Schüler platzieren. Lernschwächere kinder sollen vorne sitzen.
Aber das ist doch nur eine Umvertei-lung des Problems. Gute oder durch-schnittliche Schülerinnen und Schüler werden doch benachteiligt, indem sie in die hinteren Sitzreihen verbannt werden?
Klatte: Ja, natürlich. Aber aus Studien ist bekannt, dass lernschwache Schülerinnen und Schüler in schwierigen Hörsituationen noch größere Probleme beim Zuhören und Sprachver
stehen haben. Sie werden besonders stark durch ungünstige Hörbedingungen beeinträchtigt, auch wenn ihr peripheres Hörvermögen völlig normal ist. Und diese Problematik gilt auch für kinder mit Lernschwächen, mit spezifischen Entwicklungsstörungen wie LeserechtschreibStörung, Sprachentwicklungsstörung oder einer Aufmerksamkeitsstörung. Und natürlich sind auch kinder, die nicht in ihrer Muttersprache unterrichtet werden, erheblich betroffen.
Wenn inmitten von Störgeräuschen Sprache verstanden wer-den soll, muss der Zuhörer zwischen dem relevanten Signal – also dem Sprachsignal – und dem nicht relevanten Signal, wie Störgeräusche oder Lärmhintergrund, trennen können. Eine Geräuschquelle muss also bewusst beachtet, eine andere ignoriert und ausblendet werden.
BILDUNG BEWEGT NR. 20 MRZ/2013 11
BB20_inhalt_130314_final_RZ.indd 11 14.03.13 10:54
NAChGEFRAGT
Warum können Erwachsene mit Stör- geräuschen besser umgehen als Kin-der?
Klatte: Das hat verschiedene Gründe, die mit der Entwicklung zusammenhängen. Zum einen sind Erwachsene routinierte Sprachversteher. Sie haben mehr Zeit zum Üben gehabt und ihr Wissen über Sprache, über deren Lautstruktur und die Grammatik ist sehr robust. Dieses Wissen nutzen sie, um Lücken im sprachlichen input zu ergänzen. in einer akustisch ungünstigen Situation kommt der sprachliche input nur lückenhaft an. Die kunst des geübten Zuhörers besteht darin, solche Lücken zu ergänzen, damit er inhaltlich folgen kann. Dieses Auffüllen der nicht übertragenen information gelingt Erwachsenen quasi automatisch. Sie ergänzen einfach auf Grund ihres sprachlichen Wissens.
kindern fällt es schwer, ein Wort zu rekonstruieren, wenn darin eine Lücke enthalten ist. Neben dem Wissen über Sprache trägt auch die Entwicklung der Aufmerksamkeit mit dazu bei. Wenn inmitten von Störgeräuschen Sprache verstanden werden soll, muss der Zuhörer zwischen dem relevanten Signal – also dem Sprachsignal – und dem nicht relevanten Signal, wie Störge räusche oder Lärmhintergrund, trennen können. Eine Geräusch quelle muss also bewusst beachtet, eine andere ignoriert und ausgeblendet werden.
Wir nennen diese Form der Aufmerksamkeitssteuerung selektive Aufmerksamkeit. Sie stellt eine bedeutende geistige Fähigkeit dar, die sich noch bis ins späte Jugendalter hinein weiterentwickelt. Deshalb können kinder im klein kind, Vorschul und Grundschulalter ihre Aufmerksam keit noch nicht so kontrolliert steuern, um ein relevantes Signal zu beachten und ein unwichtiges auszublenden. Man kann auch sagen, sie sind leichter ablenkbar.
Auch wenn Erwachsene versiertere Zuhörer und Sprachversteher sind, treffen Störgeräusche und Lärmbe-lastungen Klein und Groß doch glei-chermaßen. Welche physiologischen, lernpsychologischen und medizini-schen Folgen entstehen durch hohe Lärmbelastung?
Klatte: Lärm ist ein ganz wesentlicher Belastungsfaktor für Lehrkräfte und Erzieherinnen und Erzieher. in diesen Berufsgruppen ist insbesondere der innenlärm in räumen, der durch die
Aktivitäten der kinder entsteht, einer der wesentlichen Belastungsfaktoren. Auch wenn es schwerfällt, direkte kausale Beziehungen wie beispielsweise zwischen der Frühpensionierung von Lehrkräften und der Lärmbelastung nachzuweisen, gehen wir davon aus, dass der Lärm hierzu einen großen Beitrag leistet.
Wenn es laut wird, zeigt der körper physiologische Stressreaktionen. Forscher aus Bremen, die sich intensiv mit der Lehrergesundheit und dem Einfluss von Lärm beschäftigt haben, konnten bei Lehrkräften lärmbedingt direkte physiologische konsequenzen beobachten. Die Herzfrequenz korreliert hoch mit dem Lärmpegel im klassenraum.
Eine andere Frage betrifft chronische Lärmwirkungen. Wenn eine Person über lange Zeit einer hohen Lärmbelastung, sei es durch Verkehrslärm oder Fluglärm, ausgesetzt ist, hat sie ein höheres krankheitsrisiko, wie Bluthoch druck, kreislauferkrank ungen, erhöhter Medikamentenverbrauch. Erwachsenenstudien geben uns deutliche Hinweise, dass Lärm hier eine rolle spielt.
Werden verschiedene Lärmwirkun-gen differenziert?
Klatte: Bei Lärmwirkungen unterscheiden wir verschiedene Ausprägungen, aurale und extraaurale. Aurale Wirkungen sind Beeinträchtigungen des Hörvermögens als Folge anhaltender starker Lärmbelastung, die über Jahre hinweg das Ohr direkt trifft. Eine Folge starker Lärmbelastung kann Lärmschwerhörigkeit sein. Mit extraauralen Wirkungen des Lärms werden alle Auswirkungen beschrieben, die nicht
das Ohr und das Hörvermögen selbst betreffen. Lärm interferiert dabei mit geplanten Aktivitäten und stört diese. Aktivitäten, wie sich beispielsweise ungestört bei offenem Fenster unterhalten zu können oder in der Schule zu unterrichten.
Die Lärmbelastung wirkt sich dabei unter anderem auf die geistige Leistungsfähigkeit aus. Ein Beispiel: in einem akustisch schlecht geplanten Großraumbüro sind Beschäftigte kontinuierlich gezwungen, die Gespräche der kollegen mitanzuhören. Sie haben keine Möglichkeit, sich abzuschotten. Das geht auf kosten der Leistungsfähigkeit. Zahlreiche Untersuchungen darüber zeigen, wie negativ sich Lärm auf die Bearbeitung kognitiv anspruchsvoller Aufgaben auswirkt. Bestimmte Hintergrundgeräusche können dabei schon erhebliche Störwirkung entfalten, selbst wenn sie nur Zimmerlautstärke von 55 dB aufweisen. Die Ursache liegt darin, dass diese Geräusche stark mit bestimmten kognitiven Prozessen interferieren. Eine Person nimmt oft gar nicht bewusst wahr, wie sehr ihre Leistungsfähigkeit durch den Lärm gestört wird.
Wenn es laut wird, zeigt der Körper physiologische Stressreaktionen.
12 BILDUNG BEWEGT NR. 20 MRZ/2013
BB20_inhalt_130314_final_RZ.indd 12 14.03.13 10:54
NAChGEFRAGT
insbesondere das kurzzeitgedächtnis ist sehr lärmanfällig. Es wird durch sprachliche oder sprachähnliche Hintergrundgeräusche massiv gestört, Behaltensprozesse lassen nach.
Woran liegt das?
Klatte: Dazu gibt es verschiedene Theorien. Eine besagt, dass sprachliche oder sprachähnliche Geräusche direkt und automatisch – ohne dass wir etwas dagegen tun können – in unser sprachliches kurzzeitgedächtnis eindringen und sich mit den Behaltensprozessen überlagern, diese Prozesse also beeinträchtigen. Andere, gleich laute oder sogar lautere Geräusche, wie ruhige instrumentalmusik, stören dagegen nicht. Der eigentliche Haupteinflussfaktor bei Lärmstörungen in Bezug auf geistige Leistungen ist also das charakteristikum und die Qualität der Geräusche selbst.
Bei der Betrachtung von Lärmwirkungen müssen verschiedene Ebenen auseinandergehalten werden. Lärm kann nicht nur das kurzzeitgedächtnis stören, sondern auch die Aufmerk
samkeit ablenken. Es gibt dabei Geräusche, auf die ein Mensch unwillkürlich reagiert, weil sie besonders prägnant oder bedeutsam sind. Wenn jemand meinen Namen ruft, dann spreche ich darauf direkt an. Das kann ich nicht verhindern. Auch gefährlich wirkenden, lauten oder ungewöhnlichen Geräuschen wenden wir uns automatisch zu. Evolutionär handelt es sich um Schutzreaktionen. Stellen Sie sich vor, Sie gehen im Wald spazieren und in ihrer Nähe knackt es. Dann sind Sie sofort voll konzentriert und
aufmerksam auf dieses Geräusch, weil es möglicherweise eine Gefahr für Sie bedeuten könnte.
Wiederum andere Geräusche, wie das gleichmäßige rauschen von regen, werden schnell nicht mehr wahrgenommen. An kontinuierliche Geräusche kann ein Mensch habituieren. in der Folge tritt das Schallereignis in den Hintergrund der Wahrnehmung. Menschen lernen relativ schnell, dass gleichmäßige, vorhersehbare Laute keine Bedeutung für sie haben. Auf ein plötzlich eintretendes Geräusch hingegen, das sie nicht einordnen können, reagieren sie automatisch und unwillkürlich. Dabei wird die Aufmerksamkeit von der aktuellen Tätigkeit abgezogen.
Was geschieht dabei physiologisch im Körper?
Klatte: Physiologisch handelt es sich um eine Stressreaktion. Der körper schaltet auf kampf oder Flucht. Solche physiologischen Veränderungen sind nachweisbar.
haben Sie schon einmal Studien durch-geführt, in denen Sie das Abschnei-den der Schülerinnen und Schüler bei Vergleichsstudien wie PISA oder IGLU in Korrelation zu den akustischen Rahmen bedingung en von Schule und Lernumfeld gesetzt haben?
Klatte: Die in PiSA oder iGLU gemessenen Schulleistungen werden von vielen Faktoren beeinflusst, insbesondere von Vorwissen, Begabung und Motivation der kinder, der Qualität des Unterrichts und dem familiären
Umfeld. Die Akustik in klassenräumen spielt im Vergleich hierzu sicherlich eine untergeordnete rolle. Wir haben aber einmal eine Studie durchgeführt, in der Zweitklässler miteinander verglichen wurden, die in akustisch unterschiedlich guten klassenräumen unterrichtet wurden. in der Studie gab es klassenräume, die der geltenden DiNNorm entsprachen, also raumakustisch günstig waren, und in denen es kurze Nachhallzeiten und kaum Lärm von außen gab. Auf der anderen Seite gab es raumakustisch sehr schlechte räume, die lange Nachhallzeiten aufwiesen. Diese räume klingen sehr unangenehm und hallig, weswegen die Sprache schlechter zu verstehen ist. Dazu muss ich erläutern, dass durch den Nachhall nicht nur die Sprachverständlichkeit im raum, sondern auch der innenlärmpegel ansteigt, da jedes Geräusch, das im raum entsteht, länger im raum nachklingt. Dadurch kommt es zu einem Anstieg des Geräuschpegels. in klassenräumen herrscht grundsätzlich ein gewisser Hintergrundgeräuschpegel. Außerdem reden alle Personen im raum lauter, weil jeder versucht, den Lärmpegel zu übertönen, um für die anderen verständlich zu sein.
Die kinder aus diesen unterschiedlich guten klassenräumen wurden im rahmen der Studie über die Lärmbelastung im Unterricht befragt. Die Fragen zielten in die richtung, ob es während der Stillarbeit wirklich still sei, ob Mitschüler häufig sehr laut seien oder die Lehrkraft die Jugendlichen oft ermahnt, leiser zu sein. Parallel haben wir Eltern befragt, ob sich ihr kind zuhause über den Lärm in der Schule beschwert. kinder klagen darüber eher bei den Eltern als bei Lehrkräften. Es wurde sehr deutlich, dass die kinder aus akustisch ungünstigen räumen tatsächlich stärker unter dem Lärm leiden. Sie beurteilen das Wohlbefinden in der Schule schlechter und bewerten beispielsweise auch das
Zahlreiche Untersuchungen darüber zeigen, wie negativ sich Lärm auf die Bearbeitung kognitiv anspruchsvoller Aufgaben auswirkt.
BILDUNG BEWEGT NR. 20 MRZ/2013 13
BB20_inhalt_130314_final_RZ.indd 13 14.03.13 10:54
soziale Miteinander mit klassenkameraden weniger positiv als kinder aus akustisch günstigen klassen. Wir hatten vorher methodisch ausgeschlossen, dass die Unterschiede zwischen den Antworten etwas mit der sozialen Zusammensetzung der klassen, dem Migrationshintergrund, Sprachkenntnissen oder dem Sozialstatus der Familien zu tun haben könnten. Das deutet darauf hin, dass die Antworten mit der ständig einwirkenden Belastung durch den Lärm zusammenhängen.
… und Studien im Zusammenhang mit der Messung von Schülerleistun-gen …
Klatte: in London wurde eine Studie durchgeführt, in der die Verkehrslärmbelastung der kinder an den Schulstandorten in Beziehung zu deren Lernergebnissen gesetzt wurde. Es zeigten sich signifikante Zusammenhänge, dass kinder, die stärker lärmbelastet sind, in den Schulleistungstests nicht ganz so gut abschneiden. Uns sind verschiedene Studien bekannt, die zwar nicht direkt die Akustik der Schulen und die bauliche Gestaltung in den Blick genommen haben, sondern die Gesamtbelastung durch Verkehrslärm, der auf kinder einwirkt. Die rANcHStudie – sie ist die mit Abstand methodisch beste und umfassendste Studie zur Wirkung von Fluglärm auf kinder – hat gezeigt, dass die Leseleistungen der Schülerinnen und Schüler umso schlechter waren, je mehr Fluglärm es in der Lern und Wohnumwelt der kinder gab.
Was können Lehrkräfte und Lernen-de tun, um den Lärmpegel zu verrin-gern? Wie können sie sich schützen?
Klatte: in einem akustisch miserabel gebauten klassenraum gibt es außer der fachgerechten installation einer Akustikdecke kaum Möglichkeiten, dies auszugleichen. Ein wenig Milder
ung kann mit Hilfe kleiner Maßnahmen erreicht werden, in dem zum Beispiel möglichst viel Dämmmaterial in den klassenraum gebracht wird: eine couch, Schränke mit Türen, regale mit Büchern, große möglichst dicke korkpinnwände helfen bei der Schallabsorption. Auch die klassenführung hat Einfluss. Studien von Tiesler und kollegen zeigen, dass ein konsequentes Sozialtraining von der ersten klasse an – kommunikationsregeln, die von Beginn an eingeübt werden, und die konsequente Umsetzung dieser regeln durch alle Lehrkräfte – bei den kindern ein Grundverständnis des sozialen Mit einanders erwirkt, was den Lärmpegel im Unterricht deutlich redu ziert.
Auch sollten Lehrkräfte in spezifischen Lernsituationen, in denen bestimmte kognitive Leistungen erbracht werden sollen, die durch Lärm in besonderem Maße gestört werden, auf stille Umgebungsbedingungen und entsprechende Lernatmosphäre achten. Wir wissen, dass kurzzeitgedächtnisprozesse durch sprachliche Hintergrundgeräusche massiv beeinträchtigt werden. Wenn ein kind, dem das Lesen und Schreibenlernen schwerfällt, lautierendes Lesen praktiziert, bedeutet dies eine extreme Belastung des kurzzeitgedächtnisses. Jeder Buchstabe muss in einen Laut umgewandelt, der nächste dazugefügt und im kurzzeitgedächtnis behalten werden, um die Laute letztlich zu einem vollständigen Wort zusammenzuziehen. in solchen Phasen ist es sehr
ungünstig, wenn sich parallel dazu Tischnachbarn unterhalten.
Abschließend möchte ich darauf hinweisen, dass viele gute Materialien für kindergärten und Grundschulen zum Thema Lärm und Hören existieren. Und auch Unterrichtsprojekte können kinder für das Thema sensibilisieren. Wenn eine Lehrkraft Schülerinnen und Schüler dafür begeistern kann, wie faszinierend und sensibel das Gehör ist und wie Hören funktioniert, dann betreibt sie im besten Sinne Prävention durch Faszination.
Hörspaziergänge sind ein gutes praktisches Beispiel, sie beeindrucken kinder und Jugendliche. Gehen Sie einmal mit verbundenen Augen durch ihre Schule und erfassen zum Beispiel
die Akustik der Turnhalle. Der Höreindruck ist komplett anders, als wenn er mit dem visuellen Eindruck verbunden ist. Erst dann merken viele, wie laut und bedrohlich Lärm sein kann.
Das Interview für „BILDUNG BEWEGT“ führten
SABINE STAhL und SANDRA BUSChMüLLER
(Foto: zur Verfügung gestellt von Maria klatte)
NAChGEFRAGT
Gehen Sie einmal mit verbundenen Augen durch Ihre Schu-le und erfassen zum Beispiel die Akustik der Turnhalle. Der Höreindruck ist komplett anders, als wenn er mit dem visuellen Eindruck verbunden ist. Erst dann merken viele, wie laut und bedrohlich Lärm sein kann.
14 BILDUNG BEWEGT NR. 20 MRZ/2013
BB20_inhalt_130314_final_RZ.indd 14 14.03.13 10:54
üBERSIChT üBERDIAGNoSEMÖGLIChKEITEN
EIN METhoDEN-REPERToIRE ZURLERNPRoZESS-BEGLEITUNG
Erweiterte Formen der Leistungsbe-urteilung im Kontext veränderten („neuen“?) Lernens.Erweiterte Formen der Diagnose und Beurteilung „fremdsprachlicher Handlungsfähigkeit“ sind unerlässlich geworden, seit das Lernen im Fach Englisch auf veränderten Wegen geschieht. Aus den teachees vergangener Tage, den Objekten des BeLehrens, wurden in den vergangenen zwei Jahrzehnten zunehmend selbstständige learners, die das verfügbare Lernmaterial sowie Lernhilfen des Lehrers verarbeiten und so ihr Wissen individuell „konstruieren“. ihre kompetenzentwicklung kennzeichnet sie als Subjekte des Handelns. ihr Lernprozess vollzieht sich als komplexes Geschehen im Wechselspiel von persönlichaffektiver, sozialkommunikativer, kognitivstrate gischer und inhaltlichfachlicher Dimen sion des Lernens.
Gleichzeitig gewann die rolle der Lehrperson eine veränderte Qualität. Diese ist nicht mehr sage on the stage (= „der weise Mensch auf der Bühne“), sondern eher the guide on the side(= „Orientierung Bietender an der Sei
te des Lernenden“). Er unterstützt den Lernenden als Lerncoach, learning fa-cilitator oder learning activator (= „die Person, die Lernfortschritte erleichtert bzw. anstößt“). Dies schließt nicht aus, dass die Lehrperson an geeigneten Stellen des Unterrichts („teachable mo-ments“) Phasen mit direkter instruktion gestaltet oder als Expertin ihres Faches das gewünschte Lernverhalten der Schülerinnen und Schüler beispielhaft modelliert (Apprenticeship Learning).
Mit der wachsenden Einsicht in die komplexität des Lehr und Lerngeschehens im Englischunterricht wuchsen auch die Ansprüche an die diagnostischen Qualitäten der Lehrkräfte. To understand in only one way is not to understand („Auf eine einzige Weise zu verstehen bedeutet nicht zu verstehen.“), so ist es auf der Homepage eines amerikanischen instituts zu lesen, das instrumente des Beurteilens und Bewertens im Unterricht entwickelt. Was bedeutet dieser Slogan für die Bemühungen der Unterrichtenden, sich einen Einblick in den Lernstand ihrer Schüler im Fach Englisch zu verschaffen?
Von der Notwendigkeit einesdifferenzierten Blicks auf Schüler-leistungenJeder Praktiker weiß, dass es keinen königsweg gibt, der als Grundlage für das Feststellen, Beurteilen oder Bewerten jeglicher Art von Schülerleistung im Englischunterricht dienen könnte. „Es wäre falsch, anzunehmen, dass ein bestimmter Ansatz (etwa eine zentrale Prüfung) in ihrem didaktischen Wert notwendigerweise einem anderen Ansatz (etwa der Beurteilung durch Lehrende) überlegen ist“, so formulieren es die Verfasser des Gemeinsamen Europäischen referenzrahmens für Sprachen.
Dies gilt im Detail auch für einzelne Verfahren der Leistungserfassung, seien es herkömmliche oder innovative instrumente. So eignen sich kategorien für die Auswertung eines MultiplechoiceTests zum Leseverstehen nicht dazu, um etwa Sprachbewusstheit oder interkulturelle kompetenz zu erfassen. Die Methode des Markierens sprachlicher regelverstöße mit dem rotstift ist denkbar ungeeignet, um lernförderliche impulse für den Verfas
Internationale Schulleistungsstudien der vergangenen Jahre haben die Verbesserung der diagnos-tischen Kompetenz der Lehrkräfte als ein Entwicklungsfeld ausgewiesen. Im Folgenden wird ein Me-thodenrepertoire für den Englischunterricht vorgestellt, das Lehrkräften vielfältige Einblicke in indivi-duelle Lernprozesse mit dem Ziel des Beurteilens und Förderns erlaubt. Zugleich wird der Stellenwert dieses Repertoires zwischen Kompetenzorientierung und Leistungsbewertung beleuchtet.
BILDUNG IM BLICK
BILDUNG BEWEGT NR. 20 MRZ/2013 15
BB20_inhalt_130314_final_RZ.indd 15 14.03.13 10:54
ser eines Lernerportfolios oder eines Lernjournals setzen zu können.
Gefragt ist daher eine ganze Palette von instrumenten, die erst in ihrem Zusammenspiel ein abgerundetes Bild des Lernenden im Fach Englisch entstehen lassen.
Im Spannungsfeld von Kompetenzentwicklung und LeistungsbewertungDiagnose und Beurteilung von Schülerleistungen stellen Englischkollegen vor eine anspruchsvolle Aufgabe. Es gilt, sich im Spannungsfeld teilweise widerstreitender Prinzipien zu bewegen.
Leitend ist zum einen der Grundsatz der individuellen Förderung jedes Schülers mit dem Ziel einer möglichst umfassenden kompetenzentwicklung. Lernstandserhebungen geschehen unter dieser Prämisse mit diagnostischer Zielstellung. Sie weisen Bereiche aus, in denen Schüler weiterer Unterstützung bedürfen. Die zugeordneten formativen (förderorientierten) Verfahren folgen den diagnostischen Prinzipien des Beobachtens, Befragens, Untersuchens. Sie richten sich positiv auf die Stärken, nicht auf die Defizite des Lernenden. Sie vollziehen sich fortlaufend, „unterwegs“ im Lernprozess, sind offen für reflexion und dienen der Optimierung von Lern und Lehrprozessen. Differenzierte rückmeldung der Unterrichtenden macht Schülern Mut zum weiteren Beschreiten des einmal eingeschlagenen Lernweges bzw. zu notwendigen kurskorrekturen. Schüler orientierte Leistungsbeurteilung dient zugleich dazu, den Schüler zu fordern. Sie trägt dazu bei, dass er sein Potenzial weiter entfaltet und nach der Lehre des russischen Lernpsychologen Vygotsky die nächste Stufe seiner Lernentwicklung (zone of pro-ximal development) erreicht. Zugleich werden Schüler systematisch befähigt, ihr Lernen zunehmend selbstständig zu reflektieren.
Die gebräuchliche englische Bezeichnung für formative Verfahren lautet Assessment (von ad + sedere, zur Seite sitzen, assistieren), häufig auch
Assessment for learning. Die idee der Lernprozessbegleitung wird so leicht nachvollziehbar.
Alle neuen Lehrpläne sind auf die vorab beschriebene Entwicklung von Lernerkompetenz ausgerichtet. Sie stellen kontrolle und Bewertung in
den kontext des kompetenzmodells. Sie signalisieren, dass ein mehrdimensionaler Lernprozess mehrdimensionale Formen von kontrolle und Bewertung erfordert.
Neben vielfältigen Bemühungen um eine neue Lern und Evaluationskultur vollzieht sich Leistungsbewertung im Englischunterricht weiterhin im rahmen tradierter schulischer Notengebung. Diese zieht am Ende einer Lerneinheit, eines Unterrichtsjahres etc. die Summe des Gelernten (summative Verfahren), nimmt vorrangig Lernergebnisse statt Lernprozesse in den Blick. Leistungsmessung in Tests und klassenarbeiten bewegt sich in der regel innerhalb einer Ziffernfolge. Dies entspricht der Grundbedeutung des englischen Begriffs evaluation als normbezogene Festlegung des Wertes (engl.: value) einer Leistung. Summative Verfahren begründen schulische Selektionsprozesse und dienen der Zertifizierung von Leistungen auf Schulzeugnissen. Sie besitzen daher ihren Stellenwert als Vergleichs und kontrollinstrumente im rahmen schulischer Qualitätssicherung.
Der kompromiss zwischen formativen und summativen Verfahren wird in einem Blick auf Schülerleistungen gesehen, der die Einschätzung der individuellen Lernleistung nach generalisierten Leistungsnormen akzeptiert, zugleich aber der Entfaltung der individualität rechnung trägt. Leistung
im Englischunterricht ist prozess und produktorientiert, sie entsteht beim individuellen und sozialen Lernen, setzt ermutigendes und anstrengendes Lernen voraus. Die Diagnose und Beurteilung dieser Leistung muss daher ebenso differenziert ausfallen.
Einsatzmöglichkeiten des förder-diagnostischen RepertoiresDas in der Folge in seinen einzelnen Bausteinen vorgestellte Verfahrensrepertoire verbindet „weiche“, d. h. nicht quantifizierbare Verfahren, mit sogenannten „harten“ instrumenten der Leistungsmessung. Es bezieht Verfahren der Fremdbeurteilung ebenso ein wie Verfahren der Selbsteinschätzung oder der Beurteilung durch Lernpartner.
• Zu den sogenannten „weichen“ instrumenten zählen der Fragebogen, das interview, der pädagogische Briefdialog.
• Zu den sogenannten „harten“ instrumenten der Leistungsmessung rechnen Vergleichsarbeiten und standardisierte Tests.
kombiniert werden bewährte Verfahren der Leistungsfeststellung wie klassenarbeiten mit innovativen diagnostischen Ansätzen wie dem Lerner portfolio und der Arbeit mit den kompetenzrastern des Gemeinsamen Europäischen referenzrahmens für Sprachen. Lernstandserhebungen durch den einzelnen Fachlehrer werden ergänzt durch „Blicke von außen“ in den klassenraum, etwa durch die Videographie des Englischunterrichts, wie sie im rahmen der Schulleistungsstudie DESi (DeutschEnglisch Schüler leistungen international) praktiziert wurde.
Verbunden werden diese instrumente durch eine einheitliche Zielstellung: sie dienen im förderdiagnostischen Sinn der Gewinnung möglichst differenzierter Daten zur bestmöglichen Förderung jedes einzelnen Lerners im Fach Englisch. ihr Einsatz ist abhängig vom jeweiligen
Leitend ist zum einen der Grundsatz der individuellen Förde-rung jedes Schülers mit dem Ziel einer möglichst umfassen-den Kompetenzentwicklung. Lernstandserhebungen gesche-hen unter dieser Prämisse mit diagnostischer Zielstellung.
Kombiniert werden bewährte Verfahren der Leistungsfest-stellung wie Klassenarbeiten mit innovativen diagnostischen Ansätzen wie dem Lernerportfolio und der Arbeit mit den Kompetenzrastern des Gemeinsamen Europäischen Refe-renzrahmens für Sprachen.
BILDUNG IM BLICK
16 BILDUNG BEWEGT NR. 20 MRZ/2013
BB20_inhalt_130314_final_RZ.indd 16 14.03.13 10:54
unterrichtlichen Ziel und kontext. Bei der Vorstellung jedes einzelnen Bausteins werden deshalb Möglichkeiten und Grenzen seiner Verwendung beleuchtet.
überblick über Diagnose- möglichkeiten zum Austauschin der FachkonferenzWie können kolleginnen und kollegen die in der Folge vorgestellten Verfahren für ihre eigene Praxis nutzen?keine Englischlehrerin, kein Englischlehrer wird das gesamte repertoire in jeder seiner Lerngruppen einsetzen können. Dieses ist vielmehr gedacht als Anregung zur Erprobung, Anwendung und konstruktion neuer Formen pädagogischer Leistungsbeurteilung.
DoRoThEE GAILE
Literatur
cOLLiNS, A., BrOWN, J. S., & NEWMAN, S. E. (1987). cOGNiTiVE APPrENTicESHiP: Teaching the craft of reading, writing and mathematics (Technical report No. 403). BBN Laboratories, cambridge, MA. centre for the Study of reading, University of illinois.
Deutsch Englisch Schülerleistungen international, www.dipf.de/desi
Gemeinsamer Europäischer referenzrahmen für Sprachen, insbesondere kap. 9 Beurteilen und Bewerten unter http://www.goethe.de/z/50/commeuro/901.htm
TiMM, J.P. (HG.): Englisch lernen und lehren. Didaktik des Englischunterrichts. Berlin: cornelsen, 1998
VyGOTSky, L. S.: Sprechen und Denken. Psychologische Untersuchungen, hrsg. und aus dem russischen übersetzt von Joachim Lompscher und Georg rückriem. Weinheim/ Basel: Beltz Verlag, 2002
WESkAMP, r: 2001: Anglistik/Amerikanistik: Fachdidaktik. Grundlagen und konzepte. Berlin: cornelsen.
Leicht überarbeitete Fassung; Der Text ist erschienen im raabe Verlag Stuttgart, Berlin in der Publikation für Schulleitungen: Fordern und fördern in der Sekundarstufe i, Herbert Boßhammer, Anette Schülermann (Hrsg.)
BILDUNG IM BLICK
Pädagogischer Briefdialog
Kompetenzraster
Lautes Denken beim Lernen
Interview
Fragebogen zum Lernverhalten
Beurteilung durch Lernpartner
Vergleichs- arbeiten
Videographie des Unterrichts
Standardisierte Tests
Portfolio
Strukturierte Beobachtung
Lerntagebuch
Klassen- und Kursarbeiten
Ein abgerundetes Bild der Schülerin/des Schülers im Lernprozess durch vielfältige (förder-)diagnostische Instrumente:
i. Werfen Sie zunächst einen Blick auf die vielfältigen instrumente der Lernprozessbegleitung!
ii. Tauschen Sie sich mit ihrer kollegin/ihrem kollegen zu folgenden Fragen aus:
1. Welchem der genannten instrumente begegnen Sie in ihrem pädagogischen Alltag am häufigsten?
2. Welches der genannten instrumente möchten Sie am ehesten (weiter)erproben?
3. Worin sehen Sie die chancen und die Grenzen für den unterrichtlichen Einsatz des von ihnen ausgewählten instruments der Beurteilung und Bewertung?
BILDUNG BEWEGT NR. 20 MRZ/2013 17
BB20_inhalt_130314_final_RZ.indd 17 14.03.13 10:54
Kompetenzorientierung alleine, so der Erziehungswissenschaftler Hilbert Meyer, macht noch keinen guten Unterricht. Die für kompetenzorientierten Unterricht zentrale Idee des „backward plan-ning“, des Denkens und Planens von den angestrebten Lernergebnissen her, sagt viel darüber aus, was am Schluss herauskommen soll. Sie liefert jedoch nur wenige Anhaltspunkte dafür, wie der Unterricht selbst gestaltet werden kann. Deshalb gilt beim kompetenzorientierten Unterricht ebenso wie im herkömmlichen Unterricht, dass er „gut, aber auch weniger gut“ ausfallen kann.
WAS IST GUTERUNTERRIChT? Kompetenzorientierung aufdem Prüfstand
Welche Gelingensbeding ungen braucht es, damit kompetenzorientierter Unter richt
den Ansprüchen an guten Unterricht genügt? Und inwieweit macht kompetenzorientierung den Unterricht besser und trägt dazu bei, das Lernen der Schülerinnen und Schüler zu verbessern? Diesen drängenden Fragen ging der renommierte Erziehungswissenschaftler in seinen Ausführungen im rahmen eines landesweiten Fachtages nach. Meyer zeigte dabei pragmatische Wege auf, wie Lehrerinnen und Lehrer mit kompetenzorientierung im Unterrichtsalltag verfahren könnten.
Kompetenzorientierten Unterricht in Einklang mit bewährten Unterrichts-skripten bringenFür Hilbert Meyer ist kompetenzorientierung alleine noch kein Garant für guten Unterricht. Auch als didaktisches konzept habe der kompetenz
orientierte Unterricht wenig innovatives zu bieten. Seine kernideen seien weder neu noch sonderlich originell. Viele Grundideen, zum Beispiel „Lernende dort abzuholen, wo sie sich gerade befi nden“, oder dass sie „für die Bewältigung zukünftiger privater und berufl icher Anforderungen tüchtig gemacht werden sollen“, hätten als Leitideen des lernzielorientierten Unterrichts die 70er Jahre geprägt. Auch seien sie als pädagogische Grundvorstellungen bereits in vergangenen Jahrhunderten häufi g proklamiert worden. Schon comenius habe sie gepredigt.
Dennoch sei im Unterschied zu anderen bewährten didaktischen konzepten die Bildungsidee des kompetenzorientierten Unterrichts an spruchsvoller und konsequenter. Das konzept des selbstregulierten Lernens und Arbeitens, die idee der inneren Differenzierung und individuellen Förderung, die konsequente Zusammenführung
von Wissen und können und deren systematische Förderung seien Ausdruck dieser anspruchsvollen idee. Eine wesentliche rolle spielt dabei auch eine reihe von instrumenten, die zur implementierung der kompetenzorientierung im Schulalltag entwickelt und vor allem im rahmen des Vorbereitungsdienstes erprobt wurden:• die Entwicklung einer Feedback
kultur,• PortfolioArbeit,• das wechselseitige Lehren und
Lernen usw.
Was ist dann noch neu an der Kom-petenzorientierung?Wirklich neu an der kompetenzorientierung ist die idee, den Lernstandder Schülerinnen und Schüler in empirisch abgesicherten kompetenz stufenModellen zu erfassen (vgl. PiSA). Auch die fl ächendeckenden, alle Bundesländer einschließenden kompetenzorientierten Leistungs bzw. Lern
BILDUNG IM BLICK
18 BILDUNG BEWEGT NR. 20 MRZ/2013
BB20_inhalt_130314_final_RZ.indd 18 14.03.13 10:54
Wirklich neu an der Kompetenzorientierung ist die Idee, den Lernstand der Schülerinnen und Schüler in empirisch abge-sicherten Kompetenzstufen-Modellen zu erfassen (vgl. pisa). Auch die flächendeckenden, alle Bundesländer einschließen-den kompetenzorientierten Leistungs- bzw. Lernstandsüber-prüfungen markieren eine neue Qualität.
standsüberprüfungen markieren eine neue Qualität. Hier sieht Meyer die großen Vorteile des kompetenzorientierten Unterrichts: „Wer beim Unterrichten in kompetenzstufungen denkt und danach handelt, wird nicht starr, sondern flexibel. Er beziehungsweise
sie kann schneller und sicherer umsteuern, wenn er bzw. sie erkennt, dass einzelne Schülerinnen und Schüler das bei der Planung zugrunde gelegte kompetenzniveau noch nicht erreicht oder schon überschritten haben.“ Um Schülerinnen und Schülern erfolgreiches Lernen im Sinne der kompetenzorientierung zu ermöglichen, sei es aber erforderlich, weitere kriterien guten Unterrichts wie die „Beachtung eines lernförderlichen klimas“ oder das „classroom Management“ zu berücksichtigen und Lerngerüste („scaffolds“) aufzubauen, die den Schülerinnen und Schülern helfen, selbstreguliert zu lernen. Darüber hinaus ist es nach Einschätzung des Erziehungswissenschaftlers notwendig, eine Helferkultur aufzubauen, die Metakognition zu stärken, eine Fehler und Feedbackkultur sowie „formative Assessments“ zu etablieren.
Hilbert Meyer verurteilt auch nicht den Frontalunterricht, der in der Vergangenheit in der Bildungsdiskussion zuweilen in die kritik geraten war. Er nennt ihn „direkte instruktion“ und hält ihn für unverzichtbar. Zugleich appelliert er aber auch an die Teilnehmerinnen und Teilnehmer, den Anteil des Frontalunterrichts von 75 % auf ein Drittel schrumpfen zu lassen – zugunsten kooperativer und individualisierender Unterrichtsphasen mit selbstständiger Arbeit der Lernenden.
Praktikable KompetenzstufenmodelleDamit Lehrerinnen und Lehrer überhaupt Bildungsstandards für ihren Unterricht nutzen können, benötigen sie praktikable kompetenzstufenmodelle mit Aufgabenstellungen, die dazu passen. Und hier lautet Meyers ganz klare Forderung, das Erfahrungswissen der Lehrerinnen und Lehrer ernst zu neh
men. „Die reform wird in den klassenzimmern auf Lehrerebene gemacht!“ Das heißt: Topdown und Bottomup können und müssen sich ergänzen. Die Bildungsforschung lässt die kollegien hier allerdings alleine, beklagt Meyer. Bisher existieren wenige konkrete
kompetenzstufenmodelle, mit denen im alltäglichen Unterricht gearbeitet werden kann.
Meyer plädiert dafür, nicht auf den Tag zu warten, an dem die kompetenzforschung endlich so weit sein wird, empirisch abgesicherte Modelle zu liefern. Er empfiehlt vielmehr, eine
pragmatische Entwicklungsstrategie von unten zu starten. Denn das Denken in kompetenzstufungen sei im Unterrichts alltag nichts Ungewöhnliches. Vielmehr sei es gar nicht zu vermeiden, tagtäglich die unterschiedlichen Leistungen der Schülerinnen und Schüler zur kenntnis zu nehmen und sie zu bewerten.
„Es gibt keine berufserfahrene Lehrerin, die nicht mindestens fünf oder sechs Dutzend persönliche Stufungsmodelle in ihr unterrichtspraktisches Denken und Handeln integriert hat.“ Meyer will diese pragmatischen Modelle durch eine gemeinsame Aufarbeitung explizit machen. Hierzu hat er ein allgemeines Strukturmodell für kompetenzstufungen entwickelt, das sich an Stufungskriterien orientiert, die im Schulalltag relativ fest verankert sind: die wachsende Selbstregulation der Lernenden (vgl. Abb. 1). Das vorgestellte Modell kann und soll die empirisch fundierten Stufungsmodelle, wie sie in PiSA ent wickelt wurden, allerdings nicht
BILDUNG IM BLICK
Abb. 1: Allgemeines Strukturmodell (Meyer, 24.12.12)
Stufe Kompetenzdimensionen Kriterium
0 (noch) keine kompetenz nachweisbar
1 unreflektiertes Nachvollziehen
REFLExIoNS- KoMPETENZ:
hANDLUNGS- KoMPETENZ:
2 handeln nach Vorgabe
3 handeln nach Einsicht
4 selbstständige Prozesssteuerung
naivganzheitlichesNachahmen oder spielerisches
Nacherfinden einer Handlungsfigur
didaktische reflexion des
Methoden einsatzes
selbstregulierte Moderation des Methoden einsatzes
Verstehen der Anweisungen
und regeln
zielbezogene Reflexion
des eigenen Handels
schrittweise Ausführung
von Anweisungen
eigenständiges und zieladäquates
handeln
ALLGEMEINES STRUKTURMoDELL
BILDUNG BEWEGT NR. 20 MRZ/2013 19
BB20_inhalt_130314_final_RZ.indd 19 14.03.13 10:54
ersetzen. Die Funktion solcher Stufungs modelle besteht darin, Schwierig keits grade der Stundenplanung einzuschätzen und Lernziele realistisch zu planen.
Kompetenzstufen entwickelnMeyer meint es mit der gemeinsamen Aufarbeitung ernst. Dies zeigt sich im Verlauf der Tagung. Er aktiviert die Teilnehmerinnen und Teilnehmer! Alle führen in Gruppen ein Experiment mit einem Zollstock und einem küchenmesser durch. Mit diesen beiden Gegenständen sollen die Gruppenmitglieder versuchen, ein stabiles Gleichgewicht herzustellen: Beide Gegenstände zusammen sollen eine beliebige Unterlage nur an einem Punkt berühren. im Zentrum dieser Aufgabe steht zum einen natürlich, das Experiment gemeinsam mit anderen durchzuführen und die Aufgabe zu lösen, aber auch, die zum Einsatz kommenden kompetenzen der Gruppenmitglieder zu beobachten. Eine wirkliche Herausforderung und für viele ein plastischer Beleg dafür, wie viel „träges Wissen“ im eigenen Physikunterricht angesammelt worden ist. Teilnehmeraktivierung auch in der sich anschließenden Tandemphase: Dort entwickelten die rund 300 angereisten Pädagoginnen und Pädagogen dann für das Experiment, das sie selbst durchgeführt haben, einen kompetenzstufenbezogenen Arbeitsauftrag für eine 9. klasse mit vier unterschiedlichen kompetenzstufen. Ein erster Zugang zu kompetenzstufungen und eine wichtige Erfahrung für die eigene Praxis!
Am Nachmittag boten zahlreiche Workshops die Möglichkeit, das Meyer’sche Strukturmodell noch einmal handelnd auf die Probe zu stellen und eigene Lernerfahrungen mit kompetenzstufungen zu sammeln. Ausgewählte Standards zur Lesekompetenz
aus dem hessischen kerncurriculum sollten vierfach gestuft werden. Die Lesekompetenz ist eine basale überfachliche kompetenz, die alle Fächer betrifft. insofern stellte der Arbeitsauftrag, Stufungen für unterschiedliche klassen nach dem kriterium der wachsenden Selbstregulation für den eigenen Unterricht oder das Schulcur
riculum vorzunehmen, für die Teilnehmenden eine echte Herausforderung dar. „Es war sehr gut, dass das Lesen (in allen Fächern) thematisiert wurde – dieses Gebiet ist Entwicklungsland und sollte viel häufiger bearbeitet werden.“1
im rahmen des Schlussplenums gab Meyer den Teilnehmerinnen und Teilnehmern noch mit auf den Weg, dass es nichts bringe, die Grundformen des Unterrichts gegeneinander auszuspielen – „Mischwald ist besser als Monokultur!“ – und plädierte für Arbeitsbündnisse in kollegien und in klassen. Denn eines sei ihm klar: „Das kriegt man allein nicht hin!“ Hier ist Teamarbeit im kollegium gefordert. „Unterricht ist eine kostbare Zeit für Schüler wie für Lehrer. Er ist nicht nur zum Lernen da. Er sollte auch ein Ort sein, an dem man Solidaritätserfahrungen machen und lustvoll leben kann. Deshalb sollten wir auf Teufel komm raus versuchen, im Unterricht Freiräume für irrungen und Wirrun
gen, für Durchstarten und Pausieren, für glückliche Momente und gemeinsames Träumen zu schaffen.“
Die Evaluation der Veranstaltung zeigte hochzufriedene Teilnehmer, die es wertschätzten, dass ihnen das Fortbildungsformat neben anspruchsvollen inputs auch Phasen des handelnden Ausprobierens offeriert hat.
88,1 % der Teilnehmerinnen und Teil nehmer konnten nach eigenem Be kunden neues Wissen erwerben und auf die eigene Berufspraxis beziehen. Das hessische Fortbildungsprojekt „kompetenzorientiert unterrichten – Bildungsstandards nutzen“ hat mit diesem Fortbildungsangebot ein Thema bearbeitet, das hessischen Lehrerinnen und Lehrern offensichtlich unter den Nägeln brannte.
DR. GABRIELE SChREDER
Landesschulamt und Lehrkräfteakademie
Fortbildung für Lehrkräfte
Literatur
MEyEr, HiLBErT: Landesweiter Fachtag „kompetenzorientiert unterrichten – Bildungsstandards nutzen: Was ist guter Unterricht? kompetenzorientierung auf dem Prüfstand“. Vortragsskript, Weilburg, 24.11.2012
Erläuterungen 1 Teilnehmerstimme aus der Evaluation
BILDUNG IM BLICK
„Unterricht ist eine kostbare Zeit für Schüler wie für Lehrer. Er ist nicht nur zum Lernen da. Er sollte auch ein Ort sein, an dem man Solidaritätserfahrungen machen und lustvoll leben kann. Deshalb sollten wir auf Teufel komm raus versuchen, im Unterricht Freiräume für Irrungen und Wirrungen, für Durch-starten und Pausieren, für glückliche Momente und gemein-sames Träumen zu schaffen.“
Über 300 Pädagoginnen und Pädagogen waren angereist, um auf dem landesweiten Fachtag „kompetenzorientiert unterrichten – Bildungsstandards nutzen: Was ist guter Unterricht? kompetenzorientierung auf dem Prüfstand“ Meyers Standpunkte zum kompetenzorientierten Unterricht kennenzulernen und Anregungen für den eigenen Unterricht zu erhalten. Die kooperationsveranstaltung der ehemaligen institutionen Amt für Lehrerbildung und Staatliches Schulamt, die seit Januar 2013 im Landesschul
amt zusammengeführt sind, kann als Beleg für die gute Zusammenarbeit im rahmen des Projektes gewertet werden. Volker imschweiler aus dem Staatlichen Schulamt Weilburg sprach von einer rekordbeteiligung. Helga kennerknecht (ehemaliges AfL) hob den Stellenwert der Thematik für die aktuelle Unterrichtsentwicklung hervor. Hilbert Meyer sei jemand, „der in Theorie und Praxis des Lehrens und Lernens markante Meilensteine bei der Unterrichtsentwicklung gesetzt habe, die für uns alle Orientierungsqualität haben“.
INFoKASTEN
20 BILDUNG BEWEGT NR. 20 MRZ/2013
BB20_inhalt_130314_final_RZ.indd 20 14.03.13 10:54
WEDER EINhEITSABITUR NoCh „ABITUR LIGhT“Bildungsstandards für die oberstufeNeue KMK-Vorgaben gelten für vier Fächer ab 2017 Abiturstandards, die für die Fächer Mathematik, Deutsch, Englisch und Französisch ab 2017 vonBremen bis Bayern gelten – darauf hat sich die Kultusministerkonferenz auf ihrer Sitzung im Oktober 2012 verständigt. Am Berliner Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) wurden die Vor-gaben gemeinsam mit Vertreterinnen und Vertretern der Länder, mit abiturerfahrenen Lehrkräften sowie Fachdidaktikerinnen und Fachdidaktikern entwickelt. Damit liegen nun von der Grundschule bis zum Abitur bundesweit geltende Bildungsstandards für die zentralen Fächer vor.
W issenschaftlich überprüfteAufgaben für alle LänderSchülerinnen und Schüler,
die unter diesen Vorzeichen ihr Abitur absolvieren werden, besuchen zurzeit noch die 8. klasse. im Schuljahr 2014/15 beginnt für sie die Oberstufe, in der bereits die neuen „Standards für die Allgemeine Hochschulreife“ (AHr) gelten. Angekündigt ist ein Aufgabenpool beim iQB in Berlin mit wissenschaftlich überprüften und gleich schwierigen Abituraufgaben, der ab 2016/17 für alle Länder zur Verfügung stehen soll. Auch Standards für die Naturwissenschaften Biologie, Physik und chemie sind in Vorbereitung. Die implementierung in hessische Abiturstandards wurde begonnen.
Die neuen Standards rücken Deutsch, Englisch und Französisch als
BILDUNG IM BLICK
fortgeführte Fremdsprachen sowie Mathematik ins Zentrum. in diesen Fächern der gymnasialen Oberstufe sollen Abiturientinnen und Abiturienten kompetenzen entwickeln, die sie befähigen, im rahmen eines Studiums oder einer Berufsausbildung erfolgreich weiterzulernen und am gesellschaftlichen und kulturellen Leben teilzuhaben. Dabei stützen sich die AHrStandards auf die „Vereinbarung zur Gestaltung der gymnasialen Oberstufe in der Sekundarstufe ii“. in diesem Schlüsseltext der kMk zur Gymnasialen Oberstufe werden Schwerpunkte und Grundsätze des Oberstufenunterrichts so beschrieben: • „Der Unterricht in der gymnasialen
Oberstufe vermittelt eine vertiefte Allgemeinbildung, allgemeine Studierfähigkeit sowie wissenschaftspropädeutische Bildung. Von besonderer Bedeutung sind dabei vertiefte kenntnisse, Fähig keiten und Fertigkeiten in den basalen Fächern Deutsch, Fremdsprache und Mathematik. […]
• Der Unterricht in der gymnasialen Oberstufe ist fachbezogen, fachübergreifend und fächerverbindend angelegt. Er führt exemplarisch in wissenschaftliche Fragestellungen,
kategorien und Methoden ein und vermittelt eine Erziehung, die zur Persönlichkeitsentwicklung undstärk ung, zur Gestaltung deseigenen Lebens in sozialer Verantwortung sowie zur Mitwirkung in der demokratischen Gesellschaft befähigt
• im Unterricht in der gymnasialen Oberstufe geht es darüber hinaus um die Beherrschung eines fachlichen Grundlagenwissens als Voraussetzung für das Erschließen von Zusammenhängen zwischen Wissensbereichen, von Arbeitsweisen zur systematischen Beschaffung, Strukturierung und Nutzung von informationen und Materialien, um Lernstrategien, die Selbständigkeit und Eigenverantwortlichkeit sowie Team und kommunikationsfähigkeit zu unterstützen.“ (kMk 2012)
Wie bei den Bildungsstandards für den Primarbereich und die Sekundarstufe i handelt es sich bei den Oberstufenstandards um abschlussbezogene regelstandards, die allerdings zwischen einem grundlegenden und einem erhöhten Niveau unterscheiden, also zwischen Grund und Leistungskursen. Die AHrBildungsstandards legen für beide Niveaustufen fest, welche kompetenzen Schülerinnen und Schüler, die einen entsprechenden kurs absolvieren, „in der regel“ erwerben sollen. Sie gelten auch für berufl iche Gymnasien.
Wie sind die neuen Bildungsstan-dards gestrickt?in ihrer äußeren Struktur sind die Dokumente ähnlich aufgebaut wie die für die Jahrgangsstufen 4, 9 und 10. Sie präsentieren die Standards in fünf Schritten:
MAThE
DEUTSCh
ENGLISCh
BILDUNG BEWEGT NR. 20 MRZ/2013 21
BB20_inhalt_130314_final_RZ.indd 21 14.03.13 10:54
BILDUNG IM BLICK
1. Eine Fachpräambel beschreibt die allgemeinen Ziele des jeweiligen Faches und legt dar, welche allgemeinen kompetenzen Schülerinnen und Schüler im jeweiligen Fach entwickeln sollen (z. B. sprachliche Handlungskompetenz, interkulturelle kompetenz, mathematische Modellierungsfähigkeit).
2. Den kern des Dokumentes bildet die Darstellung der Bildungsstandards, die zunächst allgemein eingeführt werden. Es wird beschrieben, welche Aspekte des Wissens und könnens der jeweilige kompetenz bereich umfasst und wie diese miteinander zusammenhängen. Anschließend folgt die Aufl istung der Bildungsstandards. Diese sind in Form von Anforderungen formuliert, die Schülerinnen und Schüler am Ende der gymnasialen Oberstufe bewältigen können sollen („könnensbeschreibungen“). in der regel werden die Standards für
das grundlegende und das erhöhte Niveau unterschieden, also für Grund und Leistungskurse.
3. Vorgaben für die Gestaltung der Abiturprüfung schließen sich an. Ausgehend von den Einheitlichen Prüfungsanforderungen im Abitur (EPA), die mit den AHrStandards weiterentwickelt werden, legen sie Aufgabenformate fest, die in der Abiturprüfung eingesetzt werden können, geben richtlinien für die Bewertung der Schülerleistungen vor und beschreiben rahmenbedingungen, etwa zum zeitlichen Umfang der Prüfungen.
4. Zur illustration der Vorgaben für die Abiturprüfung enthält das Dokument exemplarische Abituraufgaben für schriftliche und mündliche Prüfungen.
5. Exemplarische Lernaufgaben illustrieren ausgewählte Bildungsstandards. Sie zeigen, welche Aufgabenstellungen dazu geeignet sein
können, die jeweiligen kompetenzen bei Schülerinnen und Schülern im Unterricht zu entwickeln. Die Lernaufgaben sollen aktive Lernprozesse anstoßen und diese durch eine Folge von gestuften Aufgabenstellungen steuern.
Vorsichtige NeuerungenViele Vorgaben für schriftliche und mündliche Prüfungen sind abiturerprobten Lehrkräften keineswegs unbekannt. Dazu gehört die Mehrzahl der Aufgabenformate, die Orientierung an drei Anforderungsbereichen, das Format des Erwartungshorizonts mit seiner Beschreibung einer 5 und 11PunkteSchwelle oder die Norm, dass eine Aufgabe halbjahresübergreifend anzulegen ist.
Weitgehend neu dagegen ist der von Lehrkräften erwartete Perspektivenwechsel. Gefordert ist – wie in der Sekundarstufe i – die Orientierung an einem kumulativen kompetenzaufbau, wie er in den vor einigen Jahren überarbeiteten EPA nur angebahnt wurde. Die kompetenzen sind nun viel differenzierter dargestellt und durch konkrete „könnensbeschreibungen“ ergänzt. Die aufs Abitur bezogene Defi nition von Standards wird künftig auch die Erwartungen an die Ab solventen des hessischen Landesabiturs ergänzen.
konnten sich die Experten aus den 16 Bundesländern bei den EPA auf einen Textumfang zwischen 60 und 70 Seiten für jedes Fach einigen, so wurde dieser rahmen im Falle der AHrStandards deutlich überschritten. Einschließlich Beispielaufgaben umfassen die Dokumente für Mathematik 95, für Deutsch 264 und für Englisch /Französisch 387 Seiten.
Der Grund für die Expansion der Texte mag auch an einigen vorsichtig neu eingeführten fachbezogenen Akzentuierungen liegen. Für Deutsch soll die propädeutische Funktion des Unterrichts durch ein neues und anspruchsvolles Aufgabenformat gestärkt werden: das „materialgestützte Schreiben“, bei dem es um das
Allgemeine Studierfähigkeit
Wissenschaftspropädeutik Vertiefte Allgemeinbildung
BEISPIEL AUS DEN AhR-STANDARDS FüR DEUTSCh
2.4.3Sich mit Texten unterschiedlicher medialer Form und TheaterinszenierungenauseinandersetzenDie Schülerinnen und Schüler analysieren die spezifi sche Gestaltung von Textenunterschiedlicher medialer Form, erläutern ihre Wirkung und beurteilen die ästhetische Qualität. Sie setzen sich fachgerecht mit exemplarischen Theaterinszenierungen, Hörtexten und Filmen auseinander.
Grundlegendes NiveauDie Schülerinnen und Schüler können• Theaterinszenierungen und Litera-
turverfi lmungen als Textinterpretationen erfassen und beurteilen
• Theaterinszenierungen, Hörtexte und Filme sachgerecht analysieren
• eigene Hörtexte, Filme oder andere audiovisuelle Präsentationsformen erstellen bzw. Textvorlagen szenisch umsetzen
• sich bei der Rezeption oder Pro-duktion von Hörtexten und Filmen und bei der rezeption von Theaterinszenierungen mit den eigenen Welt und Wertvorstellungen, auch in einer interkulturellen Perspektive, auseinandersetzen
Erhöhtes NiveauDie Schülerinnen und Schüler können darüber hinaus• die ästhetische Qualität von Thea-
terinszenierungen, Hörtexten oder Filmen beurteilen, auch vor dem Hintergrund ihrer kulturellen und historischen Dimension
• sich mit Filmkritik und Aspekten der Filmtheorie auseinandersetzen
(KMK, Bildungsstandards im Fach Deutsch für die Allgemeine hochschulreife, S. 24)
22 BILDUNG BEWEGT NR. 20 MRZ/2013
BB20_inhalt_130314_final_RZ.indd 22 14.03.13 10:54
BILDUNG IM BLICK
Verfassen informierender und argumentierender Texte auf der Basis umfangreichen Textmaterials geht. in der Mathematik wird der Stellenwert von Stochastik angehoben und die rolle von „digitalen Mathematikwerkzeugen“ explizit geschärft. Die FremdsprachenStandards intensivieren die mündlichen kompetenzen.
Auf dem Weg zum bundesweiten Abitur? Noch im März 2011 sprachen sich in einer repräsentativen Umfrage des instituts für Demoskopie Allensbach 78 % der Bundesbürger sowie 72 % der Lehrerinnen und Lehrer für die Einführung bundesweit einheitlicher Abschlussprüfungen wie etwa eines bundesweiten Zentralabiturs aus (VODAFONESTiFTUNG DEUTScHLAND GmbH 2011).
Die AHrStandards gehen ganz offensichtlich nicht diesen Weg. Sie wollen den Bildungsföderalismus weitgehend erhalten, aber vergleichbarer machen und die Anforderungen im Abitur annähern. Dadurch sollen die Zulassung an Hochschulen, die derzeit die Vergleichbarkeit aller Abiturnoten unterstellt, gerechter und das zerfaserte deutsche Schulsystem durchlässiger werden.
Wichtige Expertisen von Tenorth (2001, 2004) zum „kerncurriculum Oberstufe“ haben die Grundlagen dafür bereitet. Auch die revisionen der Oberstufenvereinbarung der kMk von 1988, 1997, 2006 und 2012 (vgl. kMk 2012) führten zu einer weiteren Vereinheitlichung der Prüfungs anforderungen, indem die verpflichtenden Unterrichts und Prüfungsanteile in den kernfächern Deutsch, Mathematik und fortgeführte Fremdsprache ausgeweitet und die vorhandenen (Ab)Wahlmöglichkeiten eingeschränkt wurden. Spätestens mit dem Abiturjahrgang 2013 müssen nunmehr alle Abiturientinnen und Abiturienten in Deutschland verpflichtend in zweien dieser drei kernfächer eine Prüfung ablegen. Mit den Bildungsstandards wird nun versucht, die Anforderungen an den Oberstufenunterricht auf gemeinsame Gütemaßstäbe zu verpflichten und die schriftlichen Abiturprüfungen durch einen – wenn auch optionalen – nationalen Aufgabenpool zu stützen.
Ohne seine inhalte zu kennen, ist das polemische Schlagwort von einem „Zentralabitur ultralight“ (SPiEGEL ONLiNE 18.10.2012) abwegig.
Perspektiven für die Lehrerfort-bildungin den veränderten Standards liegen große chancen für eine Unterrichtsentwicklung, die die Lehrkräfte zu zentralen Akteuren macht. Sie werden konzeption und inhalte ihres bisherigen Oberstufenunterrichts in den kommenden Jahren auf neue Weise betrachten und dabei überprüfen: Wo kommt Neues auf uns zu? Was haben wir bereits? Gibt es Verbesserungsmöglichkeiten? Bevor Unterrichtsergebnisse am Ende im Abitur überprüft werden, unterliegt der auf die fachlichen inhalte und kompetenzen gerichtete Perspektivenwechsel der Gestaltung der Lehrkräfte. Dadurch entscheidet sich, ob die neuen AHrStandards lediglich unverbindliche curriculare Vorgabe bleiben oder im Unterricht wirksam werden.
Fortbildung in der Sekundarstufe ii ist nicht voraussetzungslos. Die AHrStandards schließen nämlich in vielerlei Hinsicht an Entwicklungen der Sekundarstufe i an, durch die eine Fokussierung auf kompetenzen oder auch auf die Entwicklung sinnvoller Lernaufgaben eingeleitet wurde. immerhin hatte die letzte Generation der hessischen Lehrpläne bereits kompetenzen für die gymnasiale Oberstufe benannt.
Die Architektur eines Fortbildungsangebots zur implementierung der neuen Standards in der gymnasialen Oberstufe setzt hier an und sollte sich auf die seit Jahren gewonnenen Erfahrungen und die Expertise aus dem Unterstützungsprogramm der Sekundarstufe i „kompetenzorientiert unterrichten – Bildungsstandards nutzen“ stützen. Da bisher bereits zahlreiche Schulen mit gymnasialer Oberstufe an diesem Fortbildungsprogramm teilnehmen, lassen sich hilfreiche Synergieeffekte erwarten.
Die Fortbildungsangebote des um die Oberstufe erweiterten Unterstützungsprogramms können Fachschaften über mehrere Monate eine kombination von theoretischer Grundlegung und handlungsorientierten Phasen bieten. Erfahrene Fortbildnerinnen und Fortbildner kommen in die Gymnasien und geben Fachschaften kompetente impulse zur kooperativen Unterrichtsentwicklung. Sie helfen dabei, die neuen Standards für den Oberstufenunterricht zu verstehen und für das schuleigene curriculum zu nutzen.
Mögliche Schwerpunktthemen sind veränderte Aufgaben und Prüfungs formate sowie Wege zum
selbständigen Lernen im jeweiligen Fach. Die Arbeit einer Fachschaft wird mit der an anderen Schulen vernetzt und dadurch bereichert. Eher als auf dem Wege einer kurzfristig angelegten Schulungsstrategie können auf diese Weise nachhaltige Wirkungen entstehen. Erste Pilotprojekte in einzelnen Schulamtsbezirken wären sinnvoll, weil sich die Erfahrungen aus der SekiFortbildung nicht bruchlos übertragen lassen. Sie können bereits im Schuljahr 2013/14 beginnen. Bereits im laufenden Unterstützungsprogramm gibt es, dem Bedarf der Fachschaften folgend, eine Perspektivenerweiterung zur gymnasialen Oberstufe. Schließlich sind kolleginnen und kollegen der Gymnasien in der regel in der Sekundarstufe i und der Sekundarstufe ii tätig und bringen immer wieder ihre aktuellen Fragen, z. B. zur Aufgabenkultur, in die Fortbildungen ein.
ThoMAS VoN MAChUI
Literatur
Die Bildungsstandards, einschließlich der darin enthaltenen illustrierenden Lern und Prüfungsaufgaben, können auf der internetseite der kultusministerkonferenz abgerufen werden. UrL: http://www.kmk.org/bildungschule/qualitaetssicherunginschulen/bildungsstandards/dokumente.html
kULTUSMiNiSTErkONFErENZ (kMk): Vereinbarung zur Gestaltung der gymnasialen Oberstufe in der Sekundarstufe ii (Beschluss der kultusministerkonferenz vom 07.07.1972 i. d. F. vom 09.02.2012)
kULTUSMiNiSTErkONFErENZ (kMk): Vereinbarung über die Abiturprüfung der gymnasialen Oberstufe in der Sekundarstufe ii (Beschluss der kultusministerkonferenz vom 13.12.1973 i. d. F. vom 24.10.2008)
SONNBErGEr, H.: Bildungsstandards für die Oberstufe: Länder peilen Zentralabitur ultralight an, Spiegel Online 18.10.2012
TENOrTH, H.E. (HrSG.): kerncurriculum Oberstufe: Mathematik, Deutsch, Englisch. Expertisen im Auftrag der kultusministerkonferenz. Beltz, Weinheim 2001
TENOrTH, H.E. (HrSG.): kerncurriculum Oberstufe ii: Biologie, chemie, Physik, Geschichte, Politik. Expertisen im Auftrag der kultusministerkonferenz. Beltz, Weinheim 2004
VODAFONESTiFTUNG DEUTScHLAND GMBH: AllensbachStudie zur Schul und Bildungspolitik in Deutschland. Pressemitteilung vom 19.04.2011. UrL: http://www.vodafonestiftung.de/presseinfomodul/detail/118.html
BILDUNG BEWEGT NR. 20 MRZ/2013 23
BB20_inhalt_130314_final_RZ.indd 23 14.03.13 10:54
Unter der Lernaufgabe einer Unterrichtssequenz bzw. einheit wird hier die Aufgabe ver
standen, die aus einer Leitfrage bzw. dem Leitthema sowie dem Set der aufeinander abgestimmten Teilaufgaben besteht. Fachorientierte Lernaufgaben im Fach Politik und Wirtschaft sollen folgenden Ansprüchen entsprechen: Sie bilden die Basis für die Lernstands und Lernprozessdiagnose und ermöglichen durch ihre Offenheit selbstgesteuerte Lernprozesse. Dies gelingt nur, wenn Transparenz für die Lernenden geschaffen wird, die Prob
lemstellung für die Schülerinnen und Schüler passend, d. h. anschlussfähig ist, die individuellen Lerner bzw. Lernerinnen durch Differenzierung in ihrem Lernprozess unterstützt werden.
Das vorgestellte instrument soll „‚do talkinstrument“ genannt werden. „Do talk!“ – dieser imperativ, miteinander zu sprechen, ist eine zentrale Voraussetzung für das Lernen im Fach Politik und Wirtschaft und steht deshalb als Leitmotiv im Zentrum der refl exion. Die Aufforderung „do talk“ ergibt sich aus den Anfangsbuchstaben der Gütemerkmale (Abbildung Seite 25).
kompetenzorientierte Lernaufgaben nach dem „do talk“Prinzip:• sind orientiert am Lernprozess der
Lernenden. Sie berücksichtigen die Entwicklungsprozesse der Lernenden bezogen auf den fachlichen und überfachlichen kompetenzerwerb sowie das Annähern an Stand ards und Niveaustufen. Diagnose und Feedback werden zu zentralen Elementen der Lernaufgabe. in strumente wie Portfolio, Lernjournal oder Selbst und Fremddiagnose dienen zur Orientierung und Beratung über den erworbenen
LERNAUFGABEN IMKoMPETENZoRIENTIERTEN PoLITIKUNTERRIChTVorschlag eines Instruments zur Refl exion von Lernaufgaben
BILDUNG IM BLICK
Mit den Bildungsstandards und Kerncurricula für die Sekundarstufe I wird in den letzten Jahren einveränderter Anspruch an die Qualität von Lernaufgaben formuliert. Für die Lehrerfortbildung bedeutet das, Lehrkräfte bei ihrem Austausch über die Unterrichtsentwicklung im Fach zu unterstützen. Eine wich-tige Rolle spielen dabei Instrumente, die zur Refl exion über Unterricht beitragen. Im Folgenden soll ein Instrument zur überprüfung von Lernaufgaben für den Unterricht im Fach Politik und Wirtschaft vorge-stellt werden.
DoTALK!
24 BILDUNG BEWEGT NR. 20 MRZ/2013
BB20_inhalt_130314_final_RZ.indd 24 14.03.13 10:54
BILDUNG IM BLICK
Lernstand und den Lernprozess und bilden die Grundlage zur Befähigung einer Selbststeuerung weiterer Lern prozesse. Somit bilden Lernaufgaben die Grundlage pädagogischer und didaktischer Diagnostik.
• stellen eine komplexe, problemhaltige Anforderungssituation dar und sind geeignet, einen gesellschaftlich bedeutsamen inhalt in exemplarischer Weise zu erschließen. Damit entsprechen sie den fachdidaktischen Prinzipien der kontroversität, der Problemorientierung und des exemplarischen Lernens. Sie sind kognitiv aktivierend, fordern zum eigenständigen problemlösenden Denken, zum Transfer des Gelernten und zum Probehandeln heraus. Abwechslungsreiche Lernaufgaben bzw. Aufgabentypen bei den Teilaufgaben sowie Wahlmöglichkeiten ermöglichen dem Lernenden verschiedene Herangehensweisen und Lösungswege. Die intendierte Mitgestaltungsmöglichkeit bei der Lernaufgabe sowie den Teilaufgaben erfordern eine inhaltliche und prozessorientierte Offenheit.
• machen Ziele, fachliches Erkenntnisinteresse, kompetenzpotenziale der Aufgabenbewältigung und Vor
gehensweise transparent. Sie sind klar strukturiert, eindeutig formuliert und beinhalten vielfältige, angemessen gestaltete Materialien. Dies unterstützt die Lernenden bei ihrer selbstgesteuerten Auseinandersetzung mit dem Lerngegenstand. Voraussetzung dafür ist das Verstehen und Akzeptieren der Sinnhaftigkeit des Tuns, und dies erfordert insbesondere Transparenz.
• orientieren sich an für die Lernenden bedeutsamen inhalten und Situationen. Dabei knüpfen sie an der Lebenswelt, den Erfahrungen, dem Vorwissen und den Vorkonzepten
der Schüler und Schülerinnen an und fordern diese zur exemplarischen Bewältigung authentischer Anforderungssituationen auf. Wahlmöglichkeiten bei Teil aufgaben erlauben individuelle Schwerpunktsetzungen
GüTEMERKMAL KURZBESChREIBUNG DES GüTEMERKMALS
D diagnostischLernaufgaben sind an Bildungsstandards und dem intendierten kompetenzerwerb orientiert und bilden die Basis zur Selbst und Fremddiagnose.
o offen
Lernaufgaben beziehen sich auf gesellschaftlich bedeutsame inhalte und sind offen für unterschiedliche Perspektiven und selbstständige Lösungswege. Sie korrespondieren mit den fachdidaktischen Prinzipien kontroversität, Problemorientierung, exemplarisches Lernen.
T transparentLernaufgaben sind klar formuliert und strukturiert. Sie schaffen Transparenz über das gesamte Lernangebot und die Schritte der Erarbeitung.
A anschlussfähig
Lernaufgaben sind für die Lernenden bedeutsam und knüpfen an deren Vorwissen, Erfahrungen und interessen an. Sie korrespondieren mit dem fachdidaktischen Prinzip der Schülerorientierung.
L lernerorientiert
Lernaufgaben fördern das individuelle selbstgesteuerte Lernen durch variable Zugänge, abgestufte Lernhilfen und metareflexive Angebote. Sie sind für alle Lerner zu bewältigen und ermöglichen Selbstwirksamkeitserfahrungen.
K kooperativLernaufgaben fordern zur kommunikation und zum kooperativen problemlösenden Lernen auf.
und schaffen Voraussetzungen, den individuellen Wissens und Erfahrungsstand weiterzuentwickeln. Dies korrespon diert mit dem fachdidaktischen Prinzip der Schülerorientierung und der Forderung nach Passung oder Anschlussfähigkeit.
• fördern das individuelle selbstgesteuerte Lernen. Sie lassen variable Zugänge und Lernwege sowie eine Bearbeitung auf unterschiedlichen kognitiven Niveaus zu. Die Lernaufgabe berücksichtigt unterschiedliche Lerntempi und wird ergänzt durch differenzierende Hilfen und Hinweise. Sie nutzt Helfersysteme, wie z. B.
durch wechselseitiges Lernen und Beraten, ist von allen Lernenden zu bewältigen und trägt dazu bei, ihnen kompetenz und kompetenzzuwachs erfahrbar werden zu lassen. Mit metareflexiven Lernsituationen fördert die Lernaufgabe gleichzeitig die Anwendung und Weiterentwicklung bereits verfügbarer Lernstrategien sowie den Erwerb neuer Strategien. Eine gute Lernaufgabe ist Angebot zur Förderung und Entwicklung individuellen Lernens. Somit ist ein zentrales Merkmal der Lernaufgabe deren Lernerorientierung.
• erfordern in kooperativen Lernsituationen eine Auseinandersetzung mit der Anforderungssituation. Sie bieten den Lernenden die Möglichkeit, in kooperativen Lernformen die unterschiedlichen konzepte, ideen, Lern und Lösungswege kennenzulernen, diese mit den eigenen zu vergleichen und so voneinander und miteinander zu lernen. kooperative Lernprozesse fördern den Er werb sozialer kompetenzen wie soziale Wahrnehmungsfähigkeit, rücksichtnahme, angemessenen Um gang mit konflikten. Eine zentrale Anforderung an die Lernaufgabe ist somit ihre Aufforderung zur kommunikation und kooperation.
KLAUS TRAUTWEIN
Von 2008 bis 2013 Leiter des Projekts „kompetenzorientiert unterrichten im gesellschaftswissenschaftlichen Aufgabenfeld“; Fachdidaktiker für Politische Bildung an der Universität Marburg
„Do talk!“ – dieser Imperativ, miteinander zu sprechen, ist eine zentrale Voraussetzung für das Lernen im Fach Politik und Wirtschaft und steht deshalb als Leitmotiv im Zentrum der Reflexion.
BILDUNG BEWEGT NR. 20 MRZ/2013 25
BB20_inhalt_130314_final_RZ.indd 25 14.03.13 10:54
FÖRDERUNG DER FoRMATIVENDIAGNoSEKoMPETENZ VoNLEhRAMTSSTUDIERENDENWarum formative Diagnosekompetenz? In der aktuellen Diskussion um die Reform des Schulsystems bzw. der Lehrerbildung wird immer wieder eine Verbesserung der diagnostischen Kompetenz von Lehrkräften gefordert, sowohl von staatlicher Seite (vgl. Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bun-desrepublik Deutschland 2004) als auch aus wissenschaftlicher Perspektive (u. a. HELMKE/HOsENFELD/sCHRaDER 2004).
Allerdings gibt es unterschiedliche Ansätze der konzeptualisierung von Diagnose kompe
tenz und höchst unterschiedliche Forschungs ansätze im Bereich der schulischen Leistungsdiagnostik. Während lange Zeit die Güte der Notengebung erforscht wurde (iNGENkAMP 1995; ArTELT/GräSEL 2009), fokussiert die Diskussion nun verstärkt auf die formative Diagnosekompetenz, d. h. die kompetenz von Lehrkräften, die Lernstände der Schüler bereits vor oder während des LehrLernProzesses einzuschätzen (LEUDErS 2004; SJUTS 2007; SMiT 2009; MAiEr 2010). Hierfür werden verschiedene Gründe angeführt:• Formative Diagnosekompetenz ist
eine Grundvoraussetzung zur realisierung eines kompetenzorientierten Unterrichts. Nur Lehrkräfte, die fortwährend die kompetenzentwicklung ihrer Schüler einschätzen können, können auch einen an den Schülerlern voraussetzungen orien tierten Unterricht planen.
• Formative Diagnosekompetenz ist die Grundvoraussetzung für einen produktiven Umgang mit Heterogenität. Wenn Lehrkräfte bereits vor oder während des Unterrichtens für die oft enormen Leistungsunterschiede sensibilisiert werden, können sie rechtzeitig Differenzierungsmaßnahmen anbieten.
• Es gibt einen breiten internationalen und auf zahlreichen empirischen Studien basierenden konsens, dass Methoden des „formative classroom assessment“ eine effektive und vor allem pragmatische intervention zur Steigerung der Leistungen und der Motivation von Schülerinnen und
Schülern sind (BLAck/WiLiAM 1998; HATTiE/TiMPErLEy 2007; HATTiE 2009). Vor allem die mittlerweile in Deutschland zunehmend rezipierte Synthese von Metaanalysen des australischen Bildungsforschers John Hattie macht deutlich, dass informative rückmeldungen und häufi ge Tests zu höheren Lernsteigerungen führen können als Unterrichtsmethoden, die bisher in der Lehrerausbildung stark thematisiert wurden (z. B. offener Unterricht, kooperatives Lernen, jahrgangsübergreifendes Lernen).
• Formative Diagnosekompetenz ist letztendlich ein weiterer Schritt zur Professionalisierung des Lehrerberufs. Gerade bei der Einführung von Bildungsstandards und darauf bezogenen Leistungsmessungen (vgl.kLiEME/AVENAriUS/BLUM et al. 2003) wurde auf ein Defi zit im Bereich der Diagnosekompetenz aufmerksam gemacht und die Einführung von Leistungsstandards und externen Leistungsmessmethoden als wesentlicher Beitrag zur Professionalisierung dargestellt. Gleich zeitig gibt es wenig Unterstützung für Lehrkräfte, Diagnosen selbst durchzuführen und Diagnoseergebnisse systematisch für die Anpassung des eigenen Unterrichts zu nutzen. Auch liegen keine empirischen Studien vor, die solche Lernangebote in der Lehreraus und fortbildung begleiten.
Formative Diagnosekompetenz im LehramtsstudiumDie verschiedenen Praktika während des Lehramtsstudiums bieten einen Anlass, beim kompetenzaufbau im Feld der formativen Leistungsdiagnostik
neue Wege der Begleitung angehender Lehrpersonen zu beschreiten und diese Erprobung wiederum gezielt wissenschaftlich zu begleiten. Als Vorbild können Ansätze zur Förderung der Diagnosekompetenz im Medizinstudium herangezogen werden (STArk/kOPP/FiScHEr 2009). Allerdings muss genau defi niert werden, was unter formativer Diagnosekompetenz von Lehrkräften zu verstehen ist.
Diagnostische kompetenz wird immer wieder als eine wichtige kompetenzfacette beschrieben, die zu den in der Literatur beschriebenen Wissensdimensionen von Lehrerinnen und Lehrern quersteht. Je nach kompetenzmodellierung wird sie einmal eher dem fachdidaktischen Lehrerwissen zugeordnet (pedagogical content knowledge) oder als allgemeine, fachübergreifende kompetenz (generic competence) beschrieben. Die Wissensbasis der diagnostischen kompetenz ist komplex und wird von den einschlägigen Autoren unterschiedlich defi niert (HELMkE/HOSENFELD/ScHrADEr 2004; BAUMErT/kUNTEr 2006; ArTELT/GräSEL 2009). Wesent liche Wissensfacetten von Diagnosekompetenz sind beispielsweise: fachdidaktisches Wissen (pedagogi-cal content knowledge), Wissen über einzelne Schülerinnen und Schüler (knowledge of learners), Wissen über Diagnoseverfahren, Wissen über die interpretation von Diagnoseergebnissen und konsequenzen für die weitere Schülerförderung.
Ebenso ist ungeklärt, wie breit der Anwendungsbereich diagnostischer kompetenzen sein soll. Schrader (2009) fordert beispielsweise, dass die bisher stark auf diagnostische
ERFoRSChT UND ENTWICKELT
26 BILDUNG BEWEGT NR. 20 MRZ/2013
BB20_inhalt_130314_final_RZ.indd 26 14.03.13 10:54
Auch Baumert und Kunter (2006) machen darauf aufmerksam, dass bei der bisherigen Diskussion über diagnostische Kom-petenz ein Aspekt übersehen wurde: die Fähigkeit, formale Leistungsmessungen für die Optimierung des Lehr-Lern-Pro-zesses zu nutzen, vor allem durch den Einsatz von Lernaufga-ben mit diagnostischem Potenzial.
Urteils genauigkeit im rahmen summativer Leistungsmessung beschränkte Forschung erweitert werden sollte. ins Blickfeld rücken sollte beispielsweise die Erforschung diagnostischer Methodenkompetenzen (kenntnisse über diagnostische Methoden und interpretationsmöglichkeiten etc. oder das Verständnis von und der Umgang mit zentralen, standardisierten Tests [large scale assessments], Vergleichsarbeiten). Auch Baumert und kunter (2006) machen darauf aufmerksam, dass bei der bisherigen Diskussion über diagnostische kompetenz ein Aspekt übersehen wurde: die Fähigkeit, formale Leistungsmessungen für die Optimierung des LehrLernProzesses zu nutzen, vor allem durch den Einsatz von Lernaufgaben mit diagnostischem Potenzial. Genau hier müsste auch die Förderung der diagnostischen kompetenz im Lehramtsstudium ansetzen.
Neue Praktikumsformen eröffnen zudem neue Möglichkeiten zur Erprobung formativer Leistungsdiagnostik im Lehramtsstudium. in vielen Bundesländern wird auf Semesterpraktika umgestellt. Damit können Lehramtsstu
dierende einzelne Schülerinnen und Schüler gezielt über einen längeren Zeitraum beobachten und begleiten. Gerade dieser auf den langfristen Lernzuwachs ausgerichtete Blick entspricht dem, was man unter kompetenzorientierung auch im Lehramtsstudium verstärkt betonen möchte. Um eine langfristige Entwicklung einzelner Fähigkeiten oder kompetenzen auch diagnostizieren, dokumentieren und für die Förderung nutzen zu können, müssen den Studierenden jedoch geeignete instrumente und Settings zur Verfügung stehen. Besonders ertragreich für diesen Zweck ist die Beschäftigung mit instrumenten und Verfahren der Lernverlaufsdiagnostik (z. B. kLAUEr 2006; WALTHEr 2009).
Leitend für unsere Projekte ist die Studie von Strathmann und klauer (2010). Die Autoren greifen auf die in den USA entwickelte idee des curriculumbasierten Testens zurück, um
Fragen zu Lernverläufen über einen längeren Zeitraum beantworten zu können. Eine Lernverlaufsdiagnostik ist nur möglich, wenn man Tests, die ein konstrukt erfassen, immer wieder einsetzen kann. Mit der herkömmlichen Schulleistungsdiagnostik, aber auch mit zentralen Tests ist dies bisher nicht möglich. Aus diesem Grund entwickelten Strathmann und klauer eine formative Lernverlaufsdiagnostik für Grundrechenfertigkeiten (mündliche Subtraktion, Addition, schriftliche Subtraktion, Addition, Multiplikation, Division, rechnen mit Größen). in mehreren Grundschulklassen wurden diese Tests im zweiwöchigen rhythmus eingesetzt. Lehrkräfte konnten die Lernverlaufskurven für jedes kind analysieren. Obwohl ein überwiegender Teil der Schülerinnen und Schüler linear ansteigende Lernverläufe aufwies, gab es einen überraschend hohen Anteil mit nur sehr geringen Zuwächsen bzw. einer Stagnation. Wenn Lehrkräfte und auch Lehramtsstudierende Beobachtungen dieser Art machen können – so unsere Annahme –, dürfte der Schritt zum adaptiven Unterricht nicht mehr weit sein.
Forschungsprojektseminar zur Förde-rung der formativen Diagnosekompe-tenz von LehramtsstudierendenVorgehensweise:Für Lehrkräfte wurde das Forschungsprojektseminar als Lehrerfortbildung angeboten; für Studierende ist es ein Seminar zur Vorbereitung ihres Schulpraktikums.
in kleingruppen arbeiteten immer eine Lehrkraft und zwei bis drei Studierende an der Entwicklung eines formativen Diagnoseinstruments für ein bestimmtes Wissensgebiet bzw. eine konkrete Fertigkeit/kompetenz:• Anwendung verschiedener Vergan
genheitsformen im Englischen (realschule, 6. klasse)
• Lösen linearer Gleichungen (realschule, 8. klasse)
• Addition und Subtraktion vonBrüchen (Gymnasium, 6. klasse)
• Mündlich präsentieren können(realschule, 10. klasse, Sozialkunde)
Die gewählten Wissensgebiete bzw. Fertigkeiten können für das jeweilige Fach als grundlegend bezeichnet werden, d. h., viele weitere Fertigkeiten bauen darauf auf. Ebenso spielen diese kompetenzen über mehrere Jahrgangsstufen eine rolle. Wenn Schülerinnen und Schüler Probleme bei der Anwendung von Grundrechenarten mit Brüchen haben, wird sich dies auf weitere Themen auswirken. Genau hier setzt die idee der formativen Leistungsdiagnostik an: grundlegende Fertigkeiten bzw. grundlegendes Wissen regelmäßig prüfen und auf Defi zite gezielt und nachhaltig mit Fördermöglichkeiten reagieren.
Nach der Festlegung der kompetenz bzw. des zu diagnostizierenden Wissensbereichs sollten die Studierenden zusammen mit den Lehrkräften Möglichkeiten der formativen Diagnose erörtern, ein instrument entwickeln, erproben und daran anschließende Fördermöglichkeiten zur Verfügung stellen. Folgender Arbeitskatalog war abzuarbeiten:
1. Beschreibung des Lernziels bzw. der zu testenden kompetenz: z. B. „Schüler können eine inhaltsangabe verfassen“ (unter rückgriff auf die Bildungsstandards und die Lehrpläne); Angabe von klassenstufe, Fach, rahmenbedingungen
2. Beschreibung der Bewertungskriterien bzw. der Niveaustufen: z. B. „Sachliche Sprache, Basissatz, knappe Einleitung etc.“ oder verschiedene Schwierigkeitsstufen bei Bruchrechenaufgaben
3. Wie wurden die Paralleltests entwickelt? Beispielsweise durch Austausch der Zahlen bei rechenaufgaben, Austausch der Beispiele, Umstellung der Distraktoren bei conceptests etc.
4. Dokumentation der Durchführung und Auswertung der Paralleltests (wie lange, wie geht man bei der Auswertung vor, Probleme bei der Durchführung und Auswertung)
5. Dokumentation der Ergebnisse in tabellarischer Form (am besten in Excel, weil sich damit auch Schaubilder herstellen lassen), aufgegliedert nach:
• Schüler (Name anonymisieren)• Messzeitpunkt (mit Datum)• Teilkompetenz, Teilkriterium etc.
6. kurze Beschreibung des Unterrichts bzw. von Fördermaßnahmen vor und während der formativen Leistungsdiagnostik, z. B.: Wie oft und in welchen Fächern mussten die Schülerinnen
ERFoRSChT UND ENTWICKELT
BILDUNG BEWEGT NR. 20 MRZ/2013 27
BB20_inhalt_130314_final_RZ.indd 27 14.03.13 10:54
ERFoRSChT UND ENTWICKELT
und Schüler bereits inhaltsangaben verfassen? Wurde im Zeitraum der Durchführung der formativen Leistungsdiagnostik mit den Schülern geübt?
7. Erste ideen zur interpretation der Ergebnisse: Auf welchem Anfangsniveau befinden sich die getesteten Schülerinnen und Schüler? kann man Entwicklungen erkennen, evtl. in einzelnen Bereichen? Sind die Tests augenscheinlich valide, d. h., stimmen sie mit anderen Beobachtungen bzw. Leistungsmessungen überein?
8. Erste ideen zu konsequenzen und Schlussfolgerungen: Welche Übungen, Fördermaßnahmen sollten weitergeführt werden? Müsste man die kompetenz breiter oder enger fassen? Wie müsste man die Testfragen überarbeiten?
Um das formative Diagnoseinstrument im Unterricht der teilnehmenden Lehrkräfte zu erproben, wurde ein Zeitfenster von vier Wochen im Semester zur Verfügung gestellt. Die Studierenden organisierten zusammen mit ihrer jeweiligen Lehrkraft Termine für die Durchführung der formativen Leistungs messungen. Die Ergebnisse des Feldversuchs wurden in den abschließenden Sitzungen an der Universität präsentiert und diskutiert. Folgendes konnten wir alle aus diesem Forschungsprojektseminar lernen:• Die Entwicklung eines formativen
Diagnoseinstruments für eine bestimmte kompetenz ist keine triviale Angelegenheit und erfordert vor allem ein hohes Maß an Fachkenntnis. keine der Gruppen konnte auf bereits publizierte oder standardisierte Diagnoseverfahren zurückgreifen. Jeder Gruppe gelang es aber unter Mithilfe der Lehrkräfte, ein übersichtliches und praktikabel einsetzbares Testverfahren zu entwickeln.
• Alle Gruppen hatten nach Abschluss des Feldversuchs ideen und Hinweise, wie das formative Diagnoseinstrument weiter verbessert werden könnte: präzisere Definition des zu messenden konstrukts, bessere Passung zwischen Testitem und zu prüfender kompetenz, störende Einflüsse reduzieren (z. B. Abhängigkeit der Testaufgaben von der Vergangenheitsform der Englischvokabeln).
• Drei oder viermal in Folge einen nicht benoteten kurztest zu ein und derselben Thematik zu schreiben war für die meisten Schülerinnen und Schüler ungewöhnlich. Die Durch
führung der formativen Leistungsdia gnosen bereitete jedoch keine nennenswerten Schwierigkeiten. Hilf reich war, dass die Studierenden die Durchführung, Auswertung und Er gebnis rückmeldung übernahmen, sodass die Lehrkräfte nicht zusätzlich belastet wurden.
• Sowohl von den Lehrkräften als auch von den Studierenden wurde überwiegend positiv bemerkt, dass die formativen Lernverlaufsdiagnosen zu einem differenzierten Bild über die Leistungen einzelner Schülerinnen und Schüler beitragen können. Obwohl sich die Lehrkräfte in ihren bisherigen Beobachtungen bestätigt sahen, bewerteten sie die formativen Lernverlaufstests als eine zusätzliche diagnostische information.
• Bei den rückmeldungen zeigte sich die Problematik, dass überwiegend leistungsschwächere (und damit in der regel weniger motivierte) Schülerinnen und Schüler kein großes interesse an einer kontinuierlichen Steigerung ihrer Leistungen aufwiesen. Sie waren etwa zufrieden, wenn sie die Hälfte der maximalen Punktzahl erreicht hatten, und sahen es nicht ein, die von den Studierenden zur Verfügung gestellten Fördermaterialien zu nutzen.
• Bei anderen Schülerinnen und Schülern konnten die Studierenden einen deutlichen Leistungszuwachs feststellen und diesen zum Teil auch auf Angebote im Unterricht zurückführen.
• Die Lehrkräfte gaben trotz positiver Bewertung der Lernverlaufsdiagnosen überwiegend zu bedenken, dass es aufgrund der Strukturierung ihres Unterrichts kaum praktikabel sei, diese Tests alleine durchzuführen und auszuwerten. Ebenso halten sie es aufgrund der hohen Stofffülle und des engen Stundenkorsetts für kaum möglich, auf die formativen Lernverlaufs diagnosen mit differenzierten Förderangeboten zu reagieren. Auch wenn dies aus ihrer Sicht durchaus pädagogisch wünschenswert wäre.
• Eine Lehrkraft aus der Gruppe zweifelte den Sinn dieser sehr technisch anmutenden Art formativer Lernverlaufsdiagnosen insgesamt an. Allein durch ihre langjährige Erfahrung und durch ihre Beobachtungsgabe kann sie während des Unterrichtens die diagnostischen informationen sammeln, um auf Schülerfehler und Leistungsschwächen gezielt eingehen zu können.
Laufende Projekte und FazitDie gesammelten Erfahrungen nutzten wir, um weitere Projekte zur Förderung der formativen Diagnosekompetenz von Lehramtsstudierenden zu optimieren:• Formativ diagnostizieren und diffe
renziert fördern als Aufgabenstellung im Schulpraktikum an der FAU ErlangenNürnberg
• Forschungs und Entwicklungsprojekte zu bestimmten Fachkompetenzen: z. B. inhalte zusammenfassen können; Begriff der Anpassung am Beispiel von Vögeln; Potenzrechnen etc.
• Nutzung moderner informations und kommunikationstechnolo gien für die formative Leistungsdia gnostik: moodle, TabletPcs
PRoF. DR. UWE MAIER PH Schwäbisch Gmünd
Die Literaturangaben finden Sie unter:www.lehrerbildung.lsa.hessen.de
28 BILDUNG BEWEGT NR. 20 MRZ/2013
BB20_inhalt_130314_final_RZ.indd 28 14.03.13 10:54
PINBoARD
SELBSTSTäNDIGE SChULE – fünfte Fachtagung
„hessische Schulen auf dem Weg zur Selbstständigkeit“. Unter diesem Leitthema fand am 29. November 2012 in Frankfurt am Main die fünfte gemeinsame Fachtagung des ehema-ligen Amtes für Lehrerbildung (AfL) und des ehemaligen Instituts für Qua-litätsentwicklung (IQ) in Kooperation mit der IhK Arbeitsgemeinschaft hes-sen statt.
im Blick standen die bisherigen Erfahrungen der Schulen mit dem konzept der Selbstständigkeit, sowie die Frage, welche Voraussetzungen gebraucht werden, um die Eigenverantwortlichkeit weiter zu fördern. Ein weiteres Ziel der Tagung war auch, Gelingensbe dingungen für eine erfolgreiche Schulpraxis zu hinterfragen und mögliche Handlungsperspektiven für ein wirksameres Lehren und Lernen aufzuzeigen. Zum Einstieg in die Tagung hielt Prof. Jürgen Oelkers von der Universität Zürich ein impulsreferat zum konzept der Selbstständigen Schule, den chancen und Erwartung aus wissenschaftlicher Sicht und zum aktuellen Stand der Umsetzung. im anschließenden Podiumsgespräch zogen Schulpraktiker, Projektverantwortliche sowie Eltern und Schülervertreter eine erste Bilanz des bisherigen
Prozesses. Am Nachmittag wurden die bisher gewonnenen Erkenntnisse in sechs Workshops vertieft, die jeweils aus Sicht einer schulischen Handlungsgruppe über chancen und Erfahrungen mit der Selbständigen Schule diskutierten. Zielsetzung der Workshops war nicht nur die Benennung von Vorteilen und das Berichten von positiven Erfahrungen, es sollten auch offen Probleme in der Praxis an
gesprochen werden. Die Ergebnisse der Workshops wurden in einem Bildungspolitischen Gespräch, an dem auch kultusministerin Beer teilnahm, präsentiert. Leitfragen waren: „Wo stehen wir?“, „Was war erfolgreich?“, Wo ist Handlungsbedarf?“ und „Was sollte Politik ändern oder verbessern?“.
SANDRA BUSChMüLLER
Im Bildungspolitischen Gespräch v. l. n. r. Peter hanack (FR), Nicola Beer (hessische Kultusminis-terin), hanna Kind (IhK), Bernd Schreier (ehem. IQ), Frank Sauerland (ehem. AfL), Reinhard Rzytki (Elly-heuss-Schule) (Foto: Andreas Funabashi)
kann ein Mathematikbuch gleichermaßen Jungen und Mädchen den Spaß an der Mathematik näherbringen? Das geht! Bewiesen haben das die Autoren christoph Maitzen (links) und Barbara krauth (Mitte). ihrem Schulbuch „Das Mathematikbuch 7“ wurde von der MUED e.V. der Titel Mädchenfreundliches Mathematikbuch verliehen. Ebenfalls bei der Preisverleihung anwesend Martin krämer (rechts) vom klettVerlag.
Mädchenfreundlichstes Mathebuch
(Foto: Christa Schmidt)
BILDUNG BEWEGT NR. 20 MRZ/2013 29
BB20_inhalt_130314_final_RZ.indd 29 14.03.13 10:54
PINBoARD
Nein, es war nicht die oscar-Verlei-hung. Aber es war nicht minder span-nend und unterhaltsam, was die Bil-dungs-Show beim Diktatwettbewerb „Frankfurt schreibt“ am 27. Februar in Frankfurt zu bieten hatte. Denn die deutsche Rechtschreibung hat es in sich. heißt es nun Trimm-dich-Pfad oder Trimmdich pfad? oder muss es Auseinandergehen oder auseinander gehen lauten? Mit ihrem Diktatwett-bewerb „Frankfurt schreibt“ stellte die Stiftung Polytech nische Gesell-schaft unter Beweis, dass Recht-schreibung nicht nur mühsam und verzwickt, sondern auch amüsant und kurzweilig sein kann. 15 Frankfurter oberstufen hatten sich seit Dezem-ber 2012 auf das Ereignis vorbereitet und Diktat-Teams aus Eltern, Lehrkräf-ten und Schülerinnen und Schülern zusammen gestellt.
in der Frankfurter Musterschule ermittelten sie im großen Finale inmitten orthografischer und anderer Stolperfallen ihre Meister in den drei kategorien Schülerinnen und Schüler, Lehrkräfte und Eltern. 314 Wörter, davon 120 schwierige Wörter – dies war die Herausforderung. Das in Zusammenarbeit mit der Dudenredaktion ausgetüftelte halbstündige Diktat wartete mit zahlreichen Herausforderungen
auf: ob „kanaille“ oder „Schlafittchen“, „EDVbezogene Algorithmen“, die „zu guter Letzt allen zugute“ kommen, und das alles aus dem „eff eff“. Die durchschnittliche Fehlerquote – 49,9 bei den Schülerinnen und Schülern; 25,2 bei den Lehrkräften und 24,6 bei den Eltern – zeugt von den hohen Anforderungen des Textes.
Durch den lehrreichen Abend führte constanze Angermann (hr), die auch in strengem Habitus das Diktat vortrug. Als Vorsitzender der Jury war mit dem Leiter der Dudenredaktion, Dr. Werner ScholzeStubenrecht, ein
prominenter Vertreter in rechtschreibfragen gewonnen worden, an dem in Sachen deutscher Sprache kein Weg vorbeiführt.
Das FrankfurtFinale ist noch nicht das Ende in Sachen Diktat: im April treffen im landesweiten Wettstreit die Frankfurter Sieger auf Herausforderer aus ganz Hessen.
SABINE STAhL
AND ThE WINNER IS…15 Frankfurter oberstufen treten beim Diktatwettbewerb an
So ganz aus dem „eff eff“ geht es dann doch nicht (Foto: Sabine Stahl)
„Liebe zum Reichtum unserer Sprache und ein Faible für den Denksport – all das vereint unser Wett-bewerb, mit dem wir besonders jüngere Menschen für Sprachkultur begeistern wollen“, resümiert Dr. Roland Kaehlbrandt, Vorstandsvorsitzender der Stiftung Polytechnische Gesellschaft (Foto: Sabine Stahl)
Schülerinnen und Schüler1. Platz: Tilman Jacob, Musterschule, 19 Fehler 2. Platz: Eva klein, Musterschule, 21 Fehler 3. Platz: Jonathan Weber, Freie christliche Schule, 24 Fehler
Lehrkräfte1. Platz: Anneke Thaler, MaxBeckmannSchule, 10 Fehler2. Platz: Brigitte Bergmann, Ziehenschule, 13 Fehler 3. Platz: Stefanie Forscher, GoetheGymnasium, 16 Fehler
und Angelika Wagner, FreiherrvomSteinGymnasium, 16 FehlerEltern1. Platz: Antje Freyberg, Europäische Schule, 9 Fehler2. Platz: Barbara Erbe, HeinrichvonGagernGymnasium, 10 Fehler 3. Platz: Mariachristina Nimmerfroh,
HeinrichvonGagernGymnasium, 12 Fehler
DIE SIEGER:
30 BILDUNG BEWEGT NR. 20 MRZ/2013
BB20_inhalt_130314_final_RZ.indd 30 14.03.13 10:54
EDITORIAL
DAs unTERschäTzTE RIsIkO
Liebe Leserinnen und Leser,
„Frei von Belästigungen zu leben, ist ein anerkannter sozialer Wert“, so das Umweltbundesamt. Das Recht auf körperliche Unversehrtheit ist sogar ein Grundrecht, das auf Bildung ein Menschen-recht. Demgegenüber stehen schockierende Zahlen: 45.000 gesunde Lebensjahre von europäischen Kindern gehen jährlich verloren, weil sie kognitive Störungen haben, 903.000 Lebensjahre pro Jahr sind beeinträchtigt durch Schlafstörungen und 61.000 gesunde Lebensjahre gehen EU Bürgern in jedem Jahr durch koronare Herzerkrankungen verloren. Die Ursache: Lärm.
Der menschliche Organismus ist darauf ausgerichtet, Schall zu empfangen, sonst könnte er nur schwer kommunizieren, interagieren, ein soziales Wesen sein. Wir orientieren uns mit seiner Hilfe und werden durch ihn auch gewarnt. Schall in Form von Sprachsignalen ist wesentlicher Bestandteil des Unterrichts-geschehens. Aber Schall bedeutet auch Störgeräusche, Beeinträchtigungen, Lärmbelastung. Und so sind Stress, Lern- und Konzentrationsprobleme, Herz-Kreislauferkrankungen und ganz aktuell erforscht – auch genetische Veränderungen – nur einige Schattenseiten unerwünschter Schallerlebnisse.
Lärm ist nicht nur für die Gesundheit, sondern auch für die Schule und den Lernerfolg der Schülerin-nen und Schüler ein wichtiges Thema. Denn er behindert massiv Kommunikations- und Behaltens-leistungen. Lautes Reden, verzerrte Sprache, Nachhall, Verständnisschwierigkeiten, Abriss von Gedanken ketten, … ein unwillkommenes Kommunikationsinferno.
Die Problematik, die sich jetzt ihren Weg in das Bewusstsein und die Öffentlichkeit bahnt, ist lange Zeit unterschätzt worden. Welche Auswirkungen die Lärmproblematik auf Lernprozesse, das Arbeits klima und Wohlbefinden hat, erfahren Sie im Leitartikel und Interview. Darüber hinaus bieten wir Ihnen ein kleines Methodenrepertoire zur Lernprozessbegleitung, spannende Einblicke in die Kompetenz-orientierung und in formative Diagnosekompetenzen sowie Ausblicke auf das Abitur.
Die Redaktion der BILDung bewegt wünscht Ihnen ruhige, konzentrierte Lern- und Leseumge-bungen. Grüßen Sie Ihr Gehör!
sabine stahlChefredakteurin
3 BILDung bewegt NR. 20 MRZ/2013
TERmInhInwEIsE
Veranstaltungen im April 2013
26. – Jahrestagung der Deutschen gesellschaft27. für soziale Arbeit (DgsA) Wahrnehmen, Analysieren, Intervenieren. Zugän-
ge zu sozialen Wirklichkeiten Ort: FH Frankfurt am Main nähere Informationen: www.fh-frankfurt.de/de/
fachbereiche/fb4/aktuelles_und_termine/veran-staltungen/dgsa2013.html
27. JuBi – Die Jugendbildungsmesse: messe für schüleraustausch, high school, sprachreisen, Praktika, Au-Pair, work & Travel und Freiwilligendienste
Ort: Wilhelmsgymnasium Kassel nähere Informationen:
http://www.weltweiser.de/jugendbildungsmes-sen/kassel-schueleraustausch-hessen.htm
Veranstaltungen im mai 2013
03. – studyworld 201304. 8. Internationale Messe für Studium, Praktikum,
Jobeinstieg und Weiterbildung Ort: Russisches Haus der Wissenschaft und Kultur, Berlin nähere Informationen: www.studyworld2013.com
22. – Aktionstage24. „Biodiversität im Opel-zoo erleben“
Ort: Opel Zoo, Kronberg nähere Informationen: www.uni-frankfurt.de
27. – „Frischen wind in mInT“ –29. Impulse aus Europa für den mathematisch-natur-
wissenschaftlichen unterricht Ort: Herrenkrug Parkhotel, Magdeburg nähere Informationen: www.kmk-pad.org/nc/aktuelles/termine.html
ADREssEn & AnsPREchPARTnER
Landesschulamt und LehrkräfteakademieHauptsitz: Kirchgasse 2, 65185 [email protected] Tel.: +49 (0) 611 368 2657
Präsident des LsAJörg Meyer-ScholtenTel. + 49 (0) 611 368 2657
Abteilung zZentrale Dienste und ServiceleistungenJoachim Schmidt Tel. +49 (0) 611 368 2659
Abteilung ISchulaufsicht und SchulberatungDr. Marion Steudel Tel. +49 (0) 611 368 2204
Abteilung IIAkademie für Lehrerbildung und PersonalentwicklungFrank SauerlandTel. +49 (0) 69 38989 300
Abteilung IIIQualitätsentwicklung und EvaluationBernd SchreierTel. +49 (0) 611 5827 400
Die Tagungseinrichtungen Rhein-main-gebietErwin-Stein-HausStuttgarter Straße 18 – 2460329 FrankfurtTel. + 49 (0) 69 38989 330
nordhessen/Reinhardswaldschule Rothwestener Straße 2 – 1434233 FuldatalTel. + 49 (0) 561 8101 0
mittelhessen/weilburgFrankfurter Straße 20 – 2235781 WeilburgTel. + 49 (0) 6471 3281 00
ImPREssum
herausgeber: Landesschulamt und Lehrkräfteakademie
gesamtverantwortung: Sabine Stahl
Redaktion: Sandra Buschmüller, Sabine Stahl
Lektorat: Ingrid Walther, KonTeXt Textgestaltung und Lektorat
Layout und gestaltung: www.sixfeetone.de, Frankfurt/Main
Druck und Verarbeitung: Druckerei Hesse, Fuldabrück
mediadaten und Anzeigenannahme: Kerstin Rheingans
Erscheinungsweise: vierteljährlich
Auflage: 6000
Redaktionsschluss für die nächste Ausgabe: 15. April 2013
Landesschulamt und Lehrkräfteakademiestuttgarter straße 18 – 2460329 Frankfurt
BILDung bewegt NR. 20 MRZ/2013 31
BB20_umschlag_130314_final_RZ.indd 3-4 14.03.13 10:58
LERneNDe FÜR LERnEnDE?wie Lärm unsere Lernfähigkeitbeeinträchtigt
hÖREn ALLEInE gEnÜgT nIchT, um zuhÖREnzu BEwäLTIgEnInterview mitProf. Dr. maria klatte
NR. 20 MRZ/2013
Landesschulamt und Lehrkräfteakademie
hessischeskultusministerium
Landesschulamt undLehrkräfteakademie
Kirchgasse 265185 Wiesbaden
www.lsa.hessen.de
BB20_umschlag_130314_final_RZ.indd 1-2 14.03.13 10:58