manchmal sieht man den wald vor lauter bäumen nicht€¦ · „change blindness“ ist etwas...

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Aktuelle KONTAKTOLOGIE 4 AKTKONTAKTOL Dezember 2012 · 8. Jahrgang · 20. Heft Selektive Aufmerksamkeit Manchmal sieht man den Wald vor lauter Bäumen nicht 2010 offiziell in YouTube verfügbare Video erzielte schon 6,7 Millionen „Klicks“ 2 . Um was geht es? Die beiden (Hobby-)Basketballteams, die „Schwarzhemden“ und die „Weißhemden“ haben beide einen Basketball, den sie sich zuwerfen (Abb. 1a-c). Wie oft haben die „Weißhemden“ Ballkontakt? Eine Konzentra- tionsübung, die auch machbar ist. Aber die Konzentration auf die – als Instruktion gegebene – Zählaufgabe lenkt davon ab, dass nach 15 Sekunden ein Gorilla von rechts in die Szene läuft (Abb. 1b) und sich auch noch nach King-Kong-Art auf die Brust klopft (Abb. 1c). Danach verschwindet er gemütlich nach links aus dem Bild. Ungefähr 50 Prozent der Zuschauer, die den Film zum ersten Mal anschauen, sehen den Gorilla nicht. Die meisten sind überzeugt, dass ihnen – bei der Erklärung des Phänomens – statt der Wiederholung ein anderer Film gezeigt wird. Probieren Sie es aus: Wenn Sie in YouTube als Suchwort „selective attention“ oder „selective awareness“ eingeben, dann finden Sie neben Hunderten von Nachahmern gleich oben auch das Original. Die Schwierig- keit wird dann sein, eine „naive“ Versuchs- person zu finden, die den Film noch nicht kennt. Ähnliche Szenarien finden Sie aber auch im richtigen Sport, zum Beispiel in den Sport- spielen: Da beschwert sich ein Spieler nach einem erfolglosen Angriffsspielzug im Fuß- ball, warum ihn sein augenscheinlich blinder Mitspieler denn nicht angespielt hat, obwohl er sich doch in seinem Blickfeld befand und völlig frei und in einer viel besseren Tor- schussposition stand. 3-5 Aber zunächst zurück zum Gorilla: Was steckt dahinter? Offenbar sind wir nicht in der Lage, eine Situation vollständig zu erfassen. Je nachdem, auf was wir uns gerade konzentrieren, neh- men wir anderes – aber vielleicht Wesentli- ches – nicht wahr. Das Sprichwort „Er sieht den Wald vor Bäumen nicht“ trifft es genau! Ausgerechnet das Wesentliche bleibt oft zu lange der Wahrnehmung verborgen. Dieser und ähnliche Filme wurden vielen Versuchs- personen gezeigt, bei denen gleichzeitig die Augenbewegungen (z. B. mit Hilfe von Blick- bewegungskameras) gemessen wurden. Dabei kam heraus, dass die Versuchspersonen im Mittel die Augen circa eine Sekunde lang direkt auf den Gorilla gerichtet hatten. Trotz- dem haben sie ihn nicht wahrgenommen! Aus der Fixation eines unerwarteten Objektes mit den Augen resultiert also nicht zwangsläufig eine bewusste Wahrnehmung des Objektes. 3 Daniel Simons verwendete dafür den Begriff „inattentional blindness“. 6,10 Übersetzt wird er überall mit: „blind durch Unaufmerksamkeit“. Eigentlich trifft es diese Übersetzung nicht, denn trotz höchster Konzentration auf die gestellte Aufgabe (wir sind also nicht unauf- merksam) verpassen wir das Wesentliche. Das Wort „inattention“ steht nicht im Wörter- buch. „Attention“ dagegen hat neben „Auf- merksamkeit“ auch die Bedeutung „Beach- tung“. Vielleicht trifft „blind durch Nicht- beachtung“ oder manchmal einfach nur „blind durch Ablenkung“ eher die Bedeutung von „inattentional blindness“. Der Heidelberger Psychologe Kopp-Wichmann bringt es einfa- cher mit der Frage auf den Punkt: „Was ist der Gorilla in Ihrem Leben?“ Er meint damit, dass es wichtige Dinge geben kann, die wir nicht sehen, obwohl wir sie direkt vor den Augen haben. Als Psychologe überträgt er es natür- lich auch auf eigentlich offensichtliche, aber tatsächlich nicht wahrgenommene Probleme (z. B in Paarbeziehungen). Schaut man wieder auf das oben genannte Sportbeispiel, ist auch hier gegebenenfalls das Paradigma „Inattentional Blindness“ 6 der Grund für den Unmut des Mitspielers. Wird die Aufmerksamkeit also nicht gezielt auf den Jeder kennt dieses Phänomen: Man hat zwar etwas gesehen, es jedoch nicht in seiner Gänze wahrgenommen, weil man seine Auf- merksamkeit auf etwas anderes gelenkt hatte. Diese Aufmerksamkeitsfokussierung kann die sogenannte „selektive Wahrnehmung“ zur Folge haben. Doch was hat es auf sich mit der „selektiven Wahrnehmung“? Es war eine Sensation, als vor nunmehr 13 Jahren Daniel J. Simons seine „Surprising Stu- dies of Visual Awareness“ (Überraschende Stu- dien zur visuellen Wahrnehmung) vorstellte. Sein 31-sekündiges Video „Selective Attention Test“ 1 (Simons & Chabris, 1999) wird offen- sichtlich auch heute noch gerne angeschaut – inzwischen hat Daniel Simons sein Original- Video zur „Selektiven Aufmerksamkeit“ offizi- ell in YouTube eingestellt. Er war wohl mehr oder weniger dazu gezwungen, weil eine drei- ste Kopie vorab mehr als 14 Millionen Mal angeklickt wurde. Und auch das nun seit März Abb. 1a: Die zwei Teams werfen sich den Ball zu. Wie oft haben die „Weißen“ Ballkontakt? Abb. 1b: Die Aufgabe, die Kontakte wahrzunehmen und zu zählen, nimmt den Zuschauer so in Anspruch, dass circa 50 Prozent nicht sehen, das von rechts ein Gorilla ins Bild läuft. Abb. 1c: Der Gorilla klopft sich mitten im Bild auf die Brust und geht dann gemütlich nach links aus dem Bildrand.

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Page 1: Manchmal sieht man den Wald vor lauter Bäumen nicht€¦ · „Change blindness“ ist etwas anders geartet als Daniel Simons Experimente der „inattentional blindness”. CB, wie

Aktuelle KontAKtologie4 AktkontAktol Dezember 2012 · 8. Jahrgang · 20. Heft

Selektive Aufmerksamkeit Manchmal sieht man den Wald vor lauter Bäumen nicht

2010 offiziell in YouTube verfügbare Video erzielte schon 6,7 Millionen „Klicks“2.

Um was geht es?Die beiden (Hobby-)Basketballteams, die „Schwarzhemden“ und die „Weißhemden“ haben beide einen Basketball, den sie sich zuwerfen (Abb. 1a-c). Wie oft haben die „Weißhemden“ Ballkontakt? Eine Konzentra-tionsübung, die auch machbar ist. Aber die Konzentration auf die – als Instruktion gegebene – Zählaufgabe lenkt davon ab, dass nach 15 Sekunden ein Gorilla von rechts in die Szene läuft (Abb. 1b) und sich auch noch nach King-Kong-Art auf die Brust klopft (Abb. 1c). Danach verschwindet er gemütlich nach links aus dem Bild.Ungefähr 50 Prozent der Zuschauer, die den Film zum ersten Mal anschauen, sehen den Gorilla nicht. Die meisten sind überzeugt, dass ihnen – bei der Erklärung des Phänomens – statt der Wiederholung ein anderer Film gezeigt wird. Probieren Sie es aus: Wenn Sie in YouTube als Suchwort „selective attention“ oder „selective awareness“ eingeben, dann finden Sie neben Hunderten von Nachahmern gleich oben auch das Original. Die Schwierig-keit wird dann sein, eine „naive“ Versuchs-person zu finden, die den Film noch nicht kennt.Ähnliche Szenarien finden Sie aber auch im richtigen Sport, zum Beispiel in den Sport-spielen: Da beschwert sich ein Spieler nach

einem erfolglosen Angriffsspielzug im Fuß-ball, warum ihn sein augenscheinlich blinder Mitspieler denn nicht angespielt hat, obwohl er sich doch in seinem Blickfeld befand und

völlig frei und in einer viel besseren Tor-schussposition stand.3-5

Aber zunächst zurück zum Gorilla: Was steckt dahinter?Offenbar sind wir nicht in der Lage, eine Situation vollständig zu erfassen. Je nachdem, auf was wir uns gerade konzentrieren, neh-men wir anderes – aber vielleicht Wesentli-ches – nicht wahr. Das Sprichwort „Er sieht den Wald vor Bäumen nicht“ trifft es genau! Ausgerechnet das Wesentliche bleibt oft zu lange der Wahrnehmung verborgen. Dieser und ähnliche Filme wurden vielen Versuchs-personen gezeigt, bei denen gleichzeitig die Augenbewegungen (z. B. mit Hilfe von Blick-bewegungskameras) gemessen wurden. Dabei kam heraus, dass die Versuchspersonen im Mittel die Augen circa eine Sekunde lang direkt auf den Gorilla gerichtet hatten. Trotz-dem haben sie ihn nicht wahrgenommen! Aus der Fixation eines unerwarteten Objektes mit den Augen resultiert also nicht zwangsläufig eine bewusste Wahrnehmung des Objektes.3 Daniel Simons verwendete dafür den Begriff „inattentional blindness“.6,10 Übersetzt wird er überall mit: „blind durch Unaufmerksamkeit“.Eigentlich trifft es diese Übersetzung nicht, denn trotz höchster Konzentration auf die gestellte Aufgabe (wir sind also nicht unauf-merksam) verpassen wir das Wesentliche. Das Wort „inattention“ steht nicht im Wörter-buch. „Attention“ dagegen hat neben „Auf-merksamkeit“ auch die Bedeutung „Beach-tung“. Vielleicht trifft „blind durch Nicht-beachtung“ oder manchmal einfach nur „blind durch Ablenkung“ eher die Bedeutung von „inatten tional blindness“. Der Heidelberger Psychologe Kopp-Wichmann bringt es einfa-cher mit der Frage auf den Punkt: „Was ist der Gorilla in Ihrem Leben?“ Er meint damit, dass es wichtige Dinge geben kann, die wir nicht sehen, obwohl wir sie direkt vor den Augen haben. Als Psychologe überträgt er es natür-lich auch auf eigentlich offensichtliche, aber tatsächlich nicht wahrgenommene Probleme (z. B in Paarbeziehungen).Schaut man wieder auf das oben genannte Sportbeispiel, ist auch hier gegebenenfalls das Paradigma „Inattentional Blindness“6 der Grund für den Unmut des Mitspielers. Wird die Aufmerksamkeit also nicht gezielt auf den

• Jeder kennt dieses Phänomen: Man hat zwar etwas gesehen, es jedoch nicht in seiner Gänze wahrgenommen, weil man seine Auf-merksamkeit auf etwas anderes gelenkt hatte. Diese Aufmerksamkeitsfokussierung kann die sogenannte „selektive Wahrnehmung“ zur Folge haben.

Doch was hat es auf sich mit der „selektiven Wahrnehmung“?Es war eine Sensation, als vor nunmehr 13 Jahren Daniel J. Simons seine „Surprising Stu-dies of Visual Awareness“ (Über raschende Stu-dien zur visuellen Wahrnehmung) vorstellte.

Sein 31-sekündiges Video „Selective Attention Test“1 (Simons & Chabris, 1999) wird offen-sichtlich auch heute noch gerne angeschaut – inzwischen hat Daniel Simons sein Original-Video zur „Selektiven Aufmerksamkeit“ offizi-ell in YouTube eingestellt. Er war wohl mehr oder weniger dazu gezwungen, weil eine drei-ste Kopie vorab mehr als 14 Millionen Mal angeklickt wurde. Und auch das nun seit März

Abb. 1a: Die zwei Teams werfen sich den Ball zu. Wie oft haben die „Weißen“ Ballkontakt?

Abb. 1b: Die Aufgabe, die Kontakte wahrzunehmen und zu zählen, nimmt den Zuschauer so in Anspruch, dass circa 50 Prozent nicht sehen, das von rechts ein Gorilla ins Bild läuft.

Abb. 1c: Der Gorilla klopft sich mitten im Bild auf die Brust und geht dann gemütlich nach links aus dem Bildrand.

Page 2: Manchmal sieht man den Wald vor lauter Bäumen nicht€¦ · „Change blindness“ ist etwas anders geartet als Daniel Simons Experimente der „inattentional blindness”. CB, wie

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freien Mitspieler gelenkt, kann es passieren, dass er übersehen wird, obwohl er sich direkt im Gesichts-/Blickfeld des ballfüh renden Spielers befindet. Unerwartete Objekte werden – nach dem Motto „looking without seeing“ – gegebenenfalls sogar mit den Augen fixiert, und dennoch nicht bewusst wahrge-nommen.3 Bewusste Wahrnehmung scheint Aufmerksamkeitsprozesse zu benötigen.Selektive Aufmerksamkeit erlaubt also dem Sportspieler einerseits Störungen/Ablen-kungen auszublenden; andererseits kann sie in Spiel- und Entscheidungssituationen, die geteilte (aber simultane) Aufmerksamkeit verlangen, auch behindern.5,7,8 Dies gilt im Übrigen auch für synchron-optische Ent-scheidungssituationen aus der Perspektive von Schieds- oder Kampfrichtern.9 Ein breiter Aufmerksamkeitsfokus im Sportspiel ist daher immer wichtig.Die Wahrscheinlichkeit der „inattentional blindness“ wird deutlich verringert, wenn die zu lösende primäre Aufgabe relativ einfach ist (d. h. vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit erfordert10). Wieder auf das Gorilla-Beispiel übertragen bedeutet dies: Wenn die Instruk-tion gegeben wird, nur die Anzahl der Pässe der „Weißhemden“ zu zählen, erkennen deut-lich mehr Probanden den Gorilla, als wenn Pässe sowie Bodenkontakte aufaddiert werden sollen.Das Gorilla-Beispiel hat gezeigt, dass Instruk-tionen Aufmerksamkeitsprozesse beein-flussen. Doch welchen Einfluss haben Instruk-tionen auf die Aufmerksamkeitsfokussierung im Sport?Sportbezogene Studien zeigen, dass zum Bei-spiel jugendliche Handballspieler die – vorins-truiert durch entsprechende „Wenn-Dann“-Entscheidungsregeln (und damit mit Auf-merksamkeitsfokussierung) – in circa 50 Prozent der in der Versuchsreihe präsen tierten spielspezifischen Videosequenzen den frei stehenden Spieler nicht bewusst wahrge-nommen hatten. Eine Vergleichsgruppe ohne Aufmerksamkeitsfokussierung (Instruktion: Wähle für deine Aktion einfach die taktisch beste/sinnvollste Folgehandlung aus) sowie eine Kontrollgruppe (ohne jegliche Instrukti-on) erreichten deutlich höhere „Erkennungs-quoten“ (≥ 90 %)3. Diese Ergebnisse bestäti-gen die Erkenntnisse der „inattentional-blindness“-Forschung.Vor diesem Hintergrund ist (zumindest in der Sportwissenschaft) umstritten, ob es zum Bei-spiel sinnvoll ist, spielspezifische Entschei-

dungssituationen im Training durch Instruktio-nen oder Entscheidungslernen (z. B. über „Wenn-Dann-Regeln“) und die Erarbeitung von sogenannten Diagnosemerkmalen einzuüben.So formuliert Roth (2003): „Frühe taktische ‚Leseinstruktionen‘ führen zu Wahrneh-mungseinschränkungen. Spieler die sofort mit taktischen Regeln konfrontiert werden, wer-den ‚blind‘ für relevante Aspekte der Situation.“3 Durch ein zu hohes Maß an auf-merksamkeitslenkenden Instruktionen kann folglich die Flexibilität der Aufmerksamkeit beziehungsweise die Aufmerksamkeitsbreite reduziert werden.8,11

Im Spitzensport erfolgreiche Trainer und Sportpraktiker bezweifeln allerdings zum einen die Übertragbarkeit derartiger Stu-

dienergebnisse, die größtenteils an Sportlern erhoben wurden, die aus ihrer Expertensicht eher als Novizen ihrer Sportart einzustufen sind; zum anderen repräsentieren ihrer Mei-nung nach die zumeist Video-basierten (und damit zweidimensionalen) Wahrnehmungs- und Entscheidungssituationen nicht die (drei-dimensionale) Sportrealität.Voigt & Jendrusch (2013) bringen es (am Bei-spiel Volleyball) so auf den Punkt: Zwar ist der  – in der Wettkampfpraxis bewährte – Umgang mit Entscheidungslernen und Dia-gnosemerkmalen in der Sportwissenschaft mehr als umstritten. Unbestritten ist jedoch die Aussage „Der Volleyballspieler ist ein visu-eller Mehrkämpfer“ (in Anlehnung an Tidow, 1993, S. 67)15 sowie „… ein Informa-tionsmanager“9,12, womit auf die Bedeutung der wahrnehmungsbezogenen Qualifikations-merkmale hingewiesen wird. Umstritten, aber erfolgreich, ist die von uns verfolgte Vorge-hensweise ihrer bewussten Aneignung. Zu-mindest theoretisch soll(te) jeder Coach die

Systematik ihres Auftretens kennen und Situationslösungen organisieren (können), die die entsprechenden Seh- und Wahrneh-mungsleistungen einfordern.

„change blindness“ … oder die VeränderungsblindheitEine Variante der selektiven Wahrnehmung ist die Veränderungsblindheit („change blind-ness“). Wikipedia definiert diese so: Verände-rungsblindheit (englisch change blindness) bezeichnet ein Phänomen der visuellen Wahr-nehmung, bei dem teilweise große Änderun-gen in einer visuellen Szenerie vom Betrachter nicht wahrgenommen werden.Schon Daniel Simon10,13 hat in seiner DVD von 1999 Beispiele zu diesem Phänomen illus-

triert. In einem der kleinen Filme sitzen sich zwei Frauen in einem Restaurant gegenüber und unterhalten sich. Der Zuschauer bemerkt gewöhnlich nicht, dass von einer Szene zur nächsten eine der Frauen einen andersfar-bigen Pulli trägt oder gar keinen Schal mehr um hat. Die Teller sind mal rot, mal weiß. Nur auf einem der Teller befindet sich Essen. Mal steht es vor der einen Dame, mal vor der an-deren. Zuschauer, die sich auf das Gespräch der beiden konzentrieren, merken gewöhnlich nichts von den Veränderungen.Besonders bekannt ist kürzlich ein Video von Derren Brown (einem englischen „Illusionis-ten“ u. v. m.) geworden, in dem ein Mann einen Passanten nach dem Weg fragt. Wäh-rend dieser den Weg erklärt, kommen zwei Arbeiter und tragen ein Riesenbild zwischen den beiden durch. Währenddessen wird der Frager durch eine andere Person ersetzt. Der Passant erklärt nun der anderen Person den Weg weiter, ohne dass er den Wechsel bemerkt hat. Ein tolles Experiment zu „change blind-

Abb. 2: „change blindness“. Wenn die Bilder rechts und links abwechselnd gezeigt werden, dann fällt der offensichtliche Unterschied sofort auf. Wenn aber zwischen den beiden Darbietungen eine kurze Pause ist, dann sehen die meisten Zuschauer den Unterschied erst nach etlichen Sekunden oder auch gar nicht. (von der Homepage von J. Kevin O’Regan, nivea.psycho.univ-paris5.fr „Change Blindness during blinks“, 2000).

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ness“! Nur hat das Chris Howland in seiner legendären Fernsehreihe „Vorsicht Kamera“ schon vor circa 50 Jahren vorgeführt!In der einfachsten Form wird „change blind-ness“ mit zwei Bildern erzeugt, die sich im Sekundentakt wiederholen. Ein Betrachter schaut auf das Bild, bemerkt aber nicht, dass die Bilder sich beträchtlich unterscheiden, wenn zwischen den Darbietungen eine kurze Pause eingeführt wird. Ohne Unterbrechung werden die Unterschiede sofort erkannt (Abb. 2, S. 5).Bekannt geworden sind die Demos von J. Kevin O’Regan (Leiter des Laboratoire Psy-chologie de la Perception, Université Paris Descartes). Seine Hauptthese ist inzwi-schen, dass wir nicht so et-was wie ein Abbild der Um-welt im Kopf haben können, denn sonst würden wir die Unterschiede zwischen Bild 1 und Bild 2 sofort bemerken. Wenn es denn ein Abbild der Umwelt im Gehirn geben sollte, dann ist es nur ein äu-ßerst grobes. O’Regans These: Dann kann es auch keine ver-lässliche visuelle Wahrneh-mung geben.„Change blindness“ ist etwas anders geartet als Daniel Simons Experimente der „inattentional blindness”. CB, wie die Experten kurz sagen, beruht auf der kleinen Änderung der Objekte im Gesichtsfeld, ohne dass durch eine andere Sehaufgabe abgelenkt wird. Gemeinsam ist aber beiden, dass offensichtliche und wesent-liche Dinge in einer Szene nicht erkannt werden.14

VexierbilderVexierbilder gibt es schon ewig. Im Grunde wird auch hier Wesentliches übersehen, weil die Sehgewohnheiten überlistet sind. Das Bild von Napoleon bei seinem Grab auf St. Helena

ist schon über 150 Jahre alt. Wer das Bild zum ersten Mal sieht und Napoleon nicht sofort erkennt, unterliegt auch einer gewissen „Blind-heit“.Die Suche läuft nach den gespeicherten Seh-erfahrungen ab – und danach sollte Napoleon dunkel auf hellem Grund sein (Abb. 3).Lange bevor die Begriffe „change blindness“ oder „inattentional blindness“ erfunden wur-den, hat der Künstler Donald „Rusty“ Rust ein phantastisches, geniales Bild erschaffen, an

dem diese Blindheit für das Wesentliche demonstriert ist (Abb. 4). Hier hat wieder ein-mal ein Künstler eine ganze Wissenschafts-richtung vorweg genommen, die erst etwa zehn Jahre später hoch aktuell wurde. Inzwi-schen ist das Bild so bekannt, dass man in Google nach der Eingabe „the hidden tiger“ mehrere hunderttausend Einträge zurück-bekommt. Die meisten davon beziehen sich auf das Bild von Rusty Rust, das er bereits 1990 gemalt hat!Von den vielen Besucherinnen und Besuchern in „Lingelbachs Scheune“ in Leinroden – eine der europaweit schönsten und umfangreich-sten Sammlungen Optischer Phänomene

(www.leinroden.de) – hat erst eine einzige spontan „the hid-den tiger“ gesehen. Allerdings werden die Besucher abge-lenkt, indem sie erst andere Vexierbilder anschauen, wie zum Beispiel den bereits ge-nannten Napoleon. Und schon geht die Suche beim versteck-ten Tiger in die falsche Rich-tung – und wie beim Gorilla

oder den anderen Beispielen wird das Offen-sichtliche nicht erkannt. Einige schauen sogar direkt drauf – und sehen es trotzdem nicht.Die Frage nach dem „Gorilla in Ihrem Leben“ könnte also auch heißen: „Welche ‚versteck-ten Tiger’ haben Sie schon erlebt?“Anmerkung: Sie haben „the hidden tiger“ nicht gefunden? Die Auflösung finden Sie hier im Heft auf Seite 35!

Autoren: Dr. rer. nat. Gernot Jendrusch, Lehrstuhl für Sportmedizin und Sporternäh-rung, Ruhr-Universität Bochum;Prof. Dr. rer. nat. Bernd Lingelbach, Institut für Augenoptik Aalen (IfAA, Leinroden)

Literatur:1. www.youtube.com/watch?v=vJG698U2Mvo2. Eine weitere 2010 eingestellte nachfolge-Variante „the Monkey Business Illusion“ wurde inzwischen auch schon über 3 Millionen Mal angeklickt! www.youtube.com/watch?v=IGQmdok_ZfY3. Memmert D. „Ich sehe was, was du nicht siehst!“ – Das Phänomen Inattentional Blindness im Sport. leis-tungssport 2005;35(5):11-15.4. Furley P, Memmert D. Aufmerksamkeitstraining im Sportspiel. leistungssport 2009;39 (3):33-36.5. Furley P, Memmert D, Heller C. the dark side of vi-sual awareness in sport: Inattentional blindness in a re-al-world basketball task. Atten Percept Psychophys 2010;72 (5):1327-1337.6. Mack A, Rock I. Inattentional Blindness. MIt Press 1998, Cambridge.7. Abernethy B. Attention. In Singer Rn, Hausenblas HA & Janelle C (Eds.). Handbook of Research on Sport Psychology. John Wiley 2001, new York. pp 53-85.8. Furley P, Memmert D. “I spy with my little eye!” – Breadth of Attention, Inattentional Blindness, and tac-tical Decision-making in team Sports. J Sport Exerc Psy-chol 2007;29(Supl.): 126.9. Jendrusch G. Sportspiele und visuelle leistungs-fähigkeit – Bochumer Perspektiven. In: Voigt HF, Jen-drusch G (Hrsg.). Sportspielforschung und -ausbildung in Bochum – Was war, was ist und was sein könnte. Czwalina 2009, Hamburg. S. 117-138.10. Simons DJ, Chabris CF. Gorillas in our midst: sustained inattentional blindness for dynamic events. Perception 1999;28:1059-1074.11. Memmert D, Furley P. “I spy with my little eye!”– Breadth of Attention, Inattentional Blindness, and tac-tical Decision-making in team Sports. J Sport Exerc Psy-chol 2007;29(3):365-381.12. Voigt HF. koordinationstraining im Volleyball. Sport und Buch Strauß 2003, köln.13. Simons DJ, levin Dt. Change blindness. trends Cogn Sci 1997;1(7):261-267.14. Change Blindness Demo-Film “Who killed lord Smithe”? http://www.youtube.com/watch?v=ubnF9QnEQlA15. tidow G. Bewegungssehen – Möglichkeiten undGrenzen. In H.-F. Voigt (Red.), Bewegungen lesen undantworten (An der RUB – Sportpraxis nachgedacht, 1).Czwalina 1993, Ahrensburg. S. 15-72.16. Voigt HF. koordinationstraining imWeb-Seiten: www.theinvisiblegorilla.comwww.rustyart.net

Abb. 3: Napoleon auf St. Helena. Doch wo ist er? Dieses Bild ist vor mehr

als 150 Jahren gemalt worden und taucht heute noch hin und wieder als Vexierbild auf. Falls man ihn nicht gleich sieht, wundert man sich hinterher, wieso man Napole-on nicht sofort gesehen hat. Denn

wenn man ihn einmal „entdeckt“ hat, kann man ihn nicht mehr „nicht sehen“.

Abb. 4: Warum heißt das Bild „The hidden tiger“, also „der versteckte Tiger“? © Donald Rust: The hidden tiger (1990). Mit freundlicher Ge-nehmigung von Donald „Rusty“ Rust.