marxens heilslehre und der jüdische messianismus
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Claudia Römer
Marxens Heilslehre und der jüdische Messianismus
1. Einleitung:
Es gibt eine Unmenge a n Marx Biographien. In den meisten wird er in Bezug
auf sein Werk gesehen, nur wen ige gehen auf den Menschen Karl Marx ein, und
wenn, dann um ihn als den sich für das Wohle der Menschheit verzehrenden, oder
als den Ursprungs allen Übels darzustellen. Kaum hat man sich intensiv mit dem
Menschen Karl Marx beschäftigt, mit dem „Sein“ von Karl Marx, das sein
Bewusstsein und sein Lebenswerk mitbestimmt hat. Karl Marx, der durch
Familientradition zum Rabbiner Berufene, muss durch soziale und politische
Gegebenheiten der Trierer Gesellschaft, in die er hineingeboren wird, auf e= inem
anderen Gebiet sein Lebensunterhalt verdienen. Hier sieht Arnold Künzli; den
Ursprung seiner
Entfremdungstheorie.Diese Frustration seiner Berufung wird ihn sein Leben lang
begleiten, eine Berufung, von der er durchdrungen ist, die sich in seiner Vorliebe
zur Abstraktion, zum unablässigen Studium bewegt und motiviert, ein Studium,
dass nie zu einem abschließenden Resultat führen kann, und auch nicht führen
soll . Wie auch das Studium des Talmuds um des Studiums Willen stattfinden
soll, nicht um davon zu leben.
E. J. L esser beschrieb schon 1924 in seinem Aufsatz “Karl Marx als Jude“ auf
wenigen Seiten präziser das Wesen von Marx, als manche dicke unlesbare
Biographie:
“(…) nur der kann den empirischen Charakter, Weltauffassung, Arbeitsweise und
Lebensführung von Marx verstehen, der die Beschaffenheit der Menschen kennt,
deren einziger Lebenszweck es ist, Talmud zu lernen“. Und er fragt:“ Wie soll ein
deutscher Professor einen Mann verstehen, der sein ganzes Vermögen in eine
revolutionäre Zeitung steckt, mit dem Scheitern der Revolution und dem Verbot
der Zeitung verliert, mittellos in London ankommt – und sich von seinem Freund
Friedrich Engels ernähren lässt?. (…)Die soziale Revolution lag für diesmal
zerschmettert am Boden. Aber die Theorie für die kommenden Klassenkämpfe
musste aufgebaut und umgeschrieben werden= , denn aus den Büchern lernt der
Talmudist, die Welt kennen…“[1]
2.Pränatale Frustration:
Wer Karl Marx kennen lernen will- schreibt Arnold Künzli in seiner Marx
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Psychobiographie-, muss sich zunächst einmal dessen Vater sehr genau ansehen.
Werner Sombart nennt ihn einen „disäquilibrierten Assoziationsjuden“, ohne
sicheren Standpunkt im Leben. Heinrich Marx hatte sich von den
Glaubensvorschriften zwar entfernt, ohne in neuen Sozialordnungen Fuß zu
fassen. Heinrich Marx konvertierte zum Christentum. Seine Konversion war nicht
an erster Stelle durch die politischen Gegebenheiten bedingt, sondern , wie er in
einem Brief an seinen Sohn Karl schrieb „ um sich gegen d ie entehrende
Behandlung und die Globaldiffamierung des Judentums#; zur wehr zu setzen“.
Seine Mutter- Henriette Marx geborene Pressburg- hat ihrem; ältesten Sohn Karl
nach Meinung von Helmut Gollwitzer „das geistige Erbe des Judentums von
Kindesbeinen an mitgegeben.[3]“
Im alten Preußen war seit 1812; ein „Juden Edikt“ in Kraft, das zwar den Juden
einerseits alle bürgerlichen Rechte und Freiheiten gewährte, auf die die Christen
Anspruch hatten, sie auch zu akademischen Lehrämtern zuließ, jedoch die
Zulassung zum Staatsdienst von einem Plazet seiner Majestät des Königs
abhängig machte . Dieser Edikt wurde auf das1815 zu Preußen geschlagene
Rheinland angewandt, so dass Heinrich Marx- der als Anwalt am
Appellationsgericht tätig war- ins Wanken geriet .
Mach dem Wiener Kongress war „Restauration“ die Parole in aller Munde, und
der den Juden ohnehin nicht freundlich gesinnte Friedrich Wilhelm III. war nur
allzu gerne bereit, sie aus dem „Christlichen Staate“ auszuschließen, den er im
Rahmen der Heiligen Allianz der Russen, Preußen und Österreicher zu errichten
trachtete. Man ließ also in dem Rheinland das napoleonische Judenedik t in Kraft
und verweigerte den rheinischen Juden die im Preußischen Edikt von 1812
gewährte „Gleichberechtigung mit Vorbehalten“ Diese Beschränkungen wurden
auch für das Rheinland verbindlich.Am 7.5.1822 verbot eine Verordnung des
Preußischen Innenministeriums den Juden ausdrücklich die Betätigung als
Anwalt. Um weiter in seinem Beruf arbeiten zu können konvertierte Heinrich
Marx zwischen April und August 1825 im erzkatholischen Trier zum
Protestantismus.Durch die Konversion seines Vaters und der Taufe des Sohnes
war Karl Marx von der transzendenten Potenz, die seinen Sonderauftrag religiös
legitimierte, brutal abgeschnitten worden.[4]Mit dieser Konversion des Vaters
kommt es zu der ersten Entfremdung noch vor der Geburt von Karl Marx.
3.Entfremdungstheorie:
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Entfremdung bzw. „Selbstentfremdung“ ist das Leitmotiv, dass sich durch das
ganze schriftstellerische Werk von Karl Marx durchzieht. Sie kann zwischen
zwei guten Freunden erfolgen, oder zwischen einem Liebespaar . Sie h= at mit
dem Problem der Sozialen Entfremdung zu tun, ist aber nicht damit identisch.
Beim Problem des Sozialen, so wie wir es heute verstehen, handelt es sich um
Fragen der Entfremdung zwischen Ungleichen, nicht Gleichberechtigten.
Letztendlich handelt es sich- aus Sicht von Marx- um die Entfremdung zwisch en
Herrschaft und Knechtschaft. Soziale Gerechtigkeit bedeutete die Aufhebung oder
Linderung der Spannung zwischen materiellen und ständischen Ungleichheiten, in
denen sich die Entfremdung zwischen Herrschaft und Knechtschaft in
Gesellschaft, Staat und Wirtschaft manifestiert?;. Aufhebung der Entfremdung
zwischen Herrschaft und Knechtschaft ist ein Problem der Freiheit. Soziale
Gerechtigkeit ist letztendlich auch eine Frage der Freiheit.Für Marx wurde die
Entfremdung zum philosophischen Grundbegriff seines theoretischen Werkes.
Das angestrebte Ziel sollte die Überwindung der Entfremdung sein. Dabei hat er
sich nie die Frage nach dem Ursprung dieser Entfremdung gestellt, folglich erhält
man von ihm auch keine eindeutige Antwort auf die Frage nach eben diesem
Ursprung, sondern v iele und recht vage. Entfremdung trat seiner Meinung nach,
erst in dem Augenblick ein, da der produzierte Gegenstand zu einer Ware wurde,
die man veräußern kann, gegen an= dere Waren tauschen, oder gegen Geld
verkaufen konnte, da sich der Gegenstand dadurch dem Produzenten gegenüber
selbständig machte, und ein and= erer Mensch, indem er solche Gegenstände
aufkaufte, sammelte, eine wirtschaftliche Macht aufbaute, die sich gegenüber dem
Produzenten dieser Gegenstände fremd oder gar feindlich verhielt. Dadurch
erweiterte sich die Entfremdung zwischen den Produzenten und seinem Produkt
zu einer Entfremdung zwischen Mensch und Mensch. Unter den verschiedenen
Ursachen der Entfremdung, die Marx aufzählte, nimmt die „Teilung der Arbeit
einen besonderen Platz ein: „Die Teilung der Arbeit ist der nationalökonomische
Ausdruck von der Gesellschaftlichkeit der Arbeit innerhalb der Entfremdung“.[5]
Für ihn findet Entfremdung statt zwischen Staat und Volk, dies heißt für ihn
zwischen Herrschaft und Knechtschaft.
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4. Das „Soziale“: Die Spannung Herrschaft- Knechtschaft.
Das Problem von Herrschaft und Knechtschaft ist das zentrale Problem der
Marxsc= hen politisch- ökonomischen Schriften. Es ist aber auch das
bestimmende Ereignis am Beginn der Geschichte des Judentums- sagt Arnold
Künzli-:
„Am Eingang der israelitischen Geschichte steht eine Empörung. Denn der
gewaltsame Auszug aus Ägypten war eine Revolution(…) Die Träger der
Bewegung sind die unterdrückten hebräischen Männer gewesen, die an den
Ziegelöfen standen, Balken schleppten und Steine transportierten, Städte und
Festungen bau= ten. Sie hatten schwer zu arbeiten(…)Sie hatten keinen Ruhetag.
Niemand so= rgte für sie. Ihre Person war nicht geschützt, und ihre Aufseher und
Werkmeister durften sie ungestraft schlagen“[6]
Die Erinnerung an diese Zeit der Knechtschaft wie auch an die Tage der
Befreiung blieb bis zum heutigen Tag, unauslöschbar im Gedächtnis des Volkes.
An den Auszug aus Ägypten erinnern Feste und viele anderen Einrichtung en des
Judentums[7].
Bewusst oder unbewusst projiziert Marx dieses in ihm wieder lebendig gewordene
Urerlebnis des Judentums auf seine Zeit.; Noch war alles pure Theorie eines
Mannes der abseits der Welt nur in seiner Studierstube lebte. Ihn interessierte zu
diesem Zeitpunkt nur das Theoretische an der sozialen Frage, nicht das Praktische.
Es kam ihm ausschließlich auf die philosophische Auseinandersetzung an:
„ Wir haben die feste Überzeugung, dass nicht der Praktische Versuch, sondern
die theoretische Ausführung der kommunistischen Ideen die eigentliche Gefahr
bildet, denn auf praktische Versuche… kann man mit Kanonen antworten, sobald
sie gefährlich werden, aber Ideen… das sind Ketten, denen man sich nicht
entreißt, ohne sein Herz zu zerreißen…“
Der Einbruch des „Sozialen“ in das Denken von Marx erfolgte während seiner
Tätigkeit an der“ Rheinischen Zeitung“ (1842-43). A= ls Chefredakteur war er
gezwungen sich mit der Realität zu befassen, dies hieße er musste sich mit den
Debatten des Rheinischen Landtages ü= ;ber ein Holzdiebstahlgesetz befas= sen.
Er schrieb fünf lange Artikel zu diesem Thema, in denen der entscheide= nde
Durchbruch zur Wirklichkeit des Sozialen gelang.
Marx war nun, indem er als Redakteur einer Oppositionszeitschrift gezwungen
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sich= mit den wichtigsten Diskussionsgegenständen des Rheinischen Parlamentes
zu befassen, auf die Existenz einer Gruppe von Menschen aufmerksam gemacht
wor den, die ein „Jüdisches Schicksal hatten, ohne Juden zu sein“ u nd mit denen
er sich identifizieren , die er zu seinem Volk Israel erwählen konnte, ohne sich
damit als Jude bekennen zu müssen. Die Erkennung der Armut ermöglichte Marx
seinen für sich schon im Abituraufsatz festgelegten Auftrag zu erfüllen: „Die
Menschen zu retten“ .[8]
Schon in dieser ersten Auseinandersetzung mit dem „Sozialen“ gab Marx zu
erkennen, dass er nicht nur ein Sozialreformer war, der die Armut beseitigen und
soziale Gerechtigkeit herstellen wollte, sondern dass es ihm um das Heil des
Menschen ging. Einen Menschen den er nicht abstrakt, sondern in seiner
Beziehung zur Gemeinschaft, und das hieß hier zum Staat. Er sah sich als der
Beauftragte das Heil der Menschheit als Volk zu suchen. Wenn der Staat
überhaupt eine Funktion und einen Sinn hätte, dann war es der, gewissermaßen
der Rahmen zu sein, der dieses Volk zusammenhielt. Er durfte aber nicht einzelne
Glieder seines Volkes entfremden, er müsste um seinen heilsgeschichtlichen
Auftrag erfüllen zu können ein wahrer Volksstaat sein.
Wie man erkennen kann hat Marx sich auf rein intellektuellem Wege seinem
zweiten Thema genährt: Das „Problem von Herrschaft und Knechtschaft“. Es ist
das zentrale Problem der Marxschen politisch ökonomischen Schriften.
Entscheidender – meint Arnold Künzli in der schon erwähnten Marx
Psychographie- war die Begegnung mit Moses Hess. Dieser war nicht nur
Junghegelianer sondern auch Kommunist. Auch wenn Marx zuerst nur Spöttische
Bemerkungen für ihn übrig hatte, er nannte Hess mehrmals „Kommunisten
Rabbi“, eröffnete ihm dieser einen n= euen Blickwinkel. Hess gilt als derjenige
der Marx und Engels für den Kommunismus gewinnen konnte.
Ferner ist anzunehmen, dass Karl Marx von seiner Mutter schon in frühester
Kindheit die Geschichte des Auszuges aus Ägypten gehört hat. Dies könnte
heißen: Karl Marx ist nicht durch das mitleidende Erlebnis sozialer
Ungerechtigkeiten auf das Problem des Sozialen gestoßen, sondern durch eine
Projektion des in i= hm wieder mächtig gewordenen Urerlebnisses des Judentums
auf seine Zeit.[9]
5. Das Proletar iat- Volk Israel
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Seine Weltanschauung hatte er schon formuliert, nun fehlte ihm noch der
entscheidende Faktor: Ein Volk.
Er findet es in den Arbeitern seiner Zeit. In einem Artikel aus dem Jahre 1844 für
den Pariser „Vorwärts“ schrieb er- die Parallele „Arbeiter-Jude“ ist hier besonders
evident:
„ Das Gemein wesen aber, von welchem der Arbeiter isoliert ist, ist ein
Gemeinwesen von ganz anderer Realität und ganz andrem Umfang als das
politische Gemeinwesen. Dies Gemeinwesen… ist das Leben selbst, das
physische und geistige Le= ben, die menschliche Sittlichkeit, die menschliche
Tätigkeit, der menschlic he Genuss, das menschliche Wesen.“
In den „Pariser Manuskripten“ heißt es: „ (…) die Nationalökonomie kennt den
Arbeiter nur als Arbeitstier, als ein auf d ie striktesten Lebensbedürfnisse
reduziertes Vieh(…) sie betrachtet ihn nicht in seiner arbeitslosen Zeit, als
Mensch.(…)Der Arbeiter, weit entfernt, alles kaufen zu können, sich selbst und
seine Menschheit verkaufen muß. Und „selbst in dem Z ustand der Gesellschaft,
welcher dem Arbeiter am günstigsten ist, ist die notwendige Folge für den
Arbeiter und früher Tod…“[10]
Und wenn man den Satz von Marx liest, dass die Nationalökonomen dem Arbeiter
nur so viel von seinem Produkt, zukommen lassen, „als nötig ist, nicht damit er als
Mensch, sondern als Arbeiter existiert, nicht damit er die Menschheit, sond ern
damit er die Sklavenklasse der Arbeiter Fortpflanzt“.[11]
Bewußt oder unbewusst identifiziert Marx den Arbeiter mit den Kindern Israels
in der ägyptischen Knechtschaft. Dieses Gleichnis hat auch das Bild des reifen
Marx vom Arbeiter bestimmt. So meinte er im „Kapital“: „ Der Ausgangspunkt
der Entwicklung, die sowohl den Lohnarbeiter wie den Kapitalisten erzeugt, war
die Knechtschaft des Arbeiters“[12]
Die Situation des Industriearbeiters aus Marxens Zeit entsprach auf verblüffende
Weise d er Situation der Israeliten in Ägypten.
Der Arbeiter wird Marx zum Sinnbild des Menschen schlechthin, folglich sprach
Marx immer weniger vom Arbeiter und immer mehr vom Menschen sprach. In
den „Pariser Manuskripten“ gibt er eine exakte Beschreibung vom Schicksal und
Auftrag des Arbeiters:
„Aus dem Verhältnis der entfremdeten Arbeit zum Privateigentum folgt ferner,
dass die Emanzipation der Gesellschaft vom Privateigentum etc, von der
Knechtschaft, in der politischen Form der Arbeiteremanzipation sich ausspricht,
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nicht als wenn es sich nur um ihre Emanzipation handele, sondern weil in ihrer
Emanzipation die allgemein menschliche enthalten ist, diese ist aber darin
enthalten, weil die ganze menschliche Knechtschaft in dem Verhältnis des
Arbeiters zur Produktion involviert ist und die Knechtschaftsverhältni sse nur
Modifikationen und Konsequenzen dieses Verhältnisses sind.“[13]
Die Aufgabe bzw. die = von Marx dem Proletariat zugedachte Mission hat
heilsgeschichtlichen Charakter. Diese Mission ist mit der biblischen Prophetie des
Volkes Israel vollkommen identisch, teilweise bis in die Satzstruktur hinein- sagt
Arnold Künzli-ersetzt man Proletariat durch Israel, Klasse durch Volk und
umgekehrt- oft geradezu der Bibel entnommen zu seien scheint.
„Wie kann ich Abraham verbergen, was ich tue, sintemal er ein großes und
mächtiges Volk soll werden, und alle Völker auf Erden in ihm gesegnet werden
sollen?“[14]
Bei Marx hießt das:
„ Nur im Namen der allgemeinen Rechte der Gesellschaft kann eine besondere
Klasse sich die allgemeine Herrschaft vindizieren“.
Es ist geradezu wortwörtliche Umschreibung der Situation Israels in der ägyptisch
en Knechtschaft und der Mission Israels, die ganze Menschheit aus aller
Knechtschaft zu erlösen, indem es sich selbst befreit, wenn Marx weiter schrieb:
„ Damit die Revolution eines Volkes und die Emanzipation einer besonderen
Klasse der bürgerlichen Gesellschaft zusammenfallen, damit ein Stand für den
Stand der ganzen Gesellschaft gelte, dazu müssen umgekehrt alle Mängel der
Gesellschaft in einer anderen Klasse konzentriert, dazu muss ein bestimmter
Stand, der Stand des allgemeinen Anstoßes…sein, dazu muss eine besondere
soziale Sphäre für das historische Verbrechen der ganzen Sozietät gelten, so die
Befreiung von dieser Sphäre als die allgemeine Selbstbefreiung erschei nt.Damit
ein Stand par Excellenze der Stand der Befreiung, dazu muss umgekehrt ein
anderer Stand d= er offenbare Stand der Unterjochung sein.“[15]
Anders gesagt, damit in Stand die Rolle des Volkes Israel spielen kann, muss ein
Stand der allgemei= nen Unterjochung gefunden werden. Damit sich das
Proletariat aus einem zeit- und ortsgebundenen, temporären, historisch relativen
Knechtschaftsverhältnis in eine unbedingte heilgeschichtliche Potenz verwandeln
könnte, musste zunächst die Bourgeoisie zu einer solchen Potenz erhoben werden.
Im Deutschland seiner Zeit fand Marx einen solchen Stand nicht vor, folglich galt
es, einen solchen Stand erst einmal zu schaffen.
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Dies sieht bei Marx folgendermaßen aus:
„… ein er Klasse mit radikalen Ketten, eine Klasse der bürgerlichen Gesellschaft,
welche keine Klasse der bürgerlichen Gesellschaft ist, eines Standes, welcher die
Auflösung aller Stände ist, einer Sphäre, welche einen universellen Charakter
durch ihre universellen Leiden besitzt und kein besonderes Recht in Anspruch
nimmt, weil kein besonderes Unrecht, sondern d as Unrecht schlecht hin an ihr
verübt wird…eine Sphäre endlich welche sich nicht emanzipieren kann, ohne sich
von allen übrigen Sphären der Gesellschaft zu emanzipieren, welche mit einem
Wort der völlige Verlust des Menschen ist, also nur durch die völlige
Wiedergewinnung des Menschen sich selbst gewinnen kann. Diese Auflösung der
Gesellschaft als ein besonderer Stand ist das Proletariat“[16]
Wenn das Proletariat die Auflösung der bisherigen Weltordnung verkündet, so
spricht es nurdas Geheimnis seines eigenen Daseins aus, denn es ist die faktische
Auflös ung der Weltordnung. Für Marx blieb das Proletariat sein Volk Israel, das
die Entfremdung des Menschen schlechthin repräsentierte. Es wird für ihn, zum
Vollstrecker eines geschichtlichen Auftrags:
„ Es handelt sich nicht darum, was dieser oder jener Proletarier oder selbst das
ganze Proletariat als Ziel sich einstweilen vorstellt. Es handelt sich darum, was=
es ist und was es diesem Sein gemäß geschichtlich zu tun gezwungen = sein wird.
Sein Ziel und seine geschichtliche Aktion ist… unwiderruflich
vorgezeichnet.“[17]
In der „Deutschen Ideologie“ heißt es:
„ Das Prolet ariat kann… nur weltgeschichtlich existieren, wie der
Kommunismus… nur als weltgeschichtliche Existens überhaupt vorhanden sein
kann“.
In seinem Aufsatz „Die Klassenkämpfe in Frankreich“ aus dem Jahre 1850
verwand Marx selbst die Parallele Proletariat- Volk Israel als er schrieb:
„ Das jetzige Geschlecht gleicht den Juden, die Moses durch die Wüste führt. Es
hat nicht nur eine neue Welt zu erobern, es muß untergehen um dem Menschen
Platz zu machen, die einer neuen Welt gewachsen sind“.
Diese Idee behäl t Marx in seinen späteren Schriften bei, und im ersten Band des
„Kapitals“ schrieb er 17 Jahre später:
„ Wie dem auserwählten Volk auf der Stirn geschrieben stand, dass es das
Eigentum JHW’s ist, so drückt die Teilung der Arbeit dem Manufakturarbeiter
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einen Stempel auf, der ihn zum Eigentum des Kapitals brandmarkt.“
Diese Idee, dass ein Volk als Volk berufen sein könnte, den heilsgeschichtlichen
Prozess der Menschheit bis zu seiner Vollendung im „Reich Gottes“ zu führen, ist
reines Judentum. Es sei zur Vollständigkeit auch gesagt, dass der Begriff der
„Auserwähltheit“ auch ein christlicher Begriff ist. Helmut Gollwitzer meint dazu
in seinem Aufsatz „Die Judenfrage-eine Christenfrage“:
„Christen und Juden sind eins in der Bekenntnis der Besonderheit Israels. Das
Israel „Auserwählt“ ist, das sagen nicht nur die Juden, sondern a uch die Christen;
denn das ist nicht eine anmaßende , hypernationalistisc he Behauptung, sondern
ein Satz des christlichen Grundbekenntnisses, des Neuen Testaments“.
6. Die Heilslehre
Geschichte ist für Marx immer Heilsgeschichte. Er schrieb 1843 in seinen
Briefen an Ruge:
„ Wir treten nicht der Welt doktrinär mit einem neuen Prinzip entgegen: Hier ist
die Wahrheit, hier kniee nieder! Wir entwickeln aus den Prinzipien der Welt, neue
Prinzipien--- Unser Wahlspruch muss sein: Reform des Bewusstseins nicht durch
Dogmen, sondern durch Analysierung des mystischen, sich selbst unklaren
Bewusstseins…Es wird sich dann zeigen, dass die Welt längst den Traum von
einer Sache besitzt, von der sie nur das Bewussts ein besitzen muss um es wirklich
zu besitzen. Es wird sich zeigen, dass die Menschheit keine neue Arbeit beginnt,
sondern mit Bewusstsein ihre alte Arbeit zustande bringt“.[18]
Marx verwehrte sich vehement gegen jeglichen utopischen Weltentwurfs, jeder
dogmatischen Konstruktion einer kommunistischen Zukunft. Schon 1843 schrieb
er: „Indessen ist das gerade wieder der Vorzug der neuen Richtung, dass wir nicht
dogmati sch die Welt antizipieren, sondern erst aus der Kritik der alten Welt die
neue finden wollen.“Er meinte, „die Konstruktion der Zukunft und das
Fertigwerden für alle Zeiten sei nicht unsere Sache, und er sei nicht dafür, dass
wir eine dogmatische Fahne aufpflanzen, im Gegenteil:
„ Wir treten dann nicht der Welt doktrinär mit einem neuen Prinzip entgegen: Hier
ist die Wahrheit, hier kniee nieder! Wir entwickeln der Welt aus den Prinzipien
der Welt neue Prinzipien. Wir sagen ihr nicht: Laß ab von deinen Kämpfen, sie
sind dummes Zeug; wir wollen der die wahre Parole des Kampfes zuschreien .
![Page 10: Marxens Heilslehre und der Jüdische Messianismus](https://reader036.vdocuments.pub/reader036/viewer/2022083000/55721157497959fc0b8ece92/html5/thumbnails/10.jpg)
Wir zei gen ihr nur, warum sie eigentlich kämpft, und das Bewusstsein ist eine
Sache, die sie sich aneig nen muss, wenn sie auch nicht will“
Die Veränderung der Welt soll te folglich nicht dadurch erfolgen, dass man sie in
ein philosophisches Schema zu pressen versucht, sondern dadurch, dass man sie
aus dem Traum über sich selbst aufweckt, dass man ihr ihre eigenen Aktionen
erklärt.Also, Reform des Bewusstseins, nicht neue Dogmen schaffen die neue
Welt. Diesem Programm ist Marx bis zu seinem Tode treu geblieben.
Die aus dieser Reform resultierende Gesellschaft entspricht der Charakterisierung
der „eschatologischen“ Erwartung : Eine Klassenlose Gesellschaft, ohne
Spannungen und Konflikte, in der der „Totale“ Mensch ohne Habenwollen, deren
Triebe, Begierden, Bedürfnisse, Sinne so geläutert, so vermenschlicht sind, dass
sie sich“ zu der Sache um der Sache willen“ verhalten und ihre egoistische
Natur… verloren haben. Während gleichzeitig ?2;die Natur ihre bloße
Nützlichkeit verloren hat und eine vermenschlichte Natur geworden ist, diese
Gesellschaft, die „die vollendete Wesensein= heit des Menschen mit der Natur,die
wahre Resurrektion der Natur, der durchgeführte Naturalismus des Menschen und
der durchgeführte Humanismus der Natur ist die wahrhafte Auflösung des
Widerstreites zwischen dem Menschen mit der Natur und mit dem Menschen?=
0;.s ist die heilsgesc hichtliche Vision die Marxens Vorstellungen vom
Endzustand des wahren Kommunismus beseelte. Heilsgeschichtlicher Schauplatz
kann nur die Gesellschaft sein.
Der fundamentale Unterschied zwischen dem biblischen und der Marxschen
Heilslehre ist, dass es in der Bibel Freiheit, Mündigkeit, Verantwortung des
Menschen hier und heute angestrebt werden und Marxens Vorstellungen sind auf
die Zukunft ausgerichtet. Den gegenwärtigen Menschen trat er eher
mitVerachtung entgegen.
Seine Vorstellungen sind erst im Kommunismus möglich. In der Gegenwart gibt
es nur ein Bewußtwerdungsprozeß, in Form der Einsicht in die
heilsgeschichtliche Notwendigkeit und in ein bewusstes Handeln.
Marxens Werk- sagt A.Künzli- ist einerseits eine ins Ökonomisch- Soziologisch-
Politische übersetzte Heilsgeschichte, die sich als Religionsersatz anbietet und es
ist andererseits geprägt durch den Radikalismus und Absolutismus der Marxschen
Psyche.
Man mag gegebenenfalls annehmen, Marx sei eine historische Notwendigkeit
gewesen. Trotzdem ist sein Werk aprioristischer Natur und kaum das Resultat
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wissenschaftlichen Erforschens der Wirklichkeit.
Manche Einsichten von Marx mö gen ihre Geltung bis heute behalten haben,
viele von den von ihm aufgeworfenen Probleme, wie die Entfremdung des
Menschen sind noch längst nicht gelöst. Aber dass dem Proletariat- wie es von
Marx gesehen wurde- in der Geschichte die Rolle zukomme, die in der biblischen
Heilsgeschichte dem Volke Israel aufgetragen ist. Dieser Glaube, auf dem das
ganze Werk von Marx als einer heilsgeschichtlichen Grundlage ruht, hat sich
heute als ein Mythos erwiesen.
Quellen:
[1] V= gl: Lesser: „ Karl Marx als Jude“ in Zeitschrift „Der Jude“ 8. Jahrgang,
1924= , Heft 3
[2] V= gl: Künzli, Arnold: „Karl Marx. Eine Psychographie“ S.: 76
[3] V= gl: Gollwitzer, Helmut: „Zum Verständnis= des Menschen beim jungen
Marx“ in Festschrift für Günther Dehn, 1957 S. 184
[4] V= gl: Künzli, Arnold: aaO S.: 77
[5] V= gl: Marx, Karl: „Manuskripte“ Bd 1 S.15= 3
[6] V= gl: Künzli, Arnold:: aaO<= /span>: S.: 557
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[7] V= gl Max Eschelbacher, zitiert v. Arnold Künzli
[8] V= gl: Künzli, Arnold: aaO: S. 366
[9] V= gl: Künzli, Arnold: aaO: S. 559-560
[10] = Vgl: Marx, Karl: „Pariser Manuskripte“ Bd.1, S.: 43
[11] = Vgl: Marx, Karl: Pariser Manuskripte“ Bd.1, S.: 65
[12] = Vgl: Marx, Karl: „Das Kapital“ Bd.1, S.: 754
[13] = Vgl: Marx, Karl: „Pariser Manuskripte“ Bd 1. S.: 110
[14] = Vgl: 1. Buch Mose, 18.17,18
[15] = Vgl: Marx-Engels Werk, Bd 1 . S.: 388
[16] MEW, Bd.1 S.: 390
[17] Vgl.: MEW, Bd.2, S.38<= /p>
[18] Vgl.: Marx, Karl: „Deutsch- Französische Jahrbücher“8