mathematik - medien-und-bildung.lvr.de · > geometrie lehren und lernen – kompetenzorientiert...
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02MEDIENBRIEFMathematik
N°
Schwerpunkt Mathematik Zeitgemäßer Mathematikunterricht –
mehr als Rechnen
1914 – Mitten in Europa Das Rheinland und der Erste Weltkrieg
Das LVR-Verbundprojekt
Düsseldorfer Fenster Begleiten – Qualifizieren – Beraten
Medienscouts in Düsseldorf
Die Ausstellungen im
2. Halbjahr 2014
MEDIENBRIEF | N° 02.2014
Impressum
Herausgeber
Landschaftsverband Rheinland
Landeshauptstadt Düsseldorf
LVR-Zentrum für Medien und Bildung
Medienzentrum für die
Landeshauptstadt Düsseldorf
Medienberatung NRW
Schulmanagement NRW
Redaktion
Michael Jakobs, Claudia Hopstein
Layout & Reinzeichnung
Michael Jakobs
Postanschrift
Postfach 103453
40025 Düsseldorf
Besucheranschrift
Bertha-von-Suttner-Platz 1
40227 Düsseldorf
Kontakt
Telefon 0211 27404-2131
Fax 0221 8284-3463
E-Mail [email protected]
Internet www.medien-und-bildung.lvr.de
Titelbild
Grafikfähige Taschenrechner an Schulen
Foto: Rolf Vennenbernd, picture alliance/dpa
Druck
msk marketingservice köln GmbH
Bischofsweg 48-50, 50969 Köln
Auflage
6.000
Der MEDIENBRIEF erscheint zweimal jährlich und
kann kostenlos beim LVR-Zentrum für Medien und
Bildung abonniert oder als Einzelheft bestellt werden.
ISSN 1615-7257
MEDIENBRIEF | N° 02.2014
2
Als Vorsitzende des Beirates des
LVR-ZMB, der die partnerschaftliche
Zusammenarbeit zwischen der Landes-
hauptstadt Düsseldorf und dem Land-
schaftsverband Rheinland gewährleistet,
freue ich mich über die neue Rubrik
»Düsseldorfer Fenster«, die sich im
Besonderen den Aufgaben und Projek-
ten des LVR-Zentrums für Medien und
Bildung als kommunales Medienzentrum
der Stadt Düsseldorf zuwendet.
Zum Schluss möchte ich mich bei
allen Autorinnen und Autoren für ihre
Beiträge bedanken und wünsche
Ihnen, liebe Leserinnen und Leser,
eine anregende Lektüre,
Ihre
Ulrike Lubek
Düsseldorf, im August 2014
Ulrike Lubek
LVR-Direktorin
Liebe Leserinnen und Leser,
als im vergangenen Dezember die
Ergebnisse des internationalen Pisa-
Tests von 2012 veröffentlicht wurden,
hat sich gezeigt, dass die Reformbe-
mühungen der vergangenen Jahre im
Fach Mathematik zu erfreulichen
Fortschritten geführt haben: Die
deutschen Schülerinnen und Schüler
haben deutlich bessere Leistungen
erbracht als bei der ersten Pisa-Erhe-
bung und liegen nun über dem Durch-
schnitt der teilnehmenden Länder.
Das haben wir zum Anlass genommen,
Mathematik zum Schwerpunktthema
dieses Medienbriefes zu machen.
Es werden neben anderen so unter-
schiedliche Aspekte wie die ge-
schlechtsspezifischen Unterschiede
beim Mathematiklernen, die Bedeutung
der Sprachkompetenz für den Mathe-
matikunterricht, das Thema Rechen-
schwäche oder auch Mathematik in der
Förderschule in den Blick genommen.
Außerdem stellen wir neue Fortbildungs-
angebote des Deutschen Zentrums für
Lehrerbildung Mathematik (DZLM) und
der Medienberatung NRW vor.
Zur Halbzeit des LVR-Verbundprojektes
»1914 – Mitten in Europa« möchten wir
auf die zahlreichen Ausstellungen und
Veranstaltungen entlang der Rhein-
schiene, von Bonn bis Wesel, aufmerk-
sam machen, die für den Herbst und
Winter anstehen. Auch von der geplan-
ten zweitätigen internationalen
Abschlusstagung mit Schüler-Konvent
im Februar 2015 im LVR-Industriemu-
seum Oberhausen werden wir berichten.
In einem weiteren Kapitel wollen wir die
neue Bildungspartnerschaft »Gedenk-
stätte und Schule«, die sich der landes-
weiten Förderung der Erinnerungskul-
tur verpflichtet hat, vorstellen.
Mathematik – Schülerinnen und Schüler für die Zukunft stärken
Foto: Dominik Schmitz, LVR-ZMB
3
VORWORT
Impressum 02
Vorwort 03
Inhaltsverzeichnis 04
Kurzinformationen 06
01 Schwerpunkt Mathematik
> Zeitgemäßer Mathematikunterricht –
mehr als Rechnen 09
> Geschlechterdifferenzen in Mathematik 12
> Mathematik im und am Rollstuhl.
Praxisbeispiele aus der LVR-Anna-Freud-Schule 14
> Dyskalkulie in der Primar- und Sekundarstufe 16
> Diagnose »Rechenschwäche« 18
> Sprache im Mathematikunterricht –
Eine aktuelle Herausforderung für die
Unterrichtsentwicklung und Ausbildung 20
> KIRA – eine Lernplattform für Lehrer 22
> Digitale Werkzeugkompetenzen im Mathematikunterricht 24
> Hilfen zur Entwicklung eines Lernmittelkonzepts 26
> Das DZLM: Qualifizieren – Forschen – Netzwerke bilden
> Mathematikunterricht der Zukunft –
Tagung am 24.09.2014 in Düsseldorf 28
> Geometrie lehren und lernen –
kompetenzorientiert und dynamisch 29
> Stochastik kompakt. Stochastik anwendungs-
und verstehensorientiert unterrichten 31
> GTR kompakt, Basiswissen kompakt 33
> Arithmeum – Museum für Rechenkunst
> Heinz Nixdorf MuseumsForum 34
> Mathe lernen mit YouTube??? 35
02 1914 – Mitten in Europa
> »Wir ungereimten Rheinländer...«
Zwischen Aufbruch und Beharrung. Die Rheinlande
und das literarische Leben 1900 – 1914 37
> Das (verlorene) Paradies.
Expressionistische Visionen zwischen Tradition und Moderne 38
> Playing Lawrence On The Other Side.
Die Expedition Klein und das deutsch-osmanische
Bündnis im Ersten Weltkrieg 39
> Zeichen gegen den Krieg.
Antikriegsplastik von Lehmbruck bis heute 40
> Köln 1914. Metropole im Westen 41
> Orte der Utopie.
Theater- und Raumkonzepte in Zeiten
des Krieges. Ein Europaprojekt 42
> Eurovision – Eine Zwischenbilanz.
Internationale Tagung mit Schüler-Konvent 43
Inhalt – unsere Themen
MEDIENBRIEF
N° 02.2014
Winslow Homer: Blackboard, National Gallery of Art, Washington DC
MEDIENBRIEF | N° 02.2014
4
> Podcast WK I. Der Erste Weltkrieg
in Literatur und Öffentlichkeit 44
> 1914 – 1918: Ein rheinisches Tagebuch.
Quellen aus Archiven des Rheinlands 45
> Gabriel Chevalier: Heldenangst 45
03 Berichte
> Lehrerausbildung an der Schnittstelle
zwischen Fachdidaktik und Schulpraxis:
Digitale Medien im Geschichtsunterricht 47
> Das öffentliche Erinnern gestalten:
Bildungspartner NRW – Gedenkstätte und Schule 49
04 Partner im Verbund
> Planet Schule wird inklusiv 51
> Gelungene Premiere:
Erstes Schulfilmfest NRW macht Lust auf mehr 52
05 Quergedacht
> Denkanstöße! Ein psychologisches
Unterstützungsprogramm für Kollegium und Leitung 54
06 LVR-ZMB intern
> Neue Medien im Verleih 57
> Neue Landeslizenzen bei EDMOND NRW 58
> learn:line NRW – neues Design, verbesserter Service 59
07 Düsseldorfer Fenster
> Begleiten – Qualifizieren – Beraten.
Medienscouts in Düsseldorf 61
08 Besprechungen
> Michael Ballhaus: Bilder im Kopf. 64
09 Lernort Kultur
> Blick in den Spiegel.
Eine Projektwoche für Schülerinnen und Schüler 66
> Das Spiel der Masken.
Ein intergenerationelles Projekt für Menschen
mit Demenz und Vorschulkindern 67
Hinweis
Wir sind bemüht, in unseren Beiträgen Aspekte
des »Gender Mainstream« zu beachten und nach
Möglichkeit auf Personen bezogen sowohl die
weibliche als auch die männliche Form zu nutzen.
Aus Gründen der Vereinfachung und besseren
Lesbarkeit wird dies nicht von allen Autorinnen
und Autoren so gehandhabt. Das möchten wir
respektieren, legen jedoch Wert auf den Hinweis,
dass in der Regel das jeweils nicht erwähnte
Geschlecht mit einbezogen ist. Die Redaktion.
5
INHALT – UNSERE THEMEN
Foto: Stefan Arendt / LVR-Industriemuseum
Kurzinformationen –Wichtiges ganz schnell
6
MEDIENBRIEF | N° 02.2014
»Freizeit inklusiv gestalten!«
Menschen mit Handicap fällt es immer
noch schwer, adäquate Freizeitange-
bote zu finden. Viele Anbieter von
Freizeit- und Ferienmaßnahmen
bemühen sich jedoch um die Integrati-
on behinderter Menschen. Was aber
zeichnet inklusionsorientierte Freizeit-
angebote aus? Welche Erwartungen
haben Menschen mit Beeinträchtigun-
gen an ein gutes Freizeitangebot? Wie
können wir entsprechende Angebote
zum Regelfall machen?
Antworten auf diese Fragen suchten
im Frühjahr 2013 Expertinnen und
Experten in einem Workshop sowie
bei einem Fachdialog »Freizeit
inklusiv gestalten!« in Köln im Herbst
2013.
Die Dokumentation »Freizeit inklusiv
gestalten! Auf dem Weg zu kreativen
und partizipativen Freizeitangeboten«
fasst die Beiträge aus Wissenschaft
und Praxis zusammen. Auf Grundlage
dieser Expertise werden Fortbildungs-
module erarbeitet und erprobt, die
helfen sollen, Freizeit inklusiv zu
gestalten.
Die Dokumentation steht auf www.
mdien-und-bildung.lvr.de zum
Download zur Verfügung.
museum. wie geht das?
Junge Kulturreporterinnen und Kultur-
reporter machen sich auf den Weg in
Museen und fragen: »Museum, wie
geht das?«, »Was machen die Men-
schen, die im Museum arbeiten, den
ganzen Tag?« oder »Woher kommen
die Ideen für Ausstellungen?«
Ausgestattet mit Kamera und Mikrofon
besuchen die Kinder die drei Schau-
plätze des LVR-Industriemuseums in
Oberhausen, Bergisch-Gladbach und
Solingen. Sie schauen sich die
Ausstellungen an, werfen einen
kritischen Blick auf die Mitmach-Stati-
onen und interviewen die Mitarbeite-
rinnen und Mitarbeiter. Nach ihrer
Recherche entscheiden sie, ob sie
dem Museum das Prädikat »kultur.
gut« verleihen.
Ziel des Projektes ist es, die Bereiche
digitale Medien und Museen, die
Kinder und Jugendliche oft nur
getrennt voneinander erfahren, zu
verbinden. Der Umgang mit diesen
Medien prägt Art und Inhalt kindlicher
und jugendlicher Wahrnehmung und
Weltaneignung und ist damit ein
bedeutender Sozialisationsfaktor.
Nachhaltige kulturelle Bildungsarbeit
mit Kindern und Jugendlichen setzt
sich daher mit digitalen Medien in
ihrer Wechselwirkung zur analogen
Welt konstruktiv auseinander.
Die Ergebnisse der Entdeckungstou-
ren sind auf DVD erschienen. Diese
kann kostenfrei bestellt werden - so-
lange der Vorrat reicht. Kontakt: Stefa-
[email protected] oder Tel: 0211
27404-2030.
KinderKinoFest Düsseldorf
Vom 13.-19. November 2014 heben sich
in sieben Düsseldorfer Kinos wieder
die Vorhänge zum 29. KinderKinoFest.
Das diesjährige Motto lautet »Fürein-
ander stark!«. Gezeigt werden aufre-
gende Kinder- und Jugendfilme die
beweisen, dass man gemeinsam viel
erreichen kann. Ein großes Angebot
von Mitmachaktionen beschäftigt sich
mit dem Thema Medien und Film.
Kinder und Jugendliche können bei
diesem Programm selbst aktiv werden
und gemeinsam hinter die Kulissen der
Filmwelt blicken.
Weitere Informationen finden Sie auf
www.kinderkinofest.de
EDMOND NRW personell verstärkt
Mit multimedialen Materialien, Schul-
fernsehsendungen oder Zeitzeichen-
sendungen des WDR guten Unterricht
gestalten, das gelingt mit den vielfälti-
gen Angeboten von EDMOND NRW.
Lehrkräfte, die sich mit einer Schul-
nummer einmal bei EDMOND NRW
angemeldet haben, können per Maus-
klick und Download auf den Medien-
service zur Unterrichtsvorbereitung
und für die Arbeit mit den Schülerin-
nen und Schülern kostenlos und
rechtlich sicher zugreifen.
EDMOND NRW ist ein kommunal-
staatlich finanziertes gemeinsames
Angebot vom LVR-Zentrum für Medien
und Bildung und dem LWL-Medienzen-
trum für Westfalen sowie den kommu-
nalen Medienzentren.
Seit dem 1. Juni 2014 verstärkt Georg
Weber als wissenschaftlicher Referent
das EDMOND NRW-Team im LVR-
Zentrum für Medien und Bildung in
Düsseldorf und steht Ihnen für Fragen
zu EDMOND NRW zur Verfügung.
Kontakt:
Tel: 0211 27404-3183
www.edmond.nrw.de
7
KURZINFORMATIONEN – WICHTIGES GANZ SCHNELL
Zeitgemäßer Mathematikunterricht – Geschlechterdifferenzen –
Sprache im Mathematikunterricht – Dyskalkulie –
Digitale Werkzeugkompetenz – Fortbildungsangebote
01 Schwerpunkt Mathematik
Foto: Inkeri Tunnigkeit
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MEDIENBRIEF | N° 02.2014
Zeitgemäßer Mathematikunterricht – mehr als Rechnen
Was sind eigentlich zentrale Ziele des Mathematikunter-
richts? Warum wird Mathematik durchgehend von Klasse 1
bis zum Abitur mit hoher Stundenzahl unterrichtet,
während sich etwa der Musikunterricht mit dem Kunstun-
terricht abwechseln muss und auch nur mit geringerer
Stundenzahl gegeben wird? Wie sollte Mathematikunter-
richt heute gestaltet sein?
Wer Menschen auf der Straße solche Fragen stellt, erhält
Antworten, die durch deren subjektive Erfahrungen im
Mathematikunterricht geprägt sind. Einige empfinden
Mathematik als »schwierig«, andere als »unverständlich«,
manche mussten kaum lernen und haben trotzdem »alles
verstanden«. Erinnert werden dann häufig klassische Sätze
und Rechenschemata wie der Satz des Pythagoras in einer
zu stark verkürzten Form oder die »drei Grundformeln« der
Prozentrechnungen; auch die Bedeutung des Kopfrechnens
wird immer wieder betont. Häufig entsteht dabei der
Eindruck als habe sich im Mathematikunterricht in den
vergangenen Jahrzehnten kaum etwas verändert und läge
der Schwerpunkt auf Rechen- und Fertigkeitstraining!
Tatsächlich stellt das sichere Rechnen und Anwenden von
Formeln ein unstrittiges Ziel des Mathematikunterrichts
dar und kommt daher der »Kopfmathematik« eine wichtige
Bedeutung zu, aber für ein flexibles Anwenden mathemati-
scher Begriffe und Routinen ist mehr nötig. Hierzu ist es
notwendig, zu verstehen, was hinter den Begriffen und Ver-
fahren steckt, welche Bedeutung und welchen Sinn sie
haben. Und dieses Verstehen ist wichtig für weitergehende
Anwendungen von Mathematik oder Erkundungen in der
Mathematik, die im allgemeinbildenden Mathematikunter-
richt zentral sind und seinen hervorgehobenen Stellenwert
mit begründen. Auch jenseits der Schule braucht es die
Flexibilität mit Mathematik umgehen zu können, weder
Schulbuch noch Lehrperson geben einem vor, welches
Rechenverfahren angewendet werden muss. Wer zwei
Finanzierungsmodelle für eine größere Anschaffung
miteinander vergleichen möchte, muss selbst herausfin-
den, welches mathematische Handwerkszeug hierbei
nützlich ist – und dieses sicher anwenden können.
Der flexible und verständige Umgang mit mathematischen
Begriffen und Konzepten sowie die sichere Anwendung von
Rechenverfahren entfalten ihr Potenzial nur gemeinsam.
Dies wird in aktuellen Bildungsstandards und Kernlehrplä-
nen dadurch berücksichtigt und gestärkt, dass neben
»inhaltsbezogenen Kompetenzen« auch »prozessbezogene
Kompetenzen« als verbindliche Ziele vorgegeben werden.
Dabei geht es um typische Prozesse für das Anwenden und
Betreiben von Mathematik wie Modellieren, Argumentieren
und Problemlösen, aber auch um das fachtypische Kom-
munizieren und das Nutzen von (klassischen und digitalen)
Werkzeugen.
Für einen allgemeinbildenden Mathematikunterricht ist
aber auch von Bedeutung, dass die Schülerinnen und
Schüler erfahren, dass Mathematik nicht nur der direkten
Alltagsbewältigung dient, sondern eine große kulturhistori-
sche Errungenschaft darstellt, zu der sie genauso einen
Zugang wie etwa zur Literatur finden sollten. Mathematik
kann in gewisser Hinsicht als eigene Kultur verstanden
werden, in der mit einer eigenen Sprache und Symbolik vor
allem in Quantitäten oder in Formen erfassbare Sachver-
halte verstanden und gestaltet werden können. Nicht
umsonst zählt der basale Umgang mit Zahlen, Grundre-
chenarten und geometrischen Formen zu den Kulturtechni-
ken. Dabei sind die Objekte der Mathematik grundsätzlich
theoretischer Natur und können dennoch schon auf dem
Niveau der Grundschule hervorragend verdeutlichen, wozu
der menschliche Geist imstande ist und damit eine Faszina-
tion für Mathematik wecken. Gibt es eine größte Zahl? Wenn
Schülerinnen und Schüler zum Ende der Grundschulzeit
verstanden haben, wie Zählen funktioniert und wie schritt-
weise größer werdende Zahlen in unserem Dezimalsystem
gebildet werden, gelangen sie schnell zur Antwort, dass
man doch immer weiterzählen kann. Es kann also keine
größte Zahl geben. Man kann immer noch »Eins dazutun«!
An diesem einfachen Beispiel lässt sich auch mit Schülerin-
nen und Schülern der Unterschied zwischen mathemati-
schem und experimentell-naturwissenschaftlichem
Erkenntnisgewinn diskutieren: Keine Messung, kein
naturwissenschaftliches Experiment kann Belege dafür
9
01 | SCHWERPUNKT MATHEMATIK
MEDIENBRIEF | N° 02.2014
liefern, dass unendlich viele natürliche Zahlen »existieren«.
Beim Umgang mit nur gedanklich präsenten natürlichen
Zahlen, die den Prozess des Zählens mit der Möglichkeit
des fortwährenden Weiterzählens berücksichtigt, sind
beliebig große Zahlen aber eine zwangsläufige Konsequenz.
Da die Objekte der Mathematik theoretischer Natur sind, ist
ein Ringen um die Bedeutung umso wichtiger, sollte die
Frage nach dem Sinn der jeweiligen Thematik eine wichtige
Rolle spielen. Wenn Schülerinnen und Schüler flexibel und
verständig mit Mathematik umgehen können sollen,
müssen sie Mathematik als Antwort auf herausfordernde
Fragestellungen unter Anleitung der Lehrkräfte selbst
entwickeln und sich aneignen können: Für welche Problem-
stellungen wurde die Prozentrechnung erfunden? Wie
erhalte ich einen guten Überblick über eine Fülle von
Daten? Welche Fragestellungen führen auf den Umgang mit
Wahrscheinlichkeiten? Welche Informationen kann einem
die Ableitung einer Funktion liefern? Das Ringen um die
Bedeutung weitergehender Konzepte benötigt einerseits
bestimmte individuell verfügbare fachliche Voraussetzun-
gen, andererseits aber auch den sozialen Austausch. Die
mathematikdidaktische Forschung weist seit langem
darauf hin, dass mathematisches Wissen in einem Prozess
sozialer Konstruktion gewonnen wird. Das heißt, dass der
Kommunikation im Mathematikunterricht eine entscheiden-
de Rolle zukommt: Ich verstehe das so – wie verstehst du
das? Ein verstehensorientierter Mathematikunterricht
benötigt Raum für die Klärung von Verstehensfragen:
Warum können zwei Rechtecke mit ganz unterschiedlichen
Seitenlängen den gleichen Flächeninhalt haben?
Auf der einen Seite ist das gemeinsame Arbeiten an
gleichen Fragestellungen im Mathematikunterricht
wichtig, damit entsprechende Diskussionen – das gemein-
same Ringen um Verstehen – angeregt werden. Auf der
anderen Seite ist erkennbar, dass die seit jeher heteroge-
nen Lerngruppen in unseren Schulen immer heterogener
werden. Die Lernvoraussetzungen der Schülerinnen und
Schüler unterscheiden sich in immer mehr Bereichen
immer stärker voneinander. Dies beginnt bei den fachli-
chen Voraussetzungen für fortgesetzte Lernprozesse im
Mathematikunterricht, geht über die Frage des Unterstüt-
zungspotenzials des sozialen Umfelds, über unterschiedli-
che Kompetenzen in der Unterrichtsprache, hin zu
genderspezifischen Einstellungen zum Fach, weiter über
unterschiedliche Lerngewohnheiten, –strategien und
Zugangsweisen. Durch die schrittweise Umsetzung von
Inklusion werden die Herausforderungen in diesem
Bereich noch größer. Neben der oben betonten Notwen-
digkeit gleicher Fragestellungen im Mathematikunterricht
ist also auch ein großer Bedarf an effektiver Differenzie-
rung vorhanden, die dafür sorgt, dass Schülerinnen und
Schüler gleichermaßen herausfordernde wie zugängliche
Lernumgebungen erhalten. Hier kommt vor allem der
natürlichen oder Selbst-Differenzierung eine wichtige
Rolle zu. Neben der Stufendifferenzierung als Sequenz von
schrittweise schwieriger werdenden Aufgaben und der
Paralleldifferenzierung mit einem Parallelangebot von
zwei oder drei Aufgaben unterschiedlichen Schwierig-
keitsgrads wird hier die Gefahr der zu starren und zu
groben Einteilung nach »gut-schlecht« vermieden und
spielen alle der oben genannten Kriterien zur Differenzie-
rung eine Rolle. Selbstdifferenzierende Aufgaben ermögli-
chen bei gleichen Fragestellungen unterschiedliche
Herangehensweisen und Lösungen auf verschiedenen
Niveaus. Wie dies gehen kann, soll das abgebildete
Beispiel verdeutlichen.
Jonas soll am Wochenende noch zwei ungeliebte
Dinge erledigen und hat sich zwei schöne Dinge
vorgenommen: Zimmer aufräumen, Fußballschuhe
putzen, Schwimmen gehen und Eis essen.
Nun überlegt er, in welcher Reihenfolge er die vier
Dinge erledigen soll.
Wie viele unterschiedliche Reihenfolgen sind
möglich? Gib einige unterschiedliche Reihenfolgen
an!
> Findest du alle möglichen Reihenfolgen?
> Kannst du begründen, warum es keine weiteren
Reihenfolgen geben kann?
> Wie viele Reihenfolgen gibt es, wenn Jonas dem
Grundsatz folgt »Erst die Pflicht – dann das
Vergnügen!«?
> Wie viele Möglichkeiten würde es geben, wenn
Jonas insgesamt sechs Dinge erledigen sollte?
Bei der Aufgabe im Beispiel werden alle Schülerinnen und
Schüler einige mögliche Reihenfolgen angeben können.
Viele werden alle 24 Möglichkeiten finden. Einige verwen-
den dabei vielleicht eine strukturierte Auflistung und
können begründen, dass es keine weiteren geben kann.
10
Diese Struktur kann wiederum Ausgangspunkt für das
Finden einer Formel (4 x 3 x 2) sein, die eine Übertragung
des Ergebnisses auf »sechs Dinge« und eine darüber
hinausgehende Verallgemeinerung ermöglicht. Eine
gemeinsame Fragestellung kann also auf unterschiedli-
chen Niveaus bearbeitet werden und zu unterschiedlich
tiefer Erkenntnis führen. Der Vorteil der gemeinsamen
Fragestellung ist dabei, dass auch diejenigen, die nur
einige Möglichkeiten gefunden haben, beim Austausch in
Kleingruppen oder der gesamten Lerngruppe die weiter-
führenden Überlegungen häufig nachvollziehen können.
Eine Voraussetzung für den produktiven Austausch bleibt
aber immer, dass alle Schülerinnen und Schüler in
gewissem Umfang über sicheres Wissen und Können
verfügen.
Wenn Schülerinnen und Schüler dazu befähigt werden,
mathematische Fragestellungen mithilfe digitaler Werk-
zeuge - zum Beispiel durch den ab August 2014 verpflich-
tenden Einsatz grafikfähiger Taschenrechner - zu bearbei-
ten, erfüllt die Schule die Aufgabe der Berufs- und
Lebensvorbereitung. Schon in zahlreichen Ausbildungsbe-
rufen werden Kenntnisse der Auszubildenden etwa in
Tabellenkalkulation vorausgesetzt. Auch für die kompe-
tente Einschätzung von komplexen Handytarifen kann
dieses Werkzeug mit seiner Dynamik, Werte zu verändern
und Auswirkungen zu betrachten, äußerst hilfreich sein
und dazu beitragen, dass sich niemand »blind« auf den
Tarifrechner im Internet verlassen muss. Digitale Werk-
zeuge spielen jedoch nicht nur eine Rolle beim Anwenden
und Üben von Mathematik, sondern insbesondere beim
Verstehen und Kennenlernen neuer Begriffe und Zusam-
menhänge. Sie bieten damit über die Realisierung von
Berufs- und Lebensvorbereitung hinaus ein erhebliches
Potenzial für die Gestaltung eines zeitgemäßen Mathema-
tikunterrichts. Durch die zeitliche Entlastung um immer
wiederkehrende Routineberechnungen und die Dynamik
und Interaktivität der Geräte und der Software werden Zeit
und Möglichkeiten gegeben, mathematische Zusammen-
hänge zu untersuchen und besser zu verstehen. Wie
verändert sich ein Funktionsgraph, wenn bestimmte Werte
in der Funktionsgleichung verändert werden? Welche
Gemeinsamkeiten und Unterschiede stecken in den
Beispielen, die der Rechner liefert (Graphen oder Terme)?
Digitale Werkzeuge bieten für entsprechende Untersu-
chungen erheblich mehr Möglichkeiten als »Papier und
Bleistift«, und vor allem bieten sie ein wichtiges Instru-
mentarium zur Kontrolle eigener Rechnungen und
Überlegungen. Zu einem zeitgemäßen Unterricht gehört
neben dem bewussten Vertiefen von Fertigkeiten, die auch
ohne Rechner gekonnt sein müssen, vor allem ein Nutzen
der digitalen Werkzeuge für ein tieferes Verstehen von Ma-
thematik. Ein solch verständiger Umgang mit digitalen
Werkzeugen stellt - und das belegen zahlreiche Studien
- einen Mehrwert für das Lernen von Mathematik dar.
Prof. Dr. Bärbel Barzel, Prof. Dr. Andreas Büchter
Bärbel Barzel und Andreas Büchter sind Professorin beziehungsweise Professor für
Mathematikdidaktik an der Universität Duisburg-Essen
Foto: Dominik Schmitz, LVR-ZMB
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01 | SCHWERPUNKT MATHEMATIK
Geschlechterdifferenzen in Mathematik
Bereits in den 1970er Jahren galten in der Forschungsli-
teratur Mädchen als Problemgruppe im Fach Mathematik.
Inzwischen stehen in der bildungspolitischen Diskussion
Jungen stärker im Fokus der Aufmerksamkeit und
werden mit dem Begriff der »neuen Bildungsverlierer«
bezeichnet (Rustemeyer, 2009). Damit hat sich jedoch der
Problembereich Geschlechterdifferenzen in Mathematik
keineswegs erledigt, wie ein Blick auf die Ergebnisse der
PISA-Studie 2012 zeigt, deren Schwerpunkt auf Mathema-
tik lag, während Naturwissenschaften, Problemlösen und
Lesekompetenz als Nebenkomponenten erfasst wurden
(OECD, 2014).
Erfreulicherweise ist zunächst festzuhalten, dass die
15-jährigen Schülerinnen und Schüler in Deutschland in
Mathematik und in Naturwissenschaft besser als in den
vorherigen Erhebungen abgeschnitten haben und ihre
Ergebnisse inzwischen über dem OECD-Durchschnitt
liegen. Bildungsforscher führen das Ergebnis für
Deutschland u. a. auf neu eingeführte Maßnahmen wie
Ganztagsschulen oder verbindliche Bildungsstandards
zurück. Vor allem im Bereich Mathematik sind Schulbü-
cher verbessert worden und geänderte didaktische
Konzepte (die z. B. bei Aufgaben verschiedene Lösungs-
wege zulassen) etabliert worden.
Die aktuelle Pisa-Studie zeigt weiter, dass bedeutsame
Geschlechterunterschiede in fast allen beteiligten Ländern
auftreten, wobei in Deutschland die Leistungsunterschie-
de in Mathematik zwischen Mädchen und Jungen größer
sind als im OECD-Durchschnitt (OECD, 2014, S. 80).
Während 2003 der Leistungsabstand zwischen beiden
Geschlechtern 9 Punkte betrug, hat er sich inzwischen
auf 14 Punkte erhöht. Darüber hinaus erreichen Jungen
nicht nur durchschnittlich bessere Leistungen als
Foto: Dominik Schmitz, LVR-ZMB
12
MEDIENBRIEF | N° 02.2014
Mädchen, sie erzielen auch häufiger Höchstleistungen,
während die Mädchen eher im Mittelfeld liegen.
Es werden verschiedene Ursachen diskutiert, warum
diese Geschlechterunterschiede auftreten; sie reichen von
einem unterschiedlichen Begabungsspektrum bei Mäd-
chen und Jungen, einem unterschiedlich stark ausgepräg-
ten mathematischen Selbstkonzept (vgl. Rustemeyer, 2011,
S. 73ff.), das einen wichtigen Einfluss auf die Mathematik-
leistung hat, bis hin zu geschlechterspezifischem Unter-
richtsverhalten und geschlechtsstereotypen Erwartungen
der Lehrkräfte.
Auffällig ist, dass in den nordischen Ländern (Island,
Finnland, Schweden), in denen eine weitgehende Gleich-
stellung von Frauen und Männern vorhanden ist, Mädchen
im Vergleich zu Jungen ebenso gute oder sogar bessere
Leistungen im Bereich Mathematik erzielen. Die ge-
schlechtsspezifische Variation der Leistungen zwischen
einzelnen Ländern lässt darauf schließen, dass systemati-
sche Unterschiede im Fach Mathematik nicht primär auf
unterschiedliche Begabungen zurück geführt werden
können, sondern in engem Zusammenhang mit stereoty-
pen Einstellungen und Überzeugungen stehen, die zudem
gesellschaftlich verstärkt werden.
So beschreibt die OECD (2014) die geschlechtsspezifische
Einstellung zum Fach Mathematik als besorgniserregend.
Betrachtet man die Selbsteinschätzung der Schülerinnen
und Schüler, so haben Mädchen nach wie vor weniger
Vertrauen in ihre mathematischen Fähigkeiten als Jungen
und sind gegenüber der Mathematik negativer eingestellt.
Dies wird auch dann nicht aufgehoben, wenn Mädchen und
Jungen gleiche Ergebnisse erzielen. Außerdem haben
Mädchen ein geringeres mathematisches Selbstkonzept
und mehr Angst vor Mathematik als Jungen.
Diese Befunde sind seit langem bekannt (vgl. dazu Becker
et al., 2010), aber offensichtlich ist es trotz vielfältiger
Bemühungen noch nicht gelungen, eine bedeutsame
Veränderung in Richtung einer geschlechtergerechten
Schule und geschlechtergerechten Unterrichts im Fach
Mathematik herzustellen (Rustemeyer, 2009). Einen
interessanten Befund konnte Schirner (2013) in einer
umfangreichen videobasierten Studie für das Fach Mathe-
matik nachweisen. Danach gibt es einen signifikanten
Zusammenhang zwischen der Einstellung von Lehrkräften
(»Mathematik ist ein Jungenfach«) und der höheren
Unterrichtsbeteiligung der Jungen, in dem sie häufiger auf-
gerufen werden oder häufiger Feedback erhalten.
Literatur
Becker M., Buhl M., Klewin G., Ludwig P. H., Rustemeyer
R., Tillmann K.- J., & Trautwein U. (2010). Empirische
Forschung im Sekundarbereich. In R. S. Jäger, P. Nenni-
ger, H. Petillon, B. Schwarz & B. Wolf (Hrsg.). Empirische
Pädagogik 1990-2010. Eine Bestandsaufnahme der
Forschung in der Bundesrepublik Deutschland. Bd. 2:
Institutionenbezogene empirische pädagogische For-
schung. (Erziehungswissenschaft, Bd. 30, S. 93-132).
Landau: Verlag Empirische Pädagogik.
OECD (2014). PISA 2012 Ergebnisse: Was Schülerinnen
und Schüler wissen und können. Schülerleistungen in
Lesekompetenz, Mathematik und Naturwissenschaften
(Band I, überarbeitete Ausgabe, Februar 2014). Gütersloh:
W. Bertelsmann Verlag,
http://dx.doi.org/10.1787/9789264208858-de
Rustemeyer, R. (2009). Geschlechtergerechte Gestaltung
des Unterrichts. In: Enzyklopädie Erziehungswissenschaft
Online (EEO), Fachgebiet: Geschlechterforschung, hrsg.
von H. Faulstich-Wieland, Weinheim und München (www.
erzwissonline.de).
Rustemeyer, R. (2011). Einführung in die Unterrichtspsycho-
logie (3. Aufl). Darmstadt: Wissenchafliche Buchgesellschaft.
Schirner, S. (2013). Geschlechtsstereotype Interaktionsef-
fekte. Eine videobasierte Analyse der Schülerbeteiligung.
Berlin: Logos.
Prof. (i.R.) Dr. Ruth Rustemeyer
Prof. Dr. Ruth Rustemeyer, ehemals Universität Koblenz-Landau, Campus Koblenz,
Institut für Psychologie, [email protected]
13
01 | SCHWERPUNKT MATHEMATIK
MEDIENBRIEF | N° 02.2014
Mathematik im und am Rollstuhl.Praxisbeispiele aus der LVR-Anna-Freud-Schule Köln
Eine motorische Beeinträchtigung kann vielfältige Auswirkungen auf das Mathematiklernen haben. Praxisbeispiele aus
dem Unterricht mit körperbehinderten Schülerinnen und Schülern geben Anregungen, wie man den Rollstuhl zum
Gegenstand des Mathematikunterrichts machen und die Inhalte dadurch stärker an die Erfahrungswelt der Lernenden
anknüpfen kann.
Die LVR-Anna-Freud-Schule fördert Kinder und Jugendliche
mit und ohne Körperbehinderungen, chronischen sowie
psychosomatischen Erkrankungen. Als einzige weiterfüh-
rende Förderschule für körperbehinderte Schülerinnen und
Schüler in NRW und nahezu bundesweit unterrichten wir in
der Sekundarstufe I vorwiegend nach Realschulrichtlinien
und in den Jahrgangsstufen 11 bis 13 nach den Richtlinien
der gymnasialen Oberstufe.
Ein Irrtum, der uns in Gesprächen über Inklusion häufig
begegnet, ist die Annahme, die Förderung motorisch beein-
trächtigter Kinder und Jugendlicher beschränke sich auf die
Installation von Fahrstühlen und Rollstuhlrampen, schließ-
lich seien sie ja »nur körperbehindert«. Dass es so einfach
nicht ist, wird deutlich, wenn man bedenkt, wie immanent
wichtig die Motorik für sämtliche Entwicklungsbereiche ist.
Die körperliche Beeinträchtigung behindert viele unserer
Schülerinnen und Schüler auch in ihrer kognitiven und
psychosozialen Entwicklung, in ihrem schulischen und
privaten Alltag und insbesondere auch in ihrem Mathematik-
lernen. Ein Kind beispielsweise, das durch seine Körperbe-
hinderung stark verlangsamt ist, kann in derselben Zeit nur
einen Bruchteil der Übungsaufgaben bewältigen, die seine
Mitschüler erledigen. Ein Kind, das aufgrund seiner
Wahrnehmungsstörung einen Graphen nur schwer vom
Koordinatengitter differenzieren kann, hat große Probleme
Funktionswerte abzulesen.
Zudem unterscheiden sich die Bewegungserfahrungen
körperbehinderter Kinder und Jugendlicher qualitativ von
denen ihrer Mitschüler und sind oft weniger vielfältig, so dass
es ihnen schwerer fällt, die zu lernenden mathematischen
Konzepte an ihre Erfahrungswelt anzubinden. Die Steigung
eines Graphen zu beurteilen gelingt umso leichter, je häufiger
man vom Radfahren Muskelkater hatte. Entfernungen
angemessen zu schätzen gelingt umso besser, je häufiger
man beim 100-Meter-Lauf geschwitzt hat. Einen rechten
Winkel zu erkennen fällt umso leichter, je mehr Fertigregale
man mit seinen Eltern zusammengebaut und verflucht hat.
Begreift man mathematische Operationen als »die Erfassung
der einer Handlung immanenten und dann von ihr abgelösten
quantitativ-räumlichen Struktur« (Bergeest et al. 2011, 279),
so mangelt es vielen motorisch beeinträchtigten Kindern und
Jugendlichen an eben jenen mit Herz und Hand erlebten
»Handlungsschlacken« (Piaget zit. ebd.), von denen das
mathematische Operieren erst allmählich befreit wird.
Der Mathematikunterricht in Lerngruppen mit körperbehin-
derten Schülerinnen und Schülern erfordert also eine
besondere Fachdidaktik, die den Lernenden notwendige
Alltagserfahrungen ermöglicht oder umgekehrt die mathe-
matischen Inhalte an ihre spezifische Erfahrungswelt
anknüpft. Der Rollstuhl gehört in die tägliche Erfahrungswelt
vieler unserer Schülerinnen und Schüler und eignet sich
daher in besonderer Weise dazu, den Lernenden Mathematik
»begreiflich« und »erfahrbar« zu machen. Die folgenden
Beispiele geben Anregungen für den inklusiven Mathematik-
unterricht mit rollstuhlfahrenden Kindern und Jugendlichen.
Längen messen
Beim Messen mit Körpermaßen verwenden rollstuhlfahren-
de Schülerinnen und Schüler statt »Fuß« und »Schritt« ihr
persönliches »Rollimaß«, das einer Radumdrehung
entspricht, und können damit z. B. den Schulhof exakter
vermessen als ihre laufenden Mitschüler.
14
Steigung in Prozent
Nach DIN-Norm darf eine Rollstuhlrampe in öffentlichen
Gebäuden maximal 6 % Steigung aufweisen. Was heißt das
und entsprechen alle Rampen im Gebäude dieser Empfeh-
lung? In der Turnhalle lassen sich deutlich steilere
Rampen bauen, um zu erfahren, welche maximale Stei-
gung jeder Einzelne im Rollstuhl noch überwinden kann.
Winkelsumme im Dreieck
Der Winkelsummensatz für Dreiecke lässt sich anschau-
lich durch Rollstuhlfahren beweisen.
Man zeichnet ein großes Dreieck auf den Boden und fährt
es mit dem Rollstuhl ab. In den Ecken dreht man sich
jeweils um den Innenwinkel, sodass sich die Fahrtrich-
tung ändert. Wenn man das Dreieck einmal auf diese
Weise abfährt, kommt man rückwärts wieder am Start-
punkt an. Damit ist gezeigt, dass die Summe der Innen-
winkel 180° beträgt.
Kreiszahl
Die Suche nach der Zahl als dem Verhältnis von
Kreisumfang zum Kreisdurchmesser lässt sich schüler-
nah durch die Frage motivieren, wie weit sich ein Roll-
stuhl vorwärts bewegt, wenn man den Reifen exakt einmal
dreht. Messungen an unterschiedlichen Rollstuhlmodel-
len mit verschieden großen Reifen legen die Vermutung
nahe, dass konstant ist.
Durchschnittliche und momentane Änderungsrate
Beobachtet man einen aus dem Stand voll beschleunigten
E-Rollstuhl, diskutieren die Schülerinnen und Schüler
kontrovers über den Zusammenhang von Beschleunigung,
Geschwindigkeit und zurückgelegter Strecke. Die Aufzeich-
nung eines solchen Startvorgangs mit einem GPS-Daten-
logger liefert einen quadratischen Weg-Zeit-Graphen. Diese
selbsterhobenen Bewegungsdaten eignen sich dazu, mit
den Schülerinnen und Schülern den Übergang von der
durchschnittlichen zur momentanen Änderungsrate zu
diskutieren, beispielsweise um die Geschwindigkeit zum
Zeitpunkt t = 0,5sec exakt zu bestimmen.
Sinusfunktion
Dreht man den Reifen eines Rollstuhls jeweils um eine Speiche,
misst die Höhe des Luftventils über dem Boden und trägt
dann die Messwerte in ein Koordinatensystem (Drehwinkel
Ventilhöhe) ein, entsteht allmählich eine Sinuskurve.
Tobias Dehler (StR) und Silke Wieg (OStR)
Tobias Dehler und Silke Wieg sind Lehrkräfte an der LVR-Anna-Freud-Schule, Förderschule körperliche und motorische Entwicklung (SI + SII) in Köln
Im Rollstuhl steckt viel Mathematik - Oberstufenschüler entdecken die Sinuskurve, Foto: Marita Schnorbach, LVR-Anna-Freud-Schule, Köln
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01 | SCHWERPUNKT MATHEMATIK
MEDIENBRIEF | N° 02.2014
Dyskalkulie in der Primar- und Sekundarstufe
Ausgehend von den Diagnosekriterien des Klassifikations-
systems ICD 10 (International Classification System of
Diseases; Dilling, Mombour & Schmidt, 2004) liegt bei
einem Kind eine Rechenstörung (Dyskalkulie) vor, wenn
zwischen dem Intelligenzniveau und der schwachen
Rechenleistung eine Diskrepanz besteht, welche nicht allein
durch eine allgemeine Intelligenzminderung oder durch
eine eindeutig unangemessene Beschulung erklärbar ist.
Betroffen sind vorwiegend mathematische Basisfertigkeiten
wie Addition, Subtraktion, Multiplikation und Division.
Ehlert, Schroeders und Fritz-Stratmann (2012) diskutieren
drei zentrale Kritikpunkte an diesem sogenannten Diskre-
panzkriterium:
> Die Problematik der inhaltlichen Überlappungen von
kognitiven und mathematischen Testverfahren, die dazu
führen, dass rechenschwache Kinder oft Schwierigkei-
ten haben, die mathematischen Anforderungen eines
Intelligenztests zu bewältigen und damit auch das
Diskrepanzkriterium zu erfüllen.
> Die methodischen und statistischen Probleme, welche
u. a. nach Anwendung verschiedener Methoden zur
Überprüfung der Diskrepanz zu unterschiedlichen
Diagnoseergebnissen führen.
> Die fehlende Evidenz für die Existenz unterschiedlicher
Gruppen rechenschwacher Kinder (Diskrepanzkriterium
erfüllt vs. nicht erfüllt) in Bezug auf ihr mathematisches
Konzeptverständnis.
Die American Psychiatric Association verzichtet in der
aktuellen Auflage des Diagnostic and Statistical Manual of
Mental Disorders (DSM-V, 2013) bei der Diagnose von
Dyskalkulie auf das Diskrepanzkriterium. Ohne Unter-
scheidung werden nun alle Kinder mit Rechenproblemen
unter der diagnostischen Kategorie »Specific Learning
Foto: Dominik Schmitz, LVR-ZMB
16
Disorder« mit verschiedenen Unterkategorien zusammen-
gefasst. Wie die Umsetzung der Kritik am Diskrepanzkrite-
rium für den deutschen Sprachraum aussehen wird, ist
allerdings noch unklar.
Insbesondere die in der ICD 10 vorgenommene Fokussie-
rung auf schwache Leistungen in den mathematischen
Basisfertigkeiten impliziert gegebenenfalls, dass eine
Dyskalkulie lediglich im Grundschulalter besteht. Zahlrei-
che Untersuchungen zeigen allerdings, dass sich die
Problematik in der Sekundarstufe (nach der 4. Klasse)
keineswegs entspannt (Ehlert, Fritz, Arndt & Leutner, 2013).
Schulleistungsuntersuchungen machen deutlich, dass 20 %
der Schülerinnen und Schüler am Ende des 4. Schuljahres
nur über Mathematikkenntnisse von Zweitklässlern
verfügen (Bos, Lankes, Prenzel, Schwippert, Valtin &
Walther, 2003) und damit einen Lernrückstand von mehr als
2 Schuljahren aufweisen.
Dieser Anteil umfasst weit mehr Schülerinnen und
Schüler mit Leistungen im schulischen Risikobereich als
die in epidemiologischen Studien zur Dyskalkulie angege-
benen 4 - 6 % betroffener Kinder (z. B. Koumoula et al.,
2004; von Aster, Schweiter & Weinhold Zulauf, 2007).
Situationsverschärfend kommt hinzu, dass fehlende
mathematische Basiskompetenzen in der Sekundarstufe
nicht nachgeholt werden (vgl. PISA), was bedeutet, dass
der Bildungserfolg in der Sekundarstufe bereits in der
Grundschule festgelegt wird.
Eine Möglichkeit, dieser Problematik zu begegnen, wird in
einer entwicklungsorientierten Diagnostik gesehen, durch
die bereits zum Schulstart fehlende Kompetenzen aufge-
deckt und im Rahmen schulischer Förderung kompensiert
werden können. Durch Lernstandserhebungen und Tests zur
Erfassung von Basiskompetenzen sind – besonders vor
einem inklusionspädagogischen Hintergrund – entwick-
lungsbegleitend individuelle Entwicklungsverläufe abzubil-
den, um auftretenden Schwierigkeiten und Rückständen
unmittelbar begegnen zu können. Erst eine kontinuierliche
Lernverlaufsdiagnostik legt die Basis für einen binnendiffe-
renzierenden Unterricht und die Planung adaptiver und
zieldifferenter Fördermaßnahmen, die, blickt man auf den
Anteil an Sekundarschülerinnen und –schülern mit Leistun-
gen im Risikobereich, auch ohne inklusionspädagogischen
Hintergrund im schulischen Kontext notwendig sind.
Literatur
American Psychiatric Association (2013). Diagnostic and
statistical manual of mental disorders (5th ed.). Arlington,
VA: American Psychiatric Publishing.
Bos, W., Lankes, E.-M., Prenzel, P., Schwippert, K., Valtin,
R. & Walther, G. (2003). Erste Ergebnisse aus IGLU.
Schülerleistungen am Ende der vierten Jahrgangsstufe im
internationalen Vergleich. Münster: Waxmann.
Dilling, H., Mombour, W. & Schmidt, M. H. (2004). Internati-
onale Klassifikation psychischer Störungen. ICD-10 Kapitel
V (F). Diagnostische Kriterien für Forschung und Praxis.
Bern: Huber.
Ehlert, A., Schroeders, U. & Fritz-Stratmann, A. (2012).
Kritik am Diskrepanzkriterium in der Diagnostik von
Legasthenie und Dyskalkulie. Lernen und Lernstörungen,
1(3), 169-184.
Ehlert, A., Fritz, A., Arndt, D. & Leutner, D. (2013). Mathe-
matische Basiskompetenzen von Schülerinnen und
Schülern in den Klassen 5 bis 7 der Sekundarstufe. Journal
für Mathematikdidaktik, 34, 237-263.
Koumoula, A., Tsironi, V., Stamouli V., Bardani, I., Siapati,
S., Graham-Pavlou, A. et al. (2004). An epidemiological
study of number processing and mental calculation in Greek
school children. Journal of Learning Disabilities, 37, 377-388.
von Aster, M. G., Schweiter, M. & Weinhold Zulauf, M.
(2007). Rechenstörungen bei Kindern. Vorläufer, Prävalenz
und psychische Symptome. Zeitschrift für Entwicklungspsy-
chologie und Pädagogische Psychologie, 39, 85-96.
Miriam Balt, Antje Ehlert und Annemarie Fritz-Stratmann
Dipl.-Psych. Miriam Balt ist Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Inklusionspädagogik der Universität Postsdam. Prof. Dr. Antje Ehlert ist Professorin für Inklusionspädagogik an der Universität Potsdam. Annemarie Fritz-Stratmann ist Professorin für Pädagogi-sche Psychologie an der Universität Duisburg-Essen.
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01 | SCHWERPUNKT MATHEMATIK
MEDIENBRIEF | N° 02.2014
Diagnose »Rechenschwäche«
Wird einem Schüler eine »Rechenschwäche« bescheinigt,
dann ist damit die Suggestion verbunden, dass »im Kopf
dieses Schülers irgendetwas nicht in Ordnung ist«. Dieses
ominöse Defizit soll die Ursache dafür sein, dass jemand
nicht rechnen kann. Oft genug fühlen sich Lehrer dann
nicht mehr dafür zuständig, dass dieses Kind rechnen lernt
– weil es schließlich diese seltsame Krankheit »Rechen-
schwäche« hat. Bei näherem Hinsehen zeigt sich eher,
dass es die Schule ist, die »besondere Schwierigkeiten im
Rechnen« (bSR) erzeugt.
Seit Jahrzehnten versucht man ohne Erfolg, im Kopf des
Kindes die vermeintlichen Ursachen dafür zu finden, dass
manche Kinder nicht rechnen können. Da man nichts
findet, postuliert mancher Autor Hirnschädigungen, die
man »nicht sieht«. Kurzerhand werden aber auch Einnäs-
sen, Haltungsfehler, vermehrter Speichelfluss, Linkshän-
digkeit und Phosphatempfindlichkeit, Lachzustände,
exzessive Masturbation und Schüchternheit zu »mögli-
chen« Ursachen von Rechenschwäche erklärt. Umgekehrt
ist es so, dass Menschen mit bSR geholfen werden kann,
nämlich durch »nachholenden Mathematikunterricht«.
Hier werden Zahl- und Operationsverständnis von der
Basis her aufgebaut, d. h. es wird das nachgeholt, was
eigentlich der Mathematikunterricht leisten sollte. Die
Betroffenen wiederum berichten in auffälliger Konsistenz
von Leidenswegen, die man als Mathematikdidaktiker mit
den Stichworten didaktisches und institutionelles Versagen
belegen würde.
Es erscheint also durchaus sinnvoll, dem Konstrukt der
Rechenschwäche ein anderes Konstrukt der Erklärung von
bSR entgegenzustellen. Ich spreche dabei von »nicht
bearbeiteten stofflichen Hürden (nbsH)«: Das mathemati-
sche Lernen birgt bestimmte Hürden, und im Lehr- bzw.
Lernprozess müssen diese Hürden bearbeitet werden.
Erfolgt dies nicht im für das Individuum notwendigen Maße,
so versteht es nicht. Stoffliche Hürden (sH) nenne ich jene
Foto: Dominik Schmitz, LVR-ZMB18
für den gesamten Mathematikunterricht zentralen basalen
mathematischen Inhalte, die wirklich verstanden werden
müssen, damit man rechnen kann.
Als Ursachen dafür, dass die stofflichen Hürden (sH) nicht
bearbeitet werden, nehme ich einen defizitären Umgang
mit individuellen Denkbesonderheiten und Defiziten der
Schüler an.
Damit verschiebt sich der Ursachenblick auf die bSR. Ich
frage nicht mehr: Welches Defizit im Kind verhindert, dass
das Kind rechnen lernt. Statt dessen frage ich: Welches
Defizit im Unterricht bzw. in der sonstigen institutionellen
Wahrnehmung der Verantwortung für das Rechnenlernen
verhindert, dass das Kind rechnen lernt? Anders gefragt:
Hat die Schule erkannt, welche sH zu bearbeiten sind, und
hat sie es in der notwendigen Weise getan?
Man kann es empirisch so sagen: Ich sehe in fast jeder
Mathematikstunde, warum Kinder hier nicht rechnen
lernen können. Relativ zur schlechten Qualität des existie-
renden Mathematikunterrichts erfüllt es mich sogar mit
großem anthropologischen Optimismus, wie viele Kinder
trotzdem rechnen lernen. Aber ich kenne umgekehrt keinen
einzigen Nachweis und finde auch selbst empirisch keinen
Hinweis, dass es Kinder gibt, die auch bei gutem Mathema-
tikunterricht und eventuell notwendiger zusätzlicher
Förderung nicht rechnen lernen.
Schultheoretisch ist es wiederum so: Wenn es wirklich
Kinder gibt, die per se nicht rechnen können, dann wäre es
nicht begründbar, warum diese Kinder einer Pflicht
unterliegen, am Mathematikunterricht teilzunehmen.
Was sind nun die stofflichen Hürden (sH), also jene
zentralen Verstehenselemente, welche die Schule unbe-
dingt lehren muss, damit alle Kinder rechnen lernen
können? Aus der vorhandenen Literatur und Aussagen von
»Rechenschwäche«therapeuten leite ich die These ab,
dass es die folgenden sind:
> kardinaler, ordinaler und relationaler Zahlbegriff mit
Ablösung vom zählenden Rechnen;
> Logik des Stellenwertsystems;
> Operationslogiken: Welche Fragen stellen die Rechen-
operationen und auf welche Weise beantworten sie
diese Fragen?
> Herausgehoben scheint die Operationslogik der Division,
auch das Verständnis der Division als Verhältnis, als
Voraussetzung der Bruchzahlentwicklung zu sein.
Für den ersten Punkt kann man das so erläutern: Die
Kinder kommen zur Schule und können meist zählend
rechnen. Die Aufgabe des Mathematikunterrichts der
ersten Klasse besteht darin, die Kinder von ihren zählenden
zu nichtzählenden Strategien zu begleiten. Wenn die Schule
hier versagt, dann kommt ein Kind im Zahlenraum jenseits
der 20 nicht mehr mit.
Die Schule versagt hier vor allem dadurch, dass lediglich
Rechentechniken eingeübt werden. Viele Lehrer behaupten,
dass nur die guten Schüler verstehen könnten, warum die
Rechenverfahren funktionieren. Die Schwachen bräuchten
stattdessen Techniken. Es ist aber genau umgekehrt: Die
schwachen Schüler können nur rechnen lernen, wenn sie
verstehen, warum ein Verfahren funktioniert. Für die
starken Schüler ist dieses Wissen wiederum ein Bildungs-
sahnehäubchen.
Man sieht: Ein Mathematikunterricht, der stoffliche Hürden
bearbeitet, ist kein spezieller Unterricht für Schüler mit
einer Krankheit namens Rechenschwäche, ein solcher
Mathematikunterricht wäre einfach nur ganz normaler
guter Unterricht, und zwar für jeden Schüler.
Wolfgang Meyerhöfer
Wolfram Meyerhöfer ist Professor für Mathematikdidaktik an der Universität Paderborn
19
01 | SCHWERPUNKT MATHEMATIK
Sprache im Mathematikunterricht – eine aktuelle Herausforderung für die Unterrichtsentwicklung und Ausbildung
MEDIENBRIEF | N° 02.2014
Sprachkompetenz hat eine hohe
Bedeutung für die Mathematikleis-
tung. Dies hat eine Studie zu den
Zentralen Prüfungen 10 Mathematik
NRW mit 1.500 Lernenden aus
Gesamtschulerweiterungskursen
deutlich gezeigt 1. Bei dieser Prüfung
schnitten sprachlich schwache
Lernende durchschnittlich fast
eineinhalb Noten schlechter ab als
sprachlich starke Lernende. Kein
anderes Hintergrundmerkmal (wie
sozioökonomischer Status, Migrati-
onshintergrund, Zeitpunkt des
Deutscherwerbs, Lesekompetenz)
zeigte einen ebenso hohen Zusam-
menhang zur Testleistung wie die
Sprachkompetenz im Deutschen.
Entgegen landläufiger Annahmen
sind dabei nicht die langen Texte das
Problem, sondern im Gegenteil die
kürzeren Aufgaben mit hoch verdich-
teter Sprache und konzeptuell und
prozessual hohen Anforderungen.
Die Schwierigkeiten der Zehntkläss-
lerinnen und –klässler wurden in
Interviewstudien und Bearbeitungs-
analysen genauer untersucht. Dabei
konnten einige Lesehürden durch
sprachlich komplexe Satzkonstrukti-
onen aufgedeckt werden, die für viele
(nicht nur sprachlich schwache)
Lernenden herausfordernd waren.
1 Prediger 2013, Gürssoy et.al. 2013
Wider Erwarten erzeugten diese
leseschwierigen Aufgaben aber keine
besonderen Schwierigkeiten für die
Beispiel für sprachlich bedingte Hürden für den Aufbau inhaltlicher
Vorstellungen
Wie erklärt man den Unterschied zwischen
»Wie viel Prozent sind 90 € von 120 €« und
»Um wie viel Prozent liegt 120 € über 90 €«?
Sehr viele Lernenden können den Unterschied auch in Klasse 10 in Prüfungs-
situationen noch nicht bewältigen. Um den Unterschied in Lernsituationen zu
verstehen und sich selbst und anderen zu erklären, sind geeignete Sprachmittel
erforderlich, zum Beispiel Satzbausteine wie
»Hier wird der Teil .... auf das Ganze ... bezogen«
»Der Anteil an dem Ganzen ist dann.....«
»Hier wird der Zuwachs von ... über ... anteilig bestimmt«
»Das kann man sich so vorstellen«
sprachlich schwachen Lernenden.
Am relativ schwierigsten für diese
Gruppe – statistisch gemessen mit
Wer über diese Sprachmittel nicht verfügt, droht auch die Vorstellung nicht zu
erwerben. Die graphischen Darstellungen am Prozentstreifen sind für die
Vorstellungsbildung hier (für alle Lernende, aber insbesondere für sprachlich
schwache) von erheblicher Bedeutung. Denn sie können sprachlich entlasten
und die Bedeutungskonstruktion unterstützen.
20
den höchsten DIF-Werten – waren diejenigen Aufgaben, in
denen prozessbezogene Kompetenzen und inhaltliche
Vorstellungen erforderlich waren2.
Fach- und sprachintegrierte Förderung
Das bedeutet: Sprachlich schwache Lernende haben nicht
nur Schwierigkeiten mit dem Lesen von Textaufgaben,
sondern sie lernen im gesamten Unterrichtsprozess
überall dort spürbar weniger, wo kognitiv anspruchsvolle-
re Inhalte thematisiert werden. Gerade Prozesse des
Aufbaus inhaltlicher Vorstellungen und prozessbezogener
Kompetenzen sollten daher sprachlich gestützt werden,
damit sie auch für sprachlich schwache Lernende besser
zugänglich werden. Fach- und sprachintegrierte Förde-
rung führt dabei am besten zum Lernerfolg.
Welche Ansätze sich zur fach- und sprachintegrierten
Förderung eignen, wird derzeit im Dortmunder Projekt
MuM (Mathematiklernen unter Bedingungen der Mehr-
sprachigkeit) in mehreren Teilprojekten ausgearbeitet
und in seinen Wirkungen erforscht.
Qualifizierung von Multiplikatoren
Aus den Ergebnissen dieses Projekts und der Zusammen-
arbeit mit Sprachdidaktikern und Linguistinnen speist sich
eine Qualifizierungsreihe für 65 Multiplikatorinnen und
Multiplikatoren der Sekundarstufe aus 10 Bundesländern,
die von der Autorin im Rahmen des Deutschen Zentrums
für Lehrerbildung Mathematik durchgeführt wird. Thema
der Qualifizierung sind sprachlich bedingte Herausforde-
rungen in Prüfungs- und Lernsituationen sowie facetten-
reiche Ansätze zu ihrer Überwindung durch ganzheitliche
2 Prediger 2013
und fokussierte Förderung inklusive kritischer Bewertung.
Aus der Qualifizierungsreihe soll sich langfristig ein
Arbeitskreis Sprache im Mathematikunterricht entwickeln.
Eine ähnliche Qualifizierungsmaßnahme für Multiplikato-
rinnen und Multiplikatoren an Grund- und Förderschulen
wird in Kooperation mit dem Projekt PIK AS und dem
DZLM von Lilo Verboom, Fachleiterin am ZfsL Duisburg,
von Dezember 2014 bis Mai 2015 durchgeführt. Da sich
bereits im Primarbereich die fachbezogene Sprachförde-
rung zum verständigen Aufbau mathematischer Grund-
vorstellungen als dringend geboten erweist, ist das
Interesse auch an diesem Qualifizierungsangebot
entsprechend hoch.
Literatur
Gürsoy, Erkan; Benholz, Claudia; Renk, Nadine; Prediger,
Susanne; Büchter, Andreas (2013): Erlös = Erlösung?
– Sprachliche und konzeptuelle Hürden in Prüfungsaufga-
ben. In: Deutsch als Zweitsprache 1, 14-24.
Prediger, Susanne (2013): Sprachmittel für mathemati-
sche Verstehensprozesse – Einblicke in Probleme,
Vorgehensweisen und Ergebnisse von Entwicklungsfor-
schungsstudien. In: Andreas Pallack (Hrsg.): Impulse für
eine zeitgemäße Mathematiklehrer-Ausbildung. MNU-
Dokumentation der 16. Fachleitertagung Mathematik.
Neuss: Seeberger, 26-36.
Weitere Artikel unter www.mathematik.uni-dortmund.
de/~prediger/projekte/mum/publikationen.shtml
Susanne Prediger
Susanne Prediger ist Professorin für Grundlagen der Mathematikdidaktik am Institut für Erforschung und Entwicklung des Mathematikunterrichts
21
01 | SCHWERPUNKT MATHEMATIK
Foto: Dominik Schmitz, LVR-ZMB
MEDIENBRIEF | N° 02.2014
KIRA – eine Lernplattform für Lehrer
Das Projekt KIRA (»Kinder rechnen
anders«) ist ein gemeinsames Projekt
der TU Dortmund und der Deutschen
Telekom Stiftung zur praxisnahen
Ausbildung angehender Grundschul-
lehrkräfte. Projektziel ist eine
Verbesserung der Diagnosefähigkeit,
als unabdingbarer Voraussetzung für
die individuelle Förderung der
Schülerinnen und Schüler.
Zu diesem Zweck wurden gezielt
Materialien in Form von Video- und
Kinderdokumenten gesammelt, um
die in den Lehrveranstaltungen
thematisierten Theorien und Konzepte
mit Praxisbeispielen zu untermauern.
Mittlerweile ist die KIRA-Website
(www.kira.tu-dortmund.de) zum
Kernstück des Projekts geworden. Im
Bereich »Material« finden sich aktuell
56 Themenseiten, die zu sechs
zentralen Themen der Grundschulma-
thematik insbesondere Hintergrund-
wissen, Videos, Schülerdokumente
und Literaturtipps enthalten.
Anhand des Themas »Summen von
Reihenfolgezahlen« (Summen
aufeinander folgender Zahlen; vgl.
www.kira.dzlm.de/150) soll beispiel-
haft illustriert werden, wie das
Material zu den verschiedenen
Schwerpunkten angeboten wird.
Einstiegsbeispiel
Ein praxisnahes Beispiel soll das
Interesse an dem jeweiligen Thema
wecken (vgl. Abbildung 1) .
Anschließend werden die Studieren-
den bzw. Lehrkräfte aufgefordert, die
Beispielaufgabe selbst zu lösen.
Damit wird der Bezug zum relevanten
mathematischen Wissen hergestellt.
Gleichzeitig soll erklärt werden,
warum die Anzahl der gefundenen
Lösungen vollständig ist. Ebenso
sollen alle Summen von Reihenfolge-
zahlen bis 50 bzw. für die Zahl 100
gefunden werden.
Hintergrundinformationen
Notwendige Hintergrundinformatio-
nen z. B. über typische Fehler,
erforderliche Kompetenzen oder auch
mögliche Rechen – und Problemlöse- Abbildung 1: Lauras Vorgehensweise
Die Drittklässlerin Laura sucht nach allen Summen aufeinanderfolgender Zahlen, bei denen das Ergebnis höchstens 20 ist:
Verstehen Sie Lauras Vorgehen? Beschreiben Sie Lauras Finde- strategie!
strategien werden aus der Fachlitera-
tur wiedergegeben. Häufig werden die
im Hintergrundwissen genannten
Aspekte an ausgewählten praxisnahen
Materialien wie z. B. Einzelinterviews
mit Grundschulkindern, Kinderdoku-
menten oder auch Unterrichtsepisoden
illustriert. Anschließend wird das zur
Analyse der Vorgehensweisen der Kin-
der notwendige diagnostische Wissen
präsentiert und typische Problemlöse-
strategien von Grundschulkindern
dargestellt (vgl. Abbildung 2).
Analysen
Weitere praxisnahe Materialien sollen
anhand von vorab formulierten
Analysefragen in Anlehnung an die
zuvor erwähnte Theorie betrachtet
und analysiert werden. An manchen
Stellen werden auch Lösungshinweise
für diese Analysen präsentiert.
Anschließend können die Studieren-
den bzw. Lehrkräfte insgesamt sechs
Einzelinterviews von Grundschulkin-
dern betrachten und im Hinblick auf
die benutzten Problemlösestrategien
(vgl. Abbildung 3) oder Argumentati-
onskompetenzen analysieren.
Weiterführende Aufgaben
Weiterführende Fragestellungen unter
Einsatz von zusätzlichen Materialien
ermöglichen eine noch intensivere
Auseinandersetzung – auch im
Bereich des berufsbezogenen
mathematischen Wissens. Im hier
gewählten Beispiel durch die Einzel-
fallanalyse eines besonders begabten
22
Drittklässlers mit Hilfe von Videodo-
kumenten. Die Studierenden bzw.
Lehrkräfte sollen beschreiben, welche
mathematische Entdeckung dieser
Junge macht.
Links und Materialien
Querverweise zu verwandten Themen
auf anderen Internetseiten der KIRA-
Lernplattform, ein Interviewleitfaden
Abbildung 3: Strategien der Kinder analysieren
zum Download sowie Literaturhinweise
bilden den Abschluss jeder Themenseite.
Das Beispiel macht deutlich, dass
durch eine solche, Kriterien geleitete
Beobachtung und Analyse der mathe-
matischen Denkwege von Schülerin-
nen und Schülern eine Schärfung des
diagnostischen Blicks durch Reflexion
und Einordnung von Primär-, Sekun-
där- und Tertiärerfahrungen angeregt
und somit die didaktische Kompetenz
von Lehrkräften ausgebaut wird.
Aktuell nutzen 139 (!) lehrerbildende
Institutionen die Kira-Lernplattform –
aus Deutschland, aus der Schweiz,
Luxemburg, Österreich, Dänemark und
Italien.
Christoph Selter, Daniela Götze und
Lilo Verboom
Christoph Selter ist Professor für Mathematik an der TU Dortmund. Daniela Götze ist Akademische Oberrätin am Institut für Entwicklung und Erforschung des Mathematik- unterrichts an der TU Dortmund. Lilo Verboom ist Fachleiterin am ZfsL Duisburg
Die folgenden Videos zeigen, wie Theresa, Nick und Sonja die Aufgabe »Finde alle Plusaufgaben aus der Reihenfolgezahlen, bei denen das Ergebnis nicht größer als 20 ist« lösen
1. Suchen Sie diejenigen Stellen in den Videos heraus, an denen Sie erkenn, dass die Kinder die im Mathematiklehrplan NRW angegebenen Teilkompetenzen
> probieren zunehmend systematisch und zielorientiert > nutzen die Einsicht in Zusammenhänge zur Lösungsfindung > reflektieren und überprüßen
zeigen.
2. Erörtern Sie anhand eines Videos die Problemlösekompetenzen des Kindes. Erläutern Sie woran Sie das festmachen.
Abbildung 2: Mögliche Strategien von Kindern bei den »Reihefolgezahlen« (Ausschnitt)
23
01 | SCHWERPUNKT MATHEMATIK
MEDIENBRIEF | N° 02.2014
Digitale Werkzeugkompetenzen im Mathematikunterricht
Die Arbeitsgruppe »Digitale Werkzeugkompetenzen« aus
Vertretern des Fachlehrerverbandes MNU und der Fortbil-
dungsorganisation T3 klärt die Frage, über welche Kompe-
tenzen Lernende zum Abitur bzw. nach Abschluss der
Sekundarstufe I beim Umgang mit digitalen Werkzeugen im
Fach Mathematik verfügen sollten (Heintz et al. 2014). Die
Kerngedanken werden hier dargestellt.
Werkzeuge und Werkzeugkompetenzen im
Mathematikunterricht
Angesichts der künftigen flächendeckenden Nutzung
digitaler Werkzeuge im Mathematikunterricht der Sekun-
darstufe II ergeben sich Herausforderungen für fachdidak-
tische und unterrichtliche Weiterentwicklungen auf den
Ebenen Lernkontexte und Aufgaben, Konzeption von
Lehrerfortbildungen und Werkzeugkompetenzen. Um in
überzeugender Weise unterrichtliche und aufgabenbezoge-
ne Neuerungen im Unterricht in die Kollegien zu bringen
und für diese in Fortbildungen zu werben, ist die Klärung
des Begriffs der Werkzeugkompetenzen notwendig.
Wir haben uns für die folgende Arbeitsdefinition von Werk-
zeugkompetenz mit besonderem Blick auf digitale Werkzeuge
entschieden:
Werkzeugkompetenz bedeutet, mit Werkzeugen
kompetent Mathematik zu betreiben
Dies bringt zum Ausdruck, dass Werkzeuge zielgerichtet
und fachlich zum Einsatz kommen: zur Bearbeitung
mathematischer Probleme und zur Unterstützung des
Lernens von Mathematik. Unter Werkzeugkompetenz
verstehen wir explizit mehr als die Bedienung von Geräten
und Programmen! Für uns steht die Mathematik im
Vordergrund.
Unterrichtsbeispiel Optimierung (Klasse 8-10)
Den Mehrwert von Multirepräsentationswerkzeugen wie
GeoGebra, das Fenster für Geometrie, Tabellenkalkulation,
Funktionenplotter und Computeralgebra aufweist, verdeut-
lichen wir an folgender Aufgabenstellung:
Eine Gerade schneidet die beiden Koordinatenachsen.
Zwischen der Geraden und den beiden Achsen liegt ein
Rechteck. Ein Rechteckpunkt soll auf der Geraden liegen
und zwei Rechteckseiten auf den Achsen. Gesucht ist das
flächengrößte Rechteck unter einer Geraden, die die
x-Achse und die y-Achse im positiven Bereich schneidet.
Im Geometrie-Fenster (Abb. 1, links) kann die Grundseite
des Rechtecks durch Ziehen am Punkt ‚Zug‘ variiert
werden. Während hastiges Ziehen nur die Erkenntnis liefert,
dass der Flächeninhalt sich ändert, wird bei gezieltem,
schrittweisem Ziehen deutlich, dass beim Vergrößern der
Grundseite der Flächeninhalt erst schnell und dann
langsamer wächst, sein Maximum annimmt, dann langsam
kleiner wird und schließlich stark abnimmt. In der Tabellen-
kalkulation werden Eigenschaften der quadratischen
Funktion bzw. ihrer Graphen, wie Extremstelle, Nullstellen,
Symmetrie, erkennbar. Damit wird die Reflexion über diese
Eigenschaften und mathematische Erkenntnisse ermög-
licht: Warum wird das Maximum genau in der Mitte des
betrachteten Intervalls angenommen? Warum ist der
maximale Flächeninhalt genau halb so groß wie der
Flächeninhalt des von den Achsen und der Geraden
eingeschlossenen Dreiecks? Worin liegt die Symmetrie des
Graphen begründet?
Das Beispiel »Optimierung« zeigt exemplarisch, dass
> gezielter und kompetenter Gebrauch von Geometrie-
fenster, von Tabellenkalkulation und von Funktionen-
plotter ein mächtiges heuristisches Instrument darstellt,
> für verschiedene Fragestellungen unterschiedliche Dar-
stellungen (geometrische Visualisierung, Tabelle, Graph,
Term) ihren jeweils eigenen Beitrag leisten können,
> Funktionen erst im Zusammenspiel der unterschied-
lichen Darstellungsformen ihren Reichtum offenbaren.
24
Dokumentation von Bearbeitungsprozessen
Bei der Arbeit mit digitalen Werkzeugen stellt sich die
Herausforderung, die Arbeitsergebnisse in adäquater Weise
zu dokumentieren. Die Beispiele in Abb. 2 und 3 (Jgst. 10)
zeigen entscheidende Unterschiede der Dokumentation auf:
Konsequenzen für die Fortbildung
Wir halten Fortbildungskonzepte, die – angetrieben durch
den aktuellen Hype im Bereich der Smartphone- und
Tablet-Technologie – in der Darstellung und Erprobung von
Apps bestehen, für wenig sinnvoll, da die Apps meistens
Insellösungen sind. Gezielt haben wir uns bei den Empfeh-
lungen für solche Werkzeuge entschieden, die verschiede-
ne Repräsentationsformen vereinen und auf verschiedenen
Hardware-Plattformen lauffähig sind. Wir betrachten es als
eine zentrale Aufgabe für Fortbildung, dass die Teilnehmer
dabei an konkreten Aufgabenstellungen erfahren, wo und
wie durch digitale Mathematik-Werkzeuge ein didaktischer
Mehrwert entsteht. Dazu wollen wir mit unserem ausge-
führten Unterrichtsbeispiel beitragen.
Literatur
Heintz, Gaby; Elschenbroich, Hans-Jürgen; Laakmann, Heinz;
Langlotz, Hubert; Poethke, Mario; Rüsing, Michael; Schacht,
Florian; Schmidt, Reinhard; Schmidt, Ulla; Tietz, Carsten
(2014): Digitale Werkzeugkompetenzen von Klasse 5 bis zum
Abitur. (Erscheint 2014 bei MNU, Verlag Seeberger, Neuss)
Gaby Heintz, Hans-Jürgen Elschenbroich und
Dr. Florian Schacht
Gaby Heintz ist Fachleiterin und Kernseminarleiterin am ZfsL Neuss. Hans-Jürgen Elschenbroich ist externer Mitarbeiter der Medienberatung NRW. Dr. Florian Schacht arbeitet am Institut für Entwicklung und Erforschung des Mathematikunterrichts der Fakultät für Mathematik der TU Dortmund
Abbildung 1: Optimierungsaufgabe, bearbeitet in GeoGebra
Abbildung 2: Timos Lösung
Abbildung 3: Svenjas Lösung
Timos Lösung (Abb. 2) ist nicht verständlich für jene, die
nicht das gleiche System nutzen wie er. Gleichwohl eignet
sich Timos Dokumentation, um zu Beginn eines Lernprozes-
ses festzuhalten, wie er eine lineare Regressionsfunktion
ermittelt hat. Svenjas Dokumentation (Abb. 3) nutzt mit dem
solve-Befehl zwar werkzeugsprachliche Elemente, verdeut-
licht gleichzeitig die mathematische Idee, dass sie die
Nullstellen einer gegebenen Funktion sucht. Die Beispiele
zeigen auch, wie wichtig Kriterien für die Nutzung von
Werkzeugsprache im Lernprozess und in Klausuren sind
25
01 | SCHWERPUNKT MATHEMATIK
Hilfen zur Entwicklung eines Lernmittelkonzepts
Die beruflichen Aufgaben von Lehrkräften sind vielfältig.
Neben der Kernaufgabe des Unterrichtens und Erziehens
nehmen vor allem konzeptionelle Arbeiten im Rahmen der
Schulentwicklung einen immer größeren Raum ein. Dazu
gehören z. B. die Erarbeitung von schulinternen Lehrplänen
und Lernmittelkonzepten.
Im fachlichen Lernmittelkonzept legen die Mitglieder einer
Fachkonferenz verbindlich geeignete Lernmittel für das
Fach fest und vereinbaren, wie grundlegende Lernkompe-
tenzen in den verschiedenen Lernphasen der Jahrgangsstu-
fen systematisch eingeführt und weiterentwickelt werden.
In Anlehnung an die Hilfe des Ministeriums für Schule und
Weiterbildung des Landes NRW zur Erarbeitung eines
schulinternen Mathematikcurriculums1 hat die AG Mathe-
matik der Medienberatung NRW eine Hilfe zur Entwicklung
eines Lernmittelkonzepts exemplarisch am Beispiel der
Jahrgangsstufe 7/8 entwickelt.
Dem Lernmittelerlass entsprechend werden darin Anre-
gungen für Hilfen im Web gegeben, um den Ansprüchen des
Erlasses gerecht zu werden, wie beispielsweise
> Eröffnung individueller Lernwege> Entdeckendes Lernen> Selbstständiges Arbeiten
1 »Lernmittelkonzept Mathematik« unter http://www.medienberatung.schulministe-rium.nrw.de/Medienberatung/Publikationen/aktuelle-Publikationen/LMK_Mathe.html, »Fachliche Lernmittelkonzepte« unter http://www.medienberatung.schulministerium.nrw.de/Medienberatung/Publikationen/aktuelle-Publikationen/fachliches-LMK.html
Fachliche Gegenstände Digitale Ergänzung : Schülermaterial Digitale Ergänzung: Lehrermaterial
Rationale Zahlen Spielplan
http://www2.klett.de/sixcms/media.php/229/720530-0101_i7re98.pdf
Zahlenkarten
http://www2.klett.de/sixcms/media.php/229/720530-0161_362hz9.pdf
Spielplan »Hin und her«
http://www2.klett.de/sixcms/media.php/229/720530-0162_7ui58k.pdf
http://www.realmath.de/Neues/Klasse7/rationalzahl/addundsubzahl2.html
(...)
http://www.hs-euk-lid.de/Dokumente/EXCEL/ rationale_Zahlen_animiert.xls
https://www.geogebratube.org/student/m3513
Funktionen Dynamische Funktionenplotter zur Erarbeitung von Parametereinflüssen in linearen und quadratischen Funktionsgleichungen (Service CD Lambacher-
Schweizer)
Modellieren mit Hintergrundbildern (Service CD Lambacher-Schweizer)
Regressionen als Black Box in Tabellenkalkulation
(...)
FlächenDreieckeVierecke / VieleckeWinkel Kreis (nur Gym.)
(...)
Winkelsumme im Dreieck
http://www.klett.de/software/demo/742611-0721/135_Winkelsumme_ Dreieck.html
http://www2.klett.de/sixcms/media.php/229/742231_0731.pdf
www.hs-euklid.de/Dokumente/DGS/html_dyn/Winkelsummen.html
(...)
Winkelsumme im Dreieck
http://www.hs-euk-lid.de/Dokumente/DGS/ html_dyn/Winkelsummen.html
Abbildung 1: Digitale Zusatzmaterialien zum Schulbuch, Jahrgang 7/8 (Auswahl!)
26
MEDIENBRIEF | N° 02.2014
Dass ein solches Konzept methodische und mediale Vielfalt
fördert, ist selbsterklärend (Abbildung 1). In einem Tableau
finden Lehrkräfte digitale Ergänzungsmaterialien für
Schülerinnen und Schüler sowie für Lehrerinnen und
Lehrer, exemplarisch für die Jahrgangsstufe 7/8 aufgelistet.
Den fachlichen Inhalten der Kernlehrpläne Mathematik
werden hier digitale Materialien zugeordnet. Diese haben
verschiedene Funktionen, die anhand von Icons kategorisiert
werden. Dabei wird unterschieden zwischen Materialien für
die Schüler- und die Lehrerhand. Neben Materialien zur
Online-Nutzung findet sich dort auch eine Vielzahl von
Lehr- und Lernmitteln, die als Download zur Verfügung
stehen. Alle Links in den Tableaus sind bei digitaler
Nutzung direkt aus dem Dokument aufrufbar, so dass sie
direkt nutzbar sind.
Icon als Orientierungshilfe in den Tableaus
Computer Schüler/innen: Lernmittel, mit denen
die Schüler/innen an ihren Rechnern arbeiten.
Ausdruck Schüler/innen: Lernmittel, die für
Schüler/innen ausgedruckt werden können.
Computer Lehrer/innen: Lehrmaterialien, mit
denen Lehrer/innen an ihren Rechnern arbeiten
Ausdruck Lehrer/innen: Lehrmaterialien für die
Lehrerhand zum Ausdrucken
Internet: Lernmittel und Lehrmaterialien, die nur
über das Internet genutzt werden können
Software
Beamer: Lernmittel zur Präsentation in Lerngruppen
(z. B. per Beamer oder Präsentationsboard)
Die Auswahl der digitalen Lernmittel sollte wohlbedacht
sein. Nicht der Einsatz um des Mediums willen, sondern die
sich aus dem Mathematikunterricht ergebende Notwendig-
keit sollte dabei im Vordergrund stehen.
Leitfragen für die Auswahl digitaler Lernmittel sind z. B.
> Inwiefern passt das digitale Lernmittel zu den im
Kernlehrplan verankerten inhalts- und prozessbezoge-
nen Kompetenzen?
> Wird das verstehens- und kompetenzorientierte Lernen
oder Üben unterstützt?
> Wird ein Anschauungs- und Darstellungswerkzeug oder
ein technisches Hilfsmittel benötigt?
> Passt es zu den mathematischen Darstellungen des
Unterrichts?
> Dient das Lernmittel als Werkzeug zur Differenzierung
oder zur Förderung (individueller) Denkwege?
> Regt es weiterführende mathematischer Aktivitäten an?
> Werden Schülerinnen und Schüler aktiviert?
Das Konzept wird im Rahmen der Fachtagung »Mathema-
tikunterricht der Zukunft – Mehrwert digitaler Werkzeuge«,
am 24. September 2014 in Düsseldorf vorgestellt.
Informationen zum Programm und zur Anmeldung finden
Sie unter http://www.kt-termine.nrw.de/app/kteam/Event/
event_MBBR.asp?P=event&ENr=22152&KNr=0.
Sabine Kliemann und Wilfried Dutkowski
Sabine Kliemann ist Mitglied der AG Mathematik der Medienberatung NRW. Wilfried
Dutkowski ist pädagogischer Mitarbeiter der AG Mathematik der Medienberatung NRW
und kommissarischer Schulleiter
Lernmittel sind Medien, die das Lernen unterstützen.
Im Mathematikunterricht werden neben dem Schul-
buch als Leitmedium auch andere Druckerzeugnisse
wie Formelsammlungen, Arbeitshefte und Kopiervor-
lagen, aber auch der Taschenrechner und digitale
Medien als Lernmittel genutzt.
Digitale Medien sind mittlerweile integraler Bestand-
teil des Alltags und der Lebenswirklichkeit unserer
Schülerinnen und Schüler. Informations- und Kommu-
nikationstechnologien werden in Alltag und Freizeit in
zunehmendem Maße genutzt. Dadurch ergibt sich die
Notwendigkeit einer systematischen Vermittlung von
Medienkompetenzen im Unterricht mit dem Ziel, die
Schülerinnen und Schüler zu einem sach- und situati-
onsgemäßen Umgang zu führen, Medien reflektiert
und kritisch zu nutzen und Lernprozesse durch die
Nutzung geeigneter Medienangebote zu unterstützen.
27
01 | SCHWERPUNKT MATHEMATIK
MEDIENBRIEF | N° 02.2014
Das DZLM: Qualifizieren – Forschen – Netzwerke bilden
teams mehrere mehrtägige Fortbildungsreihen für Lehr-
kräfte angeboten. Unter anderem sind dies: GEOMETRIE
kompakt, STOCHASTIK kompakt und GTR (=Graphischer
Taschenrechner) kompakt und demnächst auch BASIS-
KOMPETENZEN kompakt.
Weitere Informationen erhalten Sie beim DZLM (www.dzlm.
de), bei der Medienberatung NRW (www.medienberatung.
nrw.de), bei den Dezernaten 46 der Bezirksregierungen und
bei den Kompetenzteams (www.kompetenzteams.nrw.de).
Darüber hinaus bieten die DZLM-Standorte regionale
Fortbildungen und Lehrertage an. In den Schuljahren
2012/13 (Primarstufe und Sek I) und 2013/14 (Primarstufe)
fanden ganzjährige Fortbildungskurse für Mitglieder der
K-Teams NRW statt. Für die Zukunft sind weitere spezielle
Angebote in Planung, die sich differenziert an die K-Teams
aller Schulstufen richten werden.
Prof. Dr. Rolf Biehler
Rolf Biehler ist Professor an der Universität Paderborn und Leiter der Abteilung
Sekundarstufe II des DZLM
Das Deutsche Zentrum für Lehrerbildung Mathematik (DZLM)
unterstützt engagierte Pädagoginnen und Pädagogen dabei,
Verständnis und Begeisterung für das Fach Mathematik zu
wecken. Das DZLM ist deutschlandweit tätig und ist eine
Initiative der Deutsche Telekom Stiftung, die das Zentrum
finanziell unterstützt. Im Fokus steht dabei die Fort- und
Weiterbildung von Multiplikatorinnen und Multiplikatoren -
also von Lehrkräften und Elementarpädagoginnen und
-pädagogen, die andere Pädagoginnen und Pädagogen
fortbilden, beraten und deren Unterrichtsentwicklung sowie
Bildungs- und Erziehungsarbeit unterstützen und begleiten.
Daneben bietet das DZLM auch Fortbildungen direkt für
Lehrkräfte im Bereich der Mathematik an.
Unter Führung der Humboldt-Universität zu Berlin sind an
dem Konsortium folgende Hochschulen - mit Schwerpunkt
NRW - beteiligt: Freie Universität Berlin, Ruhr-Universität
Bochum, Technische Universität Dortmund, Universität
Duisburg-Essen, Pädagogische Hochschule Freiburg und
Universität Paderborn. In NRW werden gemeinsam mit dem
Ministerium für Schule und Weiterbildung, der Medienbera-
tung NRW, den Bezirksregierungen und den Kompetenz-
»Mathematikunterricht der Zukunft«Am Mittwoch, 24. September 2014, 10 – 17 Uhr, veran-
stalten die Medienberatung NRW (AG Mathematik) und
das Deutsches Zentrum für Lehrerbildung Mathematik
(DZLM) in Düsseldorf die Fachtagung »Mathematikun-
terricht der Zukunft - Mehrwert digitaler Werkzeuge«.
Die Tagung richtet sich an Mathematikmoderatorinnen,
Fachberaterinnen, Medienberaterinnen, die Dezernate 46
der Bezirksregierungen sowie an die Fachdezernentinnen
der Bezirksregierungen in Nordrhein-Westfalen.
Für den Mathematikunterricht der Zukunft spielen digitale
Werkzeuge eine immer größere Rolle. Dabei gilt es zahl-
reiche Aspekte, die zu bedenken sind: Welchen Einfluss
hat dies auf das Lernen und Lehren von Mathematik vor
dem Hintergrund der gesellschaftlichen Veränderungen?
Wie müssen sich Schulen vorbereiten, um den neuen
Anforderungen gerecht zu werden? oder Welchen Stellen‑
wert sollen digitale Werkzeuge in den verschiedenen Jahr‑
gangsstufen haben?
Den Einführungsvortrag hält Prof. Dr. Bärbel Barzel
(Universität Duisburg‑Essen)
Weitere Informationen zum Program und zur Anmeldung finden Sie unter: www.lehrerfortbildung.schulministerium.nrw.de/app/kteam/event/event_MBBR.asp?P=event&ENr=22152&KNr=0
28
Flächeninhalte von Vierecken, Ähnlichkeit/ Strahlensätze).
Ein weiterer Aspekt ist dabei, wie prozessbezogene Kompe-
tenzen (Argumentieren, Problemlösen, Präsentieren) mit
diesen Inhalten und dem Einsatz digitaler Werkzeuge
verknüpft werden können. Grundlage sind vorbereitete
dynamische Arbeitsblätter.
Modul B: Handlungsorientierter Geometrieunterricht –
mit und ohne digitale Werkzeuge
Im Modul B werden handlungsorientierte Methoden (z. B.
Zerlegungsbeweise zum Satz des Pythagoras) mit Papier
und Schere durchgeführt, siehe Abbildung 4. Im Vergleich
zur händischen Erarbeitung wird am Satz von Pythagoras
der Mehrwert des digitalen Werkzeuges herausgearbeitet,
dazu werden auch Tablets verwendet (siehe Abbildung 2).
Dessen Möglichkeit, Irrwege aus dem Lernprozess und
Lösungen zu Arbeitsergebnissen zu dokumentieren, stellt
für den Lehrer einen didaktisch-methodischen Vorteil dar.
Geometrie lehren und lernen – kompetenzorientiert und dynamisch
Dynamische Geometrie-Software gehört zu den Standard-
werkzeugen im Mathematik-Unterricht, dennoch ist ihr
Einsatz noch nicht Alltag in den Schulen. Das Deutsche
Zentrum Lehrerbildung für Mathematik (DZLM) hat
zusammen mit der Medienberatung NRW einen viertägigen
Kurs »Dynamische und kompetenzorientierte Sicht auf die
euklidische Geometrie« entwickelt und an den Standorten,
Düsseldorf, Essen und Paderborn durchgeführt. Die
Fortbildung orientiert sich an den inhaltsbezogenen und
prozessbezogenen Kompetenzen der Kernlehrpläne und
richtet sich an Lehrkräfte, die in der Sekundarstufe I
unterrichten. Als Software wird GeoGebra eingesetzt. Die
Fortbildung umfasst folgende vier eintägige Module:
Modul A: Geometrie dynamisch lehren und lernen
Die Teilnehmer lernen im Modul A aus Schülersicht kennen,
wie man mit dynamischen Arbeitsblättern erfolgreich und
effizient Geometrie entdecken kann. Sie erfahren die
Spezifika und Vorteile von Zugmodus, Spur/ Ortslinie,
Schiebereglern und dynamischen Messungen und Berech-
nungen (siehe Abbildung 1).
Dabei können die klassischen geometrischen Sätze als
Invarianzen im Zugmodus entdeckt werden (Winkel am
Dreieck, Besondere Punkte und Linien am Dreieck, Abb. 1: Spurmodus
Abbildung 2: Ideenfindung durch Tablets
GEOMETRIE kompakt Beispiel 1-1:
Zu einem Dreieck ABC sind die Mittelsenkrechten ma und mb konstruiert.
a) Ziehe an C und beobachte den Schnittpunkt P der Mittelsenkrechten.
b) Lasse P eine Spur zeichnen (rechte Maustaste auf P, »Spur ein«).
Auf welcher Linie bewegt sich P?
Abbildung 1: Spurmodus
29
01 | SCHWERPUNKT MATHEMATIK
Abbildung 4: Verbindung von Geometrie und Algebra am Beispiel des Satzes von
Pythagoras
Weiterhin werden Methoden des kooperativen Lernens
erprobt, für den Einsatz im Unterricht reflektiert und als
Vertiefung zum Handling von GeoGebra eigene Konstruktio-
nen aus Schülerperspektive durchgeführt. Fragen der
Leistungsbewertung mit und ohne digitale Werkzeuge
runden das Modul B ab.
Modul C: »Ich hab’s: Geometrie prozessorientiert
unterrichten«
Im Modul C geht es darum, anhand von guten und schulfor-
mangemessenen Problemlöseaufgaben, die mit und ohne
digitale Werkzeuge lösbar sind, Lösungsstrategien (Heuris-
men) bewusst zu machen. Darüber hinaus lernen die
Lehrkräfte, wie die Heurismen als Gegenstand des Geomet-
rieunterrichts systematisch gelernt werden können, damit
diese dann effektiv und kontinuierlich im eigenen Geomet-
rieunterricht eingesetzt werden können. Durch den Einsatz
von GeoGebra beim Problemlösen und explorativen und
entdeckenden Beweisen wird der Werkzeugcharakter von
DGS erweitert und der Aspekt des heuristischen Denkwerk-
zeugs in den Fokus gestellt. Das Beispiel zum Satz von
Varignon (siehe Abbildung 3) zeigt, wie die Schülerinnen
und Schüler die Gesetzmäßigkeiten entdecken können.
Dabei sollen sie – unterstützt durch dynamische Geometrie-
Software – eigene Beweisideen erarbeiten, vermitteln und
erste (präformale) Beweise führen.
b-Quadrat gleich c-Quadrat!« aufsagt oder ob man damit
ein Bild eines rechtwinkligen Dreiecks mit Quadraten über
allen Seiten verbindet. Mit Hilfe dieses Bildes und einem
visualisierten Beweis (siehe Abbildung 4) kann diese
Behauptung einsichtig und damit nachhaltiger vermittelt
werden. Diese Verbindungen werden thematisiert und der
Perspektivwechsel bewusst angegangen, sowie deren
Implementierung in Lernmittel- und Medienkonzepte.
Nachhaltigkeit
Die Konzeption solcher viertägiger kompakter und aufein-
ander abgestimmter Fortbildungen, die sich insgesamt
über ein halbes Jahr erstrecken und zwischen den Fortbil-
dungstagen Zeit für eigene Praxis-Erfahrungen geben, ist
ein Novum und setzt sich bewusst von halbtägigen oder
ganztägigen ‚Eintagsfliegen‘ ab, um eine stärkere Wirksam-
keit zu erreichen.
Rolf Biehler, Wilfried Dutkowski, Hans-Jürgen
Elschenbroich, Gaby Heintz,Katrin Hollendung und Ana Kuzle
Rolf Biehler ist Professor an der Universität Paderborn und Leiter der Abteilung Sekundar- stufe II des DZLM. Wilfried Dutkowski ist pädagogischer Mitarbeiter der Medienberatung NRW und kommissarischer Schulleiter. Hans-Jürgen Elschenbroich ist externer Mitarbeiter der Medienberatung NRW. Gaby Heintz ist Fachleiterin und Kernseminarleiterin am ZfsL Neuss. Katrin Hollendung ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Paderborn. Ana Kuzle hat eine Vertretungsprofessur an der Universität Osnabrück.
Modul D: Brücken bauen: Geometrie, Algebra und Funktionen
Die Schulmathematik wird üblicherweise in zwei unter-
schiedliche Themenfelder Geometrie und Algebra/Funktio-
nen gegliedert. Das Modul D zeigt Brücken, um unter-
schiedliche Zugangsweisen zu mathematischen Strukturen
zu ermöglichen. Dabei stehen die Grundrechenarten und
Rechengesetze gleichberechtigt neben algebraischen
Sätzen wie den binomischen Formeln oder dem Satz des
Pythagoras. Es ist ein Unterschied, ob man den mathema-
tisch verkürzten Satz des Pythagoras als »a-Qudrat plus
Abbildung 3 : Entdecken, Argumentieren und Beweisen mit DGS am Beispiel
des Satzes von Varignon
Rechteck Quadrat Raute
Raute Quadrat Rechteck
30
MEDIENBRIEF | N° 02.2014
Stochastik kompakt. Stochastik anwendungs- und verstehensorientiert unterrichten
Durch die Einführung des Kernlehrplans Mathematik für
die Sekundarstufe II und den Erlass zum verpflichtenden
Einsatz des grafikfähigen Taschenrechners (GTR) in der
Sekundarstufe II ergibt sich eine neue Verbindlichkeit,
Stochastik in der Oberstufe werkzeuggestützt zu unterrich-
ten. Dies stellt viele Lehrkräfte in Nordrhein-Westfalen vor
neue Herausforderungen. Dabei kann der verpflichtende
Einsatz digitaler Werkzeuge insbesondere im Stochastikun-
terricht mächtige verständnisfördernde Unterrichtsmög-
lichkeiten in den Kompetenzfeldern Modellieren, Simulie-
ren und Visualisieren liefern, wie in der hier vorgestellten
Fortbildungsreihe aufgezeigt wird.
Die Fortbildungsreihe »STOCHASTIK kompakt« wird in
einer Kooperation des Deutschen Zentrums für Lehrerbil-
dung Mathematik (DZLM) und der Arbeitsgruppe Mathema-
tik der Medienberatung NRW Lehrkräften in NRW ab dem
Schuljahr 2014/15 angeboten. Der Fokus liegt in der
Umsetzung der im Kernlehrplan zur Stochastik geforderten
Inhalte mit dem Werkzeug GTR. Dabei greift die Reihe auf
Qualifizierungserfahrungen aus den vergangenen beiden
Schuljahren zurück. Das Fortbildungsteam und die entstan-
denen dezentralen Lehrernetzwerke freuen sich auf die
kommende Durchführung mit neuen Impulsen aus der
Zusammenarbeit von Experten aus der Unterrichtspraxis,
der mediengestützten Unterrichtsentwicklung sowie der
Stochastik und ihrer Didaktik.
Die Fortbildungsreihe umfasst vier Fortbildungsmodule im
Umfang von jeweils einem ganzen Tag. Besondere Akzente
setzen wir auf den Einsatz von Simulationen und auf die
Modellierung von Problemen aus authentischen Anwen-
dungssituationen. Inhalt der Fortbildung ist insbesondere
auch eine schrittweise Auffrischung und Vertiefung im
Bereich der Beurteilenden Statistik inklusive konkreter
Hilfestellungen für den eigenen Unterricht.
Ziel des Modul A ist es, unterrichtliche Kompetenzen zum
Einsatz von Simulationen, Experimenten und Daten beim
Ausbau von Grundbegriffe und Grundvorstellungen zur
Stochastik beim Wiedereinstieg in die Stochastik in der
Einführungsphase zu vermitteln, um einen sachverständi-
gen Umgang mit Daten zu schulen und stochastische
Phänomene zu visualisieren und zu untersuchen.
Ein wesentlicher Teil des Modul B ist, die zentralen
Modelle der Bernoulli-Kette und der Binomialverteilung
mit Hilfe geeigneter Visualisierungen vorstellungsorientiert
und modellierungsbewusst unterrichten zu lernen.
Zusätzlich werden auch Unterrichtsszenarien entwickelt,
mit welchen die Begriffe der stochastischen Unabhängig-
keit und bedingten Wahrscheinlichkeiten, auf welche hier
aufgebaut wird, angemessen vorbereitet werden können.
In den beiden Fortbildungsmodulen zur Beurteilenden
Statistik (Modul C und D) werden Kernelemente des
geforderten Unterrichtsstoffs fachlich aufgefrischt sowie
Konzepte zu deren Vermittlung erarbeitet und aus metho-
disch-didaktischer Sicht reflektiert.
Mit Hilfe unterrichtspraktischer Beispiele und des im
DZLM entwickelten Unterrichtskonzepts »BeSt@Kontext«
(Biehler & Oesterhaus, vorbereitet für 2014), welche
insbesondere ein verstehensorientiertes Unterrichten der
Grundideen der Beurteilenden Statistik durch den Einsatz
digitaler Simulationen und dynamischer Visualisierungen
ermöglichen, werden die Lehrerinnen und Lehrer von uns
darin unterstützt, authentische Anwendungsprobleme zum
Hypothesentesten mit Hilfe von Werkzeugeinsatz mit ihren
Schülern zu erarbeiten.
Fortbildungsmaterialien und Unterrichtsanlässe in Modul A
Die vorgeschlagene Unterrichtsreihe für die Einführungs-
phase könnte mit der Lernaktivität »10-20-Testproblem«
(siehe Abbildung 1) beginnen. Erfahrungen aus den
Fortbildungsmodulen und aus Unterrichterprobungen
haben gezeigt, dass die Befragten eine sehr unterschiedli-
31
01 | SCHWERPUNKT MATHEMATIK
Betrachten Sie die folgenden beiden Multiple Choice Tests:
Test 1 besteht aus 10 Fragen, bei denen der Prüfling entweder
ja oder nein ankreuzen kann. Test 2 besteht aus 20 Fragen, bei
denen der Prüfling entweder ja oder nein ankreuzen kann. Beide
Tests sind bestanden, wenn mindestens 60 % der Fragen richtig
beantwortet sind.
Was erwarten Sie intuitiv? Bei welchem dieser Tests hat ein
Prüfling größere Chancen zu bestehen? Kreuzen Sie spontan an!
Test 1 (bestehend aus 10 Fragen)
Test 2 (bestehend aus 20 Fragen)
Beide Chancen sind gleich groß
Ähnlich zu finden in: Meyfarth, T. (2006). Ein computergestütztes Kurs- konzept für den Stochastik-Leistungskurs mit kontinuierlicher Verwend- ung der Software Fathom Kasseler Online-Schriften zur Didaktik der Stochastik (KaDiSto) (Vol. 2). Kassel: Universität Kassel, S.17ff.
Abbildung 1: »10-20-Testproblem«
che Vorstellung zur Lösung dieses Problems haben und die
Einschätzungen häufig nicht ausreichend begründet werden
können. Solche Probleme laden zu einem simulationsgestütz-
ten Lösungszugang ein, der sowohl über ein Realexperiment
mit Fragebögen, händisch über ein Modellzufallsexperiment
(10- bzw. 20-facher Münzwurf) oder mit Hilfe einer werk-
zeuggestützten Simulation im GTR realisiert wird. Diese
Vorgehensweise bietet vielfältige Fragestellungen zur
Anknüpfung im Unterricht:
> Wie realisiere ich Simulationen und Visualisierungen
mit dem Werkzeug GTR?
> Wie gehe ich Simulieren im Unterricht an? (Stichwort:
Simulationsplan)
> Wie gehe ich mit Schätzwerten aus Simulationen um?
(Stichwort 1/√n-Gesetz zur Präzisierung des Gesetzes
der großen Zahlen)
Aufbauend darauf können im Rahmen der vier Tage
umfassenden Lehrerfortbildungsreihe mit Zwischenar-
beitsphasen, die zur eigenen Erprobung anregen, ab 2015
an mehreren Standorten in NRW die weiteren Inhalte der
Einführungsphase und Inhalte der Qualifikationsphase in
den Modulen B, C und D erarbeitet werden.
Rolf Biehler, Michael Casper und Janina Oesterhaus
Rolf Biehler ist Professor für Mathematik an der Universität Paderborn und Leiter der
Abteilung Sekundarstufe II des DZLM. Michael Casper ist Lehrer am Maria-Sibylla-
Merian-Gymnasium Krefeld und Mitglied in der AG Mathematik der Medienberatung
NRW. Janina Oesterhaus ist Mitarbeiterin der Abteilung Sekundarstufe II des DZLM an
der Universität Paderborn
(c) Teddy Tietz (mehr Cartoons unter www.teddytietz.de)
32
MEDIENBRIEF | N° 02.2014
GTR kompakt, Basiswissen kompakt
Der Erlass, grafikfähige Taschenrechner (GTR) verpflich-
tend in der Sekundarstufe II zu verankern, fand viel Zustim-
mung, stieß aber auch auf Ablehnung oder verursachte
zumindest Verunsicherung. Grund genug für das Ministeri-
um für Schule und Weiterbildung NRW, die AG Mathematik
der Medienberatung NRW zu beauftragen, in Zusammenar-
beit mit dem DZLM (Deutsches Zentrum für Lehrerbildung
Mathematik) geeignete Fortbildungsmaßnahmen zu suchen
oder diese zu entwickeln. Prof. Dr. Bärbel Barzel wird
zusammen mit Prof. Dr. Andreas Büchter und Prof. Dr.
Gilbert Greefrath und einer Arbeitsgruppe aus Lehrkräften
aus den K-Teams und der Medienberatung NRW eine
Fortbildungsreihe »GTR kompakt« entwickeln. Diese
Lehrerfortbildung richtet sich an Lehrerinnen und Lehrer
der Sekundarstufe II und wird am 06.09.2014 im Rahmen
der Jahrestagung des DZLM an der Universität Duisburg-
Essen vorgestellt.
Die Fortbildungsreihe wird vier jeweils eintägige Präsenz-
termine im Wechsel mit Onlinephasen und Erprobungen im
eigenen Unterricht umfassen. Die Konzeption und Umset-
zung der Fortbildung wird von den genannten Professoren
bzw. der Professorin wissenschaftlich begleitet. Zusätzlich
konnten die Schulvertreter von CASIO und TEXAS INSTRU-
MENTS gewonnen werden, diese Fortbildung auf der
Hardwareseite zu unterstützen. Grundsätzlich wird die
Fortbildungsreihe jedoch mit jedem beliebigen GTR besucht
und erfolgreich absolviert werden können.
Im Modul A wird es eine allgemeine Einführung in den GTR
im Rahmen der Funktionenlehre (Klasse 10) geben, um
Chancen und Möglichkeiten des Rechnereinsatzes zu
erkennen. Daran schließt sich als Modul B eine Einheit zu
Modellierungs- und Problemlöseaufgaben aus den Berei-
chen »Lineare Algebra«, »Analysis« und »Stochastik« an.
Die Module C und D werden Möglichkeiten für die Unter-
richtsgestaltung mit dem GTR aufgezeigen, die Grenzen
dieses Werkzeugs kritisch diskutieren und rechnergestützte
Prüfungsaufgaben betrachten.
Mit Blick auf die bereits in der Sekundarstufe I auftretenden
Schwierigkeiten von Schülerinnen und Schülern im Mathe-
matikunterricht soll für das Schuljahr 2014/2015 eine
Fortbildung »BASISWISSEN kompakt« angeboten werden.
Prof. Dr. Bärbel Barzel, Wilfried Dutkowski,
Prof. Dr. Petra Scherer
Bärbel Barzel ist Professorin für Mathematik an der Universität Duisburg-Essen, Wilfried Dutkowski ist Mitarbeiter in der Medienberatung NRW und kommissarischer Schulleiter. Petra Scherer ist Professorin für Mathematik an der Universität Duisburg-Essen
Foto : Casio Europe GmbH
33
01 | SCHWERPUNKT MATHEMATIK
Arithmeum – Museum für RechenkunstIm Arithmeum dreht sich alles um die Geschichte der
Rechenmaschinen, von den Anfängen des Rechnens mit
Hilfsmitteln über mechanische Wunderwerke bis hin zu
ersten »Taschenrechnern« und dem Computerzeitalter.
Ausgestellt sind Originale – es beherbergt die weltweit
umfassendste Sammlung mechanischer Rechenmaschi-
nen - und Nachbauten, die zum Teil ausprobiert werden
können. Im Untergeschoss gibt es zum Beispiel eine
Enigma oder den Nachbau einer Hollerith-Zählmaschine,
mit der zum ersten Mal in den USA eine Volkszählung
»automatisch« ausgewertet werden konnte.
Die Kinderprogramme im Arithmeum beziehen die Aus-
stellungsexponate des Arithmeums ein und vereinen das
Wissen aus dem klassischen Schulunterricht mit aktiven
Elementen. Es sind die Themen »Rechnen einst« oder
»Rechnen heute« wählbar. Die Kinderprogramme sind
nach vorheriger Buchung jederzeit während der Öffnungs-
zeiten möglich und dauern 90 Minuten.
Arithmeum - Museum für RechenkunstLennéstraße 2, 53113 Bonn www.arithmeum.de
Öffnungszeiten Dienstag - Sonntag: 11:00 - 18:00
EintrittspreiseErwachsene 3,- Euro, Kinder 2,- EuroFührungen (Dauer ca. 60 Min.): nach AbspracheFührungsgebühr pro Gruppe: 25,- EUR – plus Eintritt pro Person. Schulklassen zahlen keine Führungsgebühr
Heinz Nixdorf MuseumsForum
Im westfälischen Paderborn steht das weltgrößte Compu-
termuseum. Auf 6.000 Quadratmetern Ausstellungsfläche
zeigt das HNF 5.000 Jahre Geschichte der Informations-
technik, von der Keilschrift über Rechen- und Schreibma-
schinen bis zu Internet und Robotik.
Ausprobieren und Anfassen machen das HNF zum Erleb-
nismuseums. Besucher können historische Telefone oder
Telefonvermittlungsanlagen benutzen, aktuelle und
historische Computerspiele ausprobieren oder sich mit dem
virtuellen Wesen Max unterhalten. Zu den Glanzstücken der
Sammlung zählen der funktionstüchtige Nachbau der
Leibniz-Rechenmaschine, Komponenten des ersten
raumgroßen elektronischen Computers ENIAC, der
Bordrechner der Gemini-Raumkapsel und der legendäre
Apple 1. Eine ganz besondere Attraktion ist der berühmtes-
te Automat der Welt: Der sogenannte Schachtürke Wolf-
gang von Kempelens aus dem 18. Jahrhundert in einer
originalgetreuen Rekonstruktion. Museumspädagogische
Veranstaltungen und Workshops erweitern das Ausstel-
lungsangebot. Seit einiger Zeit hat das HNF verstärkt
Themen aus dem MINT-Bereich (Mathematik, Informatik,
Naturwissenschaften, Technik) in den Fokus gerückt.
Heinz Nixdorf MuseumsForum (HNF)Fürstenallee 7, 33102 Paderbornwww.hnf.de
ÖffnungszeitenDienstag bis Freitag: 9-18 UhrSamstags und Sonntag: 10-18 Uhr
EintrittspreiseErwachsene 7 Euro, ermäßigt 4 EuroSchulklassen haben nach Anmeldung freien Eintritt
Die Zuse Z25 (1962) - einer der frühesten, original erhaltenen und immer noch funktionsfähigen Computer – Ausschnitt aus dem »Innenleben«. Foto: Arithmeum.
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MEDIENBRIEF | N° 02.2014
Mathe lernen mit YouTube??? Ein Interview mit »DorFuchs«
Johann Beurich ist ein Youtube-Star! Unter dem Pseudonym »DorFuchs« (sächsisch für: Der Fuchs) macht er erfolgreich
ein Thema populär, das man nicht unmittelbar mit Youtube in Verbindung bringt. Er singt über mathematische Phänomene
und erklärt wie nebenbei und verständlich hochkomplexe Themen – und hat dabei offensichtlich auch noch Spaß. Seine
Songs über binomische Formeln, den Sinussatz oder die Polynomdivision haben bisher schon mehr als 300.000 Menschen
gesehen und ihm eine Nominierung für den Grimme Online Award 2013 in der Kategorie Wissen und Bildung eingebracht.
D.P.: Wer steckt hinter »DorFuchs« und wie sind Sie auf die
Idee gekommen, in Ihre Lieder ausgerechnet die Mathema-
tik einzubinden?
J.B.: Ich hab schon immer mehrere Sachen gerne gemacht:
Klavier gelernt, mir Gitarre beigebracht, und auch Mathe
war schon immer ein Interesse von mir. Irgendwann hab ich
angefangen, das, was ich gerne mache, zu kombinieren,
und so hab ich mal Pi aufgesagt, während ich mit einem
Fußball jonglierte und mal einen Song über die Lösungsfor-
mel geschrieben – und es scheint zu funktionieren. Zur Zeit
studiere ich Mathematik (Bachelor) im 4. Semester an der
TU Dresden.
D.P.: Sie stehen in einem regen Austausch mit den Usern
ihres Youtube-Kanals. Haben Sie Rückmeldungen aus
Schulen bekommen oder werden die Songs im Unterricht
eingesetzt?
J.B.: Ich bekomme täglich Kommentare, und es ist keine
Seltenheit, dass die Videos im Unterricht gezeigt werden.
Selbst in meinen Videostatistiken sieht man, dass ein paar
Aufrufe über Google-Suchen wie »Polynomdivision Unter-
richt Einstieg« rein kommen, und ab und zu fragt auch eine
Klasse, ob sie die Songs zum Schulkonzert singen dürfen...
D.P.: Beim Lernen machen wir ja zum Teil seltsame Dinge.
Wir verwechseln Fakten, merken uns nur Teile von Informa-
tionen oder vergessen wichtige Inhalte schlichtweg.
Langweiliges Auswendiglernen ist dann leider die ungelieb-
te Praxis. Zur Unterstützung haben wir alle schon immer
ein paar Hilfsmittel gesucht. Wir visualisieren – auch in der
Mathematik – Lerninhalte oder Lernen durch Tun (»prob-
lem solving«). Sind Sie der akustische Lerntyp?
J.B.: Nein, ich bin trotz allem der visuelle Lerntyp. Zusam-
menhänge oder eben auch mathematische Formeln sehe
ich vor meinem inneren Auge, und das, was ich da »sehe«,
versuche ich auch in die Videos zu packen. Damit sich der
Aufwand lohnt, mach ich gleich ein Lied draus, aber die
Songs selbst helfen mir persönlich eigentlich nicht beim
Verstehen oder Lernen.
D.P.: Auch andere Anbieter wie z. B. »Numberphile« der
University of Cambridge wenden sich dem Thema Mathe-
matik im Web 2.0 zu. Die Mathematiker und Professoren
nutzen für ihre Inhalte Youtube, Facebook, Twitter und
Flickr. Sind das für Sie, neben der klassischen Wissensver-
mittlung in der Schule, erfolgversprechende Formate?
J.B.: Dass Bildung heute das Internet nutzen sollte, steht ja
außer Frage. Was ich besonders spannend finde, ist, dass
man mit Mathe-Videos auf YouTube Erfolg haben kann, weil
das jeden Schüler beschäftigt und YouTube bei vielen heute
einfach ein Ort ist, wo man sonst auch in seiner Freizeit ist.
Darüber etwas Motivation zu vermitteln, sollte meiner
Meinung nach viel mehr genutzt werden, weil der klassische
Unterricht oft genau das Gegenteil macht. Etwas spitz
gesagt: Mit einem gut gemachten Video kann ich Hundert-
tausende erreichen, während man dafür sonst Tausende
Lehrer bräuchte, die meistens nicht so viel Arbeit in ein
interaktives Tafelbild stecken können.
Links zum Text:
DorFuchs: https://www.youtube.com/channel/UC97dp7op_ZjSCNp3DRLGymQ
Numberphile : https://www.youtube.com/channel/UCoxcjq-8xIDTYp3uz647V5A
Dirk Poerschke
Dirk Poerschke ist MedienSpielPädagoge, M.A. im LVR-ZMB
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01 | SCHWERPUNKT MATHEMATIK
1914 – Mitten in Europa02
Das Rheinland und der Erste Weltkrieg – Das LVR-Verbundprojekt
Fritz Klein Bey in türkischer Majorsuniform. Foto: Preußen-Museum NRW, Wesel
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MEDIENBRIEF | N° 02.2014
»Wir ungereimten Rheinländer…«Zwischen Aufbruch und Beharrung.Die Rheinlande und das literarische Leben 1900 – 1914
Im Zentrum der Ausstellung steht die
Zeitschrift »Die Rheinlande«, die – von
Wilhelm Schäfer als Organ des
»Verbandes der Kunstfreunde in den
Ländern am Rhein« herausgegeben
– viele literarische Originalbeiträge
enthielt. Neben eher der Tradition
verhafteten Literaten und Künstlern
wie Richard Dehmel, Clara Viebig,
Ferdinand Hodler oder Hermann
Hesse waren auch fortschrittliche
Künstlerpersönlichkeiten wie Walter
Hasenclever, Else Lasker-Schüler,
Wilhelm Lehmbruck oder Robert
Walser darin vertreten.
Die Zeitschrift zeichnete ein zeittypi-
sches Panorama, das Reform und
Revisionismus vereinte, genau jene
Melange zwischen aggressiver
Rückwärtsgewandtheit und Zukunfts-
freude, der auch der Erste Weltkrieg
entsprang. Von ihr ausgehend, sollen
die Vernetzungen kultureller Kreise
und Akteure am Rhein nachvollzogen
werden.
Vom 10.02.2015 bis 19.04.2015 wird die
Ausstellung im Ernst-Moritz-Arndt-
Haus Bonn zu sehen sein.
14.09.2014 – 30.11.2014
Heinrich-Heine-Institut Düsseldorf
Bilker Straße 12 –14, 40213 Düsseldorf
www.duesseldorf.de/heineinstitut Cover Rheinlande (Juli 1904), Bibliotheksbestand Rheinisches Literaturarchiv im HHI, © Heinrich-Heine-Institut
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02 | – MITTEN IN EUROPA
Das (verlorene) Paradies.Expressionistische Visionen zwischen Tradition und Moderne
Ein kreatives Ereignis: 1912 trafen sich August Macke und
Franz Marc in Mackes Atelier in Bonn und malten gemein-
sam das monumentale Wandbild »Paradies«. 1914 fiel
Macke, nur wenige Wochen nach Kriegsbeginn, 1916 wurde
auch Marc aus seinem Kunstavantgarde versprechenden
Leben gerissen.
Paradiese waren das Lebensthema für beide: Suchte Macke
die künstlerische Rückeroberung paradiesischer Gefilde,
zuweilen mit Orientalischem / Exotischem verknüpft, fand
Marc, ganz franziskanisch gesinnt, im Wesen der Tiere
einen unverdorbenen Urzustand. Beide Sehnsüchte lassen
sich mit einer Vielzahl weiterer »Paradiese« renommierter
Künstler aus der Zeit ergänzen: Ernst Ludwig Kirchner,
Christian Rohlfs, Carlo Mense u. a.
Paradiese: weit über die künstlerische Aneignung des
Themas hinaus lässt sich hier der Schlüssel zum Lebens-
gefühl der Moderne finden. Lebensreformerisch geprägt,
zeugte das Thema vor 1914 von der Erwartung an eine Welt,
in der die entfremdenden Erfahrungen der abendländischen
Zivilisation überwunden waren. Eine zukunftsfrohe Utopie,
die sich mit der Hölle des Weltkrieges zu einer Sehnsuchts-
und Heilslandschaft wandelte. Galten die ersten Ansätze
noch der Konstatierung des Verlustes, so transportierte das
»Paradies« weiterhin als utopisches Denkbild die Hoffnun-
gen des 20. Jahrhunderts.
26.09.2014 – 25.01.2015
August Macke Haus Bonn
Bornheimer Straße 96, 53119 Bonn
www.august-macke-haus.de
August Macke /Franz Marc, Paradies, 1912, Ölfarbe auf Wandputz, 4 x 2 m, ehemals im Atelier von August Macke in Bonn, Bornheimer Str. 96 (August Macke Haus Bonn); seit 1981 im LWL - Landesmuseum Münster. Foto: LWL - Landesmuseum Münster
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MEDIENBRIEF | N° 02.2014
Playing Lawrence On The Other Side.Die Expedition Klein und das deutsch- osmanische Bündnis im Ersten Weltkrieg
Die Ausstellung zeichnet ein lebendiges Bild
verschiedener Aspekte deutscher Orientpo-
litik von 1888 bis 1918. Besondere Berück-
sichtigung finden das deutsch-osmanische
Bündnis und die vielfältigen Erfahrungen
deutscher Soldaten auf den orientalischen
Kriegsschauplätzen. In diesem Rahmen
erzählt die Ausstellung ein nahezu unbe-
kanntes Kapitel des Ersten Weltkriegs.
Im Auftrag des Auswärtigen Amtes und
Großen Generalstabes unternimmt der
preußische Hauptmann Fritz Klein eine
abenteuerliche Expedition in das Osmani-
sche Reich und nach Persien. Es gelingt
dem weltläufigen Offizier aus einem
rheinischen Regiment, die hohe schiitische
Geistlichkeit in Kerbela für den Erlass einer
Fatwa für den Kampf an der Seite der
Mittelmächte zu gewinnen. In seinem
Kleinkrieg mit arabischen und persischen
Stämmen gegen weit überlegene britische
und russische Kräfte ist die Sprengung der
britischen Pipeline am Persischen Golf der
größte Erfolg. Hauptmann Klein wird unter
dem Eindruck seiner Orienterfahrungen
immer mehr zum Kritiker der politisch-
militärischen Führung und des europäi-
schen Imperialismus. Der jüdische Adjutant
der Expedition Edgar Stern-Rubarth bringt
in den 30er Jahren in seinem Londoner
Exil ihre Geschichte auf eine Formel, die
dem Projekt seinen Namen gegeben hat:
»Playing Lawrence On The Other Side.«
26.10.2014 – 25.01.2015
Preußen-Museum NRW
An der Zitadelle 14 – 20, 46483 Wesel
www.preussenmuseum.de Gerettet und eingekleidet von osmanischen Kameraden, Foto: Preußen-Museum NRW, Wesel
Nach der Sprengung der Pipeline: Ausgeplündert in der irakischen Wüste.Foto: Preußen-Museum NRW, Wesel
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02 | – MITTEN IN EUROPA
Zeichen gegen den Krieg.Antikriegsplastik von Lehmbruck bis heute
Wilhelm Lehmbrucks »Gestürzter« ist das Gegenbild des
heldenhaften Soldaten, der zu jener Zeit ein populäres
Motiv der Bildhauerkunst war. Er steht nicht aufrecht,
sondern ist gebrochen, gestürzt, unter einer unsichtbaren
Last gebeugt.
Dieses Werk entstand 1915 als Reaktion auf den Beginn des
Ersten Weltkriegs und seine Grausamkeit. Zugleich weist es
über das unmittelbare Zeitgeschehen hinaus und steht für
den gescheiterten Menschen allgemein. Somit ist es
Ausgangspunkt für diese Ausstellung, die ihren Blick über
das Jahr 1914 hinaus auf gegenwärtige Kriege und Konflik-
te richtet: Welches Bild des Menschen entwerfen Künstle-
rinnen und Künstler heute angesichts der Bedrohung?
»Der Krieg ist wie die Liebe, er findet immer einen Aus-
weg«, schreibt Bertolt Brecht in »Mutter Courage«. Er
meint damit nicht nur den »Erfindungsreichtum« des
Krieges (Harun Farocki), sondern den Krieg als Konstante
des Menschseins – ebenso wie die Liebe. Gleichwohl
nehmen Kriege und kriegerische Konflikte immer wieder
neue Formen an.
Eine nur schwer greifbare aber zentrale Rolle spielen die
medialen Diskurse und die Darstellung von Gewalt in den
digitalen Medien. Mit Skulpturen, Wandarbeiten, Installatio-
nen, Filmen und Videoarbeiten internationaler Künstlerin-
nen und Künstler zeigt die Ausstellung künstlerische
Kommentare und Auseinandersetzung mit dem Thema
»Krieg«.
11.09.2014 – 7.12.2014
Lehmbruck Museum
Friedrich-Wilhelm-Straße 40, 47051 Duisburg
www.lehmbruckmuseum.deGil Shachar, Ohne Titel, 1997, LehmbruckMuseum, Duisburg, © VG Bild-Kunst, Bonn, Foto: Jürgen Diemer
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MEDIENBRIEF | N° 02.2014
Köln 1914.Metropole im Westen
Gegen Ende des LVR-Themenjahres präsentieren das
Kölnische Stadtmuseum, das Museum für Angewandte
Kunst Köln (MAKK) und die Stiftung Rheinisch-Westfäli-
sches Wirtschaftsarchiv zu Köln (RWWA) eine gemeinsa-
me Ausstellung. Im Fokus steht die Stadt Köln als
Metropole des Rheinlandes im Epochenjahr 1914.
Seit den 1880er Jahren hatte sich Köln zu einer moder-
nen, kulturell vibrierenden Großstadt entwickelt. Der
Erste Weltkrieg veränderte jedoch in kürzester Zeit den
Alltag. Wie in kaum einer anderen Stadt stießen in Köln
die Grundwidersprüche der Epoche – »Aggression« und
»Avantgarde« – aufeinander. Die Werkbundausstellung,
eine international beachtete Schau moderner Architektur-
und Kunstgewerbeströmungen, wurde mit Kriegsbeginn
geschlossen. Weihnachten 1914 spiegelte nicht nur der
Christbaumschmuck die Militarisierung des kulturellen
und gesellschaftlichen Großstadtlebens wider.
22.11.2014 – 19.04.2015
Kölnisches Stadtmuseum
Zeughausstraße 1 – 3, 50667 Köln
www.museenkoeln.de/koelnisches-stadtmuseum
Museum für Angewandte Kunst Köln – MAKK
An der Rechtschule, 50667 Köln
www.makk.de
Stiftung Rheinisch-Westfälisches Wirtschaftsarchiv zu Köln
Gereonstraße 5 – 11, 50670 Köln
www.rwwa.de
Christbaumspitze 1914, © Kölner Stadtmuseum
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02 | – MITTEN IN EUROPA
Orte der Utopie. Theater- und Raumkonzepte in Zeiten des Krieges. Ein Europaprojekt
»Wie wollen wir leben?« Die Frage formuliert Aktualität seit
dem Beginn der Moderne. Wie und wo können wir unseren
Traum vom Leben bezeichnen, beschreiben, unserer Idee
eine Form und eine Richtung geben? »Im gelben Klang«,
antwortete Wassily Kandinsky, »In der Zukunft« skandierten
die Futuristen, »Im Quadrat« die Kubisten, »In der Hetero-
topie«, schrieb Michel Foucault. In den »Messdorfer
Feldern« bei Bonn – malte August Macke. »In Düsseldorf«
– beschlossen Louise Dumont und Gustav Lindemann und
schufen hier ein Schauspielhaus von europäischer Dimensi-
on. Angesichts der Vielfalt an möglichen Lebensentwürfen
bedurfte es eines Mediums zur Lebensraumerprobung.
Künstler, Architekten, Theaterleute brachen zu Beginn des
20. Jahrhunderts auf, um das Verhältnis von Mensch und
Welt neu zu definieren. Das Theater sträubte sich gegen die
von Hegel festgelegte Funktion, »die Rede allein (sei) das
der Exposition des Geistes würdige Element«. Der den Men-
schen und den Darsteller umgebende Raum rückte ins
Zentrum. Peter Behrens erklärte das Theater zum »Symbol
des Lebens« und zur höchsten und differenziertesten
Kunstform. Literatur, Kunst, Lebenziel und Lebensstil
sollten mit dem Transfer aufs Theater aufs Engste ver-
knüpft werden.
»Wie wollen wir leben?«, fragt die virtuelle Ausstellung
»Orte der Utopie« und nimmt hierfür die Raumbegriffe in
den Blick, mit denen die Künstler, Architekten und Theater-
theoretiker, Schriftsteller und Dramaturgen im frühen 20.
Jahrhundert das neue Theater schufen.
Die Ausstellung »Orte der Utopie« präsentiert sich unter:
www.ortederutopie.eu
28.02.2015, 19.00 Uhr
Eröffnung der virtuellen Ausstellung im
Theatermuseum der Landeshauptstadt Düsseldorf
Jägerhofstraße 1, 40479 Düsseldorf
www.duesseldorf.de/theatermuseum
Institut »Moderne im Rheinland« an der
Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf
www.moderne-im-rheinland.com
Eduard Ström: Bühnenbildentwurf zu »Peer Gynt« von Henrik Ibsen am Schauspielhaus Düsseldorf, 1915, Theatermuseum der Landeshauptstadt Düsseldorf
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MEDIENBRIEF | N° 02.2014
Eurovision – Eine ZwischenbilanzInternationale Tagung zur euro- päischen Erinnerungskultur 2014 mit Schüler-KonventIn einer Kooperation des LVR-Dezernats Kultur und Umwelt
mit der Landeszentrale für politische Bildung Nordrhein-
Westfalen sowie dem Institut »Moderne im Rheinland« wird
eine Zwischenbilanz zu den Veranstaltungen und Praktiken
der Erinnerung an den Beginn des Ersten Weltkrieges vor
100 Jahren gezogen. Die Perspektive eines gesamteuropäi-
schen Erinnerns und Gedenkens steht im Vordergrund,
ohne die nationalen Unterschiede und Besonderheiten zu
vernachlässigen.
Dabei soll die kritisch-analytische Sichtung eines reichen
Erinnerungsjahres, auch bezogen auf das LVR-Projekt »1914
– Mitten in Europa«, die Wissenschaftsebene mit der kreati-
ven Aneignung von Geschichte und Gegenwart im Zeichen
des Krieges in internationalen Schulprojekten verbinden.
Schulklassen und Lerngruppen zeichnen sich heute durch
die Vielfalt ihrer kulturellen und interkulturellen Sichtweisen
aus. Oft werden gerade im Unterricht Ereignisse berührt,
die bis heute strittig sind oder es werden fortbestehende
Konflikte oder Konfliktmuster angesprochen. Die Heraus-
forderung, europäische Perspektiven auf den Vorabend des
Krieges, seinen Verlauf und seine Folgen zu werfen, ist
nicht nur ein Thema der Politik und der Wissenschaft,
sondern beginnt in der Schule.
Zu diesem interregionalen wie internationalen Austausch
sind Vertreter aus Belgien, Frankreich und Polen sowie aus
dem Rheinland, aus Westfalen und Rheinland Pfalz eingela-
den. Ein »Schülerkonvent« stellt entsprechende Schulpro-
jekte in Workshops vor, diskutiert sie und fragt nach der
Zukunftsfähigkeit dieser Initiativen.
Im Rahmen der Veranstaltung wird ein »Haus« namens
»Europa« gebaut, bestehend aus Koffern und deren Inhal-
ten, die die grenzüberschreitenden Projekte so konkret wie
symbolisch vertreten und zu einer gemeinsamen Ausstel-
lung beitragen. Schließlich kommt es auf einen letzten
gemeinsamen, während der Veranstaltung gepackten Koffer
an. Auf ihm könnte stehen: »Lernstoff 1914«.
Die zweitägige Tagung mit Konvent findet im Februar 2015
im LVR-Industriemuseum Oberhausen statt.
Aktuelle Informationen auf www.rheinland1914.lvr.de
Prof. Dr. Thomas Schleper
Prof. Dr. Thomas Schleper ist Leiter des LVR-Verbundprojekts “1914 – Mitten in Europa
Foto: Christine Langensiepen, 1987, LVR-ZMB
43
02 | – MITTEN IN EUROPA
Podcast WK I. Der Erste Weltkrieg in Literatur und ÖffentlichkeitPodcast WK I ist der erste Beitrag des Heinrich-Heine-
Instituts Düsseldorf zum LVR-Verbundprojekt »1914 –
Mitten in Europa«. Aufbauend auf den Erfahrungen
mehrerer erfolgreicher archivpädagogischer Projekte
unternahm das Rheinische Literaturarchiv des Heine-
Instituts damit einen weiteren Versuch, archivarische
Inhalte in jugendaffiner Form an die heranwachsende
Generation zu vermitteln. Auch das Stadtarchiv Düssel-
dorf war mit seinen reichhaltigen Beständen zur Stadtge-
schichte als Projektpartner beteiligt1.
Für Podcast WK I wurden zwei Deutsch-Leistungskurse
der Jahrgangsstufe Q1 des Düsseldorfer Comenius-Gym-
nasiums an Archivalien und Sammlungsmaterialien der
beiden Häuser herangeführt, um ihnen in wissenschafts-
propädeutischer Absicht Einblicke in die Welt der Archive
und ihrer Recherchemöglichkeiten zu gewähren. Verschie-
dene Projektgruppen erarbeiteten unter Anleitung von
Archivmitarbeitern und Lehrern eigenständige Beiträge
zum literarischen und öffentlichen Leben am Vorabend des
Ersten Weltkriegs. Die Schüler nahmen dazu z. B. exemp-
1 Das Projekt wurde über das Programm »Archiv und Schule« des NRW-Ministeri-ums für Familie, Kinder, Jugend, Kultur und Sport und durch den Düsseldorfer Geschichtsverein gefördert. Betreut und realisiert haben dieses Projekt Tim Breitbach, Gaby Köster, Elise Langer, Dr. Enno Stahl (Leitung), Martin Willems (alle Heinrich-Heine-Institut), Kerstin Früh und Klaudia Wehofen (Stadtarchiv Düsseldorf) sowie von Seiten des Comenius-Gym-nasiums: StD Georg Aehling (Koordinator Schule), Dr. Urban Küsters und Dr. Simon Wortmann.
larische Feldpostkorrespondenzen in den Blick, befassten
sich mit Kriegslyrik, Zensur, Kriegsbegeisterung und
Kriegsalltag. Auch wurde die Rolle verschiedener Autoren
in der Vorkriegs- und Kriegszeit beleuchtet, etwa von
Hermann Harry Schmitz, Leonore Niessen-Deiters, Hanns
Heinz Ewers und Herbert Eulenberg.
Repräsentative Materialien zu diesen Themen wurden
didaktisch vorbereitet, auf dieser Basis konnten verschie-
dene Arbeitsgruppen ihre Präsentationen eigenständig
entwickeln. Um jugendlichem Nutzerverhalten entgegen zu
kommen, wurden die Resultate in Form von Hörstücken als
downloadfähige Podcasts auf der Webseite www.podcast-
wk1.de als gemeinsamer Lehr- und Lernplattform veröf-
fentlicht. So konnte jugendlichen und erwachsenen
Interessenten die ernste Thematik auf spannende und
kritische Weise vermitteln werden. Produziert wurden die
Podcasts im Studio R & S Audio Marketing/Rennebaum
und Schuknecht GbR, inszeniert und umgesetzt von den
Schülerinnen und Schülern selbst. Die Schülerinnen und
Schüler gewannen zusätzlich zum archivarischen Know-
how wertvolle Einblicke in Praxisbereiche wie Radiotechnik
und Onlinejournalismus.
Dr. Enno Stahl
Dr. Enno Stahl ist Autor und Literaturwissenschaftler, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Rheinischen Literaturarchiv des Heinrich-Heine-Instituts Düsseldorf
Feldpostbriefe aus dem Nachlass Wilkar Schmitt, Heinrich-Heine-Institut
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MEDIENBRIEF | N° 02.2014
aufgelegt, wurde das Buch erst 2008
wiederentdeckt und in Frankreich
regelrecht bejubelt. Erschütternd und
grauenhaft die Schilderungen der
Angstzustände als Hauptbeschäftigung
der Soldaten in diesem Gemetzel, in
dem »die Leichen serienmäßig und
industriell hergestellt werden« Verblüf-
fend registriert man bei der Lektüre die
gleichen Haltungen und Reaktionen in
Frankreich wie sie aus dem kaiserlichen
Deutschland bekannt sind: Die nationale
Besoffenheit und Siegesgewissheit, die
in Ernücherung umschlägt und in Angst,
Grauen, Irresein und Tod mündet.
Das Blog »1914–1918: Ein rheinisches Tagebuch« ist ein
Gemeinschaftsprojekt des LVR-Archivberatungs- und
Fortbildungszentrums mit den rheinischen Archiven zum
100-jährigen Gedenken an die Zeit des Ersten Weltkriegs.
Ziel ist es, unterschiedliche Quellen aus den Beständen
der beteiligten Archive zu diesem historischen Ereignis auf
den Tag genau 100 Jahre später zu publizieren. So soll
eine Sammlung von Zeugnissen entstehen, die wie ein
Kaleidoskop Facetten zeitgenössischer subjektiver
Wahrnehmungen und öffentlicher bzw. veröffentlichter
Meinung widerspiegeln. Da das Rheinland selbst nicht
Kriegsschauplatz war, stehen vor allem das Leben an der
»Heimatfront« und die Berichte der aus dem Rheinland
stammenden Soldaten im Zentrum der Überlieferung.
Einmal publiziert, stehen diese digitalisierten individuellen
Zeugnisse – wie zum Beispiel Briefe, (Feld-) Postkarten,
Fotos und Tagebücher – oder Verwaltungsschriftgut wie
...außerdem: HeldenangstEs geschieht nicht mehr oft, aber noch
gelingen literarische Entdeckungen über
den Ersten Weltkrieg! Ein Buch, das
unbedingt in die erste Reihe der Leid-
und Zeitzeugen-»Berichte« gehört, ist
der Antikriegsroman »La Peur«. Gabriel
Chevallier heißt der Autor, geboren 1895
in Lyon und 1969 in Cannes gestorben.
»La Peur« erschien 1930, wurde jedoch
bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs
vom Markt genommen; Autor und
Verlag hatten den Glauben verloren,
dass dieser eindringliche Appell gegen
Krieg überhaupt noch Gehör finden wür-
den. 1951 noch einmal glücklos
Gabriel Chevalier: HeldenangstRoman, Nagel und Kimche Verlag, Zürich 2010ISBN 9783312004416Gebunden, 432 Seiten, 24,90 EUR
1914 – 1918: Ein rheinisches Tagebuch.Quellen aus Archiven des Rheinlands
Ratsprotokolle und Schulchroniken sowie öffentliche
Überlieferungen aus Zeitungen, Aushängen, Flugschriften
etc. allgemein zur Verfügung und können für den Ge-
schichtsunterricht, für heimatgeschichtliche Forschungen
oder auch für wissenschaftliche Untersuchungen genutzt
werden.
Das Blog »1914-1918: Ein rheinisches Tagebuch« finden
Sie unter http://archivewk1.hypotheses.org/
Interessierte Archive im Rheinland, die sich am Blog
beteiligen möchten, wenden sich bitte an das LVR-Archiv-
beratungs- und Fortbildungszentrum, Monika Marner,
Mail: [email protected]
Monika Marner
Monika Marner M. A. ist wissenschaftliche Referentin im LVR-Archivberatungs- und Fortbildungszentrum für den Bereich Fortbildung.
45
02 | – MITTEN IN EUROPA
Lehrerausbildung an der Schnittstelle zwischen Fachdidaktik und Schulpraxis
Das öffentliche Erinnern gestalten: Bildungspartner Gedenkstätte und Schule
Berichte
Gedenkstätte Brauweiler: Blick in eine ehemalige Arrestzelle. Foto: Ludger Ströter, LVR
03
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MEDIENBRIEF | N° 02.2014
Lehrerausbildung an der Schnitt- stelle zwischen Fachdidaktik und Schulpraxis: Digitale Medien im Geschichtsunterricht
»Guter Geschichtsunterricht stellt die exemplarischen
Lerninhalte durch Medien dar, die der Eigenart des
historischen Denkens und dem Verständnis der Lernen-
den entsprechen.«
Wie dieser Transfer von der Theorie in die unterrichtliche,
diagnostisch orientierte Praxis aussehen kann, lernen
Studierende für das Lehramt im Fach Geschichte an der
Universität Paderborn. Ausgehend von didaktischen
Seminaren und der Einbindung in den Profilstudiengang
»Medien und Bildung« sowie ein begleitendes Filmseminar
wird ihnen die Möglichkeit geboten, lehr- und lerntheore-
tisch begründbare, didaktisch-methodische Unterrichtskon-
zepte für einen hybridmedialen Geschichtsunterricht zu
entwickeln und in der Schulpraxis zu erproben. Das Seminar
»Medien historischen Lernens« machte sie im Sommerse-
mester 2013 mit exemplarischen Gegenständen des
Geschichtsunterrichts vertraut – und deren Potentialen in
der Erarbeitung mit digitalen Medien.
Ausgehend von der Fragestellung, wie Lernen »funktio-
niert«, wurden Lernszenarien praxisnah entwickelt und
erprobt, um zeitgemäße Lösungen einer Verbindung
analoger und digitaler Lehr- und Lernwege zu gestalten.
Auf Basis einer Kooperation mit dem Erziehungswissen-
schaftlichen Institut (Dipl. Päd. Tilman-Mathies Klar) und
dem PLAZ (Zentrum für Bildungsforschung und Lehrerbil-
dung) war es möglich, die »Medienwerkstatt« als Unter-
richtslabor zu nutzen: Die Studierenden konnten hier unter
Idealbedingungen mit zur Verfügung gestellten Tablets,
Dokumentenprojektoren und interaktiven Whiteboards
deren didaktischen Mehrwert kritisch überprüfen. Ein
digitales Seminarportfolio wurde geführt, welches zugleich
einer kooperativen Vorbereitung der mündlichen Modulab-
schlussprüfung wie auch der Einübung in die Gestaltung
digitaler Lernräume diente.
Im zweiten Teil wurde geprüft, ob sich die entwickelten
Konzepte auch als praxistauglich erweisen. Dazu erhielten
zwei Studierende die Gelegenheit, im Rahmen ihres
»Berufsfeldpraktikums« am Evangelischen Gymnasium in
Lippstadt Geschichtsunterricht zu beobachten, auf Basis
ihrer Modelle zum Medieneinsatz im Unterricht zu planen,
unter kollegialer Beobachtung durchzuführen und zu
evaluieren. Die Fragen dabei lauteten:
> Der Einsatz welcher Medien bietet – angesichts welcher
Lernziele und Unterrichtsgegenstände und im Hinblick
auf die Lernvoraussetzungen der Schülerinnen und
Schüler – einen didaktischen Vorteil?
> Wie hängen das individuelle Aufmerksamkeitsniveau,
der Abstraktionsgrad eines Lerngegenstands, die zu
erwerbenden Kompetenzen und die dafür geeignete
Methoden miteinander zusammen?
> Wie lassen sich mehrkanalige Medienszenarien nutzen,
um individuelle, an den Möglichkeiten und Förderbe-
darfen der Lernenden ausgerichtete Curricula zu
entwerfen, und um maßgeschneiderte Lernwege für die
Lernenden anbieten zu können.
Dr. Dirk Georges, zuständiger Projektkoordinator am Evange-
lischen Gymnasium in Lippstadt sieht in dem Vorhaben zahl-
reiche dieser Desiderate erfüllt: Trotz etlicher Fortbildungsan-
gebote liegen, so Georges, zwischen didaktischer Forschung
und der Umsetzung der Ergebnisse in der Schulpraxis oftmals
viele Jahre. Dabei können in Projekten wie diesem Studieren-
de als Multiplikatoren auftreten – und zugleich vom reichen
Erfahrungsschatz langjähriger Lehrkräfte in den Schulen
profitieren. Auch die Studierenden begrüßen ihre neue Rolle,
in der Uni erworbene Theoriekenntnisse auf die Probe stellen
zu dürfen und für professionelles Lehrerhandeln nutzbar zu
machen. »Von Elfenbeinturm keine Spur!«.
47
03 | BERICHTE
MEDIENBRIEF | N° 02.2014
Übergeordnete Absichten bestehen darin, den kritisch-
reflektierten Umgang mit Internet-Quellen auf originär
geschichtsunterrichtliche Ziele zu beziehen, diese an
alltägliche Informations- und Kommunikationspraktiken
anzubinden – und vor dem Hintergrund historischer
Phänomene nachvollziehbar zu machen. Wie ein solches
Vorhaben aussehen kann, erfuhren die Studierenden in zwei
Oberstufen-Kursen von der ersten Idee bis zur Auswertung.
Im Mittelpunkt stand eine Sequenz zum Thema »Der Erste
Weltkrieg als global interdependentes Kommunikations-
und Handlungsereignis«. Im Vorfeld wie auch im Verlauf
des Ersten Weltkriegs hat es ein hochkomplexes Netzwerk
diplomatischer wie auch militärischer Signale, persönlicher
wie öffentlicher Kommunikation und daraus resultierende
Aktions- und Reaktionsketten gegeben. Dieser Tatsache
soll insofern Rechnung getragen werden, als dass eine
vereinfachte Ordnung dieser überaus vielschichtigen
Gemengelage als »digitale Topografie« abgebildet wird.
Standorte, Standpunkte, Bewegungen, Kommunikations-
flüsse – zentrale multilaterale Bedingungsfaktoren des
»Großen Kriegs« sollen unter Einbeziehung von Text- und
Bildquellen, digitalen Kartenmaterials wie auch kurzer
Videosequenzen zu einem multimedialen Wiki zusammen-
geführt werden. Interaktive Rollenspiele sollen es dabei
erlauben, auf Basis von Kommuniques internationale
Handlungskontexte nachzuvollziehen und zu beurteilen. Die
digitale Architektur des von Schülern und Studierenden
gemeinsam daraus gestalteten Hypertextes eignet sich
dabei besonders, die Gemengelage so höchst unterschiedli-
cher Akteure und Intentionen zu visualisieren.
Die damit verbundene Herstellung medial mehrkanaliger
Ankerpunkte – visuell, akustisch, statisch, bewegt, linear
und diversifiziert/hierarchisiert – regt nicht nur zum
Reorganisieren, zum Eingreifen, zum Interagieren an – sie
schafft zugleich die Grundlage für eine langfristige Abruf-
barkeit des multiperspektivisch erarbeiteten Wissens. So
werden alle verwendeten Materialien der digitalen Arbeits-
mappe der Lernenden gesammelt– verbunden mit kurzen
Sachartikeln, Begriffserläuterungen und arbeitsmethodi-
schen Handreichungen.
Ausgehend von zuvor durchgeführten Kompetenzchecks
lernen die Studierenden, die Arbeitsmappen der Schülerin-
nen und Schüler an deren individuellen Fähigkeiten
orientiert mit unterschiedlich komplexen Lernmaterialien
und Aufgabenstellungen so zu gestalten, dass jeder »seinen
Teil« zum Gesamtlernziel beisteuern kann. Das Kurscurri-
culum der Unterrichtsreihe wird auf diese Weise differen-
ziert in das für die unterschiedlich Begabten Leistbare.
Die vergleichende Versuchsanordnung bot etliche Auf-
schlüsse: Zwei Kurse arbeiten parallel mit identischen
Lernzielen an einer Unterrichtsreihe, ein Kurs jedoch unter
Verzicht auf digitale Medien, der andere unter Einbeziehung
verschiedener digitaler Medien. Die Evaluation schließlich
zeigte deutlich: Einerseits regt eine medial vielseitige
Umgebung zahlreiche Prozesse des Mit- und Weiterden-
kens an – im konstruktivistischen Sinne wird die Lernumge-
bung ja erst selbstständig gestaltet und nicht wie ein
fertiges Medienprodukt – etwa das Schulbuch – fertig
vorgefunden.
Dies setzt ein hohes Vermögen an Konzentration und
intensiver logistischer Betreuung durch die Lehrkräfte
voraus, um sich vor lauter Möglichkeiten nicht zu »verzet-
teln« und trotz Zeitknappheit die Ziele zu erreichen. Sind die
Quellen, Materialien und Arbeitsprozesse jedoch erstmal
arrangiert und visualisiert, erschließt sich eine neue
Lerndimension, die motiviert und Freude bereitet. Bei
zunehmendem Einsatz schülereigener Geräte (Bring Your
Own Device) entfallen zudem nicht nur eine Reihe war-
tungsstrategischer Probleme – der Lernraum begleitet die
SchülerInnen fortan leicht zugänglich weit über die nächste
Prüfung hinaus. Auf diese Weise wird Geschichtslernen zu
einem lebenslangen »Netzwerken«.
Dr. Dirk Georges und Thomas Köster
Dr. Dirk Georges ist Lehrer für die Fächer Deutsch und Geschichte am Evangelischen Gymnasium Lippstadt Thomas Köster ist Geschichtsdidaktiker am Historischen Institut der Universität Paderborn und Lehrer für die Fächer Deutsch und Geschichte
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Das öffentliche Erinnern gestalten: Bildungspartner NRW – Gedenkstätte und Schule
Die Zukunft unserer Demokratie
hängt auch davon ab, wie wir uns mit
der Vergangenheit auseinanderset-
zen. In einer offenen Gesellschaft
muss das Verhältnis zur Vergangen-
heit ein dynamisches sein. Denn das
Erinnern ist etwas Konstruktives!
Zwar knüpft jede Generation an
vorhandene Erinnerungen an, aber
nur, wenn das Erinnern an den
eigenen Fragen und Bedürfnissen
ausgerichtet wird, bekommt es
Bedeutung.
Das Lernen über die Vergangenheit
hat daher eine politische Funktion:
Kindern und Jugendlichen eine aktive
Mitwirkung am öffentlichen Erinnern
zu ermöglichen. Gedenkstätten
bieten Schülerinnen und Schülern
vielfältige Gelegenheiten, um mit
eigenen Beiträgen an der Erinne-
rungskultur mitzuwirken. Für
Schulen sind sie ein idealer Partner
für die historisch-politische Bildung.
Die Fachtagung »Bildungspartner
NRW – Gedenkstätte und Schule.
Erinnern für die Zukunft« am 21. Mai
2014 bildete den Auftakt zu einer
landesweiten Förderung der Erinne-
rungskultur in der Schule.
Mit der Initiative Bildungspartner
NRW – Gedenkstätte und Schule
fördert die nordrhein-westfälische
Landesregierung zusammen mit den
Kommunalen Spitzenverbänden und
dem Arbeitskreis der NS-Gedenk-
stätten und –Erinnerungsorte in
NRW die systematische Kooperation
von Schulen und Gedenk- und
Erinnerungsstätten.
In einer Bildungspartnerschaft
verabreden eine Schule und eine
Gedenkstätte gemeinsame Ziele und
Aktivitäten, die auf die Voraussetzun-
gen der Lerngruppen sowie die
Möglichkeiten des Erinnerungsortes
abgestimmt sind. Davon profitieren
beide Seiten. Die Schule kann die
Lernangebote der Gedenkstätte
langfristig in die eigenen Lehrpläne
einbinden; die Gedenkstätte wird für
Schülerinnen und Schüler zu einem
vertrauten Lern- und Begegnungs-
zentrum am Wohnort.
Die von den Ministerinnen Sylvia
Löhrmann und Ute Schäfer sowie von
LVR-Direktorin Ulrike Lubek eröffne-
te Tagung zeigte zahlreiche Praxis-
beispiele, an denen sich Schulen und
Gedenkstätten bei der Gestaltung
einer Bildungspartnerschaft orientie-
ren können.
Ein Themenschwerpunkt bildete das
Erinnern in der Migrationsgesell-
schaft. Denn dass erinnerungskultu-
relle Lernangebote auch gegenüber
Jugendlichen aus Zuwandererfamili-
en anschlussfähig werden, ist ein
zentraler Anspruch, den Schulen und
Gedenkstätten miteinander teilen.
Alle Schulen sind herzlich eingela-
den, sich mit einer Gedenk- und
Erinnerungsstätte oder auch mit
einem Museum, einem Archiv oder
einem anderen kommunalen Anbieter
historisch-politischer Bildung zu
beteiligen!
Weitere Informationen unter
www.gedenkstaette.schulministeri-
um.nrw.de
Andreas Weinhold
Andreas Weinhold ist pädagogischer Mitarbeiter der
Medienberatung NRW
Foto: Dominik Schmitz, LVR-ZMB
49
03 | BERICHTE
Foto: Julia Reschucha, LVR-ZMB
Partner im Verbund04Planet Schule wird inklusiv
Gelungene Premiere: Erstes Schulfilmfest macht Lust auf mehr!
MEDIENBRIEF | N° 02.2014
50
Planet Schule wird inklusiv
Die Zahl der Kinder mit Förderbedar-
fen steigt in den Regelschulen und mit
dem Inkrafttreten des Inklusionsge-
setzes zum neuen Schuljahr gewinnt
der Prozess hin zu einem inklusiven
Schulsystem in NRW an Dynamik.
Lernmittel für den inklusiven Unter-
richt sind aber noch rar gesät. Die
Bildungsredaktion des WDR will den
Inklusionsprozess in der Schule mit
ihrem Angebot an Filmen, Multimedia-
Elementen und pädagogischen
Begleitmaterialien unterstützen.
Um nicht an der schulischen Realität
und den Bedürfnissen von Lehrern und
Schülern vorbei zu produzieren,
beauftragte die Redaktion von Planet
Schule Professor Ingo Bosse von der
Fakultät Rehabilitationswissenschaf-
ten der TU Dortmund mit einer qualita-
tiven Untersuchung von unterschiedli-
chen Planet Schule-Angeboten. Aus
Beobachtungen von Unterrichtsstun-
den und Leitfaden-Interviews mit den
Lehrern im inklusiven Unterricht
entwickelte Ingo Bosse dann Qualitäts-
kriterien für die diversen Lernmittel.
Hier ein kleiner Einblick:
Grundsätzlich bringt Planet Schule
gute Ausgangsbedingungen für
inklusive Lernarrangements mit:
Filme, Texte, Lernspiele und Multime-
dia-Elemente bieten vielfältige Wege
für Schüler, Informationen aufzuneh-
men und zu verarbeiten. Die unter-
suchten Filme wurden als anschaulich
und (meist) lebensnah bewertet. Sie
erklären komplexe Sachverhalte und
eignen sich gut für den inklusiven
Unterricht. Sie können allen Schüle-
rinnen und Schüler Lernimpulse
geben, unabhängig vom individuellen
Leistungsniveau. Positiv wurden die
Nähe zur Lebenswelt der Schüler und
die motivierenden Rahmenhandlungen
hervorgehoben. Lernen am gemeinsa-
men Gegenstand kann durch die Filme
gewährleistet werden.
Barrierefreiheit ausbauen
Um jedoch die vielfältigen Angebote
der Internetseite von Planet Schule im
inklusiven Unterricht nutzen zu
können, muss auf jeden Fall die
Barrierefreiheit ausgebaut werden:
Wichtige Anforderungen sind durchge-
hende Vorlesefunktionen bei Texten in
Lernspielen, Bedienbarkeit durch die
Tabtaste, Einstellbarkeit von Kontras-
ten und die Skalierbarkeit aller
Elemente. Bei Lernspielen sollte es
möglich sein, Aufgaben zu wiederho-
len und das Tempo zu variieren.
Barrierefreiheit muss auch für die
Arbeitsblätter gelten. Für die Gestal-
tung der Arbeitsmaterialien gilt: Zu
viele Gestaltungselemente ohne klare
inhaltliche Funktion verwirren und
überfordern. Die Arbeitsunterlagen
sollten sich auf das Wesentliche kon-
zentrieren. Die Aufgabenstellungen
müssen klar und kleinschrittig formu-
liert werden. Eine einfache, verständli-
che Sprache kommt allen Schülern,
gerade denen mit Leseschwierigkeiten,
entgegen. Die noch oft übliche,
sogenannte mittelschichtsorientierte
Sprache ist da eher eine Hürde.
Größten Verbesserungsbedarf sahen
die Lehrerinnen und Lehrer bei den
begleitenden Unterrichtsvorschlägen
und Lernmaterialien. Gefragt sind
Lernarrangements, die starke
Differenzierungen erlauben. Unter-
schiedlich schwierige Aufgabenstel-
lungen müssen zur Auswahl stehen.
Für schreibbasierte Aufgaben muss es
praktische, handlungsorientierte
Alternativen geben, ebenso für
Aufgaben, die gute motorische
Fähigkeiten verlangen. Handlungsori-
entierung und eine große Bandbreite
an kooperativen und kollaborativen
Methoden sind wesentlich für den
inklusiven Unterricht.
Planet Schule hat in den vergangenen
Jahren zahlreiche innovative Vorschlä-
ge für eine produktionsorientierte
Filmbildung unterbreitet und Metho-
den entwickelt, die vorbildhaft für den
inklusiven (Fach-) Unterricht sein
können. Sie sind handlungsorientiert
und können als offene Aufgaben von
allen Schülern je nach individuellem
Niveau gelöst werden. Filmproduktion
z. B. ist Teamarbeit – jeder kann sich
mit ganz unterschiedlichen Stärken
einbringen. Auf Grundlage der
Untersuchungsergebnisse hat nun die
Phase der Umsetzung bei Planet
Schule begonnen: Nach und nach
werden ausgewählte Materialien
überarbeitet und neue Filme und
begleitetende Angebote von vornherein
inklusiv gestaltet.
Anne Haage
Anne Haage ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der TU Dortmund, Fakultät Rehabilitationswissenschaften, Lehrgebiet Körperliche und Motorische Entwicklung und freiberufliche Referentin für die WDR-Redaktion Planet Schule
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04 | PARTNER IM VERBUND
Gelungene Premiere: Erstes Schul-filmfest NRW macht Lust auf mehr
MEDIENBRIEF | N° 02.2014
Einmal über den roten Teppich flanieren, im Blitzlicht der
Fotografen stehen und den eigenen Film vor großem
Publikum auf der Kinoleinwand erleben: Beim ersten
landesweiten Schulfilmfest, organisiert von den Netzwer-
ken der Filmbildung in Kooperation mit FILM+SCHULE
NRW, war das für rund 180 Schülerinnen und Schüler
jetzt möglich. Im Cineplex Hamm, wo sonst Hollywood-
Blockbuster über die Leinwand gehen, fieberten die
jungen Filmemacher der Uraufführung ihrer Filme
entgegen: Wird der eigene Film den anderen Schülerin-
nen und Schülern gefallen? Was haben die anderen für
Streifen gedreht und welche spannenden Ideen haben sie
in ihren Filmen umgesetzt?
In zwei Kinosälen, aufgeteilt in die Altersgruppen 6-12
Jahre und 13-20 Jahre, gab es eine abwechslungsreiche
Werkschau an Filmproduktionen der westfälischen
Netzwerke aus Gütersloh, Hamm, Münster, Soest und
Warendorf mit insgesamt 23 Filmen zu sehen. Es wurde
viel gelacht, begeistert applaudiert: Mit dabei war zum
Beispiel Slapstick-Komik in Charlie-Chaplin-Manier, ein
Kriminalfilm in Tradition der Schwarzen Serie, Horror mit
Außerirdischen und Zombies oder auch eine Dokumenta-
tion à la Löwenzahn zum Bau eines Fischaufstiegs
entlang der Lippe. Aber nicht alle gezeigten Filme waren
leichte Kost. Ehrenmord, Drogen- und Spielekonsum oder
Mobbing waren ernsthafte Themen. Hier konnten die
Schülerinnen und Schüler zeigen, wie viel Kreativität in
ihnen steckt und beweisen, was Film leisten kann.
Auch im nächsten Jahr wird es wieder ein Schulfilmfest
der Netzwerke der Filmbildung NRW geben, bei dem die
zugehörigen Schulen ihre Städte und Kreise mit Filmpro-
duktionen repräsentieren. Die lokalen Filmnetzwerke
sind Zusammenschlüsse aus Medienzentren, Kinobetrei-
bern und Schulen sowie engagierten Filminitiativen und
Medienwerkstätten. Ihr Ziel ist, Filmbildung insbesondere
in Schulen zu fördern, indem beispielsweise Fortbildun-
gen veranstaltet oder Mittel und Technik zur Filmproduk-
tion zur Verfügung gestellt werden. Derzeit gibt es in
NRW sechs Netzwerke der Filmbildung in den Städten
und Kreisen Duisburg, Gütersloh, Hamm, Münster, Soest
und Warendorf, die von FILM+SCHULE NRW beraten, in
ihrer Arbeit unterstützt und finanziell gefördert werden.
Ann Kristin vom Ort
Ann Kristin vom Ort ist wissenschaftliche Volontärin im LWL-Medienzentrum für Westfalen
Foto: Marlies Baak-Witjes, Film + Schule NRW
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Denkanstöße! Ein psychologisches
Unterstützungsprogramm für Kollegium und Leitung
Quergedacht05
Foto: Stefan Arendt, LVR-ZMB
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05 | QUERGEDACHT
MEDIENBRIEF | N° 02.2014
Denkanstöße!Ein psychologisches Unterstützungs-programm für Kollegium und Leitung
Mit der Potsdamer Lehrerstudie (Schaarschmidt, 2005;
Schaarschmidt & Kieschke, 2007) hatten wir eine differen-
zierte Analyse der Beanspruchungssituation im Lehrerbe-
ruf vorgelegt. Eine besondere Rolle spielte dabei die Frage,
welches der folgenden vier Muster arbeitsbezogenen
Verhaltens und Erlebens in der Selbsteinschätzung der
Lehrerinnen und Lehrer im Vordergrund steht (Schaar-
schmidt & Fischer, 2008):
Muster G (Gesundheit): stärkeres (aber
nichtüberhöhtes) berufliches Engagement,
psychische Widerstandskraft gegenüber
den Belastungen des Berufsalltags,
Zufriedenheit und Wohlbefinden
Muster S: Tendenz zur Schonung bzw. zum
Schutz gegenüber den Arbeitsanforderun-
gen (oftmals als Rückzug aus unbefriedi-
genden Arbeitsverhältnissen zu verstehen)
Muster A: Anstrengung, überhöhte Veraus-
ga bungsbereitschaft bei Vernachlässigung
des Erholungsbedarfs
Muster B (Burnout): Resignation und
Erschöpfung (wobei von Burnout speziell in
den Fällen gesprochen werden sollte, in
denen die Entwicklung vom Muster A zum
Muster B verlief)
Die Muster A und B stellen Risikomuster dar. In ihnen
kommen gesundheitsgefährdende Entwicklungen bzw.
schon vorliegende gesundheitliche Beeinträchtigungen zum
Ausdruck.
Auf der Basis der vorgefundenen Musterverteilungen
schlossen wir auf kritische Beanspruchungsverhältnisse in
der Berufsgruppe der Lehrerinnen und Lehrer. Einem
geringen Anteil des wünschenswerten Musters G (mit 17 %)
stand ein hoher Anteil der Risikomuster A und B (mit je 30 %)
gegenüber. Damit hob sich die Lehrerschaft auch im
Vergleich zu anderen in die Untersuchung einbezogenen
Berufsgruppen durch die ungünstigsten Ergebnisse ab. Wir
fanden dabei nur geringfügige regionale und schulform-
spezifische Unterschiede, wohl aber beachtliche Differen-
zen zwischen einzelnen Schulen – und das auch dann,
wenn es sich um die gleiche Schulform in der gleichen
Region handelte. Es hängt offensichtlich vieles davon ab,
wie sich das Lehrerdasein an der jeweiligen Schule
konkretisiert.
Daraus leiten wir die Schlussfolgerung ab, dass man sich
(neben der notwendigen Einflussnahme auf die Rahmenbe-
dingungen des Berufs) auch noch intensiver mit den
Veränderungsmöglichkeiten befassen sollte, die die
Schulen selbst haben. Ohne Frage gibt es vor Ort, in den
konkreten Schulen, noch erhebliches Potential für die
Gestaltung günstigerer Arbeitsbedingungen und die
Reduzierung beruflicher Belastungen. Die Leitungen und
Kollegien bei der gezielten Nutzung dieses Potentials zu
unterstützen, ist das Anliegen unseres Programms
Denkanstöße! (s. auch www.ichundmeineschule.eu).
Wenn sich Leitung und Kollegium für die Durchführung des
Programms entscheiden, so erfolgt zunächst eine gründli-
che Analyse der Beanspruchungsverhältnisse an der
konkreten Schule. Der erste Analyseschritt ist die Bestim-
mung der Muster arbeitsbezogenen Verhaltens und
Erlebens. Diese personenbezogene wird durch die bedin-
gungsbezogene Analyse mittels eines Arbeitsbewertungs-
verfahrens ergänzt. Gegenstand dieses Verfahrens sind die
Arbeitsaufgaben und -bedingungen, die der Einflussnahme
durch die Schulleitung sowie die Lehrerinnen und Lehrer
zugänglich sind. Es sind dies die im beruflichen Alltag
vorkommenden pädagogischen Anforderungen, die damit
verbundenen organisatorischen und sachbezogenen
Ausführungsbedingungen und nicht zuletzt die vielfältigen
sozialen Faktoren der Lehrerarbeit.
54
05 | QUERGEDACHT
Selbstverständlich darf die Anwendung des Programms
»Denkanstöße!« nicht bei der Analyse stehen bleiben. Es
müssen sich geeignete Interventionsschritte anschließen.
Wir meinen damit gesundheitsfördernde Beiträge, die
darauf ausgerichtet sein müssen, den Anteil des wün-
schenswerten Musters G zu erhöhen und die Risikomuster
A und (insbesondere) B zurückzudrängen. Grundsätzlich
geht es uns um zwei Wege der Intervention, die beide
gleichermaßen mit dem Programm berücksichtigt werden:
> die Einflussnahme auf die Arbeitsbedingungen, die
als veränderungsbedürftig erkannt wurden, sowie
> die direkte Unterstützung von Kolleginnen und
Kollegen bei der Bewältigung ihrer persönlichen
Beanspruchungssituation.
Dabei ist uns wichtig, dass die Schulen bei der Durchfüh-
rung des Programms nicht allein gelassen werden. Sowohl
die Auswertung der Analysedaten als auch die Ableitung
und Durchführung der darauf basierenden Interventions-
schritte wird durch speziell ausgebildete Moderatorinnen
und Moderatoren begleitet.1
1 Für eine ausführliche Darstellung des Programms s. Schaarschmidt & Fischer, 2013
Literatur
Schaarschmidt, U. (Hrsg.) (2005). Halbtagsjobber? Psychi-
sche Gesundheit im Lehrerberuf. Analyse eines verände-
rungsbedürftigen Zustandes (2. Aufl.). Weinheim: Beltz.
Schaarschmidt, U. & Kieschke, U. (Hrsg.) (2007). Gerüstet
für den Schulalltag. Psychologische Unterstützungsangebo-
te für Lehrerinnen und Lehrer. Weinheim: Beltz.
Schaarschmidt, U. & Fischer, A. W. (2008). AVEM – Arbeits-
bezogenes Verhaltens- und Erlebensmuster (3. erweiterte
Auflage). London: Pearson.
Schaarschmidt, U. & Fischer, A. W. (2013). Lehrergesund-
heit fördern – Schulen stärken. Ein Unterstützungspro-
gramm für Kollegium und Leitung. Weinheim: Beltz.
Prof. (i.R.) Dr. Uwe Schaarschmidt
Prof. (i.R.) Dr. Uwe Schaarschmidt, ehemals Universität Potsdam, Institut für Psychologie, heute Institut COPING bei Wien, [email protected]
Foto: Andreas Schiblon, LVR-ZMB
55
MEDIENBRIEF | N° 02.2014
Neue Medien im Verleih
Neue Landeslizenzen bei EDMOND NRW
learn:line NRW – neues Design, verbesserter Service
LVR-ZMB intern06Foto: Dominik Schmitz, LVR-ZMB
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Kurzfilme für Kinder ‑ Mit Prädikat (DVD)
D 2008-2011, 3-14 Min., Altersempfehlung: ab 4 Jahren, Signatur: 46 44908-1
Vorschulkinder können den Zusammenhang eines Films oftmals noch nicht
richtig verstehen. Deshalb sollten Filme für die jüngste Zielgruppe ein nicht zu
schnelles Erzähltempo haben, entspannende Momente enthalten, Probleme
kindgemäß lösen und nicht zu lang sein. Sechs- bis achtjährige Kinder verstehen
zwar Filmhandlungen schon besser. Aber auch in diesem Alter sollte auf Zeitraf-
fer, Zeitsprünge und Rückblenden verzichtet werden. Die Kurzfilme, auf dieser
DVD, haben alle ein Prädikat »wertvoll« oder »besonders wertvoll" erhalten. Die
Filme bieten Kindern im Vor- und Grundschulalter ein qualitativ hochwertiges
und ihrem Alter angemessenes Filmerlebnis. Sie sind kurz und sprechen auf
spielerische aber auch ernstere Weise Themen an, die Kinder bewegen.
Neue Medien im Verleih
06 | LVR-ZMB INTERN
KRIMI.DE: Netzangriff (DVD)
D 2011, 45 Min., Altersempfehlung: ab 10 Jahren, Signatur: 46 43381-2
Warum ist Cybermobbing so gefährlich? Für die meisten Kinder und Jugendli-
chen ist das Internet längst ein fester Bestandteil ihres Alltags. Sie verknüpfen
sich in Sozialen Netzwerken, gestalten ihr Profil, laden Bilder und Videos hoch
und tauschen sich in Chats aus. Aber der Einblick ins Private hat eine öffentliche
Schattenseite. Persönliche Fotos werden unerlaubt ins Netz gestellt, Beleidigun-
gen ausgesprochen und Gerüchte in die Welt gesetzt. Cybermobbing ist kein
Spaß, sondern eine Straftat. »Netzangriff«, der spannende SWR-Jugendkrimi aus
der KI.KA-Reihe KRIMI.DE klärt auf, indem er exemplarisch zeigt, wie Cyber-
mobbing funktioniert und verdeutlicht, wie schnell man zum Opfer werden kann.
Ein Tick anders (DVD)
D 2011, 85 Min., Altersempfehlung: ab 12 Jahren, ab 7. Klasse, Signatur: 46 32743-1
Eva hat Tourette – aber Tourette hat nicht Eva! Weil die Außenwelt bei Eva zu
Stress und schlimmen Ticks führt, meidet sie den Kontakt und verbringt den Tag
lieber alleine im Wald oder mit ihrer schrägen Familie. Die beste Medizin gegen
Evas Ticks hat sowieso ihre Großmutter: »In meinem Haus darfst Du alles
kaputtmachen!« Diese Einstellung wirkt Wunder. Mit Oma bemalt sie die Blätter
der Bäume im Garten oder sprengt den Staubsauger. Als Eva eines Tages ihren
Vater in Schlips und Kragen im Wald trifft, gesteht er ihr, dass er seinen Job
verloren hat. Um ihrer Familie zu helfen, entschließt sie sich, ihre Ängste vor der
Außenwelt zu überwinden und sich selbst einen Job zu suchen.
Begleitmaterial unter www.eintickanders.de
57
Neue Landeslizenzen bei EDMOND NRW
Fotosynthese
D 2012, 19 Min., Altersempfehlung: Klasse 6-9, Signatur: 55 01646
Was benötigen Pflanzen zum Wachsen? Johan Baptista van Helmont entdeckte,
dass Pflanzen Nährstoffe für ihr Wachstum nur zu einem geringen Teil aus der Erde
beziehen. Hieraus folgerte er, dass das Wachstum der Pflanzen wohl aus dem
Wasser kommen muss. Seine Glasglocken-Versuche verhalfen Joseph Priestley zu
der Entdeckung, dass Pflanzen aus »schlechter Luft« »gute Luft« machen. Jan
Ingenhousz erkannte, dass Licht notwendig ist, damit grüne Pflanzenteile »gute
Luft« produzieren. Jean Senebier setzte eine frisch abgeschnittene Wasserpflanze
in ein Aquarium und beleuchtete sie. Blasen stiegen auf: Sauerstoff. Eine Animation
zeigt, wie sich die Ausgangsmoleküle der Fotosynthese, Kohlenstoffdioxid und Wasser,
zu den neu gebildeten Molekülen Sauerstoff und Glucose verbinden.
Der Ball/The Ball
GB 2010, 11 Min., Altersempfehlung: ab Klasse 4/Jugendbildung, Signatur: 55 59784
Zwischen Reihenhäusern und Garagentoren in einem heruntergekommenen
Arbeiterviertel spielt Amy alleine Fußball. Jack, neu zugezogen, beobachtet sie
dabei von seinem Fenster aus. Die beiden nehmen auf sehr einfallsreiche Weise
Kontakt zueinander auf. Allerdings vermeidet Jack eine unmittelbare Begegnung.
Als Amy in eine Handgreiflichkeit mit einer Mädchenclique gerät, greift Jack ein
und vertreibt die Mädchen. Amy will sich für seine Hilfe bedanken, Jack aber läuft
zu seinem Haus und schließt die Gartenpforte hinter sich. Wenige Augenblicke spä-
ter kommt er zurück. Schweigend stehen sie sich gegenüber. In Gebärdensprache
nennt Jack seinen Namen, aber Amy versteht ihn nicht. Als er resigniert weg geht,
rollt sie ihren Ball vor seine Füße...
Lippels Traum
D 2009, 101 Min., Altersempfehlung: Klasse 3-6/Jugendbildung Signatur: 55 60198
Lippel ist etwa 8 Jahre alt und sieht sich vor die Situation gestellt, dass sein Vater für
länger verreisen muss. Als Trost gibt er ihm das Märchenbuch "1001 Nacht" zum Lesen.
Gefesselt taucht Lippel in Traumwelten ein, zumindest so lange, bis ihm die gemeine
Frau Jakob – ein echter Hausdrachen – dazwischenfunkt. Der Einbruch des Fantasti-
schen in die kindliche Welt und eine sich dadurch eröffnende, heilsame Traumwelt
durchzieht dieses Werk. Lippel hat Sorgen und Nöte, wie jedes Kind: Er will sich nicht
vorschreiben lassen, wie er zu sein oder was er zu tun und zu lassen hat, er hat Angst
vor der Dunkelheit, dem Alleingelassensein und vor Hänseleien in der Schule. Lippels
Traum ist eine Emanzipationsgeschichte für Kinder und ein Plädoyer für das Träumen.
MEDIENBRIEF | N° 02.2014
58
06 | LVR-ZMB INTERN
learn:line NRW – neues Design, verbesserter Service
Heterogen zusammengesetzten Lerngruppen reicht oft ein
klassisches Schulbuch als alleiniges Lernangebot nicht aus;
je nach Interessen der Schülerinnen und Schüler, Arbeitstem-
po und individuellen Fähigkeiten sind unterschiedliche Zugän-
ge und Bearbeitungswege unterrichtlicher Themen wichtig
und notwendig. Wenn das Angebot des eingeführten Schulbu-
ches nicht für alle passt, dann beginnt in der Regel die Suche
im Internet nach brauchbaren Ergänzungen.
Die learn:line NRW ist dabei zentrale Anlaufstelle für
Pädagoginnen und Pädagogen, die gezielt nach didaktisch
aufbereitetem Unterrichtsmaterial suchen – bietet sie doch
viele Vorteile gegenüber einer allgemeinen Internetrecherche.
Unter der Adresse www.learnline.nrw.de sind qualitativ
hochwertige Lernmittel zu finden, die explizit für den Einsatz
im Unterricht gemacht wurden und schnell und kostenfrei
einsetzbar sind. Die learn:line NRW führt zudem zu Lernmit-
telpools, die im Internet nicht frei zugänglich sind. Alle über
die learn:line NRW gefundenen und heruntergeladenen
Lernmittel dürfen im Unterricht eingesetzt werden (für
Einzelheiten s. jeweilige Lizenzinformationen).
Um den gesamten Webauftritt der Bildungssuchmaschine
learn:line NRW noch übersichtlicher zu gestalten, wurden die
Seiten jetzt komplett überarbeitet. Durch einfachere Struktu-
ren und technische Neuerungen können Lehrerinnen und
Lehrer den Service der learn:line NRW intensiver als bisher
für ihre Unterrichtsvorbereitung nutzen.
Eine neue Suchtechnologie erleichtert das Auffinden von
Inhalten und greift dabei bekannte Surftechniken auf. Das
neue Design passt sich an mobile Endgeräte an, so dass alle
Medien problemlos über Tablet und Smartphone abrufbar
sind. Über die neue Bewertungs- und Kommentarfunktion
machen Lehrerinnen und Lehrer Qualität sichtbar.
Die Bildungssuchmaschine hält mittlerweile über 20.000
Medien für alle Fächer und Schulstufen bereit, hinzu kommen
noch etwa 5.000 Medien des Onlinedienstes EDMOND NRW
der Landesmedienzentren.
Die learn:line NRW wird durch die Medienberatung NRW im
Auftrag des Ministeriums für Schule und Weiterbildung
umgesetzt. Mit dem neuen Webauftritt hat sich das Angebot
nun auch optisch an die Seiten des Bildungsportals ange-
passt.
Wolfgang Vaupel, Christiane Thomsa
Wolfgang Vaupel ist Geschäftsführer der Medienberatung NRW. Christiane Thomsa ist
pädagogische Mitarbeiterin der Medienberatung NRW
Foto: Julia Reschucha, LVR-ZMB
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MEDIENBRIEF | N° 02.2014
Begleiten – Qualifizieren – Beraten. Medienscouts in Düsseldorf
Düsseldorfer Fenster07
Foto: Stefan Arendt/LVR-Zentrum für Medien und Bildung
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07 | DÜSSELDORFER FENSTER
Begleiten – Qualifizieren – Beraten. Medienscouts in Düsseldorf
Die Fachstelle für Gewaltprävention der Landeshauptstadt Düsseldorf und das LVR- Zentrum für Medien und Bildung,
Medienzentrum für die Landeshauptstadt Düsseldorf, gestalten in Kooperation mit eSchool, die innovative und viel
beachtete Qualifizierung »Medienscouts«.
In Düsseldorf nehmen insgesamt 18 Düsseldorfer Schulen mit 72 Schülerinnen und Schüler, 36 Lehrkräfte sowie fünf
Schulsozialarbeiterinnen und Schulsozialarbeiter an diesem Projekt teil.
in allen Modulen Kommunikation, Beratung und Soziales
Lernen trainiert. Die positive Auswirkung auf die Persön-
lichkeitsentwicklung der Medienscouts wird bereits in der
Ausbildungsphase deutlich. Besonders beeindruckend
waren die Erlebnisse aller Beteiligten hinsichtlich »Lernen
auf Augenhöhe« zwischen den pädagogischen Fachkräften
und ihren SuS. Der Rollentausch in der Workshoparbeit
»wer lehrt & wer lernt« zeigte sich in vielen Themen wie
z. B. Facebook, Datenübertragung, einen Filmclip über
Apps herstellen, QR-Code und anderes. Häufig waren die
Schülerinnen und Schüler fachlich überlegen.
A.J.: Fünf Tage aus der Schule, heißt auch fünf Tage kein
Unterricht. Was rechtfertigt in Ihren Augen diese zeitinten-
sive Ausbildung?
U.S.: Viele Evaluationen belegen, dass Präventionsangebo-
te in der Schule besonders erfolgreich sind, denn wir
erreichen in den Schulen alle – Kinder, Jugendliche, Eltern
und pädagogische Fachkräfte – und das über einen langen
Zeitraum hinweg. Die zukünftige Arbeit der Medienscouts
ist also eine schulische Entscheidung, sich den Herausfor-
derungen digitaler Medien aktiv und nachhaltig zu stellen.
Die Medienscouts schärfen die Wahrnehmung der Potenzi-
ale digitaler Medien in den Schulen und geben der Diskus-
sion um Vor- und Nachteile neue Impulse. Nachfolgende
Medienscouts profitieren von ihren Erkenntnissen und
Erfahrungen, sie stehen beratend bei der Mediennutzung
zur Seite und können Fragen, die sich für junge Nutzer
rund um die Themen Social Web, Internet & Co. ergeben,
kompetent beantworten – Mehrwert für alle!
Amina Johannsen vom LVR-Zentrum für Medien und
Bildung sprach mit Ute Stratmann, Koordinatorin der
Qualifizierungen zu den Düsseldorfer Erfahrungen im
Projekt Medienscouts.
A.J.: Frau Stratmann, Sie begleiten für die Fachstelle
Gewaltprävention mit großem Engagement das Projekt von
Anfang an. Aus welchen Gründen unterstützen Sie das
Projekt?
U.S.: Computer, Internet und Smartphones sind mittlerweile
auch in der Schule allgegenwärtig. Neben den erwünschten
Effekten und Möglichkeiten für die Schülerinnen und
Schüler lauern allerdings auch Gefahren im Internet wie
Cybermobbing oder ungewollte Urheberrechtsverletzungen.
Was darf ich ins Internet stellen und was nicht? Wie nutze
ich die Chats? Was will ich von mir preisgeben? Wie falle ich
nicht auf kostenpflichtige Internetseiten herein? Wie wehre
ich mich gegen Cyber-Mobbing? Lehrkräfte können häufig
nicht weiterhelfen oder Jugendliche reden nicht mit
Erwachsenen über ihre offenen Fragen oder Probleme. Oft
sind Eltern verunsichert, können die Kinder auf deren
»Datenautobahn« nicht unterstützend begleiten.
A.J.: Wie werden die Schülerinnen und Schüler und
pädagogischen Fachkräfte zu Medienscouts ausgebildet?
U.S.: Die Schülerinnen und Schüler und deren Lehrkräfte
arbeiten gemeinsam an fünf Tagen zu den Schwerpunkten
Internet und Sicherheit, Social Communities, Computer-
spiele und Handy. Darüber hinaus werden als Querschnitt
61
MEDIENBRIEF | N° 02.2014
A.J.: Können Schülerinnen und
Schüler tatsächlich in Cyber-Mob-
bingfällen beraten? Sind sie damit
nicht überfordert?
U.S.: Hier sind tatsächlich vereinzelt
strafrechtlich relevante Implikationen
berührt und Konsequenzen erforder-
lich, die ganz klar an Erwachsene
Amina Johannsen und
Ute Stratmann
Amina Johannsen leitet kommissarisch die Abteilung Medienbildung im LVR-Zentrum für Medien und Bildung. Ute Stratmann leitet die Fachstelle Gewaltprävention im Schulverwaltungsamt der Landeshauptstadt Düsseldorf
In dem landesweiten Pilotprojekt »Medienscouts NRW« qualifiziert die
Landesanstalt für Medien NRW Schülerinnen und Schüler der Jahrgangsstu-
fen 7 - 9 und ihre Beratungslehrkräften in Fragen der Risiken und Chancen
der Mediennutzung.
Die Medienscouts werden befähigt, im Rahmen der peer-group-education
zu Fragen des kritischen Medienumgangs zu beraten. Landesweit sind
inzwischen 1.109 Medienscouts und 561 Beratungslehrkräfte von 286
Schulen in den beiden ersten Projektdurchläufen (2012-2013) qualifiziert
worden. 31 Kreise und kreisfreie Städte nehmen am Projekt bereits teil; das
entspricht einer Beteiligungsquote in Nordrhein-Westfalen von 58 Prozent.
In 2014 werden bis zu 600 weitere Medienscouts und 300 Lehrkräfte
ausgebildet (www.medienscouts-nrw.de)
übergeben werden müssen. Die
Scouts sind in ihrer Beratungstätig-
keit hin und wieder mit Fragen und
Themen konfrontiert, die sie gegebe-
nenfalls überfordern können, wie in
Fällen von Cyber-Mobbing, sexuellen
Übergriffen und anderem – aber sie
sind nicht allein und werden jederzeit
von Erwachsenen unterstützt.
Foto: Nicole Schäfer, LVR-ZMB
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08 | BESPRECHUNGEN
Michael Ballhaus: Bilder im Kopf
Besprechungen08
© ARRI
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Bilder im Kopf: Die Geschichte meines Lebens
MEDIENBRIEF | N° 02.2014
Foto: LVR-ZMB
»Dies sind die Erinnerungen eines
Mannes, der mit seinen Augen gelebt
und gearbeitet hat.«
Mit diesen Worten beginnt Michael
Ballhaus seine Autobiographie. Die
Bilder seines bewegten Lebens hat der
berühmte Kameramann alle in seinem
Kopf gesammelt und konserviert. Jetzt
hat er sie erstmals zu Papier gebracht.
Der Leser wird mitgenommen auf eine
packende Lebensreise zwischen einer
fränkischen Künstlerkolonie und der
faszinierenden Filmwelt Hollywoods.
Sie beginnt mit der frühen Kindheit im
von Bombenangriffen geplagten Berlin
und führt nach Schloß Wetzhausen, wo
seine Eltern, beide Schauspieler, ein
Theater betreiben, das gleichzeitig eine
Art Künstlerkommune darstellt. »Ich
liebte das Theater, auch wenn ich bald
merkte, dass mir die Eltern nichts von
ihrem Talent vererbt hatten«, bemerkt
Ballhaus über jene Zeit.
Seine Begabung zeigt sich beim
Fotografieren: mit fünfzehn bekommt
er seine erste richtige Kamera
geschenkt und betätigt sich auf
Wunsch seiner Eltern als Fotograf am
heimischen Theater. Als junger Mann
assistiert Ballhaus dem Regisseur Max
Ophüls bei dessen Film »Lola Montez«.
Diese Erfahrung ist prägend für ihn:
»Der Regisseur, das lernte ich bei
diesen Dreharbeiten, hatte das
Kommando. Aber das nützte ihm
nichts, wenn der Kameramann nicht
zaubern, fliegen, tanzen konnte«. Und
so beschließt Ballhaus, Kameramann
zu werden.
Der Beginn einer großen Karriere, die
zunächst beim Südwestfunk in Baden
Baden startet. 1970, durch die erste
Zusammenarbeit mit Rainer Werner
Faßbinder, mit dem er insgesamt 15
Filme dreht, kommt es zum eigentli-
chen Durchbruch. Spezielle Filmtech-
niken, wie die berühmten 360-Grad
Kreisfahrten mit der Kamera werden
geboren. Und Ballhaus schafft
unentwegt weitere großartige Bilder:
»Manchmal staune ich selber darüber,
wie viele Bilder sich sammeln und
stapeln, während man sich in der
Gegenwart zu bewähren versucht.« Mit
beinahe fünfzig Jahren gelingt ihm der
Sprung nach Amerika: er arbeitet zum
ersten Mal mit Martin Scorsese, mit
ihm dreht er »Zeit der Unschuld«. Es
folgt die Zusammenarbeit mit weiteren
Größen Hollywoods wie Francis Ford
Coppola, Mike Nichols, Robert Redford
und Wolfgang Petersen.
Neben den Stationen seines berufli-
chen Lebens und interessanten
Hintergrundgeschichten zu diversen
Filmproduktionen und dem Zusam-
mentreffen mit verschiedenen
Filmgrößen, zeichnet Ballhaus auch
sehr persönliche Bilder z. B. vom Tod
seiner Frau Helga sowie der Bekannt-
schaft mit seiner zweiten Frau Sherry
Hormann. Seine Beschreibungen sind
detailliert, empathisch, leidenschaft-
lich und amüsant. Wie in seinem
Leben ist Ballhaus auf Distanz
bedacht und bewahrt sich seine
Unabhängigkeit: höflich, bescheiden
und unter Verzicht auf Schilderungen
möglicher pikanter Details.
Auch die Tragik des schleichenden
Verlusts seines wichtigsten Werkzeu-
ges – dem Augenlicht – beleuchtet
Ballhaus. Auch hierbei zeigt sich seine
optimistische Gesinnung:
»Jetzt, da ich keine Bilder mehr mache
und die Buchstaben nicht mehr so
richtig lesen kann, habe ich zwei neue,
sehr sinnliche Vergnügen entdeckt. Es
ist die Freude an einer Stimme, die zu
mir spricht. Und es ist die Freude
daran, dass ich, was ich nicht mehr
lesen kann, mir vorlesen lasse. Ich
habe nicht viel gelesen, und deshalb ist
die Freude so groß, dass es jetzt noch
so vieles zu hören gibt. Ich fange ja
gerade erst damit an. Und anzufangen,
das war mir immer das Liebste.«
Claudia Hopstein
Claudia Hopstein ist pädagogische Mitarbeiterin in der Medienberatung NRW
Deutsche Verlags-Anstalt (DVA), München 2014ISBN 9783421045669Gebunden, 320 Seiten, 22,99 EUR
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Afrikanische Meister. Kunst der Elfenbeinküste
Spiel der Masken. Intergenerationelles Projekt
Lernort Kultur09Meister der Yasua, gye (Helmmaske), Côte d’Ivoire, zentrale Guro-Region, um 1930, © Museum Rietberg Zürich, Foto: Rainer Wolfsberger
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09 | LERNORT KULTUR
Der Blick in den Spiegel. Eine Projektwoche für Schülerinnen und Schüler
MEDIENBRIEF | N° 02.2014
Unter dem Titel »AFRIKANISCHE
MEISTER. KUNST DER ELFENBEIN-
KÜSTE« präsentiert die Kunst- und
Ausstellungshalle der Bundesrepublik
Deutschland vom 28. Juni bis zum 5.
Oktober 2014 in Bonn mehr als 200
bedeutende Masken, Figuren und
Gebrauchsgegenstände der Elfen-
beinküste und ihrer Nachbarländer.
Ausgangspunkt der Ausstellung ist
die Überzeugung der modernen
Kunstgeschichte, dass in sogenannten
primitiven Kulturen – nicht anders als
in frühen Hochkulturen oder in den
westlichen Regionen des Erdballs – in-
dividuelle Meister einzigartige Werke
höchster Qualität schufen. Ziel der
Präsentation ist es, die unvergleichli-
chen Werke der – meist unbekannten
– großen Bildhauer aus verschiedenen
Kunstregionen in einen kunsthistori-
schen Kontext zu stellen, der vergleich-
bar demjenigen unserer großen Meister
von Michelangelo bis Picasso ist.
Im Gebiet der heutigen Elfenbeinküste
in Westafrika sind viele Bevölkerungs-
gruppen ansässig, zum Beispiel die
Lobi, Dan, Senufo, Boti oder Yahure.
Außerordentlich begabte Künstlerper-
sönlichkeiten schufen dort bildhaueri-
sche Werke auf Bestellung. So wurden
Masken für Startänzer, Jugendbünde,
einflussreiche Familien- oder Geheim-
bünde, aber auch für Wahrsager
geschaffen. Da die meisten Werke
sehr signifikante Züge tragen, können
sie jeweils einer Künstlerpersönlich-
keit zugeordnet werden.
In der Ausstellung begegnen die
Schülerinnen und Schüler so dem
Meister der riesigen Hände, dem
Meister des runden Gesichts oder auch
dem Meister der gerundeten Volumen.
Über die Beschreibung der ausgestell-
ten Skulpturen werden sie feststellen,
welche stilistischen Merkmale den
einen Meister vom anderen unter-
scheiden – seien es schmale Lippen,
dicke aufgesetzte Augenbrauen,
kunstvolle Frisuren mit spezifischen
Kopfbedeckungen oder auch dreiecki-
ge Gesichtsformen. Bei diesen
Beschreibungen beobachten sie
sicherlich auch sich und ihre Mitschü-
ler. Was macht den Einzelnen eigent-
lich so einzigartig und unverwechsel-
bar? Auf diese Weise machen sich die
Schülerinnen und Schüler auf den
Weg nach Westafrika und entdecken
dabei viel von sich und anderen!
Im Rahmen der Ausstellung führt die
Bundeskunsthalle vom 22. bis zum 26.
September 2014 eine fünftägige
Projektwoche in Kooperation mit zwei
Jahrgangsstufen der Drachenfelsschule
Königswinter, einer Förderschule mit
dem Schwerpunkt Sprache und Lernen
durch. Der Startschuss zur Projektwo-
che findet in der Drachenfelsschule
statt. Die Kunstvermittlerin Uschi Baetz
und die Künstlerin Barabara Doerffler
führen gemeinsam mit den Lehrkräften
im Rahmen einer Unterrichtsstunde in
die Ausstellung und die Projektwoche
ein. Am Folgetag begibt sich eine
zwölfköpfige Gruppe von Schülerinnen
und Schülern im Alter von 6 bis 7 Jahren
auf den gemeinsamen Entdeckungs-
rundgang in die Ausstellung und im
Anschluss zur kreativ-praktischen Arbeit
in einen Workshopraum des Ausstel-
lungshauses. Dort entstehen an vier
Tagen unter der Anleitung von Barbara
Doerfler und Uschi Baetz afrikansiche
Masken und Skulpturen aus unter-
schiedlichsten Werkstoffen. Angeleitet
vom Regisseur und Kameramann Benja-
min Leers werden drei Schülerinnen und
Schüler im Alter von 13 bis 14 Jahren
die Erstklässler während des gesamten
Projekts mit der Kamera begleiten. Auf
einer Abschlussveranstaltung in der
Aula der Drachenfelsschule werden die
Erstklässler ihren Mitschülern, Lehrern
und Eltern, aber auch der interessierten
Öffentlichkeit ihre Masken und
Skulpturen präsentieren und die 13 bis
14-Jährigen ihren Dokumentarfilm.
Bei Interesse, ein solches Projekt mit
der Bundeskunsthalle durchzuführen,
melden Sie sich einfach bei uns!
Christian Gänsicke
Christian Gänsicke ist Leiter »Kunstvermittlung/Bildung« in der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland GmbH
Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland GmbHMuseumsmeile BonnFriedrich-Ebert-Allee 4, 53113 BonnTel: +49 228 9171–200Mail: [email protected]
ÖffnungszeitenMontag geschlossenDienstag und Mittwoch 0 bis 21 UhrDonnerstag bis Sonntag 10 bis 19 Uhr (sowie an allen Feiertagen, auch denen, die auf einen Montag fallen)
Meister Sra , Große Maske mit Stirnnarbe und beweg- lichem Unterkiefer, Côte d’Ivoire, südliche Dan-Region, um 1930, Privatbesitz
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Das Spiel der Masken. Ein intergene-rationelles Projekt für Menschen mit Demenz und Vorschulkinder
Die Veranstaltungsreihe »Kunst und Kultur für Menschen
mit Demenz«, die seit 2011 in der Bundeskunsthalle
regelmäßig zu allen großen Ausstellungen stattfindet, ist
um ein intergenerationelles Angebot erweitert worden. Es
führt Senioren und Junioren bei einem gemeinsamen
Ausstellungsbesuch zusammen und stellt einen kreativen
Austausch der Generationen her. In einem regen, wert-
schätzenden Austausch kommt es in der Bundeskunsthalle
zu einer Annäherung der unterschiedlichen Interessen,
Sichtweisen und Fähigkeiten. Jung und Alt begegnen sich in
entspannter Atmosphäre und widmen sich unter Anleitung
einer Kunstvermittlerin der Kunstbetrachtung, die mit einer
gemeinsamen praktisch-kreativen Arbeit abgeschlossen
wird.
Im Rahmen der Ausstellung »Afrikanische Meister. Kunst
der Elfenbeinküste« steht die Betrachtung unterschiedli-
cher Masken im Zentrum, erweitert durch ertastbare
Holzmasken, die zum Begreifen der Formenvielfalt und
Erfühlen des Materials eingesetzt werden. Bevor die Gruppe
in die Ausstellung geht, lernen sich alle Teilnehmerinnen
und Teilnehmer bei Kaffee, Keksen und Saft kennen und
kommen so miteinander ins Gespräch. Die Auswahl der
Exponate konzentriert sich auf wenige Kunstwerke und zielt
auf ein intensives gemeinsames Kunsterlebnis hin, die
Wissensvermittlung ist hierbei sekundär. Hierauf folgt die
praktische Gruppenarbeit: jeweils zwei Kinder arbeiten mit
einer Seniorin/einem Senior im Werkraum zusammen und
setzen ihre individuellen Eindrücke in einem gemeinsamen
Prozess kreativ um.
Birgit Tellmann
Birgit Tellmann ist Leiterin »Rahmenprogramme« in der Kunst- und Ausstellungshal-le der Bundesrepublik Deutschland GmbH
Weitere Termine: Donnerstag, 11. September und Mittwoch, 1. Oktober 2014, jeweils 14.30–16.30 Uhr
Teilnahmegebühr:Die Teilnahme für Senioren beträgt 50 € pro Gruppe, der von der Senioreneinrichtung pauschal zu entrichten ist, zuzüglich 3 € Eintritt pro PersonDie Teilnahme für Kinder beträgt 28 € pro Kita-Gruppe; Der Eintrittspreis ist bereits eingeschlossen.
Die Teilnahme ist nur nach vorheriger Anmeldung möglich unter [email protected] oder telefonisch unter 0228 9171-278. Die Teilnehmerzahl ist auf maximal 4 demenziell veränderte Menschen und 8 Kinder jeweils mit Begleitung begrenzt.
Seniorenheim Haus Katharina und Kindertagesstätte St. Remigius aus Königswinter bei der Betrachtung der gemeinsam hergestellten Bilder, Foto: Haus Katharina, 2014.
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09 | LERNORT KULTUR
Foto: Michael Jakobs, LVR-ZMB
LVR-Zentrum für Medien und Bildung
Medienzentrum für die Landeshauptstadt Düsseldorf
Bertha-von-Suttner-Platz 1, 40227 Düsseldorf
www.medien-und-bildung.lvr.de
ISSN 1615-7257