max joseph

19
Diana Damrau über Frauenrollen – Les Contes d‘Hoffmann Ein Keim erstickt: Protestwellen in Shanghai – Turandot Konstantin Wecker über den Rausch der Inspiration Zeiten wenden MAX JOSEPH 21 19

Upload: bayerische-staatsoper

Post on 10-Mar-2016

216 views

Category:

Documents


2 download

DESCRIPTION

Nr. 1 2011/12 - Leseprobe

TRANSCRIPT

Dia

na D

amra

u üb

er F

rau

enro

llen

– L

es C

onte

s d

‘Hoff

man

n

Ein

Kei

m e

rsti

ckt:

Pro

test

wel

len

in S

hang

hai –

Tur

ando

tK

onst

anti

n W

ecke

r übe

r den

Rau

sch

der I

nspi

rati

on

Zeiten wenden

MAX JOSEPH

2119

FEDE YANKELEVICH, ZEICHNER AUS MADRID, LEGT ZWEI BILDER IN EINES. ÜBER DEN KLANGKÖRPER DER ALTEN ZEIT SCHIEBT SICH DIE FRATZE EINER NEUEN ZEIT: EIN MASKENSPIEL AUS SCHÖNEM KLANG UND SCHÖNEM SCHEIN UND DUNKLEM SPIEL UND ALLEN DÄMONEN DER WELT, DIE AUS EINEM ALTEN GEIGENGEHÄUSE HERAUSKRIECHEN.

Fed

e Y

anke

levi

ch, M

usic

ópat

a,20

09

Editorial

Lassen sich Zeiten wenden? Können wir sie drehen und neu entdecken? Für die Zukunft neu beeinflussen?

Zum Auftakt der neuen Spielzeit möchten wir Sie einladen, mit MAX JOSEPH in das 19. Jahrhundert einzutauchen, in welches uns Jacques Offen-bachs Les Contes d’Hoffmann führt, um gleichzeitig immer wieder darüber er-staunt Luft zu holen, wie sehr die Fragen der damaligen Zeitenwende unseren heutigen ähneln.

Den Anfang macht Joachim Käppner in seinem Essay, wenn er beschreibt, dass es mit einer vermeintlich guten alten Zeit oder gar einer früheren, jetzt herbeige sehnten Ordnung und Überschaubarkeit nicht weit her ist. Er zeigt, wie elementar in Umbruchzeiten der Gleichklang von technischem Fortschritt und de-mokratischer Teilhabe ist – oder gewesen wäre: Im Deutschland des 19. Jahrhun-derts blieb das eine hinter dem anderen zurück mit dem bekannten Ergebnis, dass unter anderem die unterentwickelte Demokratie zur Katastrophe führte.

Das Verhältnis von Demokratie und Fortschritt führt uns unmittelbar ins heutige China, in welchem La Fura dels Baus ihre Inszenierung von Puccinis Turandot ansiedeln werden. Xifan Yang erzählt aus einer Gesellschaft der Gegen-sätze, von Megalomanie, Fortschrittsglauben und Begeisterung, in der gleichzeitig – wäre das Tempo sonst möglich? – demokratische Tendenzen auf perfide, da nicht vorhersehbare Weise unterdrückt werden. Die Fotografien von Zhang Xiao ver-mitteln uns diese ambivalente Stimmung auch in jedem Einzelnen. Die Vertu-schung der Ursachen des Zugunglücks in Wenzhou löste Empörung aus, aber bereits kurz darauf drückte ein unsichtbares Maßnahmenbündel die Menschen in ihren Alltag zurück.

Auf das Innenleben des Einzelnen weist uns abermals Hoffmann als zeitlose Figur des ewig zaudernden und hadernden Künstlers, vom Realen getrennt durch die Fantasie seiner Traumfrauen. Diese wiederum werden in der Produktion ganz real von der einen Diana Damrau gesungen, die mit Eva Gesine Baur über Frau-enporträts aus dem 19. Jahrhundert gesprochen hat. Von Frauenrollen in der heu-tigen Zeit können beide ein Lied singen. Die Erzählerin Ulrike Draesner hat die Kollegenfigur des E. T. A. Hoffmann und dessen Suche nach dem Musenkuss auf sich wirken lassen, vor allem aber die dramaturgisch spannende Situation vor diesem Ereignis, dem Warten auf – den Muserich. Das zeitlose Künstlerproblem, ergänzt um einen Pinselstrich des Jahres 2011.

Und natürlich haben wir uns auch ästhetisch auf viele verschiedene Arten dem 19. Jahrhundert genähert, über Künstler wie Jessica Harrison, die ganz der Porzellankunst verfallen ist und ihren zarten ätherischen Wesen viel mehr Tiefe und Sinn für das Leiden zugestehen möchte als man aus sicherer Distanz jemals ahnen konnte. Eine tagelange Porträtsitzung haben wir unserem Dirigenten Con-stantinos Carydis erspart, wohl aber wurde sein Porträt von Naomi Cayne in hin-gebungsvoller, dem Detail der Kunst ergebener Weise in diese Ausgabe hineinge-stickt.

Dass Ihnen diese Reise in die inneren und äußeren Welten des 19. Jahrhun-derts Freude bereitet und gleichzeitig wach macht für unsere Zeitenwende, das hoffen wir. Eine aufregende, verwickelnde und schöne Spielzeit wünscht Ihnen

Nikolaus Bachler, Staatsintendant

Heinrich Heine, Die schlesischen Weber

12 »Im düstern Auge keineTräne, / sie sitzen am Webstuhl und fletschendie Zähne: /Deutschland, wir weben Dein Leichentuch, / wir weben hinein den dreifachen Fluch – / Wir weben, wir weben!«

Essay Joachim Käppner

ihnen eines: das Staunen, ja der Zorn über den Wandel der Welt, über die Entdeckung der Geschwindigkeit, mit der das Gewohnte weichen muss, sei es das Wesen der Arbeit oder das Gesicht der alten Stadt.

Vielen Menschen heute dagegen erscheint, wenn auch eher unbe-wusst, das 19. Jahrhundert als gute alte Zeit. Eine andere Zeit, die vor den Weltkriegen lag, in der die Welt noch nicht aus den Fugen geraten war und in der die Dinge noch ihre Ordnung hatten, so zweifelhaft diese Ordnung auch gewesen sein mag. Eine Epoche der Geborgenheit, die uns in den Sälen der großen Kunstmuseen greifbar nahe erscheint und doch so fern ist. Diesen Gedanken verkörpert für uns nach wie vor das Werk Carl Spitzwegs, und nur zu bereitwillig übersieht man, dass der kauzige Münchner Maler seine Zeit auf meisterliche, zugestanden warmherzige Weise als Welt von gestern karikierte: die gähnenden Provinzsoldaten auf den Wällen bröckelnder Festungen, die Enge der spitzgiebligen Kleinstadt, das Idyll der Vorgärten.

So bleibt ausgerechnet das 19. Jahrhundert ein gefühlter Ge-genentwurf zur Jetztzeit und den verwirrenden Zumutun-gen des heutigen Wandels, dem sich der Einzelne ausge-setzt fühlt. Seit der Epochenwende von 1989 ist dieser Wandel immer rasanter geworden. Der amerikanische Pu-blizist Francis Fukuyama hat versucht, das Ende des Kom-munismus und den Siegeszug der Demokratie als Vollen-dung jenes Fortschritts auszulegen, der 1776 und 1789 mit der Unabhängigkeitserklärung des freien Amerika und der Französischen Revolution begonnen habe. Das „Ende der Geschichte“ nannte er sein viel gelesenes Buch, so als habe die historische Entwicklung der Menschheit ein Stadium der Vollendung erreicht – ironischerweise ein Denkmus-ter, das jenem des just überwundenen Kommunismus gar nicht unähnlich sah. Vieles schien seinen Optimismus zu rechtfertigen: der Siegeszug der Freiheit in Osteuropa,  der Beginn einer internationalen Strafgerichtsbarkeit, der freie Welthandel.

Dennoch ist das Gefühl der Unsicherheit immer stärker geworden. Die neuen Bedrohungen haben alte Gewissheiten ver-schlungen. Der Terror, der spätestens seit 9/11 mitten in das Herz der Zivilgesellschaften zielt und eine dunkle Dro-hung bleibt. Der Kapitalismus, strahlender Sieger des Zweikampfs der Systeme bis 1989, zeigt in für jedermann sichtbarer Weise sein hässliches Gesicht. Von den Ver-herrlichern des freien Marktes wie eine säkulare Verhei-ßung bejubelt, ruiniert er ganze Volkswirtschaften, Wäh-rungen, Berufsstände. Die Gier des Aktienmarktes ist ein Hohn auf das Gemeinwohl, ein Begriff übrigens, den ein ehemaliger FDP-Chef auf seinen Parteitagen gern mit Häme überzog.

Es liegt im Wesen jeder Nostalgie, Dinge zu verklären und in angenehmer Unschärfe zu belassen. Die Sehnsucht nach dem 19. Jahrhundert ist davon zutiefst durchdrungen. Die

DIE GEWISSHEITEN ZERFIELEN WIE MODRIGE PILZE.

Bil

der

Nic

k va

n W

oert

Te

xt J

oach

im K

äpp

ner

Wenn derzeit eine IT-Firma erstmals in der Geschichte das wertvollste Unternehmen der Welt ist, ist dies nur messbares Indiz eines unermesslichen Wandels. Sei-ne Überforderungen führen zu Unsicherheit, Angst und Sehnsucht nach geordneten Verhältnissen. Dies war im scheinbar geordneten 19. Jahrhundert schon einmal so. Für MAX JOSEPH spürt Joachim Käppner dieser vermeintlichen Ordnung nach und entdeckt da-bei verblüffende, wenn nicht alarmierende Parallelen zur Zeitenwende, die wir heute erleben.

Mehr Hungerrevolte denn Umsturzversuch war der Auf­stand der schlesischen Weber im Jahr 1844, für die Heinrich Heine in seinem Gedicht Partei ergreift. Der Notschrei richtete sich gegen die kalten Mechanismen des frühen Kapitalismus. Die Weber, die in Heimarbeit schufteten, hat­ten keine Chance mehr gegen die neuen Maschinen; sie fie­len ins Elend, ohne recht zu begreifen, warum nicht mehr funktionierte, was über Generationen bewährt gewesen war.

Nicht sehr viel anders muss sich eine Generation später Max Graf gefühlt haben, der Vater des Schriftstellers Oskar Maria Graf. Der Großvater war noch Tagelöhner, Rechen­macher, in der Landwirtschaft gewesen, in Berg am Starn­berger See; Max kam dann mit einem Eisernen Kreuz und einer steifen Hand aus dem „Siebzigerkrieg“ gegen Frank­reich. Später schrieb der Sohn: „Was sollte er daheim in all der drückenden Not anfangen? Er ging bedrückt herum und war die meiste Zeit unleidlich. Wohin er auch schauen mochte, überall regte sich das neu erweckte, ungestüme Leben, nur mit dem Gewerbe des Vaters schien es immer mehr abwärts zu gehen. Die Bauern hatten sich längst an die billigen neuen Erntegeräte gewöhnt, die in den neuent­standenen Fabriken der Städte hergestellt wurden.“

Noch einmal 60 Jahre später machte sich die Schriftstellerin Ri­carda Huch in ihrem Buch Im alten Reich auf, das festzu­halten, was in den Städten des Reichs – vor dem Bomben­krieg von 1944/45, wohlgemerkt – vom alten Glanz geblieben war. Und oft geht es ihr wie in Bautzen: „Im Märchen kommt es wohl vor, daß einer, durch dicken Wald wan­dernd, es plötzlich grau durch die schwarzen Tannen schimmern sieht: da liegt ein verwünschtes Schloß mit Zinnen und Brüstungen, das nur ein Kind des Glückes, von guten Geistern geführt, auffindet. Nicht durch hohe Wäl­der muß sich schlagen, wer Bautzen aufsuchen will, son­dern durch mehr oder weniger häßliche moderne Straßen und Mietskasernen.“

Drei Dichter und das Deutschland des 19. Jahrhunderts. So un­terschiedlich sie und ihre Themen sind, so gemeinsam ist

gewaltige Erschütterung des Ersten Weltkrieges, der sich nun bald zum 100. Mal jährt, diese „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“, die nach nur 20 Jahren in das noch größe-re Verhängnis des Zweiten Weltkrieges führte, ließ schon sehr bald die große Nostalgie nach den Jahren der Fülle, des scheinbar unaufhaltsamen Fortschritts, des Optimis-mus aufkommen.

Letztlich umfasst das 19. Jahrhundert, jene golden erscheinende Welt, die erst tastend, dann begeistert und schließlich fast kopflos den Weg in die Moderne ging, einen etwas weiteren Zeitraum als jenen, den der Kalender dafür vorsieht. His-toriker sprechen daher vom „langen 19. Jahrhundert“, das 1789 mit dem Sturm der Revolutionäre auf die Pariser Bas-tille begann und im August 1914 endete, als der britische Außenminister Edward Grey resigniert sagte: „In ganz Eu-ropa gehen die Lichter aus.“

Das 19. Jahrhundert, ob nun lang oder kurz, ist uns viel näher und verwandter, als wir glauben. Es ähnelt dem 20. Jahr-hundert mehr als all der Zeit zuvor, es ist der Beginn der modernen Zeiten, die Charlie Chaplin so tiefsinnig verulkt hat. Nie zuvor hatte sich die Welt so rasch gewandelt wie in jener Epoche nach 1789. Je weiter sie voranschritt, desto geschwinder vollzogen sich diese Entwicklungen. Heute sagt man, eine Firma aus der IT-Branche, die ihren zehn-ten Geburtstag feiert, gehöre bereits zu den Veteranen, ein Jahrzehnt ist in der Ära des World Wide Web eine lange Zeit. Aber das war vor 100 oder 150 Jahren genauso, nur dass es damals nicht das Zeitalter des Virtuellen war, son-dern des Handfesten: der Maschinen, der Mechanik, der lärmenden Fabriken. Bei Lichte besehen begann damals die Uhr schneller und schneller zu laufen, Jahr für Jahr gab es neue, umwälzende Erfindungen, und immer mehr Menschen kamen nicht mehr mit, materiell nicht und geis-tig erst recht nicht. „Eins, zwei, drei! Im Sauseschritt / Läuft die Zeit; wir laufen mit. / Prosit Neujahr – / Ob gut, ob schlecht, wird später klar“, dichtete Wilhelm Busch sei-nerzeit in seinem kleinen Meisterwerk über das Leben des Spießbürgers Knopp, der von alledem möglichst wenig mitzubekommen trachtet.

Wenn dieses 19. Jahrhundert zugleich die Maler und Dichter der Romantik hervorgebracht hat, dann waren auch sie bereits eine Gegenbewegung zu etwas Neuem, Unbekannten, Un-heimlichen: der kühlen Rationalität der Moderne, die mit voller Wucht über die Welt hereinbrach. Jahrtausendelang war der technische Fortschritt eine Schnecke gewesen. Jetzt war plötzlich machbar, was einst Fantasie gewesen war – was für eine spektakuläre Parallele zum 20. Jahrhun-dert. Die Erfindung der Dampfmaschine zerstörte ganze Arbeitswelten – wie die digitale Revolution unserer Tage. Reisen war nicht mehr das Privileg der Begüterten und weniger Abenteurer, die, wie der Bursche bei den Gebrü-dern Grimm, auszogen, das Fürchten zu lernen: Eisenbah-nen und schraubengetriebene Schiffe ließen die Welt zu-sammenwachsen. Gepflasterte Straßen ersetzten erstmals

seit der Römerzeit in großem Ausmaß die holprigen Kut-schenwege des Alten Reiches. Telegraphen verbanden plötzlich alle großen Zentren Europas, in denen man über die Jahrhunderte gelernt hatte, der mündlichen oder schriftlichen Nachricht erst einmal gründlich zu misstrau-en. Doch schon im Krimkrieg 1853 bis 1856 kamen die Nachrichten von der Front mit nie gekannter Schnelligkeit bei den Zeitungslesern an. Am Ende des Jahrhunderts war selbst Amerika durch ein Transatlantikkabel mit dem al-ten Kontinent verbunden. Noch vor 1914 wurden die Autos erfunden, das Flugzeug, das Telefon.

Und wie heute stieß der Wandel auf ebenso leidenschaftliche wie hilflose Widerstände, denn seine Dynamik riss sie alle fort. Die Maschinen unterstützten den Menschen nicht mehr, wie in vorindustriellen Zeiten das Mühlrad oder der Webstuhl, sie ersetzten ihn oder zwangen ihn, sich ihrem

unbarmherzigen Takt zu beugen. Preußens König Fried-rich Wilhelm III. mochte poltern: „Alles soll Karriere ge-hen, doch die Ruhe und Gemütlichkeit leiden darunter.“ Es half nichts.

Mitunter war der Verlust alles Herkömmlichen so rasant, dass es selbst den leidenschaftlichsten Befürwortern der Moderni-sierung den Atem verschlug – wie heute im Zeitalter der Chips und des Cloud Computing. Im Juli 1861 kam es vor der Mündung des James River an der Ostküste der USA zur seltsamsten Seeschlacht, welche die Welt je gesehen hatte. Ein neu entwickeltes, nunmehr stählernes Panzer-schiff der Südstaaten, die Virginia, versenkte innerhalb von wenigen Minuten zwei stolze hölzerne Segelschiffe der US Navy und beschädigte ein weiteres schwer. Und das, obwohl eines der Opfer, die todgeweihte Cumberland, mit ihren Dutzenden Kanonen genau 98 schwere Treffer auf dem stählernen Ungeheuer erzielt hatte. Jedes herkömmli-che Schiff aus Holz wäre ein Trümmerhaufen gewesen. Der Virginia konnte das wenig anhaben, und nur dem einzigen Panzerschiff des Nordens, der Monitor, gelang es schließ-lich, sie zu verscheuchen.

Vor dem James River hatte die neue Zeit gegen die alte gekämpft, ein Geschehen, das noch H. G. Wells bei seinem Roman Der Krieg der Welten – fast unbesiegbare Kampfmaschinen der

Jahrtausendelang war der technische Fortschritteine Schnecke gewesen. Jetzt war plötzlich machbar, was einst Fantasie ge­wesen war – was für eine spektakuläre Parallelezum 20. Jahrhundert.

Ess

ay

Joac

him

Käp

pn

er

8

Die Liberalen, die den Staat bis dahin verteufelt hatten, verloren im „Gründerkrach“ von 1873 fast drei Viertel ihrer Wähler – klingt nicht auch das vertraut?

Marsmenschen erobern England – inspiriert hat. Aber zu-nächst konstatierte die Times, immerhin die wichtigste Zei-tung Großbritanniens, der größten Seemacht und des Pio-niers der Industrialisierung, voll Entsetzen: „Standen uns bisher 149 erstklassige Kriegsschiffe zum sofortigen Einsatz zur Verfügung, so sind es jetzt nur noch zwei.“ Zwei stählerne Prototypen der britischen Flotte nämlich, die über Nacht aus Auslaufmustern bestand.

Fürdie meisten Menschen jedoch war die jähe Verwandlung der eigenen Umwelt noch weit eindrucksvoller als Nachrichten von fernen Kriegen. In Paris verschwand fast ganz das bis-herige Gesicht der Stadt, die immerhin als geistiges und kulturelles Zentrum Europas galt; das alte, verschachtelte Paris wich den schwindelerregenden Neuschöpfungen des Barons Haussmann, die noch heute das Gesicht der Metro-pole prägen. Die Städte wuchsen, sprengten ihre Mauern und Festungswälle; Mietskasernen, Fabriken, Eisenbah-nen, Straßen, Dampfhämmer, Schlote breiteten sich mit der Gewalt einer Flutwelle dort aus, wo zuvor ein paar adelige Landschlösschen, verstreute Höfe und vom Kirch-turm überragte Dörfer das Glacis der Städte gebildet hat-ten. In den Mietskasernen der Städte, ohne jede Rücksicht auf das Stadtbild hochgezogen, hauste eine neue Schicht, das Proletariat. Die Welt also veränderte sich im Inneren wie im Äußeren geschwinder als je zuvor. Kurz vor dem Ersten Weltkrieg sprach der greise Kaiser von Österreich-Ungarn, Franz Joseph I., eine Grußbotschaft an die Unter-tanen auf eine Schallplatte auf, und in der Stimme des be-tagten Regenten ist die ganze Verwunderung eines Mannes zu hören, der weder „diesen Apparat“ noch die Welt mehr versteht, die ihn hervorgebracht hat.

Und wie heute fand die neue Zeit ihre Ideologen, die predig-ten, man müsse nur den Staat heraushalten und die Kräf-te der Wirtschaft, des Marktes, der Banken walten las-sen, so werde sich schon alles zum Besten fügen. 1856 schrieb die liberale National-Zeitung aus Berlin: „Was die ideal istischen Bestrebungen vergebens versuchten, ist dem Material ismus gelungen: die Umgestaltung der ge-samten Lebens verhältnisse.“ Das war als Lob gemeint und wieder holte sich als Grundsatzkritik am Kapitalis-mus in den Lehren von Marx und Engels, den Doktrinen, die erst nach 1918 jenes ideologische Ungeheuer gebaren, welches der Traum der Vernunft hervorbringt – aber das hat damals niemand geahnt.

Die Parallelen gehen noch weiter. Was heute die Finanz-krise ist, ausgelöst durch die Immobilienblase in den USA, war 1873 der „Gründerkrach“ mit dem Kollaps der Wiener Börse. In der Folge griffen die Staaten, ganz wie heute, wie-der massiv ins Wirtschaftsleben ein, etwa durch die Schutz-zollpolitik des Reichskanzlers Otto von Bismarck. Und die Liberalen – klingt auch das nicht vertraut? –, die den Staat verteufelt hatten, verloren fast drei Viertel ihrer Wähler.

Frankreich, England, die USA – die großen Mächte des Westens ver-banden den technischen Fortschritt mit der Fortentwick-lung der Demokratie, so mühsam dieser Weg im Einzelnen auch war. Das freie Spiel der Marktkräfte setzte gesell-schaftliche Freiheit voraus, und die Unternehmer, die Bür-ger, sogar die Arbeiter setzten eine Beteiligung an der Macht durch. Deutschland aber ging seinen eigenen, das Verhängnis anbahnenden Weg. Technisch, industriell, öko-nomisch erreichte es die Weltspitze. Politisch und geistig blieb es in den Nebeln des Gestrigen, mehr noch: Seine Führungsschichten fürchteten und verachteten eben die-sen Fortschritt – und wussten ihn dennoch zu nutzen: zur Aufrüstung mit modernen Waffen, einer Hochseeflotte, ei-nes Millionenheers.

Bis heute wird oft verkannt, wo die Quelle dieses deutschen Übels lag: nämlich mitten in diesem 19. Jahrhundert, in der gescheiterten Revolution von 1848. Ihr Misslingen, schrieb der große Münchner Historiker Thomas Nipperdey, „er-füllt uns noch immer mit der Trauer um eine verlorene Möglichkeit“. Aber es war mehr als das, weit mehr. Es war nicht eine verlorene Möglichkeit, sondern die einzige. Hier, 1848, stand Deutschland am Kreuzweg. Mehr als drei Jahr-zehnte lang, seit dem Sieg der Alliierten über Napoleon 1815, hatte im Land, dem Vielländerstaat des Deutschen Bundes, eine politische Friedhofsruhe geherrscht, viel-mehr herrschen sollen nach dem Willen der Fürstenhäuser. Dann, 1848, war der Deckel nicht mehr auf dem Topf zu halten. Ein Land, das den Weg in die technische Moderne bereits beschritt, war politisch gesehen nicht mehr mit dem System absolutistischer Menschenverachtung zu führen.

Dabei hätte diese Revolution so vieles sein können: der Sturz der Fürstenthrone, die Geburtsstunde der bürgerlichen Frei-heit, Deutschlands 1776 oder auch 1789, das Jahr eins einer freien Nation, die nicht allein die technischen Fesseln der Vergangenheit sprengte, sondern auch die geistigen.

Der Revolution aber fehlte es an allem: an fähigen Politikern – wo hätten sie, nach einer Ära, in der bloß die Gedanken frei waren, auch herkommen sollen? An Einigkeit – wie hätte diese im Deutschland des Deutschen Bundes, einem bizarren Gebilde vieler Staaten, auch entstehen können? Vor allem aber fehlte ihr der Wille, die Macht der alten Ordnung wenn nötig mit Gewalt und so schnell wie mög-lich zu brechen. Deutschlands Freiheitshelden von 1848 waren tapfere Männer und Frauen, sie behaupteten Barri-kaden gegen die Bajonette des Militärs und riskierten ihr

Nick van Woert, der New Yorker Künstler aus Reno / Nevada, inter-essiert sich für Historisches, das er mit festem Zugriff mit der Ge-genwart verbindet. Relikte wie Büsten werden literweise über-schüttet mit farbigem Polyure-than-Kleber und verwandeln sich in ganz neue seltsam-monströse Gebilde. „Piraterie der Kunstge-schichte“ nennt er das. Dieser Kle-ber, auch Gorilla Glue genannt, ist eines der Materialien, das in fast

allem zu finden ist, was uns umgibt. „Ich mag den Gedanken“, sagt Nick van Woert, „dass die Eingeweide der Skulptur wie der Spiegel unserer zeitgenössischen Umgebung funktionieren. Sie wur-den einstmals aus Marmor oder Bronze hergestellt. Jetzt sind sie nur noch die Fassaden dessen, was wir einmal waren. Sie beziehen sich auf die Vergangenheit, beste-hen aber aus Fiberglas.“

Ess

ay

Joac

him

Käp

pner

Leben. Aber im Herzen waren sie doch wohlgesinnte Bürger, die als gute Deutsche glaubten, auf dem geordneten Rechts-weg in die Demokratie zu gelangen, über die verfassungs-gebende Versammlung in der Frankfurter Paulskirche.

In ihrer Mehrheit waren sie außerstande, das Ausmaß der Niedertracht zu erkennen, welche die alten, gewarnten Mächte zur Rettung ihrer Herrschaft entwickelten – die den Willen hierzu ihrerseits in überreichem Maße besaßen. Die Liberalen und Gemäßigten fürchteten das Feuer der radikalen Fraktion mehr als den Staat, den sie erneuern, aber nicht zerstören wollten. Sie boten Preußens König Friedrich Wilhelm IV. sogar die Kaiserkrone an, doch der lehnte hohnlächelnd ab, weil er in der versöhnlichen Geste nur die Schwäche der Demokraten sah: Der „Ludergeruch der Revolution“ hafte an diesem „imaginären Reif aus Dreck“. Friedrich Wilhelm IV. sah sich als König von Got-tes, nicht als Kaiser von Volkes Gnaden.

Als die Beherzteren dann 1849 noch einmal zu den Waffen grif-fen, war es zu spät. In Frankreich, Holland oder England würden Franz Sigel, Friedrich Hecker  oder Carl Schurz als Nationalhelden verehrt oder wenigstens als Wegbereiter der freien Nation hoch geachtet; in Deutschland kennt sie bis heute kaum ein Mensch. Sie gehörten zu den Anführern jener tapferen badischen Republik, die 1849 der geballten Macht Preußens die Stirn bot, bis zu ihrer unausweichli-chen Niederlage, die mit dem Fall der Bundesfestung Rastatt besiegelt war. Sie alle kämpften ihren Kampf ein zweites Mal: im Exil, in den Reihen der Nordstaatenarmee, die im Amerikanischen Bürgerkrieg die Sklavenhalter des Südens schlug, eine welthistorische Entscheidung, die da-heim ausgeblieben war. Deutschlands beste politische Köp-fe hatten, zu Zehntausenden, 1849 das Land verlassen oder waren in jene Schockstarre verfallen, die man fast ein Jahrhundert später, als der lange deutsche Sonderweg in die Apokalypse des Naziterrors geführt hatte, die „innere Emigration“ nannte. Für die Verlierer von 1848/49 aber dichtete Ludwig Pfau sein Badisches Wiegenlied:

„Schlaf, mein Kind, schlaf leis,dort draußen geht der Preuß!Gott aber weiß, wie lang er geht,bis daß die Freiheit aufersteht,und wo Dein Vater liegt, mein Schatz,da hat noch mancher Preuße Platz!“

Deutschland wurde dann im 19. Jahrhundert doch noch ge-eint, wie es die Revolutionäre gehofft hatten. Aber nicht durch freie Bürger, sondern während des Sieges über Frankreich 1871, von Bismarcks und Preußens Gnaden und zu dessen Bedingungen. Deutschland war eine Nation, nicht errungen von unten, sondern aus Stahl geschmiedet von oben. Es hatte nun einen gemeinsamen Kaiser, aber immer noch kein freies Volk. Und je mehr das Volk nach Freiheit verlangte, je selbstbewusster die rasch wachsende Industriearbeiterschaft nach Mitsprache verlangte, je mehr der Reichstag an seinen zahlreichen Fesseln rüttelte, desto rückständiger und radikaler wurde die herrschende politi-sche Rechte. Otto von Bismarck war noch ein kluger Mann, der Härte und Vorsicht auf genialische Weise abzuwech-seln wusste. Als Kaiser Wilhelm II. den greisen Eisernen Kanzler und Übervater des Reichs aus dem Amt drängte, zeichnete der Londoner Punch seine legendäre Karikatur von Bismarck, der ein Schlachtschiff verlässt: „Der Lotse geht von Bord.“ Und ohne den Lotsen nahm das Schiff dann einen irrlichternden Kurs auf Weltmachtträume, ver-prellte damit seine Freunde – England, Russland – und schuf sich eine Welt von Feinden, der es 1914 bis 1918 knapp, dann aber gründlich unterlag. 

Und dann, am Ende des „langen Jahrhunderts“, gelang den – welch ein Begriff – kaiserlichen Eliten, die das Schiff in den Untergang gesteuert hatten, ihr letzter großer Coup: All ihr eigenes Versagen, den verlorenen Krieg, all die Toten, den Versailler „Zwangsfrieden“ von 1919, lasteten sie der jungen Weimarer Demokratie und dem „Dolchstoß“, in Wahrheit dem verzweifelten Aufstand der Arbeiter und Soldaten vom November 1918, an. Auch dieser zweiten deutschen Revolu-tion fehlte es nicht an Mut und Idealen, sondern an Kraft und Konsequenz. Dasselbe gilt für die Weimarer Republik, die ihr folgte. Anders als jene von 1918 erschien die Demo-kratie gar als Siegerin: Erstmals war Deutschland eine Volksherrschaft, kein autokratisches Land mit demokrati-schen Anteilen mehr. Aber diese Demokratie hatte – oder gab – den Kampf schon verloren, bevor er recht begann. Doch dies ist die Geschichte des 20. Jahrhunderts, in der die Welt, die man gekannt hatte, in Feuer und Grauen unterging.

Deutschland beschritt erst im 19. Jahrhundert einen Sonderweg, dann aber gründlich. Es wurde eine politisch mächtige, tech-nisch höchst entwickelte, demokratisch gesehen aber rück-ständige Nation. Und als die Demokratie dann 1933 end-gültig verlor, begann das Verhängnis.

Wilhelm Busch hat einmal ein Stoßgebet aufgeschrieben angesichts seines bewegten Jahrhunderts, das sich „im  Sauseschritt“ befand: „Ach, Herr, mach alles wieder recht, / Dämpf die Pfaffen und Kriegersknecht. / Gib Frieden, dazu viel edlen Wein, / Auf daß wir allesamt lustig sein.“ Es wurde, wie wir wissen, nicht erhört.

End

e

Joachim Käppner ist Leitender Re-dakteur der Süddeutschen Zeitung. Mehr über ihn auf S. 8.

Mit der Revolution von 1848 stand Deutschland amKreuzweg. Bis heute wird oft verkannt, dass hierin die Quelle für das Scheitern der deutschen Demokratie lag.

Diana, Medea & Olympia

Diana Damrau wird in Les Contes d’Hoffmann alle vier Frauenrollen singen. Autorin Eva Gesine Baur hat mit der umjubelten Sopranistin über Frauen-bilder aus dem 19. Jahrhundert gesprochen. Ein Gip-feltreffen außergewöhnlicher Frauen in der Neuen Pinakothek.

Premiere Les Contes d’Hoffmann

Diese Seite: Anselm Feuerbach,Abschied der Medea, 1870Neue Pinakothek, München

Wir blicken gemeinsam auf Medea, das Monster. Die mythi-sche Magierin, die aus Eifersucht auf Jason dessen Braut bei lebendigem Leib verbrennen ließ und aus Rache die gemein-samen Kinder ermordete. Gerade hat Diana Damrau ihren Alexander bei seiner Großmutter abgegeben, ein blondes Marzipankind, ein Jahr alt; weil er hohes Fieber hatte, wur-de der Interviewtermin dreimal vertagt.

Feuerbach hat Medea gemalt, Cherubini hat ihr Dra-ma kurz vor Beginn des 19. Jahrhunderts vertont, danach Mayr und Mercadante. Sie ist nur eine der vielen brisanten Frauen, denen sich die Künstler, vor allem die komponie-renden, von 1800 bis in die 1920er Jahre hinein mit Hingabe gewidmet haben. Frauen, die sich ihr Recht auf Liebe und Zerstörung, sogar Selbstzerstörung, auf sexuelle und geisti-ge Freiheit nehmen, ob sie Mythos, Fiktion, Geschichte oder Gegenwart waren, ob sie Norma oder Carmen heißen, Salo-me oder Turandot. Kann sich Diana Damrau in die mörde-rische Medea hineinversetzen? „Wenn ich sie singen würde, müsste ich es, und wenn ich es müsste, könnte ich es“, sagt sie, und nur die Brauen zucken kurz.

Wer Diana Damrau von der Bühne kennt, erkennt sie im Alltag nicht sofort wieder. Da steht eine mittelgroße Frau, so gut wie ungeschminkt, in schlichtem schwarzem Kleid, schwarzen Stiefeln, das lange Haar ohne Umstände hochgesteckt; bevor die Fotografin kommt, will sie sich nur kurz auf der Toilette die Liebesbezeugungen ihres Kindes von Hals, Händen und Wangen waschen.

Sie soll mit mir vor Frauenbildern über Frauen re-den, die sich aus dem Korsett einer Rolle befreiten, in das die Gesellschaft sie gezwängt hatte. „Schön, dass ich nur in meinen Terminplan eingesperrt bin und es in unserem Jahr-hundert im Sopranfach keine Männerkonkurrenz mehr gibt“, erklärt sie vergnügt. In München wird sie Stella, Olympia, Antonia und Giulietta in Offenbachs Les Contes d’Hoffmann verkörpern, in Barcelona probt sie für ihr Rol-lendebüt in Donizettis Linda di Chamounix. Sie aber er-zählt nicht von Stella, Olympia, Antonia oder Linda, son-dern zuerst von der Nanny. „Unsere französische Nanny hat sich mit einem Feuerwehrmann davongemacht. Darf sie. Nach französischem Recht hat sie nur zwei Wochen Kündi-gungsfrist. Und mein Mann singt in Amster-dam und probt in Marseille. Katastrophe!“ Sie atmet kurz durch. „Aber das schaffen wir auch“, strahlt sie und zieht ihr Kleid zurecht. Eine zufriedene Ehefrau, die ihren Alltag im Griff hat. Ist das dieselbe, die von der Met bis zur Scala als Meisterin der Verwandlung bril-liert, die als Königin der Nacht erschrecken, als Zerbinetta verführen, als Frau Fluth amü-sieren, als Lucia verstören kann? Nun wird sie die vier Frauenrollen in Hoffmanns Erzählun-gen übernehmen, wie Offenbach es ausdrück-lich wünschte, weil es letztlich um vier Frauen in einer geht. „Jede Frau ist viele“, wusste er vor Erfindung der Psychoanalyse. Als Freud sie in Wien praktizierte, porträtierte Klimt in Wien Margaret Wittgenstein, die 23-jährige

Tochter des Stahlmagnaten, im Brautkleid, kurz vor einer Vernunftheirat, mit der sie dem Vater und dem goldenen Käfig entfliehen wollte. Das ebenmäßige Gesicht der Dam-rau verrät keine Regung, als ihr Blick über das Bild gleitet, über die passiv ineinander gelegten Hände hinauf zum Kopf der Dargestellten, die in ungewisse Ferne schaut. Gekleidet ist Margaret als teure Puppe wie Offenbachs Olympia, nett, adrett, gewohnt zu tun, was der Vater erwartet. Diana Dam-rau weiß nichts davon, dass Margaret sich radikal frei ge-schlagen, im Chemielabor gearbeitet, Mathematik studiert, sich von ihrem Mann getrennt hat, als Mäzenin und Bauher-rin zur Avantgarde gehörte.

„Dieser Kopf passt nicht zur Pose“, sagt sie einfach. „Der setzt sich durch.“ Intuition gilt als ein schwammiger Begriff, mit jedem Satz der Diana Damrau gewinnt er Kon-tur. Die Sopranistin aus Günzburg hat nicht nur ihrer Stim-me und ihrer Technik wegen Weltkarriere gemacht, sondern auch wegen ihrer darstellerischen Qualitäten. Sucht und fin-det sie sich in den Charakteren, die sie verkörpert? Ist sie so kompliziert wie die vierfache Frau des Jacques Offenbach? Sie lacht, den Kopf im Nacken. „Ich habe auf der Bühne ge-nug Theater, das brauche ich nicht auch noch privat.“

Empfindet sie denn für eine der vier Erscheinungs-formen von Offenbachs Heldin Sympathie? „Nein, aber ich verstehe sie.“ Sie zählt an den Fingern ab. „Olympia kann nicht lieben, weil sie seelenlos ist. Giulietta will nicht lieben, sondern die Männer manipulieren und beherrschen, weil sie herzlos ist.“ Sie wird ernst. „… das ist noch schlimmer als böse.“ Der dritte Finger. „Antonia hätte Seele und den Wunsch nach häuslichem Glück, aber die wird sterben, und Stella macht den entscheidenden Schritt zu spät. Da hat die Muse Hoffmann schon zu der Einsicht verholfen, dass er nicht imstande ist, eine treue, einfache Liebe zu leben.“ Sie verzieht den Mund. „Und ich glaube, er ist froh darüber, denn er will das ja eigentlich nicht. Er will in erster Linie sich selbst erfahren – ein großes Thema der Romantik und heute noch immer. Er hat einen Drang zum Ungewissen und Angst vor allem, was bieder sein könnte.“ Diana Damrau dreht an ihrem Ehering.

Kennt sie diese Angst? „Nein, die kenne ich nicht“, leuchtet sie. „Ich habe immer den Wunsch ge-hegt, eine Familie zu gründen, weil das zu mei-ner Vorstellung von Glück gehört. Ich wollte nie verbittert auf eine Karriere zurückblicken, die mir viel Verzicht abverlangt hat, und einge-stehen: Das Eigentliche habe ich drüber ver-säumt.“ 2004 ist sie dem französischen Bassba-riton Nicolas Testé zum ersten Mal begegnet, als sie gemeinsam unter Viotti L’apocalypse selon Saint Jean von Françaix einstudierten. „Er hat den Erlöser gesungen.“ Sie lächelt in sich hinein. Fünf Jahre später das Wiederse-hen in Genf bei Mozarts Don Giovanni, sie als Donna Anna, er als Masetto. „Eine Konstellati-on, die Mozart nicht in Betracht gezogen hat, aber vielleicht die einzige, die funktionieren würde.“ Kurzes Schweigen. „Ich habe nicht

Tex

t E

va G

esin

e B

aur

Gustav Klimt, MargaretStonborough-Wittgenstein, 1905

Neue Pinakothek, München

sondern die Geschichte eines Menschen erzählen. Dazu muss ich in den Charakter, den ich verkörpere, hineingehen. Nur dann kann ich für jeden eine eigene Körperlichkeit, eine ei-gene Stimme finden. Das heißt, ich muss weggehen von mir selber.“ Sie atmet tief durch. „Das hat mir oft geholfen, die eigenen Probleme zu vergessen. Trotzdem kann es einem ei-nen Stich geben, etwas zu spielen, was man gerade selbst erlebt oder durchleidet.“ Doch wie erkundet sie einen Cha-rakter, wie kommt sie ihm auf die Spur? „Indem ich mich in seine Zeit und Welt versetze, die Zeit, in der das Werk ent-stand, die Welt, in der die Rolle spielt. Der Rest steht in den Noten“, erklärt sie knapp. Dass manche Regisseure mit drastischen Einfällen die Aktualität eines Werkes sichtbar zu machen versuchen, hält sie für interessant, aber oft nicht unbedingt nötig. „Jeder, der richtig hinhört, spürt, wie mo-dern große Musik ist. Da gehen sofort Assoziationen los. Hoffmanns Olympia erinnert mich irgendwie an Paris Hil-ton, Antonia an Amy Winehouse, Giulietta an Dita von Tee-se. Zeigen muss man das nicht. Ich will vor allem eins vermit-teln: Jede Frau kann Olympia, Antonia, Giulietta sein, wenn sie in eine Olympia-, Antonia-, Giulietta-Situation gerät.“

Die Spitzentöne der Damrau sind berühmt, ihre Ko-loraturen berüchtigt, aber die Kritik feiert vor allem, dass sie trotzdem ihre „weibliche seelenvolle Mittellage“ be-wahrt. Aus der stabilen Mitte heraus kann Diana Damrau es riskieren, jedes Extrem zu erklettern. Sie selbst redet nicht vom Wahren der Mitte, sie sagt nur: „Ich brauche ei-nen Anker in der Wirklichkeit: meine Familie und die Na-tur.“ Wie es ausgeht, wenn die Verankerung fehlt, erlebt sie in Offenbachs Hoffmann: „Der muss scheitern, weil ihm Zu-trauen und Vertrauen fehlen. Und das ist das Wichtigste.“ Gerade in einer Verbindung zwischen zwei Künstlern. „Die ist immer delikat, weil Bewunderung für beide zum Beruf gehört, und wenn sie anfangen, ihr Bewundertwerden zu vergleichen, dann wird es eng.“ Wie beugt das Ehepaar der Gefahr vor? „Wir teilen möglichst alles, unsere Proben, un-sere Auftritte und das Bewusstsein, dass wir auf die Erfolge nicht aufbauen können, sondern uns immer neu beweisen müssen. Und wir beantworten die Herzensfragen des ande-ren, bevor er sie stellen muss.“

Es ist eben nicht nur Intuition, von der Diana Dam-rau sich bei ihren Entscheidungen und bei der Deutung ih-rer Rollen leiten lässt. Genauso wichtig ist diese extreme Aufmerksamkeit, ja Wachsamkeit. Eifersucht, Triebkraft der meisten Opern, ist für sie keineswegs eine Regung, die es zu vermeiden gilt. „Gesunde Eifersucht macht hell für die genaue Wahrnehmung des anderen und empfindsam für je-des Detail.“ Mit dieser gesteigerten Präsenz entdeckt sie in den Charakteren, die sie verkörpert, verborgene Seiten. „Oft das Dämonische in seiner zerstörerischen Energie. Das fas-ziniert mich. Das ist wirklich groß.“ Wer sieht, wie dabei ihre Augen funkeln und etwas ihr Gesicht verdunkelt, was dort vorher nicht zu vermuten war, ahnt, dass es ein Irrtum ist, Diana Damrau für herrlich harmlos zu halten. Und er-kennt auf einmal, dass diese freundliche, glückliche Mutter, die sich „Talent zum Zufriedensein“ attestiert, als Medea glaubwürdig wäre. Schrecklich glaubwürdig.

mehr damit gerechnet, dass mir das passiert. Aber da war al-les auf einmal nur noch ein Ja.“ Sie singt beinahe: „Ja. Ja. Ja.“

Nichts sagte Nein. Schwieg auch der künstlerische Ehrgeiz? In den Contes d’Hoffmann bekämpft die Muse Hoffmanns Geliebte Stella, weil sie sicher ist: Wenn die ihn erobert, geht er ihr und der Kunst verloren. Stella durch-denkt ebenso, was eine feste Beziehung für ihr Künstlertum bedeuten würde. War das bei Diana Damrau und Nicolas Testé ähnlich? „Natürlich. Aus der erlebten Vergangenheit heraus setzt der Verstand bei einem sämtliche Alarmlampen in Gang. Aber das Gefühl kannte keine Bedenken und sagte sofort Ja zur gemeinsamen Zukunft und einem Kind.“ Was sagt nun die Erfahrung?

„Dass es ein mühsames Gebastel ist, zwei Karrieren und zwei Terminkalender aufeinander abzustellen und trotz-dem das private Dreierteam in die Mitte zu stellen. Vor al-lem aber, dass sich vieles von selbst erledigt, wenn man sein Kind im Arm hält. Es war für mich überraschend und heil-sam, zu erleben, wie schnell ich mich umstellen konnte. Ich habe keine Zeit mehr dafür, jedem Körpersignal nachzulau-schen, die Zeit braucht Alexander.“

„Sieht Glück so aus?“, frage ich sie vor Waldmüllers Bild der jungen Bäuerin mit ihren Kindern.

Sie zögert. „Der Rat Krespel in den Contes d’Hoffmann würde seine Tochter Antonia sicher lieber so sehen, im Halbschatten stehend, in Frieden lebend, aber sie will den kampflosen Weg nicht gehen, obwohl sie krank ist. Die Mu-sik, die Kunst ist ein Teil von ihr, den sie leben muss.“

Dominante Väter sind in vielen Opern unheilvoll, von Aidas Vater Amonasro über Brünnhildes Vater Wotan bis zu eben jenem Vater der Olympia und der Antonia. Ist das eine Erfahrung, die Diana Damrau kennt? Für ihren Vater, schwä-bischer Kaufmann in der Kleinstadt, kann die Berufswahl der Tochter nicht einfach gewesen sein. „Er war mir als Kind Liebe, Schutz, Hilfe und der Größte und Beste. Daran hat sich bis heute nichts geändert.“ Beide Eltern wie auch die Günzburger haben jeden ihrer Schritte auf dem harten Weg nach ganz oben nachvollziehen können, neidlos. „Weil sie al-les verfolgt und miterlebt hatten, von der Musikschule bis zur Met, und … ich den Kragen ned g’stellt hab“, sagt sie auf Schwäbisch, reckt den Hals, das Kinn und senkt blasiert die Lider. Sie werden die Damrau auch verstehen, wenn sie ge-steht, im nächsten Leben wäre sie lieber ein Bassbariton, weil es für den viele böse Partien gibt. „Das Böse gut zu spielen, fordert enorm, denn es muss immer überraschend bleiben. So wie Scarpia in der Tosca – ein teuflischer Spieler, der noch über den Tod hinaus einen Trumpf in der Hand behält.“ Sie hat als Königin der Nacht nicht nur ihr gesangli-ches Können gezeigt, sie hat auch die Unberechenbarkeit dunkler Gelüste spürbar gemacht wie selten eine Sängerin in dieser Partie. Doch keiner fragte sich, woher die herzige Frau weiß, wie das geht. Eine erste Antwort gibt sie selbst damit, wie sie Porträts erlebt: durchlässig und aufnahmebe-reit für alles, was von den Dargestellten ausgeht. Diana Damrau kennt nicht jenen Solipsismus, mit dem viele Stars ihre Seelenoberfläche versiegeln. „Schauspielerei und Singen sind für mich eine Einheit. Ich will nicht unbedingt gefallen,

Fot

ogra

fie T

anja

Ker

nwei

ß un

d Ju

lian

Bau

man

nE

nde

Die Autorin hat 2011 den Roman „Der Opernheld“ veröffentlicht.