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68 GIESSEREI 101 06/2014 VON MILAN LAMPIC, MARBURG, UND MARC WALZ, STADTALLENDORF W as ist eigentlich Energie? Alle re- den darüber, aber kaum jemand weiß sie zu definieren. Bezieht man sich auf das Humane, weiß man, dass jemand mit viel Energie mehr Arbeit ver- richten kann als jemand, der davon we- nig besitzt – und zwar unabhängig davon, ob es sich um körperliche oder geistige Arbeit handelt. Vor dem Einsatz der Ener- gie steht die Potenz, die sich ihrerseits aus Konfiguration (Disposition) und Mo- tivation zusammensetzt; diese sind im ge- wissen Umfang gegeneinander aus- tauschbar. Das Ergebnis der Arbeit fällt unterschiedlich aus und ist mit dem Fak- tor Wirkungsgrad behaftet. Dies führt un- weigerlich zur Schlussfolgerung, dass man Energie nicht besitzt, sondern sich ihrer mehr oder weniger gut bedient. Die Ähnlichkeit der Vorgänge in der Metallurgie des Gusseisens mit der hu- manen Welt ist frappierend. Der erstge- nannte Autor dieses Beitrages hat sei- nerzeit das Geschehen im Redox-Sys- tem Gusseisen zum Vergnügen vieler Leser mit einem Markt verglichen, in dem die Gesetze der sozialen Marktwirt- schaft herrschen und die beteiligten Ele- mente nach Kaufkraft und Motivation sortiert [1]. Der Übergang zur Mechanik ist nur eine Formalität. Aus dem Nut- zungsgrad der Energie suchen wir rück- wärts nach der Konfiguration (Dispositi- on), die dessen niedrigsten Wert ergibt. Versuch einer Definition des Begriffs Energie In seinem neuesten Buch [2] sagt Franz Neumann: „Am Anfang war die Energie“ und damit untrennbar verbunden „Der Ur- knall ist die Explosion der Entropie“. Sinn- gemäß das Gleiche steht im Johannes (17.5): „Am Anfang war das Wort“. Die „Explosion der Entropie“ jenseits der Zeitlichkeit impliziert einen Zyklus, an dessen Anfang wieder „Energie“ steht. Damit wird die Ewigkeit definiert. Energie ist eine zentrale Größe in der Physik. Sie ist die Eigenschaft sich bewe- gender Teilchen oder Teilchenverbunde [3] und all das, was deren Masse, Bewe- Gusseisen mit Vermiculargrafit Teil 4: Energie und Zerstörung 1) FORUM Bild 1: Atommodell nach Bohr-Sommerfeld, nach [4]. 1) Teil 1 in GIESSEREI 101 (2014), [Nr. 1], S. 214-227, Teil 2 in GIESSEREI 101 (2014), [Nr. 2], S. 86-95, Teil 3 in GIESSEREI 101 (2014), [Nr. 3], S. 60-71 Modell zur Ermittlung der Lebensdauer einer Schweißverbindung; Spannungskonzentrationen um die Spitze eines gedachten Risses. GRAFIK: FRAUNHOFER IWM © Giesserei-Verlag

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68 Giesserei 101 06/2014

VON MILAN LAMPIC, MARBURG, UND MARC WALZ, STADTALLENDORF

Was ist eigentlich Energie? Alle re-den darüber, aber kaum jemand weiß sie zu definieren. Bezieht

man sich auf das Humane, weiß man, dass jemand mit viel Energie mehr Arbeit ver-richten kann als jemand, der davon we-nig besitzt – und zwar unabhängig davon, ob es sich um körperliche oder geistige Arbeit handelt. Vor dem Einsatz der Ener-gie steht die Potenz, die sich ihrerseits aus Konfiguration (Disposition) und Mo-tivation zusammensetzt; diese sind im ge-wissen Umfang gegeneinander aus-tauschbar. Das Ergebnis der Arbeit fällt unterschiedlich aus und ist mit dem Fak-tor Wirkungsgrad behaftet. Dies führt un-weigerlich zur Schlussfolgerung, dass man Energie nicht besitzt, sondern sich ihrer mehr oder weniger gut bedient.

Die Ähnlichkeit der Vorgänge in der Metallurgie des Gusseisens mit der hu-manen Welt ist frappierend. Der erstge-nannte Autor dieses Beitrages hat sei-nerzeit das Geschehen im Redox-Sys-tem Gusseisen zum Vergnügen vieler Leser mit einem Markt verglichen, in dem die Gesetze der sozialen Marktwirt-schaft herrschen und die beteiligten Ele-mente nach Kaufkraft und Motivation sortiert [1]. Der Übergang zur Mechanik

ist nur eine Formalität. Aus dem Nut-zungsgrad der Energie suchen wir rück-wärts nach der Konfiguration (Dispositi-on), die dessen niedrigsten Wert ergibt.

Versuch einer Definition des Begriffs energie

In seinem neuesten Buch [2] sagt Franz Neumann: „Am Anfang war die Energie“ und damit untrennbar verbunden „Der Ur-

knall ist die Explosion der Entropie“. Sinn-gemäß das Gleiche steht im Johannes (17.5): „Am Anfang war das Wort“.

Die „Explosion der Entropie“ jenseits der Zeitlichkeit impliziert einen Zyklus, an dessen Anfang wieder „Energie“ steht. Damit wird die Ewigkeit definiert.

Energie ist eine zentrale Größe in der Physik. Sie ist die Eigenschaft sich bewe-gender Teilchen oder Teilchenverbunde [3] und all das, was deren Masse, Bewe-

Gusseisen mit VermiculargrafitTeil 4: Energie und Zerstörung1)

FOrUM

Bild 1: Atommodell nach Bohr-Sommerfeld, nach [4].

1)Teil 1 in GIESSEREI 101 (2014), [Nr. 1], S. 214-227, Teil 2 in GIESSEREI 101 (2014), [Nr. 2], S. 86-95, Teil 3 in GIESSEREI 101 (2014), [Nr. 3], S. 60-71

Modell zur Ermittlung der Lebensdauer einer Schweißverbindung; Spannungskonzentrationen um die Spitze eines gedachten Risses.

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gung und Geschwindigkeit sowie die räumliche Anordnung und die Bindungs-verhältnisse von Teilchen im Teilchenver-bund verändert. Wo sie als Wärme auf-taucht, ist sie durch Austauschbarkeit von Temperatur und Zeit in Vorgängen wie Wärmebehandlung und Aktivierung von Abläufen gekennzeichnet. Die Materie selbst ist nicht Energie, allerdings verfügt sie über sie in ihrer Eigenschaft als Stoff. Weitere Erscheinungsformen sind Strahlung, Feld, Gravitation, Elektrizität, Bindungsenergie und mechanische Ar-beit.

Die Energieform Stoff kann zumindest teilweise in die Energieformen Strahlung und/oder Feld transformiert werden. Es ist wahrscheinlich, dass diese drei Ener-gieformen nebeneinander auftreten. Nur unter extremen Bedingungen erscheinen sie in nahezu „reiner Form“, um schließlich die geniale Einfachheit der Einstein‘schen Formel E = mc2 (E – Energie, m – Masse, c – Lichtgeschwindigkeit im Vakuum) zu erreichen. Alle Erscheinungsformen der Energie sind an sich bewegende Teilchen gebunden, und sie scheint sich in Form einer Ellipse zu präsentieren (zu funktio-nieren).

Nach dem Atommodell von Bohr-Som-merfeld (Bild 1) bewegen sich die Elekt-ronen auf elliptischen Bahnen (orbitalen) um den sich im Brennpunkt befindlichen Kern. Nach den wellenmechanischen Vor-stellungen der Quantenmechanik hat ein Atom aber keine definierte Grenze, ist al-so nach außen hin offen. Anders als bei Bohr-Sommerfeld ist hiernach ein orbi-tal die Beschreibung einer diffusen Ver-teilung der Aufenthaltswahrscheinlichkeit eines Elektrons. Diese erstreckt sich vom Atomkern im Zentrum nach außen bis ins Unendliche, wo sie asymptotisch gegen null geht.

In gleicher Weise bewegen sich nach Johannes Kepler (1571-1630) auch die Pla-neten um die Sonne (Bild 2). In gleichen Zeiten überstreicht der „Fahrstrahl“ (Ver-bindungslinie zwischen dem Schwerpunkt eines Planeten und dem Gravizentrum – der Sonne) gleiche Flächen. Je größer die Geschwindigkeit hinter der Sonne, desto weiter müsste der Planet „ausschwingen“, um gegenüber dem zweiten Brennpunkt der Ellipse die gleiche Fläche mit dem Gra-vizentrum zu bilden, die in der Unendlich-keit dann gegen null geht.

Zerstörung

Es gibt zwei voneinander auf den ersten Blick völlig verschiedene Konzepte der Zerstörung: das Lebensdauerkonzept und die Bruchmechanik (BM).

Im Hintergrund des Lebensdauerkon-zepts schwebt die Elektronentheorie der Metalle. Im Prinzip handelt sich dabei um die Dynamik der Entstehung von Bindun-gen zwischen den einzelnen Atomen, die kein momentanes Ereignis ist, sondern be-reits bei der ersten Belastung eines Bau-teils hintergründig Spuren zurücklässt. Ur-sache für die uns interessierende makros-kopische Zerstörung von Bauteilen sind in der Regel mechanische Belastungen. Die Geschwindigkeit der Zerstörung wird durch äußere Einflüsse, wie etwa Belas-tungsart, Druck und Temperatur be-stimmt. Sie wirken sich auf die Bindungs-verhältnisse und die Elektronenverteilung aus, und die „natürliche“ Lebensdauer wird energetisch definiert.

Die Bruchmechanik geht einen Schritt weiter. Sie kümmert sich um die Sicher-heit von Bauteilen, indem sie das Vorhan-densein von Fehlern, wie Rissen und riss-ähnlichen Erscheinungen bis hin zu Span-nungskonzentrationen, antizipiert. Anstelle der bei der klassischen Festig-

keitsrechnung benutzten Sicherheitsbei-werte stellt sie (Bruch)-Zähigkeitskriteri-en zur Verfügung, die mit der Energieauf-nahme bei plastischer Verformung in Zusammenhang stehen. Das elektronen-theoretische Innenleben wird (noch) nicht berücksichtigt, es lässt sich ja z. Z. noch nicht anteilig quantifizieren.

Lebensdauerkonzept

Der ZerstörungsprozessIn 1974, einem für die Metallurgie inter-national sehr fruchtbaren Jahr, erschien im 10. Band der Jahrbuchreihe „Wissen-schaft und Menschheit“ ein sehr „russi-scher“ Artikel zu physikalischen Grundla-gen der Festigkeit [6]. Darin wurde nach-gewiesen, dass der Zerstörungsprozess für unterschiedlichste Stoffe den gleichen Ge-setzmäßigkeiten gehorcht. Die Darstellung der Zeiten bis zur Zerstörung als Funktion der Zerreißspannung ergab temperatur-spezifische Geraden, die alle bei stoffspe-zifischen Zerreißspannungen und überra-schenderweise bei einer Zeit von 10-13 s endeten. In Bild 3 ist dies für Steinsalz, Aluminium und Perlon dargestellt.

Um dieses Phänomen zu erklären, müssen wir auf das Periodensystem der Elemente (PSE) zurückgreifen: Alle Ele-mente des PSE bestehen aus den glei-chen Bausteinen. Die verschiedenen Stof-fe (Verbindungen, Legierungen) unter-scheiden sich voneinander lediglich durch die Anzahl und die Anordnung der Proto-nen, Neutronen und Elektronen sowie durch die Bindungen untereinander. Die dynamischen Bindungen werden im Atom-verbund durch anziehende und abstoßen-

KUrZFAssUNG:Nach der Definition der Energie als Eigenschaft sich bewegender Teilchen und Teilchenverbunde werden zwei Konzepte des Zerstörungsmechanismus be-schrieben: das Lebensdauerkonzept und die Bruchmechanik. Das Lebensdau-erkonzept ist „stofflich“ orientiert und verbindet im Zerstörungsprozess Zeit, Temperatur und Druck zum Trennen von Verbindungen zwischen den Atomen in einem Kristallgitter. Es enthält keine „Fehler“, sondern Variablen in Form von Bindungsverhältnissen. Das Konzept gehört in den Bereich der Grundla-genforschung.

Die Bruchmechanik ist „gegenständlich“ konzipiert und gehört mit ihrer Sorge um die Sicherheit von fehlerbehafteten Bauteilen in den Bereich der In-genieurwissenschaften. Mit ihren Konzepten beschreibt sie die Zerstörung fehlerbehafteter Komponenten und liefert Zähigkeitskriterien mit dem Ziel, ei-ne Zerstörung zu vermeiden.

Beide Konzepte können also unterschiedlicher nicht sein und dennoch er-gänzen sie einander. Einen Modus aktiver Koexistenz kann die vorliegende Veröffentlichung nicht schaffen, jedoch zum Verständnis der Dinge beitragen, das noch Einiges zu wünschen übrig lässt. Darauf zumindest lässt die man-gelhafte Sorgfalt schließen, mit der die europäische Normung sie angeht.

Bild 2: Bewegungsprinzip der Planeten im Sonnensystem, nach [5].

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FOrUM

de Kräfte zwischen sich bewegenden Elektronen und Atomkernen realisiert. Ur-sache für die Zerstörung von Bauteilen infolge Zerstörung der zwischenatomaren Bindungen sind in der Regel mechanische Belastungen. Die Geschwindigkeit des Zerstörungsprozesses bestimmt die Le-bensdauer von Bauteilen und hängt ab von Art, Höhe, Dauer und Verlauf der me-chanischen Belastung sowie natürlich vom Werkstoff selbst, wobei neben den spezifischen stofflichen Merkmalen auch die Prozessparameter und Randbedingun-gen zu berücksichtigen sind, die zu des-sen Herstellung beitrugen.

Auf dieser Grundlage wurde ein „Uni-versal Material Testing System“ (UMTS) konzipiert [3]. Wie bereits durch den Lar-son-Miller-Parameter ausgedrückt,

P(LM) = T(log tT + C) (1)

T Temperatur in K tT Belastungsdauer in h C Konstante

waren auch hier Zeit und Temperatur mit-einander zu verknüpfen.

Bauteile sind „stofflich“. Weil aber Stoff eine Energieform ist, ist es unumgänglich, das Leistungsvermögen von Bauteilen im Einsatz nach Energiegesetzen zu prüfen, zu bewerten und zu interpretieren. Glück-licherweise geben uns die Boltzmann- oder die universelle Gaskonstante die Möglich-keit, aus der Beanspruchungstemperatur und der Zeit eine Energie zu berechnen.

Verwendet man für die Berechnung der Energie die Zeit bis zur Zerstörung ei-nes Bauteils (Lebensdauer), ergibt sich als Energie die Zerstörungsenergie. Möchte man die Zerstörungsenergie für ein bestimmtes Bauteil ermitteln, ist die Boltzmann-Konstante zu verwenden

BSE = K T ln(t/t0) (2)

BSE bauteilspezif. Energie in J T Temperatur in K K Boltzmann-Konstante (1,3806 ⋅ 1023 JK-1) t0 „physikalische“ Zeit (10-13 s = 2,78 ⋅ 10-17 h)

Bei der Wahl einer massebezogenen Ener-gie als Werkstoffkenngröße, bei großen

Bauteilen etwa, hilft die universelle Gas-konstante:

MSE = RT ln(t/t0) (3) MSE molspezifische Energie in J R universelle Gaskonstante (8,3144 JK-1 mol-1)

In Bild 4 ist die Belastung in drei Berei-che eingeteilt:> Bereich 1: Bei kleinsten Belastungen

strebt die Belastungs-Energie-Kurve gegen ̀ . Wahrscheinlich hat das Bau-teil genügend Zeit, mit der Umgebung in einen intensiven Energieaustausch zu treten. Der Kurvenverlauf kann mit der allgemeinen Gleichung lnE = = -m ⋅ lns - n beschrieben werden (s – Spannung).

> Bereich 2 ist eine Gerade, die der all-gemeinen Gleichung E = E0 - g ⋅ s ge-horcht.

> Bereich 3 beseht aus vielen Kurven (für jede Temperatur eine Kurve), die bei einer temperaturspezifischen kriti-schen Belastung beginnen und einer allgemeinen Gleichung der Form

Bild 3: Abhängigkeit der Zeitdauer von der Zerreißspannung für verschiedene Temperaturen; nach [6].

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lnE = -a ⋅ lns - b gehorchen. In diesem Bereich verläuft der Zerstörungspro-zess so rasch, dass die Bindungen nicht mehr genügend Zeit haben, sich den Belastungsbedingungen anzupas-sen.

Die Spannung, bei der die temperatur-spezifischen E = f(s)-Kurven von der Ge-raden abweichen (Übergang von Be- reich 2 in Bereich 3), wurde als kritische Spannung sk bezeichnet. Sie gehorcht ei-ner allgemeinen Gleichung der Form sk (T) = = (c/T) – d.

BindungsverhältnisseDie dynamischen Bindungen zwischen den Atomen sind die Resultierenden aus anziehenden und abstoßenden Kräften zwischen den Elementarteilchen eines Stoffes. Sie lassen sich nicht sichtbar ma-chen und müssen unserer Vorstellung in Form von Modellen zugänglich gemacht werden (Bild 5). Dabei muss stets be-dacht werden, dass die Bindungsverhält-nisse nicht mit denen im real existieren-den Kristall identisch sind. Sie regieren „unterhalb“ der Struktur, „oberhalb“ der

Struktur finden wir das Gefüge – die fes-te Verbindung von Kristalliten.

Im Festkörper überwiegen die anzie-henden Kräfte zwischen den Atomen. Die äußeren orbitale der meisten Elemente

des Periodensystems sind nicht voll be-setzt. Die Atome sind bestrebt, ihre or-bitale bis zur maximal möglichen Zahl auf-zufüllen. Eine gewisse Auffüllung gelingt den Atomen dadurch, dass sie sich in ei-

Bild 4: Belastungs-Zerstörungsenergie-Schaubild des Stahls 1.4961 (X8CrNiNb16 13); nach [3].

1400

1200

1000

800

600

400

200

0-50

Tem

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n °C

Druck in kbar

γ

εα

0 50 150 200100

Schmelz-temperatur

Bild 5: Modell der Bindungsmodifikationen im Eisen; nach [3].

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nem Atomverband so zusammenschlie-ßen, dass sich die orbitale der Valenz-elektronen benachbarter Atome überlap-pen. Elektronen, die sich in diesen sich überlappenden Räumen befinden, gehö-ren quasi den benachbarten Atomen ge-meinsam. Dies führt zu einer Auffüllung der äußeren orbitale und zu einer star-ken Anziehung zwischen den benachbar-ten Atomkernen. Wenn nicht alle Valenz-elektronen für das Auffüllen der äußeren orbitale benötigt werden, muss ein Teil der Elektronen in den außerorbitalen Räu-men unterkommen. Sie bilden die Elekt-ronenwolken und Felder.

Für Eisen würde es genügen, die Be-trachtungen über die Bindungsverhältnis-se auf Atome (Atomkern und Elektron) zu beschränken, so dass nur zwischen den Bindungselektronen (BE) und den nicht durch eine anziehende Komponente an der Bindung beteiligten Elektronen (NBE) unterschieden werden müsste. Da die Atomkerne die Bindung nicht verlassen und demzufolge eine konstante Größe darstellen, müssten Eisen und Eisenlegie-rungen mit dem Elektronenverhältnis EV charakterisiert werden können: EV = = BE/NBE.

Steigender Druck führt stets zur Ver-größerung der abstoßenden Kräfte zwi-

schen den Elektronen der vollbesetzten orbitale und den Bindungselektronen so-wie zum Übergang BE NBE, wodurch die Anzahl der NBE im Eisen zunimmt. Dies bewirkt einen „Elektronenüber-schuss“ im Eisen und die Zunahme der Neigung zur Bildung der g-Modifikation.

Auch hier fällt auf, wie ähnlich die Vor-gänge in Metallen und der humanen Ge-sellschaft ablaufen: Unter Stress bei Mas-senveranstaltungen bilden sich Wolken und Felder eines Gemeinsinns (Massen-psychose), und Menschen tun Dinge, die sie als Individuen nie getan hätten.

Temperaturerhöhung führt sowohl zur Zunahme der Anzahl an NBE durch den Übergang von BE in NBE als auch zur Ver-ringerung der Anzahl an NBE durch die mit der Temperatur zunehmende Abgabe von NBE an das äußere Feld und/oder die Umgebung. Werden dabei mehr NBE an das äußere Feld und/oder die Umge-bung abgegeben als durch den Übergang BE NBE gebildet werden, entsteht im Eisen Elektronenmangel und dadurch ei-ne erhöhte Neigung zur Bildung der a-Modifikation.

Im Realkristall des Eisens existieren verschiedene Bindungen nebeneinander und erscheinen im Gefüge als Korninne-res, Korngrenzen, Versetzungen und Zwil-

linge. Die Existenz von Leerstellen ist ebenfalls auf besondere Bindungsverhält-nisse zurückzuführen. Auf Veränderungen der äußeren Bedingungen reagiert der (Werk)-Stoff mit der Änderung seiner Bin-dungsverhältnisse, was sich in der Ände-rung der Modifikation sowie in der Ver-änderung des Gefüges, wie z. B. der Leerstellenkonzentration, der Verset-zungsdichte oder der Korngröße äußert. Als Hinweis auf die Existenz von g-Bin-dungen im a-Eisen könnte die gute Über-einstimmung der Raumdiagonale im ku-bisch raumzentrierten (krz) Gitter (g-Bindungen zwischen dem raumzent-rierten Atomkern und den durch die Raumdiagonalen markierten Eckatomker-nen der krz-Elementarzelle) mit der Flä-chendiagonale der kubisch-flächenzent-rierten (kfz) Elementarzelle bei 911 °C dienen (vgl. Bild 6).

Schon bei geringen Gehalten an Le-gierungselementen treten in Eisenlegie-rungen Zweiphasengebiete aus a- und g-Eisen auf, in denen jeweils a- und g-Bin-dungen vorherrschen sollten.

Werden Eisenatome im Eisengitter durch Ti-, V-, Cr- oder Mn-Atome substi-tuiert, führt die schematische Addition der Valenzelektronen des so entstandenen Ei-senmischkristalls zu einer im Vergleich zum reinen Eisen geringeren Zahl an Elek-tronen (Elektronenmangel). Auf Elektro-nenmangel reagiert Eisen mit einer Erhö-hung der Anzahl an a-Bindungen. Zu ei-ner im Vergleich zum Eisen größeren Anzahl an Elektronen im Eisenmischkris-tall führt die formale Addition der Valenz-elektronen von Substitutionsmischkristal-len, in denen die Eisenatome durch Co-, Ni-, Cu- oder Zn-Atome substituiert wer-den (Elektronenüberschuss). In Analogie zum eben Gesagten reagiert Eisen auf Elektronenüberschuss mit einer Erhöhung der Anzahl an g- bzw. «-Bindungen. Beim Einbau von z. B. Ni-Atomen in das Eisen-gitter sollten a- in g-Bindungen umgewan-delt werden. Die im Periodensystem links vom Eisen stehenden substitutionsmisch-kristallbildenden Elemente rufen (bis auf das Mangan) Elektronenmangel im Eisen-gitter hervor. Die rechts vom Eisen ste-henden substitutionsmischkristallbilden-den Elemente führen zu einem Elektro-nenüberschuss im Eisengitter. Wie sich zeigt, ist die Einteilung der Elemente des PSE hinsichtlich ihrer Wirkung auf die Ei-senmischkristallmodifikationen nach ih-rer Stellung im PSE unzureichend. Erst nach Berücksichtigung aller Faktoren, die im Eisenmischkristall zu Elektronenman-gel bzw. -Überschuss führen, kann abge-schätzt werden, welche Bindungsverhält-nisse (Anzahl an a-, g- und «-Bindungen)

Bild 6: Latentes a-Gitter im g-Gitter des Eisens.

Bild 7: Beispiel einer Stufenverset-zung, nach [10].

Bild 8: Kornkolonien, wie sie bei dem sogenannten Korallengrafit auftreten können: a) im Quer-schnitt einer QuiK-Cup-Tiegel-probe, b) Temperaturfeld um das Thermoelement.

a b

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im Eisenmischkristall im Gleichgewicht zu erwarten sind. Die klassische Thermody-namik reicht dafür nicht aus, da sie nicht alle Umgebungsbedingungen berücksich-tigt. Abhilfe könnte die Schaffung einer „Potentiodynamik“ bringen.

Zusammenfassend kann man sagen: Die Gesamtheit aller Bindungen eines Stoffes sind die Bindungsverhältnisse. Die Bindungsverhältnisse hängen von der chemischen Zusammensetzung (Art und Anzahl der Atome), der Anordnung der Atome eines Stoffes, den Variablen Druck und Temperatur, also der Bewegung der Teilchen ab. Sie hängen außerdem von der Art, der Anzahl, der Anordnung und der Bewegung der Atome der Umgebung ab. Die Bindungsverhältnisse sind für die Struktur, spezifische Eigenschaften, den Aggregatzustand und den Energieaus-tausch mit der Umgebung verantwortlich. Die Bindungsverhältnisse eines Stoffes könnten durch das Verhältnis TV = = BT/NBT charakterisiert werden. BT ist die Zahl der Bindungsteilchen (Teilchen eines Teilchenverbundes, deren anziehen-de Kräfte über die abstoßenden Kräfte überwiegen) und NBT die Zahl der nicht an der Bindung durch eine anziehende Komponente beteiligten Teilchen.

Bruchmechanik

Definition und Ziele In den 1930er- und 1940er-Jahren kam es zu einer Reihe von Katastrophen durch Sprödbruch an Schweißkonstruktionen, wie Brücken und Schiffen (Liberty-Frach-ter im 2. Weltkrieg). Die Antwort darauf war die Entwicklung einer eigenständigen Fachrichtung über das Verhalten rissbe-hafteter Körper – die Bruchmechanik. Ins-besondere in den 1970er-Jahren, als die Sicherheit von Komponenten der Atom-reaktoren ein vordergründiges Thema war, erlebte deren Entwicklung eine Blü-tezeit. Mit heutigen Methoden ließe sich z. B. nachweisen, dass der rasche Unter-gang der Titanic auf falsch legierten Stahl zurückzuführen sei [7]. Das Wort „falsch“ bezieht sich wohl auf die heute üblichen Stahlsorten mit einer höheren als noch 1912 verfügbaren Bruchzähigkeit bei Tief-seetemperaturen nahe dem Gefrierpunkt, wie sie am 14. April 1912 vor New York herrschten. Die Argumentation, alle ver-gleichbaren Schiffe wären aus dem glei-chen Stahl zusammengenietet worden, es könne daher nicht am Stahl liegen, sticht natürlich nicht, denn keines hatte das Pech, mit seiner halben Länge entlang ei-nes Eisbergs zu schlittern.

Aber zurück zum Thema. Was will die Bruchmechanik? Sie will die Aussagesi-

cherheit der klassischen Festigkeitsrech-nung mit deren häufig empirischen Si-cherheitsbeiwerten S > 1 durch ein Zä-higkeitsmaß ersetzen [8]:

s<szul = –––––––––––––––––––SicherheitsbeiwertWerkstoffkennwert

(4)

Die zulässigen Spannungen szul werden sowohl für die Elastizitäts- bzw. die 0,2 %-Dehngrenze (Re, Rp0,2) mit SB sowie für Bruch mit Rm und SB ermittelt. Das Ver-hältnis Re bzw. Rp02 zu Rm wird als Streck-grenzenverhältnis nicht nur bei Stahl, son-dern auch bei Gusseisen mit Kugelgrafit (GJS) und Gusseisen mit Vermiculargra-fit (GJV) häufig als Bewertungskriterium benutzt.

Das Werkstoff-/Werkstückversagen unter Last wird allerdings nicht allein durch dessen Festigkeit, sondern auch durch die Belastungsart und die (Bruch)-Zähigkeit bestimmt, darum ist der Sicher-heitsbeiwert S durch ein Zähigkeitskrite-rium zu ersetzen [8]2).

Die Bruchmechanik will Bedingungen formulieren, unter denen es zu einem un-zulässigen bzw. stabilen Risswachstum bis zum Bruch, d. h. dem Überschreiten der Bruchfestigkeit, kommt. Allen bruch-mechanischen Konzepten ist gemeinsam, dass eine bereits vorhandene Fehlstelle (Riss) im Bauteil unterstellt wird, denn es gibt keinen realen Werkstoff bzw. kein re-ales Werkstück ohne Fehler. Das ein-fachste Beispiel sind Versetzungen im Kristallgitter (Bild 7), die bei ihrer durch Belastung angeregten Wanderung und Anhäufung einen Riss auslösen können. Hinzu kommen dehnungsbehindernde konstruktive Merkmale, die in komplizier-ten Gussteilen haufenweise auftreten können, oberflächenrisse und Eigenspan-nungsfelder, wie sie z. B. beim Schwei-ßen entstehen usw. Jeder Gießer kennt den Ärger, der durch das Reparatur-schweißen entstehen kann.

Weitere Übeltäter sind versprödende Seigerungen des direkt seigernden Man-gans bei gleichzeitig indirekt seigerndem Silizium sowie die vor allem bei den Werk-stoffen GJV und GJS auftretenden Korn-kolonien, deren Grenzen stets durch An-sammlung von Verunreinigungen be-stimmt werden und mit bloßem Auge sichtbar sind. Die Bilder 8a und 8b zei-gen dies besonders deutlich für Korallen-grafit.

Jede Kornkolonie enthält eine Anzahl eutektischer Zellen, die wegen des darin außerordentlich fein verteilten Grafits nicht sichtbar sind. In Bild 8b erkennt man ein eigenständiges Temperarturfeld des Thermoelements als Hinweis darauf, wie

2) Die nachfolgenden Ausführungen stützen sich überwiegend auf Angaben in den im Schrifttumsverzeichnis unter [8] und [14] aufgeführten Veröffentlichungen von G. Pusch, TU Bergakademie Freiberg; weiteres Schrifttum dort.

CESANA_ADV_METEF_R1.indd 1 14/04/14 17.44

Giesserei-Jahrbuch 2014

Band 1

Umschlag_Giesserei_JB_2014_B1.indd 3 12.12.13 08:28

Umschlag_Giesserei_JB_2014_B2.indd 3 12.12.13 08:29

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FOrUM

Eingießteile, wie etwa in Zylinderköpfen, eingesetzte Krümmer aus Keramik oder Stahl, wirken können.

Systematik der BrücheBrüche können wie folgt untergliedert werden:> Bruch bei Überlastung: Sprödbruch,

Duktilbruch (auch Verformungsbruch),> Bruch bei wechselnder Belastung: Er-

müdungsbruch, Dauerbruch.

Sprödbruch ist die Trennung von Bindun-gen unter Normalspannung dort, wo we-nige Atombindungen zu trennen sind. Ein typisches Beispiel wäre ein Grafitkristall3) in Richtung „c“ senkrecht zur Basisebe-ne. Auch trans- oder interkristallin kön-nen solche Brüche entstehen, wenn es vor Beginn einer plastischen Verformung zur Rissbildung an Fehlstellen (z. B. Po-ren) kommt.

Ein Duktilbruch wäre das Abgleiten der Ebene mit dichter Atompackung, in unse-rem Beispiel der Basisebene des Grafit-kristalls in Richtung „a“ unter Schubspan-nung. Dort sind die Versetzungen beson-ders beweglich. Der Bruch ist in der Regel transkristallin und erfolgt nach starker plastischer Verformung.

Der Dauerbruch (Ermüdungsbruch) ist Folge einer wechselnden Belastung un-terhalb der Streckgrenze und hängt von der Belastungsdauer und -intensität ab. Charakteristisch für diese Bruchart sind Rastlinien und Schwingstreifen (Bild 9).

Ein Mischbruch schließlich tritt infol-ge Querschnittsverringerung durch Dau-erbruch bis zum Erreichen der Spaltbruch-spannung auf.

Die gefährlichste Bruchart ist der Spröd-bruch. Zusammenfassend wird er geför-dert [8] durch:> konstruktionsbedingte Dehnungsbe-

hinderung,> fertigungsbedingte oberflächenrisse

und Spannungszustände, wie sie etwa durch Schweißen entstehen (Liberty-Schiffe?),

> ungünstige Beanspruchungsbedingun-gen, wie schlagartige Lastaufgabe, me-chanische Spannungszustände,

> Umgebungsbedingungen – niedrige Temperaturen, Spannungskorrosion (Fall Titanic?) und

> Werkstoffgefüge – Grobkörnigkeit, Korngrenzenausscheidungen bzw. Ver-unreinigungen, nichtmetallische Ein-schlüsse, Poren usw.

Ein typisches Beispiel für eine kombinier-te Wirkung von Spannungskorrosion, (Wasserstoff – Schwefel), nichtmetalli-

Bild 9: Rasterlinien (a) und Schwingstrei-fen (b) beim Dauerbruch von Stahl, nach [10].

Bild 10: Sprödbruch des aufgeschweißten Deckels eines Druckbehälters aus Stahl: a) Durchbruchstelle und Rissbeginn an der Schweißnahtwurzel, b) aufgeweitete Ein-schlusshohlräume als Rissauslöser (b), nach [11].

a

a

b

b

Bild 11: Modell und Definition von Koordinaten sowie der Spannungskomponenten vor der Rissspitze (LEBM-Konzept), nach [8].

Bild 12: Ebener Dehnungszustand, nach [17].

3)Das Beispiel Grafit mag ein wenig hinken, aber jeder Gießer kennt den Grafitkristall.

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schen Einschlüssen, einer schlampig durchgeführten Schweißung im Verbund mit zu hoher Festigkeit von Grundwerk-stoff und Schweißgut zeigt Bild 10. Es handelt sich um einen Druckbehälter aus mit Vanadium legeiertem Feinkornstahl mit aufgeschweißtem Deckel. Der Riss lief von der Innenwand ein und ging dort von der Wärmeeinflusszone der Rundnahtwur-zel aus. Die Bruchfläche zeigte makros-kopisch eine Lamellierung auf, die auf das Vorhandensein von durch Rasterelektro-nenmikroskopie nachgewiesenen, aufge-weiteten Einschlusshohlräumen zurück-zuführen war. Diese dienten als Ausgangs-punkte für transkristalline Bruchfächer, die vom Einschluss abstrahlten und auch auf die Innenwand zurückliefen (vgl. auch Bild S. 68). Im Schweißgut wurden auch sogenannte Fischaugen gefunden, die sich in der Regel erst oberhalb der Fließ-grenze bilden. Ihr extrem feines Gefüge ließ auf Gleitebenen ({110}) und nicht auf Spaltebenen ({100}) schließen [11].

Der Sprödbruch entsteht bereits bei Spannungen, die deutlich unterhalb der Streckgrenze liegen. Er wird durch eine in-stabile Rissausbreitung eingeleitet. Damit dies nicht geschieht, muss der Werkstoff zur Abwehr der obigen Einflüsse schon ei-ne gewisse Zähigkeit aufbieten und die lo-kalen Spannungskonzentrationen durch plastische Verformung abbauen.

Konzepte der Bruchmechanik Die Bruchmechanik untergliedert sich in folgende Konzepte: Besonders für spröde Werkstoffe eignet sich die linear-elastische Bruchmechanik (LEBM), für duktile Werk-stoffe eignet sich die Fließbruchmechanik (FBM) mit dem CToD (Crack-(Tip)-opening-Displacement) und dem J-Integral-Konzept.

Der klassische Kerbschlagversuch er-gibt für die Zähigkeit entweder die ver-brauchte Schlagarbeit AV oder die Kerb-schlagzähigkeit aK. Letztere ist als Quo-tient aus AV und dem ursprünglichen Probenquerschnitt definiert. Der Nach-teil von aK ist dessen Gesamtaussage, ge-wünscht wäre jedoch eine getrennte An-gabe der Festigkeits- und Verformungs-komponente [8].

Die Bruchmechanik geht da anders vor. Sie zerlegt den Zerstörungsvorgang in Risseinleitung und -ausbreitung sowie das Auffangen realer oder hypothetischer Ris-se einschließlich der lokalen Spannungs-konzentrationen und bezieht sie in die Be-wertung der Bauteilsicherheit ein [8].

Linear-elastische Bruchmechanik (LEBM). Hier geht es um die quantitative Erfas-sung des Versagens rissbehafteter Teile

Bild 13: Bruchmechanikkonzept (LEBM) für zyklische Beanspruchung: N – Schwingspiel, so – Oberspannung, sm – Mittelspannung, su – Unterspannung, nach [8].

Bild 14: Elektropotentialmethode (Gleichstrom): Versuchsaufbau (links), Verlauf der F-f- und der ∆ϕ-Kurve (rechts), nach [8].

Bild 15: Stabile Rissausbreitung bei GJS-400 und GJV-300 nach dem J-Integral-Konzept, nach [8].

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FOrUM

als Folge instabiler Rissausbreitung bei statischer Beanspruchung bzw. stabiler Rissausbreitung bei zyklischer Belastung unter weitgehend linear-elastischer Ver-formung bis zum Bruch.

Statische Beanspruchung:Ausgehend vom Modell einer zugbean-spruchten Platte mit dem durchgehenden Mittelriss 2a (Bild 11) lässt sich das Span-nungsfeld vor der Rissspitze durch Ein-führung des Spannungsintensitätsfaktors K beschreiben. Für die Rissöffnung erhält man die Spannungen sx, sy und sz vor der Rissspitze:

sx= –––––––––(2pr)1/2

s(p·a)1/2

(5)

sy= –––––––––(2pr)1/2

s(p·a)1/2

(6)

sz= n(sx+sy) (7)

n in [8] nicht näher bezeichnet

Dabei tritt sz nur dann auf, wenn der ebe-ne Dehnungszustand (EDZ), z. B. bei ei-ner großen Wanddicke, als Voraussetzung für linear-elastisches Werkstoffverhalten vorliegt. Ein ebener Dehnungszustand liegt dann vor, wenn ein Bauteil in zwei Raumrichtungen Längenänderungen auf-weist, in der dritten jedoch nicht. EDZ wird auch „ebener Verzugszustand“ ge-nannt (Bild 12).

Die vor dem Innenriss einer zugbean-spruchten Platte „unendlicher Probenwei-te“ bzw. -ausdehnung W (2a << W) wirken-de Beanspruchung wird durch den Span-nungsintensitätsfaktor KI beschrieben:

KI = s(p · a)1/2 (8)

Nun sind noch die endlichen Bauteilab-messungen und die Geometrie durch ei-ne Korrekturfunktion f zu berücksichtigen. Das Ergebnis ist die allgemeine Beziehung für den Spannungsintensitätsfaktor:

KI = s(p · a)1/2 · f (9)

Unter der Bedingung des EDZ wird der Beginn der instabilen Rissausbreitung beim Erreichen eines kritischen Wertes von KI eingeleitet – er wird als Bruchzä-higkeit KIc bezeichnet. Als Werkstoffkenn-wert kennzeichnet KIc den Werkstoffwi-derstand gegen instabile, d. h. zum Spröd-bruch führende Rissausbreitung.

Zyklische Beanspruchung:Wenn man auch hier das Modell der zug-beanspruchten Platte mit Mittelriss 2a zu-grunde legt (Bild 11), führt die zyklische Belastung ∆s zu einer stabilen Rissaus-breitung, d. h. zur Vergrößerung des Ris-ses 2a auf den zum Bruch führenden kri-tischen Wert 2ac. Die Geschwindigkeit des Risswachstums da/dN (N – Lastspiel-zahl) wird durch den zyklischen Span-nungsintensitätsfaktor ∆K bestimmt (Bild 13).

DK = Ds (p · a)1/2 · f (10)

Doppeltlogarithmisch als Funktion von ∆K aufgetragen, ergibt da/dN eine sig-moniale Kurve mit den Bereichen niedri-ger (I), mittlerer (II) und hoher (III) Ge-schwindigkeit des Risswachstums. Im Be-reich da/dN < 10-5 m/N nähert sich die Kurve einem unteren Schwellenwert DKc. Darunter kann sich ein vorhandener An-riss nicht mehr ausbreiten; die sogenann-te bruchmechanische Dauerfestigkeit ist erreicht. Im Bereich II (da/dN = n · 10-5

bis 10-3 m/N) lässt sich der Zusammen-hang zwischen da/dN und ∆K durch die Paris-Erdogan-Gleichung

––– = C DKm

dNda (11)

beschreiben. Darin sind m und C werk-stoffspezifische Konstanten.

Die hieraus ableitbare mögliche Be-rechnung der Bruchlastspielzahl NB nach

NB

= ––––––daC DKme ac

a0

(12)

a0 Ausgangsrisslänge ac kritische Risslänge

gestattet die Ermittlung der Restlebens-dauer rissbehafteter Bauteile.

Fließbruchmechanik.Das CToD-Konzept geht davon aus, dass der Schädigungsmechanismus von einer kritischen, plastischen Verformung kon-trolliert wird. Zum J-Integral zunächst ein Zitat aus [8]: „Das J-Integral ist ein Lini-enintegral bei geschlossenem Integrati-onsweg und wird als technisches Bruch-kriterium über die Änderung der Formän-derungsenergie dU vor der Rissspitze, bezogen auf die sich bildende Rissfläche dA = B · da bzw. Rissverlängerung da, ge-rechnet“.

Praktisch lautet die Näherungsformel:

J = h –––––––UB(W–a)

(13)

Bild 16: Wechselwirkung zwischen Grafitkugeln und Werkzeug beim Zer-spanen, nach [15].

Bild 17: Schematische Darstellung der Rissbildung in einer gekerbten Zugprobe, nach [8].

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U Fläche unter der Kraft-Weg- Kurve W Probenweite B Probenbreite (Dicke) η von der Belastungsart und Pro-

bengeometrie abhängiger Kor-rekturfaktor

Der Werkstoffkennwert Jc charakterisiert den Werkstoffwiderstand gegen die Riss-einleitung, d. h. den Beginn der stabilen Rissausbreitung bei statischer Beanspru-chung.

Anwendung der Bruchmechanik auf GusswerkstoffeIn ASTM E 399-90 [12] ist eine Reihe ver-schiedener Probekörper genormt. Bei der Dreipunkt-Biegeprobe (3PB-Probe) erfolgt die Messung auf einer Biegevorrichtung mit Wegaufnehmer und X-Y-Schreiber. Für die Aufnahme einer F-V-Kurve (Kraft-Kerb-aufweitungs-Kurve) werden an den Kan-ten des Kerbs Halbleiter-Dehnungsmess-streifen angebracht. Als beste Lösung hat sich die sogenannte Elektropotentialme-thode herausgestellt. Benutzt wird eine Vierpunktbiegeprobe (4PB nach ESIS P2-91D [13]). Sie ist in ASTM E 399-90 nicht enthalten. Die Drähte für die Potential-messung werden in Abständen von je 5 mm neben der Rissspitze angepunktet. Die Potentialänderung ∆ϕ im Verlauf der Probendurchbiegung in Bild 14 lässt sich wie folgt interpretieren:> Bereich oA: Vollständige Öffnung des

Ermüdungsrisses. Der metallische Kon-takt der Rissflanken wird aufgebrochen.

> Bereich AB: Steigende elastisch-plasti-sche Belastung des Werkstoffs vor der Rissspitze (stabile Rissausbreitung be-ginnt in Punkt B, wo die ∆ϕ-Kurve vom linearen Anstieg abzuweichen beginnt).

> Bereich BC: Stabile Rissausbreitung mit plastischer Verformung im Bereich der Rissspitze. Für den Punkt D auf der F-f-Kurve lässt sich dann der Rissein-leitungswert Ji

EP des J-Integral-Konzep-tes mit der zugehörigen potentiellen Energie U wie folgt berechnen:

Ji = –––––––2Ui

B (W-a)EP (14)

Somit lässt sich für die duktilen, ferriti-schen GJS und GJV mit dieser Methode nicht nur die stabile Rissausbreitung di-rekt messen, sondern auch die Rissein-leitung experimentell reproduzierbar be-stimmen [8].

Einfluss des Gefüges auf die bruch-mechanischen KennwerteÜber das bruchmechanische Verhalten von GJV wissen wir praktisch nichts, da-rum ist ein einfacher Versuch interes-sant, den G. Pusch [8] an Proben aus zwei Chargen von (ferritischem) GJS-400 mit unterschiedlicher Anzahl und Größe der Grafitkugeln sowie an GJV-300 durchgeführt und nach dem J-Integral-Konzept geprüft hat. Das Ergebnis zeigt Bild 15, die dazugehörigen Daten sind in Tabelle 1 zusammengestellt. Die No-dularität, d. h. der Anteil Kugelgrafit im Gefüge des GJV scheint niedrig (<15 %) gewesen zu sein.

Es ist sehr unwahrscheinlich, dass die Grafitkugeln durch die Beanspruchung zerstört werden. Beim Zerspanen werden sie lediglich verformt und beeinträchtigen mit ihrer Härte von ca. 500 000 kg/mm² (ca. 50 000 N/mm²) sehr erfolgreich die Standzeit der Werkzeuge (Bild 16). Bei ei-nem großen Abstand großer Kugeln „mo-

gelt“ sich der stabile Rissverlauf leicht an den Kugeln vorbei, während durch die plastische Verformung viele kleine Kugeln, ähnlich wie in Bild 17 gezeigt, rissähnli-che Zeilen bilden können. Im Gegensatz dazu sind die korallenbaumartig verzweig-ten Vermiculargrafitgebilde vergleichswei-se leicht zu zerstören.

Ein Eigenschaftsvergleich von vier un-terschiedlich hergestellten GJV-300-Ty-pen [14] mit Magnesiumgehalten von 0,015 bis 0,04 % (Massenanteil) zeigte als Haupteinflussgröße die Nodularität (15 bis 36 %). Der Perlitanteil im Grund-gefüge, Form, Größe und Verteilung der Vermikeln sowie der Anteil Grafitkugeln wurden mit Hilfe eines Bildbearbeitungs-programms untersucht. Hauptkriterium für die „Ähnlichkeit“ von GJS und GJV ist somit die Nodularität, was aus Bild 18 klar hervorgeht. Wegen der kleinen An-zahl Proben lässt sich die Wirkung der üb-rigen unabhängigen Variablen nicht quan-tifizieren.

Ein GJV mit etwa 30 %iger Nodularität ließe sich also durchaus mit GJS in einer Kategorie unterbringen. Technisch wäre dies leicht reproduzierbar möglich, wür-de aber die ketzerische Frage auslösen: Warum nicht gleich GJS DIN EN 16079? Gusseisen mit Vermiculargrafit lässt oh-

GJV-300 (G) GJV-300 (C)

Nodularität:

Nodularität:

15 % 12 %

36 % 24 %

GJV-300 (A)

2219192018

9987

29

Gusseisensorte

Ji/BL Jdi/BL

GJV-300 (B) GJS-400-15

25

20

15

10

5

0

J-Int

egra

l-Wer

t in

kJm

-2Bild 18: J-Integral-Werte für vier GJV-300-Typen unterschiedlicher Nodularität im Ver-gleich zu GJS-400, nach [14], jedoch ergänzt.

Tabelle 1: Daten zu Bild 15 – mechanische Eigenschaften, Grafitparameter und bruchmechanische Werte (J-Integral) für ferriti-sches GJS und GJV.

Werkstoff Mechanische Eigenschaften Grafitteilchen Rissmittelungswerte

Rp02 Rm A10 HBW Anzahl Abstand JiEP J0,2

in MPa in MPa in % 10/3000 in N/mm in µm in N/mm in N/mmGJS-400 (1) 294 427 21 143 159 72 41±3 56GJS-400 (2) 314 440 17 160 230 56 34±3 49GJV-300 240 295 5 138 375 43 47±3 19

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78 Giesserei 101 06/2014

FOrUM

nehin nur eine Nodularität von max. 20 % zu.

Selbst beim „spröden!“ Gusseisen mit Lamellengrafit findet vor Risseinleitung eine plastische Verformung der Matrix statt. Danach ist der Rissverlauf stabil, und es ist nur unter Anwendung des FBM-Konzepts möglich, für das Bauteil gültige BM-Kennwerte zu erhalten. Für GJL ist dies in Bild 19 dargestellt. Für andere Gusseisenwerkstoffe erweitert, zeigt dies Bild 20.

AlternativvorschlägeZur Erfassung aller drei im Gusszustand grafitischen Gusseisenwerkstoffe durch eine einzige Messung bzw. Korrelations-funktion werden aus der Praxis der Fritz Winter Eisengießerei GmbH & Co. KG, Stadtallendorf, folgende Alternativvor-schläge gemacht:

Im Rahmen einer Ultraschallprüfung zur Qualitätssicherung werden bei Zylin-derkurbelgehäusen aus EN GJV-450 an ausgesuchten Stellen Messungen der so-genannten relativen Schallgeschwindig-keit durchgeführt und mit Messungen an baugleichen Bauteilen aus EN GJL-250 verglichen (Bild 21, GJS ist darin unter-repräsentiert). Die Frage nach der Prüf-barkeit stellt sich nicht. Das Impuls-Echo-Verfahren lässt sich bei Stahl bis zu 1 m Bauteildicke anwenden, bei GJS dürfte es ähnlich sein. Wegen der Reflexion der Schallwellen durch die Grafiteinschlüsse („Gras“) ist nach Erfahrungen des erstge-nannten Verfassers dieses Beitrages bei GJL die Erkennbarkeit der Rückwand-echos auf eine Bauteildicke von max. 50 cm reduziert. Für GJV liegen diesbe-züglich keine Erfahrungen vor.

Die allgemeine Beziehung für die Ge-schwindigkeit von Longitudinalwellen in Festkörpern lautet nach [18] wie folgt:

VS = –––––––––––E (1–n)r (1–n–2n2)!§§§ (15)

E E-Modul in GPa n Poissonzahl r Dichte in g/cm³

Die Dichte lässt sich mit Hilfe einer Glei-chung [21] berechnen:

r = 8,11 – 10,223 C – 0,091 Si – – 0,071 P (16)

Wie absurd es auch klingen mag, eine ge-eignete Größe wäre auch die Wärmeleit-fähigkeit l. Für 100 °C lässt sich die Wär-meleitfähigkeit auf der Grundlage des Grafitisierungspotentials (Bild 22) für die

50

40

30

20

10

00 200 400

Zugfestigkeit in N/mm2

A-Grafit E-Grafit

600 800 1000

Bruc

hzäh

igke

it KJ ic

in M

Pa m

1/2 50

40

30

20

10

0

0 400 800 1200

Zugfestigkeit Rm in MPa

Bainit

Austenit

MartensitPerlit

Perlit-Ferrit

Ferrit

1600 1800

200

160

120

80

40

0

Bruc

hzäh

igke

it KJ ic

in M

Pa m

1/2

0,6 0,7 0,8 0,9

Relative Schallgeschwindigkeit

relative Schallgeschwindigkeit =

angezeigte Wanddicke

GJL

GJV

GJS

wahre Wanddicke

1,0 1,1

100

80

60

40

20

0

Anza

hl M

essu

ngen

Bild 19: Bruchzähigkeit KlcJ von GJL in Abhängigkeit von der Zugfestigkeit, nach [16].

Bild 20: Bruchzähigkeit KlcJ verschiedener Gusseisenwerkstoffe in Abhängigkeit von

der Zugfestigkeit, nach [16].

Bild 21: Relative Schallgeschwindigkeit von GJL, GJV und GJS. GR

AFI

K:

FRIT

Z W

INTE

R E

ISEN

GIE

SS

EREI

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drei beteiligten Gusseisensorten nach der Beziehung mit den Variablen % C, % Si, Gussteilmodul in cm, Grafitisierungspo-tential PG und Zugfestigkeit berechnen [20]. Berechnungen für perlitisches GJL-250, GJV-450 und GJS-700 beispiels-weise mit jeweils 3,5 % C und 2,2 % Si er-gaben:> Gusseisen mit Lamellengrafit:

l = 42 W/m ⋅ K> Gusseisen mit Vermiculargrafit:

l = 37 W/m ⋅ K> Gusseisen mit Kugelgrafit:

l = 34 W/m ⋅ K

Normung

In den USA existiert zur Bruchmechanik eine ASTM-Norm [12], in Europa existiert hierzu ein ESIS-Dokument [13], ansons-ten enthalten die jeweiligen EN-Werkstoff-normen entsprechende informative An-hänge. In EN-16079 „Gusseisen mit Ver-miculargrafit“ sucht man vergeblich danach; ein Grund zum Aufatmen, wie man sehen wird!

Nachdem die Norm EN 1563 „Guss-eisen mit Kugelgrafit“ überarbeitet und im März 2012 veröffentlicht wurde [22], häufte sich die Kritik, vor allem bezüglich des Anhangs F, der sich mit dem Thema Bruchzähigkeit, Schlagenergie und Duk-tilität befasst. Dies ging soweit, dass En-de Januar 2013 ein großes Zertifizierungs-unternehmen aus Hamburg die Zurück-ziehung und Überarbeitung der Norm von der GINA verlangte. Das Unternehmen hatte bisher die EN 1563 als Grundnorm aufgefasst und 1 : 1 in sein eigenes Re-gelwerk übernommen. Da die genormten

Werkstoffe in der Windenergiebranche, die sich zu diesem Zeitpunkt immer noch im Aufschwung befand, in hohem Maße genutzt wurden und die Potentiale der Werkstoffe immer stärker bis an die Gren-zen beansprucht wurden, sah dieses Un-ternehmen ein hohes Risiko für die Bau-teilsicherheit der Anlagen.

Neben dem aus der Übersetzung der englischen Vorlage herrührenden, teilwei-se unverständlichen bzw. irreführenden Text wurden auch einige technische An-gaben wegen unzureichender Absiche-rung kritisiert. Außerdem wurde bei eini-gen wichtigen Punkten die Möglichkeit zu bilateralen Vereinbarungen zwischen dem Kunden und dem Hersteller außerhalb der Norm eröffnet, so dass die Gefahr be-stand, dass wichtige Aspekte nicht hin-

reichend geregelt würden. Schließlich wurde die in der Praxis übliche Bepro-bung der Werkstoffe zu nichtkonservati-ven Werten hin verschoben und es wur-den bestimmte Eigenschaften und Korre-lationen suggeriert, die de facto nicht vorhanden sind.

Diese Einschätzung wurde sowohl von Experten von Hochschulen und Werkstoff-instituten als auch der Bundesanstalt für Materialprüfung weitestgehend geteilt.

Lediglich der Ansatz Bruchzähigkeit, Kerbschlagarbeit und Schlagenergie zu differenzieren und dem Konstrukteur so Anhaltspunkte für die Anwendung zu lie-fern, wurde von einigen Experten positiv bewertet.

Die Differenzierung von Duktilität und Zähigkeit wurde als enorm wichtig erach-

0 1 2 4

Grafitsicherungspotential Pg

Perlit

W M M P

P/F F

Perlit/Ferrit Ferrit

5 6

2,5

2,0

1,5

1,0

0,5

0

Mod

ul in

cm

3

Bild 22: Grafitisierungspotential, nach [19].

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tet. Die Messung der Schlagenergie an einer ungekerbten Probe dient zur Be-stimmung der Duktilität bei hoher Dehnrate. Im Gegensatz hierzu spiegelt die Messung der Schlagarbeit eine Zä-higkeitsmessung vor. Zähigkeit ist aber eine geometriebedingte Werkstoffreak-tion aufgrund einer mehrachsigen Spannungsverteilung. Daher ist die Kerbschlagprobe nur als historisch eta-blierte Ersatzgröße zu verstehen, um Werkstoffe untereinander zu verglei-chen und einzuordnen.

Die Erwartungshaltung der Konst-rukteure an eine Norm dürfte in der Ver-mittlung von klaren Maßgaben und ggf. Hinweisen auf geeignete Literaturstel-len oder informative gesicherte Erfah-rungswerte bestehen.

Eine Überarbeitung diverser Anhän-ge der EN 1563 ist angedacht und wur-de im entsprechenden Normungsgre-mium bereits initiiert.

Zusammenfassung

Nach einem weiteren Versuch, den Be-griff Energie zu definieren und der Fest-stellung, dass Energie die Eigenschaft sich bewegender Teilchen und Teilchen-verbünde ist, werden zwei voneinander grundsätzlich verschiedene, sich aber dennoch ergänzenden Konzepte zur Zerstörung von Bauteilen erörtert. Da-von behandelt das Lebensdauerkon-zept das „stoffliche“ Versagen der in technischer Zeit temperaturabhängi-gen, mechanisch belasteten Kompo-nenten aus der Sicht der Elektronen-theorie der Metalle.

Mit der Sicherheit realer, d. h. na-turgemäß mit Fehlern behafteter Kom-ponenten befasst sich die Bruchmecha-nik mit ihren Konzepten der linear-elas-tischen Bruchmechanik (LEBM) und Fließbruchmechanik (FBM). Die Bruch-mechanik „liebt“ duktile, d. h. plastisch verformbare Werkstoffe und lässt die höherfesten perlitischen GJV-Sorten zunächst beiseite, zeigt aber auch, dass sie sich (einschließlich EN-GJL) mit Hil-fe des J-Intergralkonzepts der FBM cha-rakterisieren lassen.

Zum Schluss wird als Beispiel für die stiefmütterliche Behandlung der eu-ropäischen Normung bruchmechani-scher Belange die neue EN 1563 „Guss-eisen mit Kugelgrafit“ kritisch analy-siert.

Dr.-Ing. Milan Lampic, Marburg, und Dipl.-Ing. Marc Walz, Fritz Winter Eisengieße-rei GmbH & Co. KG, Stadtallendorf

Literatur:[1] Giesserei-Praxis (2001), [Nr. 1], S. 17-22.[2] Neumann, F.: Die Philosophie des klei-nen Mannes. 3. Aufl. VGS Reclam, 2014. ISBN 978-3-931153-77-9.[3] Mat.-Wiss. und Werkstofftechn. 29 (1998), S. 424-443.[4] Wikipedia, die freie Enzyklopädie: Bohr-sommerfeldsches Atommodell.[5] Wikipedia, die freie Enzyklopädie: Die keplerschen Gesetze.[6] Shurkow, S. N.: Physikalische Grund-lagen der Festigkeit. In: Wissenschaft und Menschheit, Bd. 10. Urania-Verlag, Leip-zig, Jena, Berlin, 1974. S. 332-350.[7] Wikipedia, die freie Enzyklopädie: Bruchmechanik.[8] konstruieren + giessen 17 (1992), [Nr. 3], S. 29-35.[9] Wikipedia, die freie Enzyklopädie: Ver-setzung (Materialwissenschaft).[10] Giesserei-Lexikon online. Dauer-bruch.[11] VDI-Berichte Nr. 902,1991. S. 281-304.[12] ASTM E 399-90: Standard test me-thod for plain-strain fracture toughness of metallic materials. Vol. 03.01. 1997. [13] ESIS P2-91D (European Structural Integrity Society). Procedure for determi-ning the fracture behavior of materials. Technischer Bericht, ESIS, 1992.[14] konstruieren + giessen 32 (2008), [Nr. 4], S. 2-34.[15] Löhberg, K.: Gusseisen mit Kugelgra-phit. In: Aus Wissenschaft und Praxis des Gießereiwesens. Giesserei-Verlag, Düs-seldorf, 1955.[16] Wolfensberger, S.: Bruchzähigkeit von Gusseisen. Dissertation. ETH Zürich, 1986.[17] Wikipedia, die freie Enzyklopädie: Ai-rysche Spannungsfunktion.[18] Wikipedia, die freie Enzyklopädie: Schallgeschwindigkeit.[19] Giesserei 72 (1990), [Nr. 8], S. 161-164.[20] Giesserei 100 (2014), [Nr. 3], S. 60-71.[21] Angus, H. T.: In: Cast iron. Physical and engineering properties. Hrsg. BCIRA, Birmingham (UK). Verl. Butterworth Lon-don, 2. Aufl., 1976.[22] DIN EN 1563 Gusseisen mit Kugel-grafit. März 2012.

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