musik & theater zum lucerne festival

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«Humor» SPECIAL EDITION LUCERNE FESTIVAL SOMMER 2015 composer Tod Machover Jürg Wyttenbach artists Isabelle Faust Vojin Kocic ´ Michael Tilson Thomas thema Pierre Boulez zu Ehren Beethoven vom Baumarkt «Fensadense»: «So aufregend anders!»

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Die Kulturzeitschrift Musik&Theater mit Interviews, Porträts und Hintergrundberichten zum Lucerne Festival

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Page 1: Musik & Theater zum Lucerne Festival

«Humor»

SPECIAL ED IT ION LUCERNE FEST IVAL SOMMER 2015

c o m p o s e rTod Machover

Jürg Wyttenbach

a r t i s t sIsabelle Faust

Vojin Kocic

Michael Tilson Thomas

t h e m aPierre Boulez zu Ehren

Beethoven vom Baumarkt

«Fensadense»: «So aufregend anders!»

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e d i t o r i a l 3

Das Lucerne Festival konnte schon immer mit einer Reihe illust-

rer Orchestergastspiele auftrumpfen, wie man sie sonst allenfalls

noch in Salzburg vorfand. Das ist heute nicht anders als vor dreis-

sig Jahren. Hingegen hat sich das Festival um dieses Rückgrat der

Sinfoniekonzerte herum so fundamental verändert, dass es sich

kaum noch mit den einstigen Internationalen Musikfestwochen Lu-

zern (IMF) vergleichen lässt. Natürlich ziehen Beethoven und Mah-

ler nach wie vor am meisten Publikum an, doch durchweht heute

eine ganz andere Offenheit das musikalisch enorm weiter gefasste

Geschehen. Wesentlich damit zu tun hat die vor über zehn Jahren

ins Leben gerufene Lucerne Festival Academy. Hier konnte sich die

Lust auf neue Inhalte und Ausdrucksweisen entwickeln und artiku-

lieren. Der Einbezug neuer Medien und ungewohnter künstlerischer

Formen findet in Luzern längst auch sein Publikum. Dieses Jahr

etwa mit dem sensitiven musikalischen Stadterkunder Tod Macho-

ver, der in einem ausgesprochen interaktiven Prozess gesammel-

tes Klangmaterial kompositorisch zu einer «Sinfonie für Luzern»

zusammenfügt, die beim diesjährigen Sommerfestival durch das

Academy-Orchester uraufgeführt wird. Keine Frage, Michael Haefli-

ger und sein Team beziehen die Moderne auf unverkrampfte Weise

in ihre Festivalprogramme ein – spielerisch, neugierig, ernst, heiter.

A propos: Natürlich fehlt diesen Sommer, der unter dem themati-

schen Leitmotiv «Humor» steht, Verdis späte, altersweise Komödie

«Falstaff» nicht. Darin zieht am Schluss der genarrte Titelheld Bi-

lanz: «Tutto nel mondo è burla. L’uom è nato burlone.»

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen ein heiteres, tiefsinniges, ab-

geklärtes wie aufwühlendes Festival.

Herzlich, Ihr

Andrea Meuli

Liebe Leserin, lieber Leser

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i n h a l t 5

Editorial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3

Impressum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50

c o m p o s e rTod Machover – offene Sinne, offene Ohren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6

Jürg Wyttenbach: Der Unfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42

a r t i s t sIsabelle Faust: «…das Revolutionäre wachzuhalten» . . . . . . . . . . . . . . . . . 16

Michael Tilson Thomas: «Ich bin ein Träumer» . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24

Vojin Kocic: «Mit kühlem Kopf und warmem Herz» . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30

t h e m aAufregend anders!» Wie interaktive Elektronik und

Musizierlust zueinanderfinden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11

Carolin Widmann: «…ein derart verschmitzter Typ» . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23

Elisabeth Kulman über den Humor in Verdis «Falstaff» . . . . . . . . . . . . . . . . 29

Pierre Boulez: Verstand und Sinnlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34

Johannes Willi: Beethoven vom Baumarkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38

k o l u m n eDen Witz in einem Musikstück zu entdecken – eine Herausforderung . . . 47

s e r v i c eLucerne Festival im Sommer – die Special Events . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49

Titelfoto: Priska Ketterer

Tod Machover bringt Luzern zum

Klingen und lässt uns miterleben,

wie Elektronik und spontanes

Musizieren zueinanderfinden.

S e i t e n 6 / 1 1

Michael Tilson Thomas leitet seit

mehr als zwanzig Jahren das San

Francisco Symphony Orchestra.

Diesen Sommer auch wieder in

zwei Konzerten in Luzern.

S e i t e 2 4

Die Geigerin Isabelle Faust ist eine

Garantin für stilsichere, kritische

Befragungen. Dieses Jahr ist sie

«artiste étoile» beim Lucerne

Festival.

S e i t e 1 6

Die Geigerin Carolin Widmann über

den Humor im Allgemeinen und

bei Jürg Wyttenbach im Beson-

deren.

S e i t e 2 3

Der serbische Gitarrist Vojin Kocic

gewann dieses Jahr den «Prix

Credit Suisse Jeunes Solistes». In

seinem Rezital will er möglichst

viele Facetten seines Könnens

zeigen.

S e i t e 3 0

Mit einem reich befrachteten «Tag für Pierre Boulez» ehrt das Lucerne

Festival den französischen Komponisten und Gründer der Lucerne Festival

Academy.

S e i t e 3 4

Der Berner Komponist Jürg

Wyttenbach ist «composer-

in-residence» und erinnert sich

dabei musikalisch an seine

Freundschaft mit Mani Matter.

S e i t e 4 3

Page 6: Musik & Theater zum Lucerne Festival

t h e m a6

Der Amerikaner Tod Machover erbringt den Beweis, dass elektronische Experimente und musikalische Forscherlust einen heutigen

Komponisten nicht zwangweise in die Isolation des Elfenbeinturms führen müssen. Sein Projekt einer Sinfonie für Luzern bezieht

viele und vieles ein. Und mit seinen «Hyperinstruments» sucht er innerhalb von Lucerne Festival «Young Performance» nach Kon-

zertformen von morgen. Wie Luzern klingt, wie Elektronik und spontanes Musizieren zueinander finden – dies ist beim diesjährigen

Lucerne Festival zu erleben.

Andrea Meuli

Tod Machover bringt Luzern zum Klingen – und ist «composer-in-residence» beim diesjährigen Lucerne Festival

Offene Sinne, offene Ohren

Page 7: Musik & Theater zum Lucerne Festival

7c o m p o s e r

M&T: Ihr Projekt einer Stadtsinfonie für Luzern hat viel bewegt. Das liess sich ja auch über verschiedene mediale Kanäle verfolgen. War es schwierig, über eine mehr oder weniger zufäl-lige Klangcollage hinauszukommen, konzeptio-nellem Anspruch zu genügen?Tod Machover: Ich denke, seit wir uns vor

einem Jahr erstmals über dieses Projekt

unterhalten haben, gab es genug Zeit, um

sich in die Stadt und ihre Klänge hinein-

zuhören. Und auch, um darüber nach-

zudenken, wie das Werk einem höheren

Anspruch genügen kann, statt bloss ge-

sammelte Klänge aneinanderzureihen.

M&T: Welche Schwierigkeiten stellten sich im Umgang mit dem gesammelten Klangmaterial? Tod Machover: Schwierig war es vor al-

lem, alle die für Luzern klanglich signifi-

kanten Klänge in eine Form zu bringen,

zumal die Schönheiten und charakteris-

tischen Dinge sehr fein und subtil sind.

Das ist ein grosser Unterschied zu einem

Projekt, welches ich in Detroit begon-

nen habe. Detroit ist gekennzeichnet

durch harte Kontraste und Zerrissenheit

– von der Blüte der Autoindustrie bis zu

Rassenunruhen, die Stadt ging Bank-

rott. Das fordert andere Klänge heraus

als hier in Luzern, so wie ich die Stadt

erfahren habe und verstehe, wie ich mit

den Leuten darüber gesprochen und

wie ich die Kultur hier erlebt habe. Es

gilt hier viel mehr auf die zahlreichen

Details zu achten. Aber wir müssen sie

behutsam entdecken und auf sie hören.

In Luzern drängen sich nicht die gros-

sen Kontraste auf.

M&T: Das klingt fast schon nach einer betuli-chen Idylle…?Tod Machover: Idylle ist nicht der richti-

ge Begriff, ich will nichts romantisieren.

Nehmen wir als Vergleich mein Pro-

jekt in Edinburgh vor zwei Jahren. Die

Stadt ist wohl etwas grösser als Luzern,

hat jedoch eine vergleichbare Dimensi-

on, und es ist ebenfalls eine Stadt, die

durch ganz eigene geographische und

historische Besonderheiten bestimmt

wird. Doch hinter diesem ersten Blick

verbirgt sich eine Wirklichkeit, die völ-

lig verschieden von dem ist, was man

vordergründig sieht. Hinter dem Grün

jedes Hügels verbirgt sich eine dunkle

Seite der Stadt. Das ist die Geschichte,

welche ich aufzunehmen versuchte. In

Luzern hingegen begann ich mehr und

mehr Details zu schätzen, je enger ich

mit der Stadt vertraut wurde. Überall wo

man hinschaut gibt es feine kleine Dinge

zu erkunden, die Leute tragen Sorge zu

ihnen, sei es da ein Brunnen oder dort

ein kleines Geschäft. Und vieles ist nicht

so offensichtlich. Das sind ganz andere

Voraussetzungen um ein Stück zu schrei-

ben, als wenn sich eine einzige starke

Emotion manifestiert. Viele Details erge-

ben hier ein Bild, welches als Ganzes zu

erfassen ist.

M&T: Inspiriert dieser kleingliedrig-urbane Cha-rakter eher zu kammermusikalischen Struktu-ren?Tod Machover: Das ist eine interessante

Feststellung (denkt nach). Ich denke je-

doch, es ist nicht Kammermusik entstan-

Page 8: Musik & Theater zum Lucerne Festival

8 c o m p o s e r

den. Aber ich hatte die Möglichkeit auf

meinen Gängen durch die Stadt Luzern

– durch die Gassen, dem Fluss entlang –

zahlreiche Gedanken zu sammeln. Dann

ging ich nach Hause und begann sie zu

ordnen. Interessant für mich ist bei-

spielsweise, dass es in Luzern diese nach-

vollziehbare Fülle an Geschichte gibt,

etwa im Gletschergarten. Man blickt

auf die Berge und wird sich gleichzeitig

bewusst, wie hier Millionen von Jahren

etwas gebildet und geformt haben: Die

Gletscher schmelzen, das Wasser fliesst

von den Bergen und bildet den See, da-

raus fliesst der Fluss. Der Weg, wie alle

diese Wassersysteme miteinander ver-

bunden sind, die immense Zeitdimensi-

on – diese Zusammenhänge faszinieren

mich. Wasser ist das Element, welches

die Stadt verbindet. Diese Erscheinun-

gen zu reflektieren war mir wichtig. Sie

können am Ufer der Reuss stehen und

die ganze Stadt fühlen. Dann gehen Sie

– vielleicht früh am Morgen – hoch zu

den Stadtmauern mit ihren Türmen und

hören von dort die Stadt mit all ihren

Glocken. Das alles hat etwas von Harmo-

nie – ganz anders als in Amerika, wo wir

bei Stadtklängen rasch an Ives denken.

Ich liebe diese harmonischen Zusam-

menhänge und möchte Sie in meinem

Stück bewusst machen.

M&T: Haben Sie auch akustische Einbrüche in dieser Harmonie wahrgenommen?

Tod Machover: Ich kam für zwei Tage an

die Fasnacht, jeder hatte mir davon er-

zählt. Faszinierend daran waren nicht die

Klänge allein, sondern ihre eigenartige

Verbindung von Archaik und Organisati-

on. Sie können in der Stadt herumgehen

und erleben überall diese ganz eigenar-

tigen Klangverbindungen. Hinter jeder

Häuserecke in der Altstadt lässt sich eine

eigene Musik zusammenmixen.

«Neben der Arbeit mit den eingereichten Klängen und Kompositionen, habe ich auch meine eigene Musik kreiert – Melodien, Harmonien, Rhythmen, Klangfarben – die durch Luzern inspiriert wurde. Einige dieser Stücke versuchen den echten Klang – zum Beispiel die verschiedenen Formen von Was-ser in Luzern – in instrumentale Klänge zu übersetzen, sodass ein Orchester den Fluss oder See oder einen der vielen Brunnen «spielt». Andere Teile sind dagegen eher metaphorisch, so imitieren melodi-sche Motive das Fliessen des Wassers oder Beats und Stille die Geräusche von Konversationen. Einige der Teile, die ich komponiere, sind einfach nur durch Luzern inspiriert und sind – wie alle Musik – schwierig mit Worten zu beschreiben. Aber ich glaube sie geben einiges von der Schönheit, Einfach-heit, Bescheidenheit und Stabilität wieder, die ich in dieser bemerkenswerten Stadt gefunden habe.»

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Grosses, Neues, Wiederentdecktes. 2015/16 VORAUS

SCHAUEN –

ABO

BUCHEN!

Das Luzerner Sinfonieorchester LSO geht in die fünfte Konzertsaison mit Chefdirigent James Gaffigan – und freut sich auf Julia Lezhneva, Vilde Frang,Vadim Gluzman, Truls Mörk, Nelson Freire, Kun-Woo Paik, Steven Isserlis, Gabriela Monteiro, Khatia Buniatishvili, Sergey Khachatryan, Gautier Capuçonund andere mehr. Kommen Sie mit!

Alle Informationen zu den Angeboten 2015/16 finden Sie auf www.sinfonieorchester.ch.LSO-Kartenbüro | Pilatusstrasse 18 | 6003 Luzern | Telefon +41 41 226 05 28 | [email protected]

WO

MM

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Andrea Meuli

M&T: Sie gehen als Komponist mit Ihrem MIT Media Lab immer wieder neue, experimentelle Wege und entwickeln dafür eine hoch komple-xe elektronische Technologie. Wie abstrakt und zufällig kann Musik sein, um ein Publikum zu erreichen, zu berühren?Tod Machover: Elektronische Musik

wird oft als abstrakt wahrgenommen,

weil ihr die physische Resonanz, die Ver-

bindung zu unserem Körper fehlt. Das

kann unnatürlich wirken und zum Pro-

blem werden. Andererseits ist es heute

ebenso wahr, dass elektronische Techno-

logie das verbreitetste Medium ist, um

mit Musik zu experimentieren. Sofort

haben wir das Bild von Musikern vor

uns, die mit Kopfhörern auf dem Kopf

spielen, scheinbar ohne unmittelbaren

Kontakt zu einem Publikum. Es gibt

heute einen hohen Anteil an Aufführun-

gen, da sehen wir keine Performers und

hören auch keinen akustisch erzeugten

Klang. Denken wir nur an die ganze DJ-

oder Techno-Pop-Szene. Man mag das

oder nicht, aber es hat seine Wirkung

auf ein breites Publikum, auch wenn

die unmittelbare Beziehung zwischen

dem, was der Performer macht und dem

Klangresultat fehlt. Ich wuchs als Cellist

auf und habe Kammermusik gespielt.

Und seit ich ein Kind bin, denke ich

darüber nach, was es bedeutet, ein Ins-

trument zu berühren, es in der Hand zu

halten. Das Erleben von Klang beschäf-

tigt mich, sowohl wenn du selber spielst,

aber genauso das Gefühl von Klang in

einem Raum.

M&T: Sie haben in der Probe vorhin Lautspre-cher getestet… Tod Machover: …wir versuchen einen

Lautsprecher zu finden, dessen Klang

sich in einem Raum möglichst natürlich

anfühlt. Wenn ich spreche, dann reflek-

tieren die Wände, der Klang vermischt

sich, verschiedene Frequenzen kom-

men aus meinem Mund – all das macht

jenes Gefühl aus, was wir Live erleben.

Lautsprecher hingegen schwingen in

«Fensadense» – wie interaktive Elektronik und spontane Musizierlust agil zueinanderfinden

«So aufregend anders!»

eine Richtung, alle Frequenzen zusam-

men. Darum gibt es diese Differenz

zwischen Live- und Lautsprecher-Klang.

Ich denke, eine gewisse Beschränkung

von elektronisch erzeugtem Klang via

Lautsprecher ist nicht zu vermeiden. An

der Elektronik liebe ich jedoch, wie vie-

le Möglichkeiten sie erlaubt. Das ist wie

ein Kochen mit verschiedenen Zutaten.

Man kann mischen…

M&T: …und experimentieren?Tod Machover: Ja, natürlich. Aber ich

denke eher daran, den Charakter der

einzelnen Zutaten zu verstärken, zu in-

tensivieren als eine undefinierbar neue,

exotische Mischung zu bekommen.

M&T: Die Rolle des Computers dabei?Tod Machover: Er kann hilfreich sein

als ein zusätzlicher Bestandteil, der es

erlaubt, die akustischen Instrumente auf

eine neuartige und verschiedene Weise

zu mischen, die Luft dicker zu machen

für bestimmte Effekte. Der Computer

ermöglicht, akustische Verbindungen

zwischen verschiedenen Dingen herzu-

stellen. Seit Jahren versuche ich einen

Weg zu finden, wie Elektronik mit Live-

Performance verbunden werden kann,

verbunden auch mit dem Körper von

Musikerinnen und Musikern. Das ist der

Anreiz, weshalb wir mit diesem neuen

System so hart arbeiten.

M&T: Kann das mehr sein als ein witziger Ein-fall?Tod Machover: Das ist kein Gag! Tech-

nologie um ihrer selbst willen interes-

siert mich nicht. Auch wenn wir heute

unsere Software ausprobieren: Die Mu-

siker spielen die Musik, man braucht da-

für keine Elektronik!

M&T: Weshalb braucht es dann dieses komple-xe Equipment, um Ihre Komposition erklingen zu lassen?Tod Machover: Ich denke, die Technik

fügt eine zusätzliche Dimension hinzu,

wenn man sie auf eine kluge Weise ein-

setzt. Es ist – um beim Beispiel des Ko-

chens zu bleiben – wie eine zusätzliche

Zutat, um den Geschmack einer Speise

vielfältiger zu machen. In diesem Stück

geht es mir darum, die Beziehung zwi-

schen den einzelnen Spielern zu mes-

sen. Wir experimentieren und versu-

chen herauszufinden, ob die Musiker

einen exakten gemeinsamen Rhythmus

finden, wenn sie gegenseitig aufeinan-

der hören, wie sie ihren Rhythmus leicht

ändern, sich entfernen und wieder zu-

einander finden, wie sich kleine Impul-

Tod Machover

beim Lucerne Festival

23. August, 17.00 Uhr, KKL, Luzerner Saal

Boulez-Hommage 6

Re-Structures für zwei Klaviere und

Live-Elektronik (Uraufführung)

29. August, 22.00 Uhr, KKL, Luzerner Saal

Late Night 3

Lucerne Festival Academy Ensemble

Hyperstring Trilogy

5. September, 11.00 Uhr, KKL, Konzertsaal

Sinfoniekonzert 24

Lucerne Festival Academy Orchestra

Matthias Pintscher (Leitung)

Eine Sinfonie für Luzern (Uraufführung)

12. September, 11.00 Uhr, KKL,

Luzerner Saal

Young Performance

Fensadense für Hyperinstrumente und

interaktive Elektronik (Uraufführung)

12. September, 22.00 Uhr, KKL,

Luzerner Saal

Young Performance

«Fensadense» für Hyperinstrumente und

interaktive Elektronik

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se und Wechsel auswirken. Dies kann

Technologie sogar genauer festhalten,

als es das menschliche Ohr je vermag.

Ich interessiere mich dafür, wie Klang

sich bei exakter Simultaneität zuspitzen

kann, wie kompakt er werden kann; und

wie er umgekehrt schon bei der leises-

ten Verschiebung bröckelt oder zerfällt.

Für die Musiker bedeutet das: Um die

besonderen Dinge geschehen zu lassen,

müssen sie sich darauf konzentrieren zu-

sammenzuspielen.

M&T: Und für Sie als Komponist? Ist das eine Möglichkeit um neue Klangräume zu erschlies-sen, auch geistige Räume für das Publikum?Tod Machover: Ich denke oft darüber

nach, wie Technologie als Hilfsmittel

eingesetzt werden kann. Mit diesem Pro-

jekt geht es mir weniger um das musika-

lische Individuum, sondern darum, das

Ensemble zu aktivieren. Wie sich die ein-

zelnen fühlen, wie sie lernen, aufeinan-

der zu hören und zu reagieren. Wie sie

sich gegenseitig abstimmen. Wie es ge-

lingen kann, durch individuelle Impulse

zusätzliche Elemente in die musikalische

Sprache einzubringen.

M&T: Das Stück, woran Sie hier arbeiten und proben entsteht für das Festival, im Sommer wird es uraufgeführt. Was meint der Name «Fensadense?

Tod Machover: Der Name bedeutet

nichts. Es ist kein richtiger Begriff.

Einen Hintergrund gibt es dennoch:

«Fensadense» war ein Fantasiewort,

welches die kleine Schwester von einem

meiner Studenten als Kind kreierte.

Der Begriff gefiel mir spontan, er lässt

so viel offen. Ich mag die Vorstellung,

dass es ein Begriff mit keiner festen As-

soziation ist. Nachdem das Stück exis-

tiert, eröffnen sich dann doch gewisse

Assoziationen.

M&T: Sie arbeiten in diesem Werk mit soge-nannten Hyperinstrumenten und mit einer inter-aktiven Elektronik, erfasst durch Armband-Sen-soren, welche die Musikerinnen und Musiker tragen. Was hat man sich darunter vorzustellen?Tod Machover: Bisher hatte wir die soge-

nannten «Hyperinstruments» jeweils mit

einem riesigen elektronischen Aufwand

für Solisten oder Sänger als individuelle

Lösungen entwickelt. So entwickelten

wir zum Beispiel für für Yo-Yo Ma einen

Bogen, in dem eine spezielle Elektronik

eingebaut war, mit speziellen Sensoren

an der Hand, die sensibel darauf reagier-

ten, wie der Bogen berührt wurde. Das

alles erforderte eine extrem teure und

individuelle Technologie. Für dieses

Projekt in Luzern war mir wichtig, dass

«Ich versuche die aktuellen technologischen Möglichkeiten zu nutzen, um die verschie-densten Fragen zu erkunden: wie sich eine Ausdrucksgeste umsetzen lässt, was eine Phrase bedeuten kann, wie komplex ein Klang sein kann oder wie die Beziehung zwischen Ausführenden und Publikum einbezogen werden kann.»

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t h e m a 15

jeder Musiker sein Instrument benutzen

kann, also keine Spezialkonstruktionen

zu spielen hat, ob als Streicher oder als

Tubaspieler. Dazu bekommt jeder ein

Tablet und dieses drahtlose Sensoren-

Armband, was noch nie zuvor verwendet

wurde.

M&T: Damit werden Bewegungen erfasst?Tod Machover: Die Sensoren erfassen

Tausende an Informationen. Das ist an

sich nicht sehr interessant. Das wird es

erst, wenn die Interaktion künstlerisch

genutzt wird. Wenn man beispielsweise

ablesen kann, wie Spannung sich auf-

baut. Wie musikalische und emotionale

Prozesse etwa durch die Bewegung der

Arme nachvollziehbar werden. Was in

der Interaktion zwischen den Musikern

geschieht. Das möchte ich zeigen.

In der Arbeit mit meinem Team im MIT

Media Lab erfinden wir immer neue

technologische Wege. Normalerweise

gehe ich dann nach Hause und schreibe

meine Musik. Das ist sogar mit Stücken

wie der «Sinfonie für Luzern» so. Natür-

lich tausche ich jeweils Informationen

aus, aber der Prozess des Komponierens

geschieht bei mir daheim. Da entsteht

die Partitur, dann gehen wir damit zum

Orchester. Doch in diesem Projekt ist

es ganz anders. So aufregend anders!

Natürlich komme ich mit einer Idee,

aber ich bin offen, sie zu ändern. Die

Idee ist nicht in eine fixe Form gepresst.

Die zehn beteiligten Instrumentalisten

sind herausgefordert, ihre künstlerische

Freiheit kreativ auszureizen und zu nut-

zen.

M&T: Was bevorzugen Sie? Ihre Werke selber zu leiten oder sich auf die Individualität eines anderen Musikers einlassen?Tod Machover: Als ich jünger war, lieb-

te ich es selber zu dirigieren. Ich dachte

meine Vorstellungen so genauer umzu-

setzen. Heute habe ich gute Beziehun-

gen zu einigen sehr guten Dirigenten

und kann entspannt zuhören. Auch dar-

aus kann ein Stück gewinnen.

M&T: Hören Sie in den Interpretationen Ihrer Werke durch Kollegen Dinge, die Ihnen zuvor als Komponist verschlossen geblieben waren?Tod Machover: In einem offenen Pro-

benprozess wie hier zu «Fensadense»

geschieht mir genau das täglich von

Neuem. Generell ist der künstlerische

Prozess des Komponierens jedoch um-

fassender und vielschichtiger als das,

was im Konzert geschieht und umgesetzt

wird. Ich habe kaum je in einer Interpre-

tation etwas gehört was meine Meinung

als Komponist zu einem Stück verändert

hätte. (Lachend) Ich möchte Ihre Frage

gerne mit Ja beantworten, aber ich bin

unsicher ob das wahr wäre…

Page 16: Musik & Theater zum Lucerne Festival

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Sie zählt zu den spannendsten Musikerpersönlichkeiten unserer Zeit. Isabelle Faust ist eine Garantin für stilsichere, kritische

Befragungen. Die Interpretationen der deutschen Geigerin sind wohltuend unroutiniert, weil sie abseits der Mainstream-Norm die

Ohren öffnen für andere Perspektiven. Faust, die auch mit Claudio Abbado eng zusammengearbeitet hat, wirkt in diesem Jahr am

Lucerne Festival – als «artiste étoile». Das Gespräch über ihre Programme verrät zugleich viel über ihre Geisteshaltung als Musikerin.

Marco Frei (Text) & Priska Ketterer (Bilder)

Isabelle Faust über ihren Zugang zu Mendelssohn sowie über interpretatorische Offenheit vom Barock bis Kurtág

«…das Revolutionäre wachzuhalten»

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M&T: Isabelle Faust, ist Felix Mendelssohn Bartholdy ein Klassiker oder ein Romantiker? Oder ist er beides – ein «Mozart des 19. Jahrhun-derts», wie Robert Schumann einst formulierte?Isabelle Faust: Wow, Sie gehen ja gleich

ans Eingemachte! Die Frage ist natürlich

sehr komplex. Ich denke aber, dass Schu-

mann gar nicht so daneben liegt mit

seiner Einschätzung des Mozart‘schen.

Mendelssohn hat eine klassische Klar-

heit und Leichtigkeit, auch eine «Arti-

kuliertheit». Das höre ich in ihm sehr

deutlich, weniger das Melancholische,

Schwülstige.

M&T: Wenn man aber das bekannte Violinkon-zert von Mendelssohn mit Mozarts Violinkonzert Nr. 5 KV 219 vergleicht, die Sie beide in Luzern spielen, erscheint Mozart kühner. Der Adagio-Einsatz der Solovioline im Kopfsatz, der gar nichts mit der Exposition zu tun hat – das ist doch unfassbar revolutionär, oder?Isabelle Faust: Das stimmt. Wir haben ja

auch nicht schlecht über Mozart gere-

det oder wollten ihn klein machen. Na-

türlich ist Mozart ein Gigant, trotzdem

wird Mendelssohn noch immer gerne zu

klein gehalten – gerade sein Violinkon-

zert. Das ist von A bis Z ein ideales Werk,

auch wenn es mit den revolutionären

Einfällen Mozarts rein formal vielleicht

nicht mithalten kann. Mendelssohns Vi-

olinkonzert spannt einen idealen Bogen

von der ersten bis zur letzten Note, auch

mit der Kadenz, die kohärent aus einem

Fluss herauswächst. Auch das hat etwas

Revolutionäres, finde ich, aber Men-

delssohn hat es sehr elegant und subtil

«verpackt». Man muss sehr achtsam sein,

um das Ungewöhnliche bei ihm wahrzu-

nehmen. Aber ja, dieser Adagio-Einsatz

in Mozarts KV 219 – der ist unglaublich.

M&T: Über weite Strecken wissen die Hörer nicht, wohin die Violine will…Isabelle Faust:: …absolut, und für die

Hörer damals muss das wirklich scho-

ckierend geklungen haben. Heute kennt

man das Stück schon zu gut – leider,

muss ich sagen. Weil es dadurch manch-

mal nicht mehr jenen Schockeffekt

entwickeln kann. Aber da gibt es auch

noch andere Werke, auf die das zutrifft.

Das Paradebeispiel ist die berühmte g-

Moll-Sinfonie KV 550. Wie schon Niko-

laus Harnoncourt betonte, müssten im

Grunde alle von den Stühlen fallen. Wir

haben heute die schwierige Aufgabe, bei

hyperbekannten Stücken das Revoluti-

onäre wachzuhalten und zu vermitteln

– auch wenn man jede Note mitpfeifen

kann.

M&T: Wie machen Sie das, etwa beim besag-ten Adagio-Einsatz im Kopfsatz von Mozarts Konzert KV 219? Halten Sie quasi ohne Vibrato etwas dagegen?

Isabelle Faust: Ach wissen Sie, da gibt es

so unterschiedliche Möglichkeiten! Ich

würde mich nie festlegen wollen. Zumal

es von so vielen Dingen abhängt – auch

von der Orchestergruppe, mit der man

gerade arbeitet und gemeinsam auf der

Bühne steht.

M&T: Dennoch betonten Sie vorhin eine be-stimmte Artikulation bei Mendelssohn, die von Mozart herrühre. Ist also die Romantisierung deplatziert? Isabelle Faust: Herrlich, Sie stellen die

ganz kniffligen Fragen! Aber auch da

muss ich Sie leider «enttäuschen». Im-

mer mehr dringe ich zur Auffassung vor,

dass wir die Werke für ein heutiges Pub-

likum spielen. Das Rad möchte ich nicht

um 100 oder 200 Jahre zurückdrehen.

Wir können nicht die Arroganz besitzen,

dass es alles dazwischen nicht gegeben

hat. Andererseits kann man aber auch

nicht so tun, als ob sich die Musikge-

schichte von rechts kommend entwickelt

hätte – also rückwärts. Alles kam immer

von links, wenn man den Zeitverlauf

betrachtet. Deswegen sollte man Men-

delssohn zunächst aus der Perspektive

Mozarts betrachten. Das hat mir übri-

gens auch beim Schumann-CD-Projekt

mit dem Freiburger Barockorchester

und Pablo Heras-Casado sehr geholfen.

Diese Herangehensweise ist aus meiner

Sicht für eine Interpretation «gesund».

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a r t i s t s 19

Isabelle Faust – «artiste étoile»

15. August, 22.00 Uhr («Late Night»), KKL

Strawinsky: «L’Histoire du Soldat».

Solisten des Lucerne Festival Orchestra,

Dominique Horwitz (Sprecher), Isabelle

Faust (Violine)

16. August, 16.00 Uhr, Lukaskirche

J.S. Bach: Sonaten BWV 1014, 1016 und

1019, Cembalo-Partita C-Dur von Froberger:

Cembalo-Partita C-Dur. Biber: «Sonata repre-

sentativa» und Solo-Passacaglia für Violine.

Isabelle Faust (Violine), Kristian Bezuiden-

hout (Cembalo)

25. August, 19:30 Uhr, KKL

Mozart: Violinkonzert A-Dur KV 219

Schubert: Ouvertüre C-Dur D 591 «Im

italienischen Stil», C-Dur-Sinfonie» D 944

«Grosse».

Chamber Orchestra of Europe,

Bernhard Haitink (Leitung) Isabelle Faust

(Violine)

28. August, 19:30 Uhr, KKL

Mendelssohn: Violinkonzert op. 64

Dvorák: «Othello»-Ouvertüre op. 93 und

Sinfonie Nr. 8 op. 88.

Royal Concertgebouw Orchestra

Daniel Harding (Leitung), Isabelle Faust

(Violine)

6. September, 18:30 Uhr, KKL

Szymanowski: Violinkonzert Nr. 1 op. 35

Bartók: «Der wunderbare Mandarin»

Varèse: «Amériques» (zweite Fassung von

1927).

Lucerne Festival Academy Orchestra,

Pablo Heras-Casado (Leitung), Isabelle

Faust (Violine)

12. September, 16.00 Uhr, Lukaskirche

Kurtág: «Kafka-Fragmente»

Isabelle Faust (Violine), Christine Schäfer

(Sopran), Dominique Horwitz (Rezitation)

M&T: Und so haben Sie es auch in München im Violinkonzert von Brahms mit dem Münchener Kammerorchester (MKO) gehalten. Denn auch Brahms lässt sich als ein entschlackter Klassi-ker auffassen, oder?Isabelle Faust: Ja, gerade sein Violinkon-

zert. Eigentlich muss man nur in die Par-

titur schauen und lesen, was da steht. Viel

mehr gehört im Grunde nicht dazu. Der

Solopart ist reihenwiese im Piano gehal-

ten. Wenn man das ernst nimmt, kommt

plötzlich etwas ganz Verwobenes heraus.

Man kann dem Publikum besser vermit-

teln, wie alles ineinander läuft. Selbst

der Finalsatz lautet «giocoso», hat nichts

Kämpferisches – auch wenn es technisch

schwer ist, hier das «Leichtfüssige» dar-

zustellen. Das «giocoso» kommt so selten

zur Geltung, obwohl man sich ein Bei-

spiel an Joseph Joachim nehmen könnte.

M&T: …dem damaligen Solisten und Wid-mungsträger des Violinkonzerts von Brahms, von dem es auch noch Tonaufnahmen gibt.Isabelle Faust: Genau. Es gibt noch Auf-

nahmen von ihm. Er hat mit Brahms das

Violinkonzert konsequent entwickelt

und erarbeitet. Natürlich hat Brahms

unterschiedliche Interpretationen ge-

mocht und seine Metronom-Angaben

auch nie strikt verstanden. Trotzdem

sollte man einfach mal genauer hinse-

hen. Joachims Tempowahl im Finalsatz

wird dem «giocoso» sehr gerecht.

M&T: Dieser Finalsatz ist volkstümlich gefärbt – ähnlich wie im Violinkonzert von Mendelssohn oder das «Alla-Turca»-Element im Finale aus Mozarts KV 219. Manche Musikwissenschaftler meinen, dass Mozarts «Alla Turca» in KV 219 zwar grundsätzlich nicht ungewöhnlich war, sehr wohl aber im Rahmen eines Violinkonzerts.Isabelle Faust: Grundsätzlich war das

Volkstümliche tatsächlich nichts Unge-

wöhnliches. Ob dies auch konkret für

die Konzertgattung zutrifft, kann ich

nicht sagen, aber in der Sonate zum Bei-

spiel war es etabliert. Auf jeden Fall lag

es aber auch im Konzert schon längst in

der Luft. Man sollte das jedoch mit ei-

nem gewissen Humor und mit Leichtig-

keit nehmen, nicht zu schwer.

M&T: Andererseits spielen Sie in Luzern auch die barocke «Sonata representativa» von Hein-rich Ignaz Franz Biber und die zeitgenössischen

«Kafka-Fragmente» von György Kurtág. Obwohl Jahrhunderte dazwischen liegen, ähneln sich manche geräuschhafte Spielweisen. Ist das nicht erstaunlich?Isabelle Faust: Absolut, gerade die Pon-

ticello-Klänge, also die Spielweisen an

dem Steg. Gerne wird übersehen, was

für revolutionäre Spieltechniken im Ba-

rock erprobt wurden. Die Komponisten

waren teilweise so fantasievoll und sahen

sich im Ausdruck durch keine Grenzen

eingeengt. Nicht alles ist klar markiert

beziehungsweise notiert. Man kann sich

richtig austoben, zumal bekannt ist, dass

auch die damaligen Interpreten sehr

weit gegangen sind. Freiheit in der In-

terpretation bedeutete damals generell

eine zentrale Kategorie. Im Grunde ist

Kurtág ein «traditioneller Zeitgenosse».

M&T: Wie meinen Sie das?Isabelle Faust: Er arbeitet mit bekann-

ten, etablierten Spielweisen, um sie aber

ganz neuartig einzusetzen. Darüber hi-

naus wirken seine «Kafka-Fragmente»

wie eine Fortführung der Konzentriert-

heit und Reduktion Weberns. Mit dieser

Kurzform und Miniatur agiert er den-

noch auf einem ganz anderen, eigenen

expressiven Niveau. Kurtág scheut also

grundsätzlich keine Traditionen, son-

dern webt sie mit ein. Bibers «Sonata

representativa» passt natürlich wun-

derbar zum diesjährigen Festivalthema

«Humor», weil in ihr Tierlaute imitiert

werden. Das ist einerseits sehr lustig und

lässt doch andererseits der Fantasie des

Interpreten sehr viel Freiraum bei der

Ausgestaltung.

M&T: In der «Geschichte eines Soldaten» von Igor Strawinsky ist hingegen der Humor buch-stäblich teuflisch...Isabelle Faust: Was übrigens ganz wun-

derbar zu meinem Nachnamen passt –

«Faust».

M&T: Jetzt sinkt das Niveau aber gewaltig…Isabelle Faust: (lacht) …mir ist das erst

kürzlich aufgefallen. Klar ist das total ba-

nal. Aber die Handlung der Geschichte

selber ist ja auch nicht gerade prickelnd,

oder? Die Form der Geschichte jedoch

ist aussergewöhnlich: Im Grunde ist das

Werk eine Mini-Oper, mit der Idee eines

fahrenden Theaters. Noch dazu hat die

Geige einen grandiosen Part, die Instru-

mentation ist generell grossartig – ein

wirklich einmaliges Stück.

M&T: Letztlich bedeutet die Violine die Seele des Soldaten, die er an den Teufel «verkauft». Eine Geigerin zu werden, kann mit vielen Ent-behrungen und Kämpfen einhergehen. Ihre Kol-legin Viktoria Mullova hat sehr darunter gelitten. War das bei Ihnen ähnlich?Isabelle Faust: Natürlich gibt es Ent-

behrungen, man benötigt viel Disziplin.

Aber Mullova hatte einen sehr speziellen

Werdegang. Bei mir war das nicht so.

Ich hatte nie das Gefühl, etwas im Le-

ben verpasst zu haben. Die Geige zählt

zu meinen besten Ausdrucksmitteln. Mit

«Abbados Art zu musizieren ist mir sehr nah»

Page 20: Musik & Theater zum Lucerne Festival

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Page 21: Musik & Theater zum Lucerne Festival

a r t i s t s 21

ihr kann ich mich besser ausdrücken als

mit Worten. Das empfinde ich als gros-

ses Glück – weil das mir die Möglichkeit

gibt, tiefer in mich hineinzuhören als

andere es können – oder sich trauen.

Und gleichzeitig kann ich diese Arbeit

im Spiel auch für andere «erledigen».

Ich persönlich habe das Geigenspiel

nicht als Leiden erlebt, aber in gewissen

Ländern werden junge Menschen musi-

kalisch geradezu gedrillt. Ich hatte das

grosse Glück, schon mit elf Jahren im

Kinder-Streichquartett meines Bruders

mitzumachen. Sobald man Kammermu-

sik macht, ist das noch ein ganz anderes

Musikerleben. Das war ein grosses Glück.

M&T: Weil es Ihre Musikauffassung entschieden geprägt hat? Ein Musizieren aus dem Geist der Kammermusik, auch bei grossen Violinkonzer-ten, wie es nicht zuletzt Claudio Abbado als Dirigent pflegte?Isabelle Faust: Ganz genau, das ist mei-

ne Absicht. Und deswegen habe ich

kürzlich mit dem Münchener Kammer-

orchester das Violinkonzert Beethovens

ganz bewusst ohne Dirigent aufgeführt.

Als heranwachsende Geigerin habe ich

fünf Jahre lang einfach nur die zweite

Geige im Streichquartett-Repertoire ge-

spielt. Da geht es nicht um Tonleitern

oder Paganini-Capricen, also die solisti-

sche Perspektive. Mit Abbado habe ich

die Violinkonzerte von Beethoven und

Alban Berg auf CD eingespielt, und wir

haben uns sicherlich auch wegen dieser

spezifischen Haltung – aufeinander zu

hören und gegenseitig aufeinander zu

reagieren – so gut verstanden. Und dass

man nicht stur festhält an einer einmal

getroffenen Interpretation. Abbados Art

zu musizieren ist mir sehr nah.

M&T: In Luzern konzertieren Sie auch mit dem aufregenden Pianisten Kristian Bezuidenhout.Isabelle Faust: Ja, ich picke mir immer

die Kirschen heraus. Und wenn ich sie

gefunden habe, halte ich sie fest (lacht). In Luzern spielen wir unter anderem

Duo-Sonaten von Bach – ein Vorge-

schmack auf die gemeinsame Bach-CD,

die wir im nächsten Sommer für «Har-

monia mundi» aufnehmen. Es ist wirk-

lich eine wunderbare Zusammenarbeit

mit ihm.

M&T: Weil Sie beide eine ähnlich flexible Arti-kulation und Phrasierung pflegen – eine offene Geisteshaltung?Isabelle Faust: Er ist zwar sehr speziali-

siert auf Hammerklavier und Cembalo,

hat jedoch tatsächlich ein unglaubliches

Wissen über das gesamte Musikdasein.

Und er spielt ebenso den modernen

Flügel. Das ist bei mir ähnlich. Ich kann

mich nicht als Barockexpertin bezeich-

nen, und das möchte ich auch nicht. Ich

nehme aber die Sache sehr ernst. Meine

Bach-Solo-CDs habe ich damals nicht

auf Darmsaiten eingespielt. Viele könn-

ten das nicht akzeptieren. Er zählt nicht

dazu. Das Bach- und Biber-Programm in

Luzern werde ich jetzt aber auf einer Ba-

rockgeige spielen, mit Darmsaiten.

M&T: Warum?Isabelle Faust: Bei den Bach-Solo-CDs

musste sich die Geige nicht mit dem

Timbre eines anderen Instruments ver-

mischen. Mit dem Cembalo, wie jetzt

in Luzern, hingegen ist das etwas ande-

res. Der Cembaloklang darf nicht über-

tüncht werden. Für eine Mozart-Aufnah-

me mit «Il giardino armonico» habe ich

unlängst meine Stradivari mit Darmsai-

ten bezogen und mit Klassikbogen ge-

spielt. Das hat funktioniert, aber für das

Projekt in Luzern ist eine Barockgeige

deutlich spannender.

Page 22: Musik & Theater zum Lucerne Festival

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Page 23: Musik & Theater zum Lucerne Festival

t h e m a 23

Carolin Widmann über den Humor im Allgemeinen und bei Jürg Wyttenbach im Besonderen

Wie viel Wahrheit steckt im Humor?Carolin Widmann: (Lachend) Wenn es

ein guter Humor ist, wahrscheinlich

mehr als in der Realität… Vieles kann

gesagt werden, wenn wir mit Humor

agieren, während es sich ernsthaft kaum

formulieren lässt. Das fällt mir immer

wieder auf, auch in schwierigen Situati-

onen des menschlichen Miteinanders.

Es gibt viele Dinge, die sind schwierig

auszudrücken – zum Beispiel einen Feh-

ler einzugestehen. Doch nehmen wir

uns dabei selber etwas auf die Schippe,

fällt manches leichter: Es charakterisiert

treffender und lässt einen – wenn man

über sich selber mitlachen kann – nicht

so selbstverliebt aufgebläht aussehen.

Ich denke, ohne Ironie und Witz ist man

letzten Endes der Welt nicht gewachsen.

Ist Jürg Wyttenbach ein humoristischer Kom-ponist?Carolin Widmann: Wenn man Jürg Wyt-

tenbach kennt, liegt es nahe, schon mal

vom Humor auszugehen. Er ist ein derart

verschmitzter Typ mit einem bärbeissigen

Humor. Daher hat es mich auch nicht

gewundert als ich vor zwei Jahren als Vi-

olinkonzert ein Werk bekommen habe,

das herkömmlich gar kein übliches Solis-

tenkonzert war, sondern – typisch Wytten-

bach – eine ganz andere Kunstform ver-

körpert. Die Geigerin oder der Geiger ist

gleichzeitig herausgefordert einen Maler

darzustellen und zu spielen, ein Gemälde

auf der Bühne musikalisch zu malen, mit

allen Figuren, inklusive dem Hund! Das

Werk basiert auf Gustave Courbets Bild

«Die Beerdigung von Ornans». Das Bild

wird mit einer Video-Installation an die

Wand gebeamt, damit man die jeweiligen

Figuren erkennen kann, um die es im Text

und in der Musik geht. Das ist unglaublich

humoristisch, allerdings ein sehr dunkler

Humor, es geht schliesslich um eine Beer-

digung. Jeder macht sich seine Gedanken,

wer zu der Beerdigung kommt – vielleicht

sogar zu der eigenen, irgendwann mal.

Wo steht der Humor in dieser Musik da zwi-schen Banalität und Ritual?Carolin Widmann: Jörg Wyttenbach

würde nie im Text einen Witz machen

und den witzig zu instrumentieren ver-

suchen. Es ist alles vielschichtiger bei

ihm. Es könnte beispielsweise etwas ge-

sagt werden, was witzig ist – und dann

erklingt eine martialische Musik dazu.

Das karikiert einen Charakter viel subti-

ler, als wenn die Musik den Text eins zu

eins illustrieren würde. Wyttenbach inte-

«…ein derart verschmitzter Typ»

ressiert diese Vielschichtigkeit: Welchen

Charakter haben denn diese Figuren –

die Sargträger, der Pastor? Und wie kann

man so etwa musikalisch darstellen?

Wenn man genau hinhört, kann man

sehr viel zwischen den Zeilen hören und

so die Charaktere dieser Menschen, wel-

che das Gemälde darstellt, erschliessen.

Kann Musik Humor abbilden, ohne ins Anbie-dernde abzurutschen, ohne verkrampft witzig sein zu wollen?Carolin Widmann: Absolut. Das merkt

man doch in jeder Oper. Zum Beispiel,

wenn sich ein Charakter sozusagen an

eine Situation anschleicht und man

als Zuhörer bereits mehr weiss und das

durchschaut. Noch interessanter wird

es, wenn der Komponist auch die Schwä-

chen eines von ihm gemochten Charak-

ters liebevoll zeigt und erlebbar macht.

Das kann für mich sehr humoristisch wir-

ken – und es geht wunderbar ohne An-

biedern. Allerdings ist das sehr schwie-

rig, so feinsinnig zu komponieren – wohl

noch schwieriger als tragische Momente

musikalisch umzusetzen.

Dieser Anspruch ist in diesem «cortège pour violon» eingelöst?Carolin Widmann: Ja, es ist für mich so

authentisch, wenn man Jürg Wyttenbach

als Menschen kennt. Er ist in seiner Mu-

sik so sehr sich selbst und sucht nie je-

mand anders zu sein. Er sagt alles wie er

es denkt, mit seinem etwas bärbeissigen

ironischen Humor, dem nie etwas Anbie-

derndes anhaftet. Vielleicht ist dies übri-

gens etwas ganz speziell Schweizerisches.

Denken wir nur an Heinz Holliger als

weiteres Beispiel aus dieser Generation.

Ist es ein spröder Humor?Carolin Widmann: Nein, das würde ich

nicht sagen. Es ist ein wissender Hu-

mor. Ich finde Humor immer dann in-

teressant, wenn er mit Wissen und mit

Bildung zu tun hat. Stösst dies bei ei-

nem verstehenden Publikum auf einen

fruchtbaren Boden, ist das natürlich die

perfekte Kombination. Ich glaube nicht,

dass das spröde ist. Ich finde es geistreich

und sehr authentisch. Er will ja gar nicht,

dass wir lachen, darum geht es überhaupt

nicht. Er kann nicht anders sein als er

ist – daraus bezieht dieser Humor seine

authentische Schlagfertigkeit. Bei Schu-

mann steht oft «mit Humor». Doch es

ist ein Humor, den wir überhaupt nicht

nachvollziehen können – manchmal gar

gespenstisch. Der Wyttenbach’sche Hu-

mor mutet hingegen eher «diesseitig»

an, für uns nachvollziehbar und witzig.

Auch in diesem, von Ihnen auch uraufgeführten Werk?Carolin Widmann: Ich finde dieses Violin-

konzert einzigartig. Es ist ein Konzert wie

kein anderes und bedeutet daher auch

eine ganz besondere Herausforderung. So

spielen bildende Künste wie die Malerei

darin eine tragende Rolle. Und ich als Gei-

gerin bin gleichzeitig Schauspieler, Cour-

bet – und auch ein wenig Wyttenbach. Es

ist wie ein kleines Gesamtkunstwerk.

Und wie sieht es mit den rein violinistischen He-rausforderungen darin aus?Carolin Widmann: Es ist ein wunder-

schöner Geigenpart. Nach all den hu-

moristischen und leichten Klängen –

und dieses Konzert ist wie Champagner!

– wird es am Schluss ganz bitterernst.

Das ist für mich der grossartigste Mo-

ment. Und spiegelt eigentlich das Leben

– wie es ganz leicht daherkommt, bevor

am Schluss eine tiefe und erschütternde

Wahrheit hereinbricht, die dann richtig

sitzt. Dadurch wirkt dieser Schluss auch

nicht pathetisch oder falsch: Jetzt sind

wir mal kurz ernst – und eigentlich geht

es die ganze Zeit darum. Das ist der Mo-

ment, da ich mich selber sein kann.

Interview: Andrea Meuli

Carolin Widmann ist die Solistin in Jürg

Wyttenbachs «Cortège pour violon».

22. August, 11.00 Uhr, MaiHof

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Page 24: Musik & Theater zum Lucerne Festival

a r t i s t s24

Seit mehr als zwanzig Jahren leitet Michael Tilson Thomas das San Francisco Symphony Orchestra – eine künstlerisch überaus

fruchtbare Konstellation, die bereits mehrfach auch beim Lucerne Festival zu bewundern war. Diesen Sommer lotet das amerikani-

sche Spitzenorchester mit seinem amerikanischen Chef das Festivalthema «Humor» von den unterschiedlichsten Rändern her aus

und spannt den Bogen von Beethovens «Eroica» bis zu einem musikalischen Scherz von John Adams, von Charles Ives’ «Decoration

Day» bis zu Gustav Mahlers Erster Sinfonie.

Kai Luehrs-Kaiser

Michael Tilson Thomas über Amerika, die Zukunft der klassischen Musik und das Gebot: Sei nicht langweilig!

«Ich bin ein Träumer»

Michael Tilson Thomas, hier bei seinem letzten

Auftritt mit dem San Francisco beim Lucerne

Festival Symphony: «Man muss das Publikum

als das nehmen, was es werden könnte.»

Page 25: Musik & Theater zum Lucerne Festival

a r t i s t s 25

M&T: Michael Tilson Thomas, in der Musik exis-tiert eine Art ‚Gipfel-Theorie’, nach der man den Höhepunkt eines Werkes kennen muss, um es dirigieren zu können. Gute Theorie?Michael Tilson Thomas: Absolut! Alles

dreht sich um Form und Struktur. Als

ich jung war, besuchte ich einmal ge-

meinsam mit meinem Lehrer Ingolf

Dahl die Aufführung eines Streich-

quartetts. Er fragte mich: «Na, hat es

dir gefallen?» Und ich antwortete: «Ja.»

Darauf er: «Und welche Form hatte

es?» Diese Frage, die kein Konzertbesu-

cher beantworten können muss, ist in

Wirklichkeit die entscheidende. Auch

der alte Otto Klemperer sagte immer:

«Das wichtigste ist die Form, und die ist

keine intellektuelle Sache, sondern ge-

steigerte Emotionalität.» Er hatte ganz

Recht.

M&T: Wo ist der Höhepunkt von Beethovens «Eroica», einem Werk, das Sie in Luzern dirigie-ren werden?MTT: Am Ende des 4. Satzes! Fast schon

am Schluss. Das Verwirrende an Beetho-

vens Dritter ist ja, dass das ganze Werk

«Eroica» genannt wird. Aber nur der

Schluss ist heroisch. Am Anfang finden

sich wunderbar pastorale Idyllen. Es gibt

verrückt virtuose Stellen, Ballettartiges

und etliche Fantastik. Erst im 4. Satz,

auf dem Höhepunkt, kommt das Werk

zu sich selbst. Ich habe früher oft den

Fehler gemacht, alle vier Sätze heroisch

zu dirigieren – oder den Anfang zu anti-

heroisch. Ich war auf den Titel hereinge-

fallen. Erst vom bebenden Höhepunkt

des Werkes her kann man diese Sinfonie

verstehen. Sie ist übrigens ganz herrlich

zu dirigieren!

M&T: Haben wir zum Heroischen heute über-haupt noch eine Beziehung – abgesehen von seiner Verwendung im Hollywood-Actionfilm?MTT: Nein, aber das gilt ganz genauso

für die ruhigen, stillen und zarten Teile

jedes Werkes. Verletzlichkeit oder auch

Verlangen – zwei in der Musik essenzi-

elle Motive – sind für uns heute etwas

Grundfremdes. Zumindest etwas, das wir

uns offiziell kaum noch zugestehen. Ich

glaube, dass man genau das als Stärke

der klassischen Musik begreifen muss.

Man muss sich zu der Auffassung durch-

ringen, dass klassische Musik eines der

letzten Reservate unzeitgemässer und in

diesem Sinne gefährdeter Gefühle ist.

M&T: Das San Francisco Symphony leiten Sie jetzt seit 20 Jahren – was Sie zu dem derzeit dienstältesten Chefdirigenten in Nordamerika macht. Haben Sie damit gerechnet?MTT: Natürlich nicht! Aber ich lebe

auch in San Francisco. Sie können mich

hier regelmässig auf dem Wochenmarkt

am Ferry Building antreffen. Ich bin ger-

ne hier.

M&T: Was haben Sie geändert, als Sie das Or-chester von Herbert Blomstedt übernahmen, einem legendären, aber völlig andersartigen Dirigenten?MTT: Ich habe vor allem versucht, für

jeden Komponisten, sogar für jedes ein-

zelne Werk, einen eigenen, individuel-

len Klang zu finden. Ich hatte natürlich

auch andere Repertoireschwerpunkte

als Herbert Blomstedt. Bei mir ist es so,

dass mir im Grunde wenig an einem

Personalstil liegt. Ich komme aus einer

alten Theaterfamilie. Da hiess es immer:

Sei vielseitig, sonst wirst du langweilig!

Debussy muss wie Debussy klingen und

Mozart wie Mozart.

M&T: In Europa werden Sie als ein ausgeprägt amerikanischer Dirigent wahrgenommen. Sind Sie es?MTT: Ja. Ich habe zwar viel Zeit in Eu-

ropa verbracht – wenn auch nicht ganz

Bild: Kristen Loken

San Francisco Symphony

Michael Tilson Thomas

9. September, 19.30 Uhr, KKL, Konzertsaal

Schönberg (Thema und Variationen op.

43b), John Adams («Absolute Jest»), Beet-

hoven (Sinfonie Nr. 3 «Eroica»)

11. September, 19.30 Uhr, KKL, Konzertsaal

Charles Ives («Decoration Day»), Bartók

(Klavierkonzert Nr. 2 Sz 95), Mahler (Sinfo-

nie Nr 1 D-Dur)

Yuja Wang (Klavier)

Page 26: Musik & Theater zum Lucerne Festival

a r t i s t s26

so viel wie man mir nahelegte. Alle Din-

ge, die ich in Amerika auf die Beine ge-

stellt habe, zum Beispiel das New World

Symphony Orchestra in Miami Beach

und Projekte wie «Keeping Score», die

«Sound Box», hier hinter dem Gebäude

der Davies Hall, all das sind typisch ame-

rikanische Projekte.

M&T: Inwiefern?MTT: Amerikanisch daran ist der Glau-

be, dass man Dinge ganz neu und von

Null anfangen kann. Ein Ansatz, durch

den man, denke ich, manchmal mehr

erreichen kann.

M&T: Kann man diesen amerikanischen Ansatz auch hören?

MTT: Ich glaube schon. Es kommt oft

vor, dass ich einzelne Gruppen im Or-

chester ermuntere, etwas mehr zu wagen

oder es völlig anders zu machen. Mehr

aus sich herauszugehen – um tiefer ein-

zudringen. Wenn ich gute Solisten habe,

ist es für mich selbstverständlich, dass sie

auch gross herauskommen dürfen.

M&T: Glauben Sie, dass es – nach Krisen wie dem Bankrott des Philadelphia Orchestra – in Ihrem Heimatland für die Orchester inzwischen wieder bergauf geht?MTT: Ich fürchte, man kann das nicht

generalisieren. Jede Stadt hat ihre ei-

gene Geschichte. Und ihre eigene Be-

ziehung zu kulturellen Organisationen.

In ganz Amerika ist es leider so, dass

die Museen den Musikinstitutionen den

Rang abgelaufen haben. Das ist ein gros-

ses Problem für uns. Museen sind die

neuen Kathedralen. Warum? Weil ein

Kunstwerk von Frank Stella scheinbar

repräsentativer und vor allem leichter

konsumierbar ist als eine Sinfonie von

Brahms. Es bedeutet heute tatsächlich

viel mühsame Kleinarbeit, um ein Or-

chester zu halten. Aber es lohnt sich.

M&T: Haben Sie europäische Orchester schon jemals um ihre gesicherten Subventionen be-neidet?MTT: Ich kann ehrlich sagen: Nein! Und

zwar deswegen, weil alle für mich wich-

tigen Projekte durch private Sponsoren

zustande gekommen sind. Ich persönlich

habe durchgängig gute Erfahrungen mit

dem amerikanischen Modell gemacht.

M&T: Sie müssen regelmässig mit dem Board des Orchesters, aber auch mit Sponsoren um-gehen, um diese von Ihren Zielen zu überzeu-gen. Nimmt diese Tätigkeit tatsächlich einen so grossen Raum ein wie man in Europa denkt?MTT: So schlimm ist das nicht. Aller-

dings gebe ich zu, dass ich zum Beispiel

die meisten der 65 Board-Mitglieder, die

viel Geld für das Orchester aufbringen

und bei Entscheidungen ein Wörtchen

mitzureden haben, namentlich ken-

ne. Auch ihre Geschichten kenne ich

grösstenteils. Ich begrüsse sie, ich kenne

und berücksichtige ihre Interessen, ich

diskutiere mit ihnen, und zwar gerade

dann, wenn ich etwas Neues vorhabe.

Das bedeutet, dass ich als Chefdirigent

die entscheidenden Dinge nicht nur in-

nerhalb meiner ‚Firma’ kommunizieren

muss, sondern sie nachvollziehbar auch

nach ‚draussen’, zu den wichtigen Part-

nern bringen muss.

M&T: Viele europäische Dirigenten fremdeln mit solchen Aufgaben. Sie nicht!?MTT: Schauen Sie, auch ich bin ein

Träumer. Ich möchte am liebsten die

ganze Zeit durch die Natur gehen und

meinen eigenen Vorstellungen nachhän-

gen. Nur will ich meine Träume auch mit

Leuten teilen. Dafür habe ich mit den

Jahren gewisse Fähigkeiten bei mir aus-

bilden müssen, die ich vorher nicht be-

sass. Das war gar nicht so leicht, ein lan-

ger Prozess. Letzte Woche ist er endlich

zu einem Abschluss gekommen… (Lacht)

M&T: Europäische Dirigenten, die viel in den USA arbeiten, sagen, dass es hier immer schwieriger wird, zeitgenössische Komponisten aufs Programm zu setzen. Trifft das zu?MTT: Kommt darauf an, was Sie unter

zeitgenössischer Musik verstehen! In

John Adams, der in Berkeley lebt, ha-

ben wir einen Komponisten, der in San

Francisco geradezu als musikalischer

Held gefeiert und respektiert wird. Wir

haben auch sehr gute Erfahrungen mit

Lou Harrison, ebenso mit Mason Bates

gemacht. Alles einheimische Kompo-

nisten, was als Faktor vielleicht nicht zu

unterschätzen ist. Wahr ist: Wenn wir ein

Werk wie das Requiem von György Ligeti

aufführen wollen, müssen wir sorgfältig

darüber nachdenken, wie wir einen Kon-

text dazu bilden. Aber funktioniert das

in Europa mittlerweile nicht genauso!?

M&T: Das San Francisco Symphony verfügt über das breiteste Education-Angebot aller Or-chester in den USA. Schöne Sache! Kann man mit Education eigentlich inzwischen Geld ver-dienen?MTT: Das ist eine typische Frage des 21.

Jahrhunderts. Alles muss finanziell in-

strumentalisiert und rentabel gemacht

werden. Es gibt zwei Antworten darauf.

Einerseits: Musik ist kein Business. Wer

Geld machen will, soll an die Börse ge-

hen! Andererseits: Education öffnet uns

Türen für Sponsoren und Unterstützer,

die uns eben deswegen Geld geben –

und zwar nicht nur für Education –, son-

dern weil sie dieses Segment für sinnvoll

und für sympathisch halten.

«Sei vielseitig, sonst wirst du langweilig!»

Bild: Priska Ketterer

Page 27: Musik & Theater zum Lucerne Festival

a r t i s t s 27

M&T: Bei Goethe gibt es den Gedanken: Wenn man die Menschen als das nimmt, was sie sind, wird man sie niemals verbessern, sondern nur verschlechtern. Man muss sie als das nehmen, was sie werden könnten. Stimmen Sie zu?MTT: Absolut! Und ich werde Ihnen was

sagen: Das hat mein Grossvater auch im-

mer gesagt! Er hiess Boris Thomashefs-

ky, war ein Protagonist des Jüdischen

Theaters in New York und befand sich

1910 in der ungewöhnlichen Lage, dass

sein Publikum aus lauter Europäern be-

stand: Feinschmeckern, die aus Wien,

Palermo oder Berlin immigriert waren.

Sie besassen nicht unbedingt die Vorbil-

dung, die mein Grossvater sich erhoffte.

Ich glaube fest daran, dass Goethe und

mein Grossvater Recht hatten: Man

muss das Publikum als das nehmen, was

es werden könnte. Sonst wird man es auf

Dauer langweilen.

M&T: In Luzern führen Sie mit «Absolute Jest» auch ein Werk des amerikanischen Minimalis-ten John Adams auf. Auf Minimal music wird in Europa gern herabgesehen. Warum ist John Adams ein guter Komponist?MTT: Weil er ein so raffinierter Har-

moniker ist. Und weil er nicht bei der

Minimal music stehengeblieben ist. Die

Mitte von «Absolute Jest» – oder um

zum Anfang unseres Gespräches zu-

rückzukehren: sein Höhepunkt – wird

von einem Streichquartett gebildet. Mit

anderen Worten: John Adams schreibt

einfach gute, stets überraschende Musik.

Den Hardcore-Minimalisten weicht er

manchmal sogar zu sehr vom Wege ab...

M&T: Sie sind im vergangenen Dezember, wenn man das sagen darf, 70 Jahre alt geworden. Tatsächlich haben Sie noch mit Igor Strawinsky zusammengearbeitet. Konnte man dabei etwas lernen?MTT: Gewiss doch, von grossen Leuten

kann man immer lernen. Bei Strawinsky

war das Lehrreiche, dass er seine Parti-

turen vorsang, um sie den Musikern klar

zu machen. Ich wäre niemals auf den

Gedanken verfallen, dass man «Les No-

ces» singen kann! Er tat es – und dabei

veränderten sich die Werke von Grund

auf. Sie bekamen eine enorme Emotio-

nalität, büssten aber nicht das Geringste

an gestischer Präzision ein. Sie wurden

fast balletthaft. Sehr spezifisch und sehr

elegant. Very Saint Petersburg!

M&T: Sogar Jascha Heifetz haben Sie noch di-rigiert – ein Mann, von dem es heisst, er habe im Konzert sehr viel anders geklungen als im Studio, wo er sehr dicht am Mikrofon aufnahm. Auch Ihr Eindruck?MTT: Ja. Obwohl ich sagen muss, dass

Heifetz auch live wie ein Laserbeamer

klang. (Lacht) Fantastisch! Ich erinnere

mich auch an eine Kreutzersonate mit

ihm. Im 2. Satz, der für das Klavier, in

diesem Fall für den Pianisten Brooks

Smith, elendig schwer ist, während die

Geige nur kurze, fast triviale Arabesken

spielt, gestaltete Heifetz jede dieser Fi-

guren anders, ungeheuer emphatisch,

mit einem unverschämten Variationen-

reichtum. So toll, dass man nur noch

auf ihn, überhaupt nicht mehr auf

den armen, sich abmühenden Pianis-

ten achtete. Gemein – und grossartig

zugleich! Da spürte man zugleich die

Pranke eines alten, grossen Zirkus-

clowns.

M&T: Sie werden in aller Welt «MTT» genannt. Wer hat sich das eigentlich ausgedacht?MTT: So hiess ich schon innerhalb mei-

ner Familie. Damals, als ich ganz jung

war, gab es neben mir einen ganzen

Haufen von Cousins und anderen Ver-

wandten, die alle in dieser Weise abge-

kürzt wurden. Es gab nicht nur MTT,

sondern auch ATT, VTT und so weiter.

Und dann gab es auch noch den Geiger

Milton Thomas, mit dem ich ständig

durcheinander geworfen wurde. Ein-

mal kam es sogar zu einer Verwechslung

beim Ausstellen eines Schecks! Das ging

zu weit. Da habe ich meinen Frieden mit

den Initialen gemacht. Seitdem bin ich

gern MTT.

Michael Tilson Thomas: «Klassische Musik ist eines der letzten Reservate unzeitgemässer und in diesem Sinne gefährdeter Gefühle.»

Bild: ArtStreiber

Page 28: Musik & Theater zum Lucerne Festival
Page 29: Musik & Theater zum Lucerne Festival

t h e m a 29

Die Mezzosopranistin Elisabeth Kulmann ist die Mrs. Quickly in der konzertanten Aufführung von Giuseppe Verdis altersweiser

Komödie «Falstaff» – einem programmatischen Eckpfeiler zum Festivalthema «Humor».

In Luzern singen Sie diesen Sommer die Quickly in Verdis «Falstaff». Wie humorvoll ist dessen altersweises Lebensfazit: «Tutto nel mondo è burla»?Elisabeth Kulman: Verdis «Falstaff» geht

diesen wunderbaren Grat zwischen ab-

grundtiefer Ernsthaftigkeit und höchs-

ter Raffinesse von Humor. Und das Werk

hat beides. Das liegt sowohl am Libretto,

welches wirklich ausgezeichnet ist, wie

auch an der abgeklärten Umsetzung von

Verdi. Beides macht die Meisterschaft

dieses Werkes aus.

In mancher Inszenierung wird die Titelfigur bil-liger Lächerlichkeit preisgegeben. Doch Falstaff ist wohl doch etwas mehr als ein lusttrunkener Tölpel…Elisabeth Kulman: Er trägt immerhin

den Titel «Sir», man darf ihn daher

nicht als ungehobelten Menschen

spielen. Falstaff ist wohl herunterge-

kommen, aber er bleibt ein Herr. Das

ist ganz wichtig. Trotz all seiner Aus-

schweifungen muss Falstaff Haltung

bewahren, seine Erziehung darf man

nicht aublenden. Was man in der Kind-

heit einmal eingetrichtert bekommen

hat, vergisst man schliesslich nie. Et-

was von jener würdevollen Haltung,

bewahrt sich Falstaff bis zum Schluss.

Das spürt man aus dem Text wie aus

der Musik.

Was ist das Besondere Ihrer Rolle in diesem Stück, der Mrs. Quickly?Elisabeth Kulman: Quickly hat durch-

triebenen Spass, die Geschichte in allen

Irrungen und Wirrungen zu leiten. Sie

treibt das Spiel an. Vergleichbar dem

Don Alfonso in «Così fan tutte», der

ja auch die Fäden zieht wie mit Mario-

netten. Gäbe es sie nicht, würde wahr-

scheinlich gar nichts geschehen…

Humor in der Musik: Welche Assoziationen weckt das in Ihnen?Elisabeth Kulman: Die schlimmsten Din-

ge kann man nur mit Humor ertragen.

Im KZ haben die Leute mit Humor über-

lebt. Sonst wäre es unmöglich gewesen.

Das sagt schon alles aus. Ein humorvol-

ler Mensch ist für mich einer, der über

«Die schlimmsten Dinge kann

man nur mit Humor ertragen»

sich lachen kann. Und wenn ein Kom-

ponist Humor in seine Musik einfliessen

lässt, nimmt er immer ein wenig auch

sich selber aufs Korn. Andernfalls wür-

de ihm diese Grösse fehlen, sich selber

durch die Kunst des Humors zu relati-

vieren. Was letztlich die hohe Kunst des

Humors ist.

Dann wäre Verdi selber auch ein wenig Sir John Falstaff…Elisabeth Kulman: Natürlich. Das spie-

gelt sich sehr stark in seiner Musik zu

dieser Komödie.

Hilft Humor dem Menschen, sich selber etwas gelassener zu sehen?Elisabeth Kulman: Es ist nichts unerträg-

licher, als wenn ein Mensch sich so ernst

nimmt, dass er nicht über sich selber la-

chen kann. Über sich selber zu lachen

kann unglaublich erleichternd sein. Es

sollte uns bewusst sein, dass wir immer

auch eine Rolle spielen. Wichtig ist da-

bei, dass wir uns jeweils im Klaren sind:

Jetzt spiele ich eine Rolle, und jetzt ent-

scheide ich mich, authentisch zu sein.

Dabei ist Humor hilfreich?Elisabeth Kulman: Wir haben immer die

Freiheit, uns für das eine oder das ande-

re zu entscheiden. Um diesen Entscheid

immer wieder von Neuen zu treffen,

muss man klar im Kopf sein, braucht es

Bewusstheit.

Mit Humor der Freiheit entgegen?Elisabeth Kulman: Genau!

Interview: Andrea Meuli

Elisabeth Kulmann als Mrs. Quickly in der Inszenierung von Damiano Michieletto an den

Salzburger Festspielen 2013 (mit Ambrogio Maestri in der Titelrolle des Falstaff).

Bild: Salzburger Festspiele/Silvia Lelli

Page 30: Musik & Theater zum Lucerne Festival

a r t i s t s30

Page 31: Musik & Theater zum Lucerne Festival

a r t i s t s 31

«Wegen Gary Moore habe

ich überhaupt angefangen,

Gitarre zu spielen.»

Der serbische Gitarrist Vojin Kocic gewann dieses Jahr den «Prix Credit Suisse Jeunes Solistes». In seinem Rezitalkonzert will er

möglichst viele Facetten seines Könnens und seines in der klassischen Musik noch immer nicht sehr präsenten Instruments zeigen.

Reinmar Wagner (Text) & Priska Ketterer (Bilder)

Mit 38 Grad Fieber zum Wettbewerbs-Erfolg: Der Gitarrist Vojin Kocic

«Mit kühlem Kopf und warmem Herz»

Page 32: Musik & Theater zum Lucerne Festival

a r t i s t s32

Ein bisschen Herzklopfen habe er schon

vor seinem Luzerner Auftritt, gibt Vo-

jin Kocic zu. «Es ist eines der grössten

und wichtigsten Festivals der Welt, das

ist schon ein Podium, das mir Respekt

einflösst. Und es ist fantastisch, meinen

Namen neben all den grossen Musikern,

die ich als Kind im Fernsehen bewunder-

te, zu lesen.» Sonst aber ist Vojin eher

der coole Typ, der vor Wettbewerbsauf-

tritten lieber mit den Kollegen rumal-

bert, als sich von der angespannten

Atmosphäre im Saal nervös machen zu

lassen. «Ich versuche in solchen Situati-

onen möglichst locker zu bleiben und

mich im entscheidenden Moment ge-

hen zu lassen. Meistens probe ich auch

nicht in jenem Raum. Ich werfe einen

Blick hinein, ob er zum Beispiel mit

Plüsch oder Teppichen voll gehängt ist,

wie das in Italien manchmal vorkommt.

Dann wird es für mich als Gitarrist akus-

tisch schwierig. Aber sonst bleibe ich auf

Distanz und hoffe, dass ich im richtigen

Moment das rüberbringen kann, was ich

mir vorgenommen habe.»

Es scheint, dass dieses Rezept für

einen Musiker wie ihn bestens funktio-

niert. Vojin Kocic hat schon einige wich-

tige Wettbewerbe gewonnen, den ersten

mit 14 Jahren. Insgesamt gewann er 15

erste Preise in nationalen serbischen

Wettbewerben, sogar 21 in internationa-

len. Das waren alles reine Gitarren-Wett-

bewerbe. Wie war es für ihn, diesmal

gegen andere Instrumente anzutreten?

«Am Anfang wusste ich nicht so recht,

was mich erwarten würde. Und in der

ersten Runde war ich nicht gut. Ich war

krank, hatte 38 Grad Fieber, und war nur

glücklich, dass ich die Runde überstand.

Dann wurde es besser und besser, ich

hatte immer stärker das Gefühl, dass ich

alles erreichen könnte. Im Finale spielte

ich eines der schwierigsten Stücke für

Gitarre, die Sonate von Antonio José.»

Dieses Pièce de Résistance figuriert

auch im Luzerner Programm von Vojin.

Es wurde erst 1995 wiederentdeckt und

entstand, wie so viele Gitarren-Literatur

in der ersten Hälfte des 20. Jahrhun-

derts, für den Übervater der Gitarre,

Anders Segovia, der viele Komponisten

inspirierte und auch die Spieltechnik

erweiterte und auf ein bis dahin uner-

reichtes Niveau anhob. Von Antonio

José gibt es nur wenig Musik, er kam im

spanischen Bürgerkrieg ums Leben.

Trotz seiner Erfolge steht Vojin Ko-

cic den Wettbewerben zunehmend kri-

tisch gegenüber. «Musik ist kein Sport,

das hat nichts mit Kunst zu tun. Aber

klar, ich habe auch keine bessere Idee,

wie man es machen könnte, Talente he-

rauszufinden und Karrieren zu fördern.

Ich war auch schon zweimal in Jurys,

und da fühlte ich mich recht deplaziert.

Jeder Musiker hat seinen Geschmack

und seine Ideen, wie kann ich sagen,

dass das eine oder andere besser ist? Was

ist der Unterschied zwischen 94 und 95

Punkten? Ich spiele im September noch

einen Wettbewerb im italienischen Ales-

sandria. Wenn ich den gewinne, höre

ich auf mit Wettbewerben. Der Sieger

kann garantiert 50 Konzerte spielen, da

habe ich erst einmal meinen Lebensun-

terhalt gesichert. Und ich freue mich,

Zeit zu haben, das Instrument weiter zu

erforschen, das ist doch das Ziel eines je-

den Musikers, denke ich.»

Viele Farben und FacettenSein Programm für das Luzerner Rezital

hat er bewusst farbig gestaltet: «Das Re-

pertoire für klassische Gitarre ist nicht

so riesig. Die meisten Hörer kennen

kaum etwas ausser dem «Concierto de

Aranjuez» von Joaquin Rodrigo oder

den «Asturias» von Isaac Albeniz. Die Gi-

tarre ist innerhalb der Klassik ein junges

Instrument. Erst zu Beginn des 20. Jahr-

hunderts wird sie von den Komponisten

so richtig wahrgenommen. Von all den

Klassik-Grössen haben wir keine Werke

für unser Instrument und müssen uns

mit Transkriptionen begnügen. Ich woll-

te in diesem Programm viele Facetten

von mir und meinem Instrument zeigen.

Einige wichtige Gitarre-Komponisten

sind dabei, wie Fernando Sor oder Joa-

quin Rodrigo, auch Francisco Tarrega

und Giulio Regondi.» Das Generalthe-

ma «Humor» des diesjährigen Lucerne

Festival spiegelt sich auch in diesem

Programm, etwa in den Mozart-Variatio-

nen über ein Papageno-Thema aus der

«Zauberflöte» von Sor, oder auch in den

Paganini-Variationen von Tarrega.

Page 33: Musik & Theater zum Lucerne Festival

a r t i s t s 33

Mit fünf Bagatellen von William

Walton ist auch zeitgenössische Musik

in diesem Programm zu finden. Vojin

freut sich über die Erweiterung des Re-

pertoires für sein Instrument. «Kompo-

nisten wie Nikita Koshkin in Russland

haben wichtige zeitgenössische Stücke

geschrieben. Es gibt auch Kompositions-

wettbewerbe, durch die ein paar gute

Stücke für Gitarre entstanden sind.»

Selber zu komponieren kann sich Vojin

auch vorstellen, ein paar Fragmente hat

er bereits in der Schublade. «Aber bis-

her fehlte mir die Zeit und die Konzent-

ration für das Komponieren. Ich denke,

man braucht eine Periode im Leben, wo

man sich dafür frei machen kann.»

Das Fokussieren musste Vojin erst

lernen. Als er nach Zürich kam, hätte

er am liebsten parallel zur klassischen

auch Jazz-Gitarre studiert. Die Zulassung

dafür hatte er ebenfalls in der Tasche.

Aber dann hat er eingesehen, dass es

doch sinnvoller ist, Schritt für Schritt

seinen Weg zu gehen. Was nicht heisst,

dass seine vielen Interessen deswegen zu

kurz kommen würden. Hin und wieder

leiht er sich von der Hochschule eine

E-Gitarre und tobt sich aus à la Gary

Moore oder Jimi Hendrix. «Wegen Gary

Moore habe ich überhaupt angefangen,

Gitarre zu spielen, und die Rock-Gitarre

ist heute auch oft ein Ventil für mich».

Aber auch Renaissance- und Barock-

gitarre, ebenso wie Theorbe hat Vojin

ausprobiert und erforscht und ist mit

diesen historischen Instrumenten auch

schon aufgetreten. Eine Vielseitigkeit,

die für ihn selbstverständlich ist: «Wenn

ich mich Gitarrist nennen will, muss ich

mich doch auskennen mit diesem Inst-

rument, und mindestens eine Ahnung

davon haben, welche Musik in der Ge-

schichte dafür komponiert worden ist.»

Jimi Hendrix-ImitatorIn die Wiege gelegt, wurde das Gitarre-

spielen dem 1990 geborenen Knaben

nicht. Aber die Mutter spielte Klavier,

und der Vater war ein grosser Fan von

Rockmusik und spielte ihm die CDs der

Gitarrengrössen vor. Bald imitierte der

kleine Vojin selber Jimi Hendrix und ver-

suchte mit den Zähnen die E-Gitarre zu

bearbeiten. Aber mit acht Jahren bekam

er den ersten Unterricht in klassischer

Gitarre und hat sich in das Instrument

verliebt. Zuerst studierte er in Belgrad,

wechselte aber 2011 zu Anders Miolin

an die Zürcher Hochschule der Künste,

wo er im Juni sein Master-Studium abge-

schlossen hat.

Es gab Phasen, da habe er sehr viel

Technik geübt, sagt Vojin. «Das ist na-

türlich die Grundlage, ohne eine solide

Technik kann man nicht das ausdrücken

auf dem Instrument, was man sagen

möchte. Aber ich war nie fasziniert von

möglichst hoher Virtuosität. Das ist viel-

leicht interessant für das Auge, möglichst

viele Noten, möglichst schnell zu spie-

len. Aber ich bin eher der Typ, der auf

die Musik fokussiert, mit kühlem Kopf

aber warmem Herz. Wenn ich auftrete,

versuche ich, die technischen Schwie-

rigkeiten zu vergessen. Ich schliesse die

Augen und versuche mich nur auf die

Musik zu konzentrieren.»

Welche Rolle spielt bei den Gitarris-

ten eigentlich das Instrument? Gibt es

Marken wie bei den Pianisten, spielt man

möglichst historische Instrumente wie

bei den Streichern? «Gute Gitarren sind

eigentlich immer neu gebaut. Es gibt vie-

le gute Gitarrenbauer heute, einer der

besten ist Greg Smallman aus Australien.

Sehr berühmt, und sehr teuer. Eine gute

Gitarre kostet gerne 25‘000 Franken. Ich

war noch in Serbien und brauchte drin-

gend ein gutes Instrument für zwei an-

stehende Wettbewerbe. Ich fragte Small-

man an, und erfuhr, dass die Warteliste

lang ist, und ich nicht vor vier Jahren

mit einem Instrument rechnen konnte.

Aber ich liess nicht locker, schickte ihm

CDs und Videos, und versuchte ihm klar

zu machen, dass es mir ernst ist mit ei-

ner Karriere als Gitarrist. Und ich konn-

te ihn überzeugen: Nach sechs Monaten

hatte ich mein Instrument. Einen Monat

vor dem Wettbewerb. Das ist sehr kurz,

aber ein neues Instrument ist wie Rü-

ckenwind, man kriegt nicht genug da-

von, seine Möglichkeiten bis ins Letzte

auszuprobieren.»

Und der Gitarrenklang ist sehr varia-

bel, erzählt Vojin. «Segovia sagte: Die Gi-

tarre ist wie ein kleines Orchester. Und

das stimmt. Natürlich sind wir sehr leise,

aber wir haben sehr viele Klangfarben.

Eine kleine Veränderung der Stellung

der rechten Hand macht grosse Unter-

schiede. Man kann einen Ton produzie-

ren, der wie der Anfang eines Trompe-

tentons klingt. Oder im Bass kann eine

Gitarre klingen wie ein Cello. Deswegen

funktionieren auch die vielen Arrange-

ments sehr gut. Man kann fast alles ma-

chen, bis hin zu den impressionistischen

Farben von Debussy.

Vojin – wen wunderts? – hat die bei-

den Wettbewerbe auf seiner Smallman

natürlich gewonnen. Bei einem ande-

ren, 2010 in Paris, bestand ein Teil des

Preises in einer CD-Einspielung. Und

es erstaunt doch, zu hören, dass dieser

Gitarren-Überflieger sich bisher nicht

getraut hat, sein Spiel auf einer CD zu

dokumentieren. Jetzt aber, nach dem

Abschluss des Studiums, nach dem Lu-

zerner Rezital, nach dem grossen (hof-

fentlich letzten) Wettbewerb in Alessan-

dria, nimmt er das Projekt im Winter in

Angriff: «Ich will Liveaufnahmen ma-

chen, es soll keine Studioeinspielung

werden, das heisst, ich muss hundert

Prozent bereit sein. Meistens, wenn ich

die Mitschnitte meiner Konzerte höre,

finde ich immer ganz viele Dinge, die

mir nicht wirklich gefallen, auch wenn

anderes ganz in Ordnung ist. Aber meis-

tens habe ich überhaupt keine Lust, mir

zuzuhören.»

Das CD-Programm steht noch nicht

fest. Vojin schwebt entweder eine Ge-

samteinspielung des Gitarrenwerks von

Giulio Regondi (von dem er auch ein

Stück in Luzern spielt) oder dann ein

Rezital-Programm vor. Das Konzert in Lu-

zern wird auch aufgenommen und veröf-

fentlicht. «Noch ein Grund, hundert Pro-

zent bereit zu sein, damit ich mir selber

dann vielleicht doch zuhören mag.»

Vojin Kocic (Gitarre)

«Ein neues Instrument ist wie Rückenwind»

Page 34: Musik & Theater zum Lucerne Festival

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Pierre Boulez feiert 2015 seinen 90. Geburtstag. Lucerne Festival nimmt das zum Anlass, den französischen Komponisten und

Dirigenten zu feiern. Als Gründer und künstlerischer Leiter der Lucerne Festival Academy ist Boulez dem Lucerne Festival seit vielen

Jahren eng verbunden. Am 23. August öffnet das Festival die Säle des KKL Luzern und lädt Sie ein zu einem ganztägigen Marathon

der Moderne: Gemeinsam mit Mitgliedern des Ensemble intercontemporain interpretieren die Studierenden der Lucerne Festival

Academy wichtige, schon heute zu «Klassikern» gewordene Meisterwerke des Jubilars. Und weil Boulez nie bloss zurückgeblickt,

sondern immer das Neue gesucht hat, tritt sein Schaffen in einen Dialog mit Uraufführungen zahlreicher Gratulanten.

Reinhard Kager (Text) & Priska Ketterer (Bilder)

Die vielfältigen Facetten des Komponisten und Dirigenten Pierre Boulez

Verstand und Sinnlichkeit

Page 35: Musik & Theater zum Lucerne Festival

t h e m a 35

Im Oktober 1951 hatte ein mittleres

Erdbeben die Musikwelt erschüttert

und einige Kritiker so in Rage gebracht,

dass sie von einem Totengräber der Mu-

sik sprachen, dessen Werk in einem

Verwesungsprozess befindlich sei. Dem

solche Schelte galt, war ein damals 26

Jahre junger Schüler von Olivier Mes-

siaen und René Leibowitz, der das bis

dahin übliche musikalische Material

radikal zuspitzte, aufsprengte und auf-

hob. Sein Name: Pierre Boulez; das

Stück: «Polyphonie X» für 18 Soloinst-

rumente.

Was mochte bei der Uraufführung

dieser viertelstündigen Komposition in

Donaueschingen solch einen Schock

verursacht haben? Anknüpfend an Ar-

nold Schönberg, hatte der am 26. März

1925 in Montbrison geborene Boulez

die Zwölftontechnik um einige ent-

scheidende Komponenten bereichert:

Nicht nur die Tonhöhe, sondern auch

die Dauer, Dynamik und Artikulation

der Töne werden von ihm durch Rei-

henkonstruktionen bestimmt. Das war

die Geburtsstunde der seriellen Musik,

an deren Entstehung ausser Boulez

auch der Deutsche Karlheinz Stockhau-

sen und der Italiener Luigi Nono mass-

geblich beteiligt waren.

«Polyphonie X» enthält auf verschie-

denen Ebenen Reihenstrukturen, die ei-

nander kreuzen und in einem Umkehr-

und Austauschvorgang befindlich sind.

Das ,X› im Titel des Werks ist daher auch

als grafisches Symbol zu verstehen, das

den kompositorischen Strukturgedan-

ken versinnbildlichen soll: ein «Kreuz-

spiel» (1951/59), wie Stockhausen eine

nicht minder bedeutsame serielle Kom-

position der ersten Stunde nannte. Das

klangliche Resultat der mit geradezu

mathematischer Genauigkeit konstru-

ierten Komposition ist nüchtern, streng,

puristisch. Diese Nicht-Expressivität er-

hitzte die Gemüter.

Heute, mit neunzig Jahren, sieht

Boulez die einstigen Aufregungen na-

türlich weit gelassener – und kritischer:

«Die teilweise absurd strengen Gesetze,

nach denen man Anfang der 1950er-

Jahre gearbeitet hat», erzählte der fran-

zösische Komponist dem Autor, hätten

tendenziell dazu geführt, «ein Skelett zu

zeigen». Deshalb sei es schon wenig spä-

ter sein Ziel gewesen, «wieder Sponta-

neität, Ausdruck und Freiheit innerhalb

der Disziplin zu finden.» Bereits in den

1950er-Jahren versuchten Boulez, Nono

und Stockhausen auf je eigene Weise,

die Prinzipien des seriellen Denkens in

Kompositionen weiterzuentwickeln, die

nicht nur den Reihenprinzipien, son-

dern auch einer innermusikalischen Lo-

gik folgen.

Zu jenen Stücken aus dieser Über-

gangsphase zählt etwa «Le marteau

sans maître» für Mezzosopran und

sechs Instrumentalisten (1953/55), in

dem Boulez den Gesang nicht bloss

zur musikalischen Illustration des Texts

von René Char zu verwenden, sondern

als gleichberechtigtes Moment in den

«Ein Tag für Pierre Boulez»

Pierre Boulez, der Gründer und Künstlerische Leiter der Lucerne Festival Academy, feiert 2015

seinen 90. Geburtstag. Lucerne Festival nimmt das zum Anlass, Pierre Boulez zu feiern. Am 23.

August öffnen wir die Säle des KKL Luzern und laden Sie ein zu einem ganztägigen Musikma-

rathon: Gemeinsam mit den Mitgliedern des Ensemble intercontemporain interpretieren die

Studierenden der Lucerne Festival Academy wichtige, schon heute zu «Klassikern» gewordene

Meisterwerke des Jubilars. Und weil Boulez nie bloss zurückgeblickt, sondern immer das Neue

gesucht hat, tritt sein Schaffen in einen Dialog mit Uraufführungen zahlreicher Gratulanten.

13.30, 18.00 und 19.00 Uhr, KKL Luzern,

Dachterrasse

Chiaki Tsunaba, Justin Frieh

Boulez Dialogue de l’ombre double für

Klarinette und Tonband

14.00 Uhr, KKL Luzern, Luzerner Saal

Boulez-Hommage 1

Ensemble intercontemporain,

Studierende der Lucerne Festival Academy,

Matthias Pintscher

Boulez Rituel in memoriam Bruno Maderna

Uraufführungen von Pintscher und Mason

15.15 und 16.00 Uhr, Kunstmuseum

Luzern

Boulez-Hommage 2 & 3

Ensembles der Lucerne Festival Academy

Julien Leroy, Yi Wei Angus Lee, Raphaël

Ginzburg, Jaclyn Dorr

Boulez Messagesquisse (zwei Fassungen)

Boulez Mémoriale (… explosante-fixe …

Originel)

15.15 Uhr, KKL Luzern, Terrassensaal

Boulez-Hommage 4 |

Streichquartette der Lucerne Festival

Academy

Berg Lyrische Suite

16.00 Uhr, KKL Luzern, Terrassensaal

Boulez-Hommage 5

Streichquartette der Lucerne Festival

Academy

Boulez Livre pour Quatuor

17.00 Uhr, KKL Luzern, Luzerner Saal

Boulez-Hommage 6

Ensemble intercontemporain,

Studierende der Lucerne Festival Academy,

Matthias Pintscher, Sarah Maria Sun

Boulez Sur Incises

Uraufführungen von Holliger und Machover

18.30 Uhr, KKL Luzern, Konzertsaal

Einführung zum Sinfoniekonzert 10 |

Response-Projekt zu Boulez’ Notations

mit Richard McNicol, Aleksandar Acev und

Luzerner Kindern

19.30 Uhr, KKL Luzern, Konzertsaal

Sinfoniekonzert 10 – Boulez-Hommage 7

Lucerne Festival Academy Orchestra

Mariano Chiacchiarini, Julien Leroy,

Matthias Pintscher

Boulez Notations I–IV und VII (Fassungen

für Klavier und Orchester)

Pintscher Osiris

Uraufführungen von Kurtág, Moussa,

Peszat und Rihm

Page 36: Musik & Theater zum Lucerne Festival

t h e m a36

musikalischen Gesamtkontext zu integ-

rieren suchte. Wesentliche Schritte auf

dem Weg zu einer neuen Freiheit, setzte

Boulez in den zwischen 1956 und 1961

komponierten «Structures pour deux

pianos, Livre  II», die aus dem Material

eines der strengsten je komponierten

seriellen Werkes, den 1951–52 entstan-

denen «Structures  I», mittels neuer,

flexiblerer Formen entwickelt wurden.

Dazu liess sich Boulez durch die Aleato-

rik John Cages inspirieren: Die Abfolge

einiger Passagen des rund halbstündi-

gen Stücks sowie die Auswahl der Ar-

tikulationstechniken werden nämlich

den Interpretinnen und Interpreten

überlassen.

Bei der Uraufführung 1961 in Do-

naueschingen, die Boulez selbst ge-

meinsam mit Yvonne Loriod spielte, war

«Chapitre II» der «Structures  II» folge-

recht in zwei Versionen zu hören. Womit

eine weitere Facette dieses vielseitigen

Künstlers aufleuchtet: jene als Interpret

seiner eigenen Werke und bald auch

schon als Dirigent von internationalem

Rang. 1959 bei den Donaueschinger

Musiktagen für den erkrankten Hans

Rosbaud eingesprungen, hatte Boulez‘

Auftritt mit dem Südwestfunk-Orches-

ter Baden-Baden solch ein Aufsehen er-

regt, dass zahlreiche Einladungen unter

anderem nach Los Angeles, Cleveland

und New York folgten, wo er von 1971

bis 1977 das New York Philharmonic

Orchestra leitete. Gleichzeitig, von 1971

bis 1975, war Boulez auch Chefdirigent

des BBC Symphony Orchestra in Lon-

don. In die Musikgeschichte eingegan-

gen sind nicht nur seine Deutungen der

Werke Gustav Mahlers und Claude De-

bussys, sondern vor allem auch seine In-

terpretation von Richard Wagners «Ring

des Nibelungen» in der Bayreuther In-

szenierung von Patrice Chéreau Ende

der 1970er-Jahre.

Obwohl Boulez nach den Struc-

tures  II nur noch zwei kurze Solokla-

vierwerke komponierte, wirkt die Ge-

dankenwelt dieses Stücks mit seinen

beständigen Verweisen, Querverbin-

dungen und offenen Abfolgen in vie-

len seiner Orchester- und Ensemble-

stücken von «Pli selon pli» (1957/89)

und «Éclat» (1965) bis zu «Répons»

(1981/85) und «…explosante-fixe…»

(1991/93) fort. Wie wichtig für Boulez

selbst sein frühes Klavierschaffen ist,

zeigt sich auch in zahlreichen Bearbei-

tungen: Drei Jahrzehnte nach dem Ent-

stehen seines Opus 1, den «Douze No-

tations», begann er fünf dieser kurzen

Klavierstücke für grosses Orchester um-

zuarbeiten. Auch sein bislang vorletz-

tes Klavierwerk, «Incises» (1994/2001)

fand in dem Ensemblestück «Sur In-

cises» (1996–98/2006) einen auch in

den zeitlichen Dimensionen erheblich

vergrösserten Widerhall.

Boulez› Hang, Stücke einer Revision

zu unterziehen, sie umzuarbeiten und

weiterzudenken, führte 1969 zumin-

dest indirekt zu einer für sein Schaffen

enorm wichtigen Gründung: des Pariser

«Institut de Recherche et de Coordina-

Page 37: Musik & Theater zum Lucerne Festival

t h e m a 37

tion Acoustique/Musique», kurz IRCAM

genannt. Womit eine dritte Facette die-

ses vielfältigen Künstlers aufblitzt: jene

des Organisators und Initiators Boulez,

der seit der Eröffnung dieses führenden

Elektronik-Instituts im Jahr 1977 ent-

scheidende Impulse für die Entwicklung

der elektronischen Musik in Europa

gab. Ein Jahr davor, 1976, hatte er mit

dem «Ensemble InterContemporain»

auch eines der ersten europäischen

Kammerorchester ins Leben gerufen,

das sich ganz dem Repertoire des zeitge-

nössischen Komponierens verschreibt.

Auf die Gründung des IRCAM

drängte Boulez nicht zuletzt deshalb,

weil er mit seinem ersten elektronischen

Stück 1958 in Donaueschingen geschei-

tert war: Bereits damals hatte sich der

französische Komponist mit der Verbin-

dung von instrumentalen und künstlich

erzeugten Klängen auseinandergesetzt.

Doch war «Poésie pour pouvoir» für

Tonband und drei Orchester gedank-

lich dem Stand der Technik dieser Zeit

so weit voraus, dass Boulez dieses Stück

nach der Uraufführung wieder zurück-

zog. Das Tonband erwies sich als zu un-

flexibel, um eine wirklich fluktuierende

Beziehung zwischen elektronischen und

instrumentalen Klängen herstellen zu

lassen.

Was Boulez vorschwebte, die Verän-

derung der Instrumentalklänge in Echt-

zeit, wurde erst durch die Entwicklung

des Computers möglich gemacht. Die-

ses live-elektronische Verfahren wandte

Boulez erstmals 1981 in seinem Ensem-

blestück «Répons» an – unterstützt vom

«4X», einer leistungsfähigen Worksta-

tion, die Giuseppe di Giugno am IRCAM

entwickelte. Mit Hilfe dieses elektroni-

schen Equipments realisierte Boulez

eine Art modernes Responsorium, in

dem die Klänge räumlich aufgefächert

werden: Durch eine elektronische Steu-

erung wandern diese gleichsam zwi-

schen sechs Lautsprechern im Saal, in

dessen Mitte das 24-köpfige Ensemble

platziert ist, das mit sechs, wechselweise

auch elektronisch verfremdeten Solis-

ten kommuniziert.

Als Weiterentwicklung von «Répons»

war zwischen 1991/93 ein weiteres elek-

tronisches Werk für Ensemble und drei

Soloflöten entstanden: «…explosante-

fixe…» erinnert an ein instrumentales

Tripelkonzert, zumal der Einsatz einer

der drei Soloflöten als MIDI-Instrument

dem Stück an einigen Stellen geradezu

orchestrale Dichte verleiht. Im fiktiven

Zusammenspiel mit ihren eigenen, elek-

tronisch reproduzierten Klängen befin-

det sich wiederum die Soloklarinette in

«Dialogues de l›hombre double» (1984),

in dem die Töne gleichfalls raffiniert im

Raum bewegt werden. Kein Zweifel, mit

Hilfe der Live-Elektronik und neu er-

dachter musikalischer Formen ist Pierre

Boulez seit den 1980er-Jahren an sein

Ziel gelangt: eine komplexe neue Mu-

sik zu schaffen, die dennoch nicht an

ihrem eigenen Regelwerk erstickt und

dadurch zum Vorbild künftiger Genera-

tionen wurde.

Page 38: Musik & Theater zum Lucerne Festival

t h e m a38

Der Künstler Johannes Willi ist Gewinner des dritten gemeinsamen «Soundzz.z.zzz…z»-Wettbewerbs von Lucerne Festival und

Kunstmuseum Luzern. Im Konzertsaal des KKL lässt er Beethovens Fünfte Sinfonie aufführen – mit Instrumenten, die er selbst aus

Alltagsmaterialien hergestellt hat. Geplant ist eine amüsante, aber auch hintergründige Performance. Ein Atelierbesuch.

Alfred Ziltener (Text) & Priska Ketterer (Bilder)

Johannes Willi – an den Schnittstellen zwischen Leben und Kunst

Beethoven vom Baumarkt

Im Atelier des jungen Basler Künstlers

Johannes Willi ist kaum noch Platz für

Besucher. Man steigt behutsam über die

vielen Musikinstrumente, die über den

ganzen Boden verstreut sind, umkurvt

vorsichtig herumliegende Celli und

Kontrabässe um zu den beiden Stühlen

am Fenster zum Rhein zu gelangen.

Die Instrumente sind Bestandteile des

Johannes Willi: «Wir sind gewohnt, in festen

Kategorien zu denken. Ich möchte diese

starren Vorstellungen aufbrechen und Denk-

räume dazwischen öffnen, in denen komplexe

Fragestellungen möglich sind».

Projekts «Beethovens Fünfte Sinfonie»,

das der Künstler am diesjährigen Lucer-

ne Festival präsentieren wird. Er hat da-

mit den Wettbewerb «Soundzz.z.zzz...z»

gewonnen, den das Festival und das

Kunstmuseum seit 2013 gemeinsam

jedes Jahr ausschreiben. Dabei kann

jeweils ein junger Künstler eine per-

formative Arbeit an der Schnittstelle

von Musik und Bildender Kunst reali-

sieren.

Die Instrumente hat Willi selbst ge-

baut, improvisierend, ohne profundes

musikalisches Wissen. Die «klassische»

Musik sei ihm eigentlich eher fremd,

erzählt er. Die Materialien hat er sich

im Baumarkt besorgt. So besteht der

Korpus der Streichinstrumente aus

Page 39: Musik & Theater zum Lucerne Festival

t h e m a 39

hat, nimmt denn auch Themen auf, die

ihn in seiner künstlerischen Arbeit im-

mer wieder beschäftigen.

Willi ist auf einem Umweg zur Bil-

denden Kunst gekommen. 1983 in Ba-

sel geboren, im basellandschaftlichen

Lausen aufgewachsen, hat er zunächst

ein Jahr als Moderator und Redaktor

beim damaligen Jugendsender «Viva»

gearbeitet, und anschliessend an der

Zürcher Hochschule der Künste den

Studiengang «Style and Design», mit

dem Schwerpunkt Trendforschung,

belegt. Für seine Bachelor-Arbeit hat

er Handwerker aus unterschiedlichen

Berufen interviewt und mit der Kame-

ra porträtiert. Diese Faszination für das

Handwerk schwingt auch im Projekt

«Beethovens Fünfte Sinfonie» mit, ei-

nerseits für das Handwerk des Instru-

mentenbauers, andererseits für jenes

der Musiker, die er als «Handwerker im

besten Sinn» betrachtet.

Das Studium habe ihm, erzählt er,

neue Wege gewiesen, vor allem jenen

zur Bildenden Kunst. So wechselte er an

das Institut Kunst der Fachhochschule

Nordwestschweiz, wo er 2013 mit dem

Master abschloss. Möglicherweise ist

diese Ausbildung in zwei Sparten mit ein

Grund dafür, dass Willi sich besonders

mit den Schnittstellen zwischen unter-

schiedlichen Bereichen des Lebens und

der Kunst beschäftigt. Ihn interessiert

das Uneindeutige, das dem Denken

Freiheit gibt. «Wir sind gewohnt, in fes-

ten Kategorien zu denken. Ich möchte

diese starren Vorstellungen aufbrechen

und Denkräume dazwischen öffnen, in

denen komplexe Fragestellungen mög-

lich sind», erklärt er im Gespräch. So

hat er vor einigen Jahre als Werbe-Mo-

del für einen Znüni-Snack gearbeitet;

das entsprechende Plakat hat er später

gerahmt und in einer Ausstellung ge-

zeigt: Ist das nun noch Werbung – oder

doch Kunst? Die Frage muss sich wohl

jeder selbst beantworten.

Willi ist auch Initiant und Leiter

der Kunstbuchmesse «I Never Read,

Art Book Fair Basel» die seit vier Jahren

jeweils während der ART Basel statt-

findet – auch das Kunstbuch ist ja ein

Grenzphänomen, einerseits Buch, an-

dererseits Kunstgegenstand. – Das Beet-

hovenprojekt wiederum bewegt sich

zwischen Bildender Kunst und Musik.

Zwar sind Willis Instrumente Kunstob-

jekte und werden ja auch im Museum

gezeigt, aber Musiker erzeugen darauf

Klänge. – Bei unserem Gespräch Mitte

Juli stand das erste Treffen zwischen

Künstler und Musikern noch bevor, bei

dem Willi seine Absichten erklären soll-

te. Er sei gespannt auf ihre Reaktion,

erzählt er. Sie müssten schliesslich ihre

gewohnten Gleise verlassen, denn mit

den erlernten Spieltechniken kämen

sie nicht weiter.«Ich hoffe, dass sie diese

Herausforderung lustvoll und mit einer

Prise Selbstironie annehmen. Die neu-

en Instrumente geben ihnen ja auch die

Freiheit, selber kreativ zu werden und

im Laufe der Aufführung eigene Strate-

gien zu entwickeln, um die Tücken der

Objekte zu überwinden. In diesem Sinn

gebe ich ihnen Carte Blanche. Und

damit entfällt auch der Druck der Kon-

zertsituation; hier braucht für einmal

keiner Angst vor dem Versagen zu ha-

ben.» Willi sieht die Performance auch

als Abenteuertrip, den die Musiker ge-

meinsam bewältigen müssen. Von die-

ser Gemeinschaft nimmt er sich nicht

aus: «Ich bin der Instrumentenbauer

und stehe quasi mit dem Orchester auf

dem Podium.»

Johannes Willi – Beethoven

Beethovens Fünfte Sinfonie – Performance

mit der Lucerne Festival Academy

29. August 2015, 11.00 Uhr, KKL Luzern,

Konzertsaal

Präsentation der gebauten und verwende-

ten Instrumente

14. – 28. August / 30. August –

13. September 2015

Kunstmuseum Luzern

Finissage und LP-Release

13. September 2015, 15.00 Uhr

Kunstmuseum Luzern

«…lustvoll und mit einer Prise Selbstironie»

Pappelholz, das normalerweise für

Laubsägearbeiten verwendet wird, die

Saiten sind aus Stahldraht. Die Bogen,

ebenfalls aus Laubsäge-Holz, sind mit

Bast bespannt, die Pauken aus Kupfer-

blechplatten zusammengenietet. Hör-

ner, Trompeten und Posaunen hat Willi

aus Kupferblech und Sanitär-Rohren

gelötet. Die Grösse ist in etwa jene der

richtigen Instrumente; Willi hat sich

nach den Massangaben bei Wikipedia

gerichtet.

Insgesamt 49 solcher Instrumente

hat der Künstler geschaffen, die Beset-

zung eines kleinen Sinfonieorchesters

also. Am 29. April wird die Lucerne Fes-

tival Academy unter dem jungen argen-

tinischen Dirigenten Mariano Chiacchi-

arini in einer Matinee im Grossen Saal

des KKL mit Willis Kreationen Ludwig

van Beethovens Fünfte Sinfonie auffüh-

ren – besser vielleicht: den Versuch ma-

chen sie aufzuführen. Denn wie diese

Instrumente klingen, ob sie überhaupt

klingen, wird sich erst dann zeigen.

Und natürlich haben sie ihre spieltech-

nischen Tücken, auf welche die Musiker

erst während des Konzerts reagieren

können. Geprobt wird zuvor nämlich

auf den eigenen, konventionellen Ins-

trumenten. Willis Nachbauten werden

dem Orchester erst eine halbe Stunde

vor Konzertbeginn ausgehändigt, so

dass gerade mal Zeit bleibt für ein erstes

Anspielen. Es sei auch nicht sicher, sagt

Willi, dass die teilweise fragilen Konst-

ruktionen das Konzert heil überstehen;

es könne gut sein, dass etwa eine Geige

dem temperamentvollen Bogenstrich

des Interpreten nicht gewachsen sei.

Damit kommen ganz neue Herausfor-

derungen auf die Musiker zu – und das

Publikum wird wohl einiges zu lachen

haben, ganz dem diesjährigen Festival-

motto «Humor» entsprechend.

Das Konzert wird auf Video und

in einer eng limitierten künstlerisch

gestalteten Edition von zehn Acetat-

Schallplatten festgehalten. In den zwei

Wochen vor und nach der Performance

sind die Instrumente im Kunstmuseum

Luzern ausgestellt und zu besichtigen.

Nach dem Konzert werden sie nicht re-

pariert, sondern kehren so, wie sie sind,

ins Museum zurück.

Ist das alles einfach ein sehr auf-

wendiger Gag? Eine Beethoven-Parodie

gar? Nein, erklärt Willi. Auf die «Fünf-

te» hätten sich die Festivalleitung und

er selbst geeinigt, weil sie sehr bekannt

sei; das Publikum wisse, wie sie eigent-

lich klingen müsste, und nur so könne

die Performance ihre Wirkung ent-

falten. Dabei sollen sich die Leute na-

türlich amüsieren, doch es geht dem

Künstler um mehr. Das Projekt, das er

schon lange mit sich herumgetragen

Page 40: Musik & Theater zum Lucerne Festival

Musiques Suisses – Schweizer Klassik, Neue Volksmusik und Jazz

Urs Bollhalder TrioEventide

MGB Jazz 15

hornroh modern alphorn quartetgletsc

MGB-NV 31 (2 CDs)

David Philip Hefti

Grammont Portrait CTS-M 145 MGB CD 6284

Musiques Suisses/Neue Volksmusik wird getragen von Pro Helvetia, Suisa-Stiftung, Gesellschaft für die Volksmusik in der Schweiz, Haus der Volksmusik Altdorf und Migros-Kulturprozent.

Pro Helvetia, Suisa, Suisa-Stiftung, Schweizerischer Tonkünstlerverein, Schweizer Radio- und Fernsehgesellschaft und Migros-Kulturprozent bilden die Trägerschaft von Grammont Portrait.

online shop: www.musiques-suisses.chEin Projekt des

1 Magma2 Lichter Hall3 Beethoven-Resonanzen4 Hamlet-Fragment

5 Klangscherben 6 Interaktionen7 Adagietto

Balthasar Streiff, Alphorn und BüchelMichael Büttler, Alphorn und BüchelJennifer Tauder, Alphorn und StimmeLukas Briggen, AlphornGast: Pit Gutmann, Perkussion und Klangobjekte

Malwina Sosnowski, ViolineRebekka Hartmann, ViolineBenyamin Nuss, Klavier

Urs Bollhalder, KlavierHeiri Känzig, KontrabassKevin Chesham, Schlagzeug

Page 41: Musik & Theater zum Lucerne Festival

t h e m a 41

Page 42: Musik & Theater zum Lucerne Festival

c o m p o s e r42

Jürg Wyttenbach ist kein Komponist, der im Abstrakten operiert. Zwar empfing auch er einst serielle Anregungen und experimen-

tierte auf diesem Feld. Aber irgendwann genügte es ihm nicht mehr, die Töne brachen aus und auf, gebärdeten sich, aktionistisch,

theatral – und so entstand Wyttenbachs eigener Stil. Der Berner Komponist und Pianist ist diesen Sommer Composer-in-Residence

beim Lucerne Festival und erinnert sich dabei musikalisch an seine Freundschaft mit Mani Matter.

Thomas Meyer (Text) & Priska Ketterer (Bilder)

Jürg Wyttenbach ist Composer-in-Residence beim Lucerne Festival 2015

Der Unfall

Page 43: Musik & Theater zum Lucerne Festival

c o m p o s e r 43

«Jetz blased eus i d Schue, jetz heimer

gnue», reimten die beiden zur Matura-

feier 1955 und verabschiedeten sich mit

einem Fusstritt von ihren Lehrern. Die

frechen Verse entsprangen nicht dem

Moment, sondern setzten einen ersten

Punkt hinter eine lange gemeinsame

Zeit. Seit dem Kindergarten waren Jürg

Wyttenbach und Mani Matter befreun-

det, sie gingen gemeinsam zur Schule,

ins Progymnasium am Waisenhausplatz

und ins Gymnasium Kirchenfeld – und

dürften da schon so manchen artisti-

schen Streich geführt haben. Ihre Wege

führten danach auseinander: Matter

begann in Bern Jus zu studieren, was er

auch bis zum Doktor durchzog. Später

unterrichtete er an der dortigen Uni-

versität; daneben begann er mit seinen

Chansons aufzutreten und wurde zum

wohl bekanntesten der Berner Trouba-

dours. Wyttenbach hingegen wählte di-

rekt die künstlerische Laufbahn, studier-

te in Bern bei Kurt von Fischer Klavier,

und wie so viele seiner Altersgenossen

Komposition bei Sándor Veress; dann

ging er nach Paris zu Yvonne Lefébure

und Joseph Calvet, unterrichtete später

und wohnt sein Langem in Basel.

Freilich setzten sie auch nach der

Matura ihre Freundschaft und die Zu-

sammenarbeit fort. Als Wyttenbach für

einen Weihnachtsmarkt Melodien auf

volkstümliche Gedichte komponiert

hatte, mit den Texten aber unzufrieden

war, schrieb ihm Matter neue unter die

bestehende Musik. So entstand, wie Wyt-

tenbach erzählt, «ein Zyklus, in dem wir

die Geschichte weiterzogen»: die zehn

Scherzlieder Sutil und Laar. Weitere Pro-

jekte folgten, diverse Canzonen etwa.

Geplant war vor allem eine Oper, in der

die beiden das Genre auseinanderneh-

men wollten – nach allen Regeln der

Kunst zerlegten sie es in seine Bestand-

teile: Sologesang, Chorgesang, Gestik,

Instrumentalmusik, und setzten sie neu

zusammen. Heraus kam die Geschichte

eines Cellisten, der in dreifacher Person

auftritt: als Pantomime-Clown, als ver-

nünftiger Sprecher und als emotional

reagierender Cellist.

Die Hamburger Staatsoper, gelei-

tet damals vom initiativen Rolf Lieber-

mann, war interessiert. Titel: Der Unfall. Der Text lag vor; Wyttenbach war schon

am Komponieren, da starb Mani Matter

am 24. November 1972 in Kilchberg am

Zürichsee – bei einem Autounfall. «Da-

nach hatte ich keine Lust mehr daran

weiter zu arbeiten», sagt Jürg Wytten-

bach. Und doch liess ihn das Projekt nie

ganz los. Es hat ihn regelrecht verfolgt.

Erst jetzt freilich, nach über vierzig Jah-

ren, konnte er sich wieder daran wagen.

Altes hat er übernommen, neues hin-

zukomponiert; und so wurde Der Unfall als Madrigalspiel für zehn Mitwirkende

vollendet. Beim Lucerne Festival, wo

Wyttenbach heuer neben Tod Machover

als Composer-in-Residence zu Gast ist,

wird es nun uraufgeführt – unter dem

Gesamttitel: «WyttenbachMatterial».

Da haben wir schon vieles beisam-

men, was die Musik dieses Komponis-

ten ausmacht. (Er ist, nebenbei gesagt,

auch ein engagierter Dirigent und ein

hervorragender Pianist: Man höre sich

einmal die Hammerklaviersonate und die

dritte Boulez-Sonate mit ihm an!) Wyt-

tenbach liebt den schrägen Witz in Wort

und Musik, spielt gern mit den Genres,

verdreht sie und führt sie zu ungewohn-

ten Resultaten. Insofern passt er bestens

zum Luzerner Festivalthema «Humor».

Ein Vorbild dafür ist ihm der wortgewal-

tige François Rabelais (1494-1553), des-

sen Riesengestalten Gargantua, Badebec

und Pantagruel immer wieder durch sein

Oeuvre geistern. Die Bücher des franzö-

sischen Arztes, Naturwissenschaftlers,

Diplomaten, Humanisten und Schrift-

stellers hätten ihn sofort in den Bann

gezogen, sagt Wyttenbach. Rabelais

habe alle französischen Dialekte in seine

Sprache einbezogen, über einen giganti-

schen Wortschatz verfügt und dabei mit

«Fortgesetztes Inhalieren von Luftschlössern schadet Ihrer Gesundheit!»

Jürg Wyttenbach –

«Composer-in-Residence»

21. und 22. August, 19.30 Uhr, Luzerner

Theater

«WyttenbachMatterial»

Instrumental- und Vokalwerke. U.a.

«Der Unfall» (UA)

Basler Madrigalisten, Raphael Immoos

(Dirigent).

Désirée Meiser (Szenische Einrichtung)

22. August, 11.00 Uhr, MaiHof

«Moderne 2»

U.a. «Cortège pour violon, accompagné de

…La Fanfare Harmonie du village»

Junge Philharmonie Zentralschweiz,

Jürg Wyttenbach (Leitung)

Carolin Widmann (Violine)

22. August, 16.00 Uhr, MaiHof

«Moderne 3»

«Gargantua chez les Helvètes due Haut-

Valais oder: Was sind das für Sitten?»

UA der Bearbeitung für Ensemble,

Alpini Vernähmlassig,

Franziskus Abgottspon (Sprecher)

Page 44: Musik & Theater zum Lucerne Festival

c o m p o s e r44

Altes übernommen, neues hinzukomponiert –

Jürg Wyttenbachs einst mit Mani Matter

für Hamburg geplante Oper kommt unter

dem sinnigen Titel «WyttenbachMatterial»

als Madrigalspiel zur späten Uraufführung.

Page 45: Musik & Theater zum Lucerne Festival

c o m p o s e r 45

literarischen Formen wie der konkreten

Poesie oder dem inneren Monolog ex-

perimentiert, die erst im 20. Jahrhundert

wieder aktuell wurden. «Sein grosser

Freiheitsdrang ist wie ein Strom, der al-

les überschwemmt und in dem alles Platz

hat, das Verrückteste und das Blasphe-

mischste, aber auch das Intelligenteste.

Für mich ist er der erste moderne, auf-

geklärte Mensch, und seine Form des

‘Roman fleuve’ spricht mich sehr an.

Man kann überall einsteigen und immer

wieder etwas Tolles finden, ohne an eine

romantische Geschichte gebunden zu

sein, die von A bis Z abläuft.»

Und er beliess es dabei nicht bei einer

Renaissance-Kopie, sondern transferier-

te Rabelais in die Schweiz. Für die «Deux Chansons burlesques et un Rondeau-Tango suivi d’une Epitaph» hat Wyttenbach die

Texte ins Berndeutsche übertragen. In

«L’ours bernois aprés la défaite à Mari-

gnano» etwa wird der Berner Bär nach

der Niederlage von Marignano 1515

verspottet – und diesen Spott bezieht

der Komponist gewiss nicht nur aufs 16.

Jahrhundert. In der «Badinerie Lamten-

toroso» gerät’s manchmal ins Unflätige.

Wie so oft müssen die Instrumentalisten

dort auch sprechen, singen und agieren.

Für die Oberwalliser Spillit hat Wytten-

bach daraus sogar ein Musiktheaterstück

gemacht: «Gargantua chez les Helvètes du Haut-Valais» oder: «Was sind das für Sit-ten!?» Der Held gerät da unter die Walli-

ser – was nicht ganz trocken abgeht. Er

habe einst als Jugendlicher, so erzählt

Wyttenbach, im Oberwallis zum ersten

Mal in seinem Leben richtige Volksfes-

te im Freien mit Musik und Tanz, aber

auch mit Saufereien und Schlägereien

erlebt. «Auch die Maultiere als Trans-

portmittel sind mir noch in lebendigster

Erinnerung, ebenso die Priester in ihren

schwarzen Röcken, die oft die gewag-

testen Geschichten beim Raclette-Essen

erzählten.» Und «im Militär gab es mit

den Wallisern immer Krawall, wenn sie

etwas zu viel getrunken hatten», – alles

ganz wie in jenem bekannten kleinen

gallischen Dorf in der Bretagne, das er

durchaus gelegentlich zitiert.

Das Rabelais’sche schwappt aber

auch in die anderen Stücke über. Ein

Violinkonzert ist da kein Konzert mehr,

sondern wird zum kuriosen Cortège pour violon, accompagné de «La Fanfare Harmo-nie du village». Die Solistin Carolin Wid-

mann führt darin als «Harlekin des To-

des» eine imaginäre Dorfmusik an, die

Basstuba wird zum übergewichtigen Bür-

germeister, die Trompeten sind zwei Ve-

teranen der Revolution. Inspiriert wurde

Wyttenbach dabei von Gustave Courbets

Gemälde Ein Begräbnis in Ornans. All das zeigt uns auch: Wyttenbach

ist kein Komponist, der im Abstrakten

operiert. Wie seine Altergenossen Heinz

Holliger und Hans Ulrich Lehmann hat

er zwar einst in Basel von Pierre Boulez

und Karlheinz Stockhausen wichtige An-

regungen empfangen, und er hat eine

Zeit lang auch im Seriellen komponiert,

aber irgendwann genügte das nicht

mehr, da brachen die Töne aus und auf,

gebärdeten sich, aktionistisch, theatral

– und so entstand Wyttenbachs eigener

Stil. Einen «Anreger neuer Vermittlungs-

formen und Erfinder hintersinnig skur-

riler Stücke des instrumentalen Thea-

ters», nannte ihn der Musikschriftsteller

Ulrich Dibelius in seinem Buch Moderne Musik II – 1965-1985 und schrieb: «Seit

1969, nachdem er Serielles und Postse-

rielles mit wacher Intelligenz erprobt

hatte, sind für Wyttenbach musikalische

Verhältnisse und existenzielles Verhal-

ten, besonders in Zuständen von Not,

Exaltation, Sinnverfall und Alpträumen,

unlöslich aneinander gebunden.» Seine

«aufschreckende clowneske Doppelbö-

digkeit», wie sie etwa in den Matter-Stü-

cken aufscheint, ist zum Beispiel thema-

tisiert in den Trois chansons violées pour

une violoniste chantante oder in den

Posaunensolo D‘(h)ommage oder: Freu(n)de, nicht…, wo Beethovens Neunte ausei-

nander zitiert wird. Mit diesem Klassiker

hat sich Wyttenbach ohnehin zeitlebens

auseinandergesetzt, und das auf kreative

Weise: Nicht nur interpretierend, son-

dern auch den Fragmenten und Skizzen

aus den späten Klaviersonaten nachkom-

ponierend und sie weitertreibend – was

zu überraschenden Ergebnissen führte.

Beethoven: Sacré – Sacré Beethoven? hiess

eine andere Hommage von 1977. Sein

Schaffen nämlich entzündete sich – ge-

rade auch in der pädagogischen Arbeit

an der Musikhochschule – immer wie-

der an der Vergangenheit. Mozarts Fa-

schingspantomime verwandelte sich so

in eine Harlekinade; Arnold Schönberg

und Charles Ives gerieten in neue musik-

theatrale Zusammenhänge, etwa in der

Ives-Collage Patchwork an der Wäschelei-ne. Und Wyttenbach orchestrierte auch

den Liederzyklus Kinderstube von Modest

Mussorgski. Sein Umgang ist – bei allem

Respekt – stets ein schöpferischer. Dabei

bleibt halt manchmal kein Stein auf dem

anderen. Bezüglich seiner Serenade in Luftschlössern warnt der Komponist denn

auch: «Fortgesetztes Inhalieren von Luft-

schlössern schadet Ihrer Gesundheit!

Wer den Staub von meiner Serenade und

den anderen Stücken bläst und dadurch

bewirkt, dass das Luftschloss über ihm

einstürzt, ist selber schuld.»

Page 46: Musik & Theater zum Lucerne Festival

21. August 2015 UA

WyttenbachMatterialKompositionen von Jürg Wyttenbach

Musikalische Leitung Raphael Immoos | Inszenierung Désirée Meiser

29. August 2015 UA

Orpheus. Factory.Elektronische Kammeroper von Jacob Suske

Inszenierung Jacob Suske

5. September 2015

Albert HerringComic Opera von Benjamin Britten

Musikalische Leitung Howard Arman | Inszenierung Tobias Heyder

25. September 2015 UA

Tanz 19: GiselleMusik von Adolphe Adam

Musikalische Leitung Boris Schäfer

Choreografie Gustavo Ramírez Sansano

1. Oktober 2015 SE

Bin nebenanStück von Ingrid Lausund

Inszenierung Maxime Mourot

9. Oktober 2015

HamletTragödie von William Shakespeare

Inszenierung Andreas Herrmann

25. Oktober 2015

Sweeney ToddMusical Thriller von Stephen Sondheim

Musikalische Leitung Florian Pestell

Inszenierung Johannes Pölzgutter

18. November 2015 SE

Undine – Die kleine MeerjungfrauKinderstück von Franziska Steiof

Inszenierung Claudia Brier

21. November 2015 WA

Tanz 20: NUTS! «Der Nussknacker»

Choreografie Kinsun Chan

10. Dezember 2015

Onkel WanjaSchauspiel von Anton Tschechow

Inszenierung Ueli Jäggi

23. Januar 2016

Béatrice et BénédictOpéra comique von Hector Berlioz

Musikalische Leitung Boris Schäfer

Inszenierung Béatrice Lachaussée

13. Februar 2016

Dantons Tod Drama von Georg Büchner

Inszenierung Andreas Herrmann

18. Februar 2016

Venus and AdonisOper von John Blow

Musikalische Leitung Johannes Strobl

Inszenierung Wolfgang Berthold

20. Februar 2016 SE

MonsterJugendstück von David Greig

Inszenierung Annina Dullin-Witschi

12. März 2016

NormaMelodramma von Vincenzo Bellini

Musikalische Leitung Howard Arman | Inszenierung Nadja Loschky

20. März 2016

Bastien und Bastienne Kinderkonzert

Singspiel von Wolfgang Amadé Mozart

Musikalische Leitung Florian Pestell

Szenische Einrichtung Dominique Mentha

24. März 2016 UA, SE

Tanz 21: Bolero plus 2Stephan Thoss | Didy Veldman | Idan Sharabi

8. April 2016 UA

BuschFehrKoch (Arbeitstitel)

Uraufführung von Dominik Busch, Michael Fehr und

Ariane Koch

In Zusammenarbeit mit Stück Labor Basel und

Zürcher Hochschule der Künste

15. April 2016 SE

Lehman Brothers.Schauspiel von Stefano Massini

Inszenierung Matthias Kaschig

1. Mai 2016

Il viaggio a ReimsDramma giocoso von Gioacchino Rossini

Musikalische Leitung Howard Arman

Inszenierung Dominique Mentha

20. Mai 2016

Über die Kunst seinen Chef anzusprechen und ihn um eine Gehaltserhöhung zu bittenKleine Katastrophen von Georges Perec und anderen

Inszenierung Andreas Herrmann

25. Mai 2016 UA

Dancemakers Series #7Choreografien aus dem Tanzensemble

3. Juni 2016

A Child of Our TimeOratorium für Soli,

Chor und Orchester von Michael Tippett

Musikalische Leitung Howard Arman

PREMIEREN SPIELZEIT 2015/16

UA UraufführungSE Schweizer ErstaufführungWA Wiederaufnahme

www.luzernertheater.ch

Page 47: Musik & Theater zum Lucerne Festival

k o l u m n e 47

Komm raus!Den Witz in einem Musikstück zu entdecken, das ist eine Herausforderung. Sie macht uns zu Wissenden. Und das ist erst einmal ein

ziemliches Stück Arbeit.

Benjamin Herzog

Bayreuth, Sommer 2015. In der Pau-

se von «Tristan und Isolde» setzt sich

Bundeskanzlerin Angela Merkel im

Festspielrestaurant zum Kaffee nieder.

Ihr Stuhl bricht zusammen. Merkel auf

dem Boden. Ein unfreiwilliger Slapstick.

Spass an hehrem Orte. Bayreuth sonst

habe ihr dieses Jahr «gut gefallen», liess

die Kanzlerin nach der Premiere ver-

lauten. Oder, verschiedentlich schon

beobachtet: Dem Geiger eines Streich-

quartetts platzt eine Saite. Beim Frei-

luftkonzert weht der Wind einen Noten-

ständer um. Ein Handy klingelt zufällig

in der gleichen Tonart wie die Musik, die

so gestört wird. Ein bisschen peinlich.

Ein bisschen lustig.

Aber: Haben Sie schon mal im klas-

sischen Konzert über die Musik selbst

gelacht, innerlich geschmunzelt wenigs-

tens? Und das nicht wegen einer geplatz-

ten Saite, sondern wegen der Musik per

se. Ich behaupte, «nein»!

Versailles, März 1745. In der Gran-

de Ecurie wird Jean-Philippe Rameaus

Comédie Lyrique «Platée» vor royalem

Publikum aufgeführt. Komisch genug,

dass König und Konsorten sich Rameaus

neue Oper in einem Pferdestall anhö-

ren. Die Opernhandlung dreht sich um

die hässliche Wassernymphe Platée, wel-

che von sich glaubt, sie sei ästhetisch un-

widerstehlich. Rameaus eitel gurgelnde

Opernkröte war eine mehr als deutliche

Anspielung auf die neue Gattin des Dau-

phins, die spanische Infantin Maria The-

resia. Ihrerseits offenbar keine Schön-

heit. Lacher im Publikum waren dieser

Musik gewiss. Damals.

Wer lachen will, muss verstehen.

Braucht Kontext. Braucht eine Königin

mit Warzen im Gesicht, die er in einer

komischen Gesangsnummer wieder-

erkennt. Wenn diese Königin aber 250

Jahre alt ist, wo, pardon, ist da der Witz?

Im Witz solidarisieren wir uns mit

Gleichgesinnten. Mucken auf gegen Au-

toritäten, schiessen gegen Minoritäten.

Witz, komm raus! Der Witz bestärkt die

Gruppe. Bratschisten sind faul, darum

findet der Bratschist, der seinen Inst-

rumentenkoffer öffnet, eine verschim-

melte Bratsche vor und murmelt zer-

knirscht: «schon wieder». Haha.

Einer der letzten, der das begriffen

hat, war Loriot. Unvergessen, wie er als

fliegenfangender Abwart die Berliner

Philharmoniker dirigiert. Beethovens

Fünfte aus dem Geist der Fliegenklat-

sche.

Loriot konnte mit einem Bewusstsein

rechnen. Für Musik, für den Betrieb,

für deren Strukturen. Beethoven, der

wildlockige Komponist auf dem Sockel.

Der Dirigent als Oberlehrer, als Chef

d’Orchestre – und eben nicht als dessen

Abwart. Das funktioniert sogar noch im-

mer. Das Bewusstsein eines Systems und

somit auch das Erkennen eines Regel-

verstosses innerhalb dieses Systems.

Seminare sind dazu schon abge-

halten worden: «Deformation auf der

Struktur-Ebene als Merkmal verschleier-

ten Humors in Mozarts instrumentalen

Rondos». Oder: «Kitsch als unfreiwillig

komischer Moment in Zemlinskys See-

jungfrau». Die Titel dieser im Frühling

an der Musikhochschule Leipzig abge-

haltenen Vorlesungen machen es deut-

lich: Ohne Wissen kein Witz. Sich dieses

Wissen anzueignen, das ist erst einmal

ein ziemliches Stück Arbeit.

Musik kann sehr wohl witzig sein. Aus

sich selbst heraus, ohne hässliche Königin.

Wenn Joseph Haydn in seinen Rondi fal-

sche Zielgeraden einbaut. Wenn Mozart

die Dorfmusikanten seines entsprechen-

den Sextetts KV 522 in «falschen» Tonar-

ten spielen lässt. Ja selbst, wenn Richard

Strauss’ Alter Ego im «Heldenleben» vor

Musikkritikern und Ehefrauen einknickt.

Lustig. Wenn man’s denn versteht.

Und das ist die Herausforderung.

«Komische Musikstücke sind Verstösse»,

sagt der Pianist Alfred Brendel. Verstösse

bedingen Kenntnis der Regeln. Also nicht

das «Schön», wie es uns das Ohr noch so

gerne einflüstert. Oder das schmerzhafte

Sehnen (nach einer besseren Welt, nach

Verschmelzung, nach Gott?), das der Mu-

sik seit dem Mittelalter innewohnt und –

vielleicht am stärksten – in den Sinfonien

Bruckners gipfelt. Wo Inhalt also über

das Gefühl transportiert wird.

Der Witz bedingt, dass wir uns aus-

kennen. Achtung, jetzt müsste die To-

nika kommen! Dass wir Wissende sind

oder es werden. Das ist ein hoher An-

spruch. Viel Glück! Denn: Alles andere

wäre gelacht.

Ein heiteres Lachen für ein ernstes Geschehen: Jonathan Nott dirigierte vor zwei Jahren bei

Lucerne Festival Wagners «Ring». Dieses Jahr steht Verdis «Falstaff» auf dem Programm.

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Page 48: Musik & Theater zum Lucerne Festival

WIR BRINGEN EUCH KLASSIK

Valery Gergiev

Grosse Orchester. Grosse Solisten. Grosse Entdeckungen. Kleine Preise.Orchester-Tourneen in Bern, Genf, Luzern, St. Gallen, Zürich

MIGROS-KULTURPROZENT-CLASSICS, SAISON 2015/2016

MARIINSKY ORCHESTER

Valery Gergiev (Leitung)

Werke von Prokofjew und Tschaikowski

Genf Victoria Hall, Mittwoch, 9. September 2015

Konzertkarten und Informationen: www.migros-kulturprozent-classics.ch

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Page 49: Musik & Theater zum Lucerne Festival

s e r v i c e 49

LUCERNE FESTIVAL im Sommer14. August – 13. September 2015

LUCERNE FESTIVAL 40MINBevor der Abend so richtig beginnt, präsentiert

die Reihe «LUCERNE FESTIVAL 40min» abwechs-

lungsreiche moderierte Programme, die länger

sind als ein blosser Appetizer und doch nicht so

lang wie ein komplettes Konzert – und das ganz

casual: Einen Dresscode gibt es nicht, Vorwissen

ist nicht nötig, und auch der Eintritt ist frei. Hier

können Sie einfach mal Festivalluft schnuppern,

Sie können sich auf den Konzertabend einstimmen

oder prägende Künstler und Werke des Sommers

kennenlernen. Nehmen Sie sich 40 Minuten Zeit

für Musik!

10x während des Festivals | jeweils 18.20 –

19.00 Uhr | KKL Luzern, Luzerner Saal

Mittwoch, 19. August |

LUCERNE FESTIVAL 40min 1

Aus Klein mach Gross. Pierre Boulez’ Notations –

für Klavier und Orchester

(mit dem LUCERNE FESTIVAL ACADEMY Orchestra

und Matthias Pintscher)

Montag, 24. August |

LUCERNE FESTIVAL 40min 2

Alla turca. Mozarts «türkisches» Violinkonzert

(mit Isabelle Faust und dem Chamber Orchestra of

Europe unter Bernard Haitink)

Mittwoch, 26. August |

LUCERNE FESTIVAL 40min 3

Ohren auf! Musikalische Entdeckungen mit der

LUCERNE FESTIVAL ACADEMY, Folge 1

Donnerstag, 27. August |

LUCERNE FESTIVAL 40min 4

Ohren auf! Musikalische Entdeckungen mit der

LUCERNE FESTIVAL ACADEMY, Folge 2

Montag, 31. August |

LUCERNE FESTIVAL 40min 5

Nebelhörner und Sirenen. Edgard Varèse kompo-

niert New York

(mit dem LUCERNE FESTIVAL ACADEMY Orchestra

und Pablo Heras-Casado)

Mittwoch, 2. September |

LUCERNE FESTIVAL 40min 6

Halt auf halber Strecke. Eine musikalische Reise

mit vier Schurken

Donnerstag, 3. September |

LUCERNE FESTIVAL 40min 7

Kinder komponieren, Matthias Pintscher dirigiert.

Auf dem Weg zur Sinfonie für Luzern

Dienstag, 8. September |

LUCERNE FESTIVAL 40min 8

Das Konzert der Zukunft: Fensadense macht den

Tönen Bewegung

(mit LUCERNE FESTIVAL Young Performance)

Mittwoch, 9. September |

LUCERNE FESTIVAL 40min 9

Klassik meets Comedy: Igudesman & Joo and

Friends

Donnerstag, 10. September |

LUCERNE FESTIVAL 40min 10

The Joke. Mitglieder des San Francisco

Symphony spielen Kammermusik

LUCERNE FESTIVAL LOUNGEUnd was passiert nach dem Schlussapplaus?

Immer freitags läutet die LUCERNE FESTIVAL

Lounge das Wochenende ein:

mit Live-Performances zwischen Klassik

und Clubkultur.

LUCERNE FESTIVAL Lounge 1

21. August | ab 22.00 Uhr | Bourbaki

Three Men Riding Horses

LUCERNE FESTIVAL Lounge 2

28. August | ab 22.00 Uhr | Bourbaki

Isabelle Faust | egopusher

LUCERNE FESTIVAL Lounge 3

4. September | ab 22.00 Uhr | Bourbaki

Alumni der LUCERNE FESTIVAL ACADEMY

LUCERNE FESTIVAL Lounge 4

11. September | ab 22.00 Uhr | Bourbaki

Ensemble HELIX der Hochschule Luzern – Musik

ZU GAST BEI DER BUVETTEAbwechslungsreiche Open-Air-Konzerte am Ufer

des Vierwaldstättersees, gestaltet von Festival-

Künstlern, die sich abseits der grossen Bühne

und in ungezwungener Atmosphäre mit eigenen

Projekten präsentieren: Auch diesen Sommer ist

LUCERNE FESTIVAL wieder zu Gast bei der Buvette,

der Freiluft-Bar auf dem Luzerner Inseli.

Die Konzerte finden an insgesamt drei Donners-

tagen – am 20. und 27. August sowie am

3. September − jeweils von 18.00 bis 19.00 Uhr

statt; der Eintritt ist frei. Bei schlechtem Wetter

bleibt die Buvette geschlossen.

Aktuelle Angaben zum Programm erhalten Sie

während des Festivals auf www.lucernefestival.ch.

SOUNDZZ.Z.ZZZ…ZDer Schweizer Künstler Johannes Willi, Gewinner

des dritten «Soundzz.z.zzz…z»-Wettbewerbs,

hat mit Baumarktmaterialien 49 Instrumente

nach gebaut, mit denen das LUCERNE FESTIVAL

ACADEMY Orchester Beethovens Fünfte Sinfonie

musizieren: ein humorvolles Experiment im

Spannungsfeld von Kunst und Können.

Sämtliche Termine:

14. – 28. August | 30. August – 13. September |

10.00 – 19.00 Uhr | Kunstmuseum Luzern

Beethovens Fünfte Sinfonie – Präsentation der

Instrumente

Samstag, 29. August | 11.00 Uhr |

KKL Luzern, Konzertsaal | Eintritt frei

Beethovens Fünfte Sinfonie – Performance mit

der LUCERNE FESTIVAL ACADEMY

Sonntag, 13. September | 15.00 Uhr |

Kunstmuseum Luzern

Beethovens Fünfte Sinfonie – Finissage und

LP-Release

IN DEN STRASSENDienstag, 25. August – Sonntag, 30. August |

18.00 – 22.00 Uhr (anschliessend im Sentitreff) |

Strassen und Plätze der Stadt Luzern

Musik kennt viele Spielarten – und so ist es zu

einer schönen Tradition geworden, dass LUCERNE

FESTIVAL im Sommer die Strassen und Plätze

der Luzerner Altstadt mit Musikgruppen aus aller

Welt bevölkert: ein faszinierendes musikalisches

Panorama unseres Planeten.

Brönnimann/Cissokho | Classycool | Cobario |

Egschiglen | Kolchika | Molotow Brass Orkestar |

Palo Santo | Le Pélican Frisé

Eröffnungsveranstaltung mit allen Gruppen:

Dienstag, 25. August | 17.30 Uhr |

Europaplatz beim KKL Luzern

Abschlussfest mit allen Gruppen:

Sonntag, 30. August | ab 14.00 Uhr an der See-

promenade | ab 16.00 Uhr auf dem Europaplatz

beim KKL Luzern

Karten und Informationen

www.lucernefestival.ch

[email protected]

+41 41 226 44 80

FESTIVAL-TERMINE | VORSCHAULUCERNE FESTIVAL am Piano

21. – 29. November 2015

Piotr Anderszewski | Angela Hewitt, Festival

Strings Lucerne | Pavel Kolesnikov |

Denis Kozhukhin | Radu Lupu | Pierre Pincemaille

| Maurizio Pollini | Lise de la Salle |

Olga Scheps | András Schiff | Jean-Yves

Thibaudet u. a.

Online-Direktbuchung ab Montag, 3. August 2015,

12.00 Uhr | Schriftlicher Kartenverkauf ab Montag,

10. August 2015 | Schalterverkauf im KKL Luzern

ab Samstag, 14. August 2015 | Telefonischer

Kartenverkauf ab Mittwoch, 16. September 2015

ALLGEMEINE INFORMATIONENIhre Konzertkarte gilt als Fahrschein!

Freie Fahrt im Tarifverbund Passepartout

In Luzern gilt die Konzertkarte am Veranstaltungs-

tag auch für die Hin- und Rückfahrt zum und vom

Spielort innerhalb der Passepartout-Zone 10

(2. Klasse). Gültig ab 3 Stunden vor Beginn und bis

3 Stunden nach Veranstaltungsende.

An- und Abreise mit dem Zug: Der 50%-Rabatt

im SBB-Netz

Gegen Vorweisen Ihrer Konzertkarte erhalten

Sie an jedem Schweizer Bahnschalter 50%

Er mässigung auf eine Hin- und Rückfahrt nach

Luzern in der 1. oder 2. Klasse (Konzertticket muss

im Zug bei einer Kontrolle vorgewiesen werden).

Mit dem Halbtax kostet die Fahrt lediglich 25%

des Volltarifs. Das Spezial-Billett muss vor Reise-

antritt an einem Schweizer Bahnschalter, beim

Rail Service unter 0900 300 300 (CHF 1.19/Min

vom Schweizer Festnetz) oder online im SBB

Ticketshop (www.sbb.ch/lucernefestival.ch)

bezogen werden.

Ermässigungen

Studenten, Schüler und KulturLegi-Inhaber

Studenten, Schüler, Berufsschüler und Mitglieder

JTC bis zum 30. Altersjahr sowie KulturLegi-

Inhaber erhalten bei Vorweisen eines gültigen

Ausweises ab einer Stunde vor Konzertbeginn

für nicht ausverkaufte Veranstaltungen Karten zu

CHF 20. Nachträglich können keine Vergünstigun-

gen gewährt werden. Der Ausweis ist auch bei

allfälligen Kontrollen an den Türen des jeweiligen

Veranstaltungsorts vorzuweisen. Spezielle Studen-

tenangebote sind unter www.lucernefestival.ch

ausgewiesen.

Aktion «Mit dem Nachwuchs ins Konzert»

Beim Kauf einer Eintrittskarte für ausgewählte

Veranstaltungen erhalten Erwachsene eine

gleichwertige Freikarte für ihre jugendliche

Begleitung dazu. Die Konzertauswahl finden

Sie auf www.lucernefestival.ch.

Page 50: Musik & Theater zum Lucerne Festival

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i m p r e s s u m36. Jahrgang, August/September 2015Special Edition Lucerne Festival Edition Sommer 2015

Redaktionsanschrift:Musik&TheaterNeugasse 10, CH-8005 Zürich Tel. +41 44 491 71 88, Telefax 044 493 11 76http://[email protected]

HerausgeberinSomedia AG (Südostschweiz Presse und Print AG)Sommeraustrasse 32Postfach 491, CH-7007 Chur

VerlagsleitungRalf SeeligTel. +41 81 255 54 [email protected]

ChefredaktorAndrea Meuli

RedaktionReinmar Wagner, Werner Pfister

Autorinnen und Autoren dieser AusgabeMarco Frei, Benjamin Herzog, Reinhard Kager, Kai Luehrs-Kaiser, Andrea Meuli, Thomas Meyer, Reinmar Wagner, Alfred Ziltener

AnzeigenMusik&Theater +41 44 491 71 [email protected]

Abonnementverwaltung Kundenservice/AboSommeraustrasse 32Postfach 491, CH-7007 ChurTel. 0844 226 [email protected]

HerstellungSomedia Production AG

KorrektoratErnst Jenny

CopyrightMusik&Theater, Somedia AGAlle Rechte vorbehalten

Abonnementspreise und -bedingungen1 Jahr CHF 120.–2 Jahre CHF 230.–

Studenten (mit beigelegter Legitimation): CHF  78.–

Schnupperabonnement (3 Ausgaben): CHF  25.–

Ausland Luftpost:1 Jahr CHF 200.–

Einzelverkaufspreise: CHF  18.–

Musik&Theater erscheint sechsmal jährlich + Specials

Abonnementspreise sind inkl. MwST.

Das Abonnement ist mit einer Frist von 2 Monaten vor seinem Ablauf kündbar. Ohne schriftliche Kündigung erneuert es sich automatisch um ein Jahr.

Für unverlangt eingesandtes Bild- und Tonmaterial übernimmt der Verlag keine Haftung. Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung der Redaktion.

Bekanntgabe von namhaften Beteiligungen i.S.v. Art. 322 StGB:Südostschweiz Radio AG, Südostschweiz TV AG, Südostschweiz Emotion AG, Südostschweiz Pressevertrieb AG, Südostschweiz Partner AG

ISSN 0931-8194

Page 51: Musik & Theater zum Lucerne Festival

ABO

[email protected] 062 834 70 00

Chefdirigent: Douglas Bostock

KONZERTE2015 I 2016

AARAU - BADEN

5 ABO-KONZERTE

SONNTAG - DIENSTAG - FREITAG

DOUGLAS BOSTOCK

SASCHA GOETZEL

LOUIS SCHWIZGEBEL

ALINA IBRAGIMOVA

RADU LUPU

REBEKKA LÖW

LAWRENCE POWER

www.argoviaphil.ch

20%** 20% Rabatt auf den Einzelkartenpreis und weitere Vorteile!

Page 52: Musik & Theater zum Lucerne Festival

Wie macht Engagement junge Talente gross?

zum Prix Credit Suisse Jeunes Solistes 2015.

Seit 1993 ist die Credit Suisse Hauptsponsor von Lucerne Festival.

credit-suisse.com/sponsorship