musikalische formbildung im spannungsfeld nationaler traditionen des 17. jahrhunderts: das...

14
Musikalische Formbildung im Spannungsfeld nationaler Traditionen des 17. Jahrhunderts: Das "Lamento" aus Heinrich Ignaz Franz Bibers Rosenkranzsonate Nr. 6 Author(s): Christian Berger Source: Acta Musicologica, Vol. 64, Fasc. 1 (Jan. - Jun., 1992), pp. 17-29 Published by: International Musicological Society Stable URL: http://www.jstor.org/stable/932990 . Accessed: 18/06/2014 14:32 Your use of the JSTOR archive indicates your acceptance of the Terms & Conditions of Use, available at . http://www.jstor.org/page/info/about/policies/terms.jsp . JSTOR is a not-for-profit service that helps scholars, researchers, and students discover, use, and build upon a wide range of content in a trusted digital archive. We use information technology and tools to increase productivity and facilitate new forms of scholarship. For more information about JSTOR, please contact [email protected]. . International Musicological Society is collaborating with JSTOR to digitize, preserve and extend access to Acta Musicologica. http://www.jstor.org This content downloaded from 185.2.32.24 on Wed, 18 Jun 2014 14:32:08 PM All use subject to JSTOR Terms and Conditions

Upload: christian-berger

Post on 16-Jan-2017

217 views

Category:

Documents


2 download

TRANSCRIPT

Page 1: Musikalische Formbildung im Spannungsfeld nationaler Traditionen des 17. Jahrhunderts: Das "Lamento" aus Heinrich Ignaz Franz Bibers Rosenkranzsonate Nr. 6

Musikalische Formbildung im Spannungsfeld nationaler Traditionen des 17. Jahrhunderts: Das"Lamento" aus Heinrich Ignaz Franz Bibers Rosenkranzsonate Nr. 6Author(s): Christian BergerSource: Acta Musicologica, Vol. 64, Fasc. 1 (Jan. - Jun., 1992), pp. 17-29Published by: International Musicological SocietyStable URL: http://www.jstor.org/stable/932990 .

Accessed: 18/06/2014 14:32

Your use of the JSTOR archive indicates your acceptance of the Terms & Conditions of Use, available at .http://www.jstor.org/page/info/about/policies/terms.jsp

.JSTOR is a not-for-profit service that helps scholars, researchers, and students discover, use, and build upon a wide range ofcontent in a trusted digital archive. We use information technology and tools to increase productivity and facilitate new formsof scholarship. For more information about JSTOR, please contact [email protected].

.

International Musicological Society is collaborating with JSTOR to digitize, preserve and extend access toActa Musicologica.

http://www.jstor.org

This content downloaded from 185.2.32.24 on Wed, 18 Jun 2014 14:32:08 PMAll use subject to JSTOR Terms and Conditions

Page 2: Musikalische Formbildung im Spannungsfeld nationaler Traditionen des 17. Jahrhunderts: Das "Lamento" aus Heinrich Ignaz Franz Bibers Rosenkranzsonate Nr. 6

17

Musikalische Formbildung im Spannungsfeld nationaler Traditionen des 17. Jahrhunderts: Das "Lamento"

aus Heinrich Ignaz Franz Bibers Rosenkranzsonate Nr. 6

CHRISTIAN BERGER, KIEL

Heinrich Ignaz Franz Biber trat 1670 im Alter von 26 Jahren in den Dienst des Salzburger Erzbischofs Max Gandolph Graf von Kuenburg. Diesem Ortswech- sel gingen allerdings recht dramatische Umstande voraus. Biber hatte namlich bis dahin zwei Jahre am Olmiitzer und Kremsier Hof des Erzbischofs Karl Liechtenstein-Castelkorn gedient und war im Herbst 1670 von einer Reise zum beriihmten Geigenbauer Jacobus Stainer nicht zuriickgekehrt. In einem Brief an den Haushofmeister heig~t es, "dass der Biber, Ihro Hf. Gn. musicus und camerdiener mit noch einem eiusdem qualitatis et conditionis insalutato hospite sich fortbegeben habe"'. Biber hatte sich also gruf~los, was nichts anderes heilt als ohne Erlaubnis, verabschiedet. Uber die Griinde dieser Flucht bleiben uns nur Vermutungen, wobei der Ruf des Salzburger Musiklebens sicher nicht gering einzuschitzen sein wird. Erzbischof Max Gandolph wurde schon von den Zeitgenossen we- gen seiner Vorliebe fur die prunkvolle Ausgestaltung kirchlicher Feierlichkeiten geriihmt: Jedes gr6fgere Fest, schrieb 1692 der Historiker Joseph Mezger, habe den ihm anvertrauten Schafen die Gelegenheit gegeben, den Glanz ihres Hirten erschauen zu k6nnen2. Dabei war der musikalischen Ausgestaltung der Liturgie durch die erzbisch6fliche Hofkapelle immer ein besonderer Platz vorbehalten. Biber sollte seinen Wechsel nach Salzburg nicht bereuen, wurde er doch 1678 zum Vizekapellmeister und 1684 schlieglich zum Hofkapellmeister ernannt, ein Amt, das er bis zu seinem Tode im Jahre 1704 innehaben sollte.

Die 15 Sonaten, die heute als Rosenkranzsonaten bezeichnet werden, geh6ren moglicherweise zu den ersten Werken, mit denen sich Biber seinem neuen Herrn als Komponist vorstellte. Sie sind nur in einem einzigen, sorgfaltig ge- schriebenen Widmungsexemplar iiberliefert, das heute in der Miinchener Staatsbibliothek liegt. Im Text der Widmung erwihnt Biber den liturgischen Anlatg fir diese Sonaten, namlich die "15 Heiligen Mysterien" . Seit dem Mittel- alter wurde dieser 15 Geheimnisse Marias, nimlich jeweils fuinf freudenreicher, schmerzhafter und glorreicher Ereignisse aus ihrem Leben, im sogenannten Ro- senkranzgebet gedacht. Dieser Gebetsilbung war seit dem 16. Jahrhundert so- gar ein ganzer Monat, nimlich der Oktober, gewidmet, wo dieser Ritus in

Brief von Johann Franz Khuen von Auer, Tiroler Korrespondent Lichtensteins, an Lichtensteins Haushofmeister Sartorius vom 3. Januar 1671; zit. n. P. NETTL, Heinrich Franz Biber von Bibern, in: StMw 24 (1960), S. 65.

JOSEPH MEZGER, Historia Salisburgensis (Salzburg 1692), S. 920, zit. n. E. T. CHAFE, The Church Music of Heinrich Biber = Studies in Musicology 95 (Ann Arbor 1987), p. 285, Anm. 18: "Nulla erit celebrios festivitas, in qua non oves concreditae vultum sui Pastoris agnoscerent."

"Haec omnia Honori XV Sacrorum Mysteriorum consecravi" vgl. das von E. KUBITSCHEK herausgegebene Faksimile: Heinrich Ignaz Franz Biber: Mysterien-Sonaten ("Rosenkranz-Sonaten") Bayerische Staatsbibliothek Miinchen Mus. Ms. 4123 (= Denkmiler der Musik in Salzburg. Faksimile Ausgaben 1), Bad Reichenhall 1990.

This content downloaded from 185.2.32.24 on Wed, 18 Jun 2014 14:32:08 PMAll use subject to JSTOR Terms and Conditions

Page 3: Musikalische Formbildung im Spannungsfeld nationaler Traditionen des 17. Jahrhunderts: Das "Lamento" aus Heinrich Ignaz Franz Bibers Rosenkranzsonate Nr. 6

18 Chr. Berger: Formbildung im Spannungsfeld nationaler Traditionen des 17. Jhs.

abendlichen Andachten gepflegt wurde. Fiir Max Gandolph waren die Rosen- kranz-Andachten ein besonderes Anliegen, hatte er doch sogar eine entspre- chende Bruderschaft gegriindet4. So ist es sehr wahrscheinlich, da1B Biber selber seine Sonaten im liturgischen Rahmen dieser Andachten aufgefiihrt hat. Und zwar wurden sie sicherlich nicht im Dom, sondern in der Aula der Salzburger Universitat aufgeffihrt, die damals sowohl fuir geistliche Andachten als auch ffir die Auffiihrung weltlicher Theatersticke genutzt wurdes. Noch heute ist der Saal mit den Darstellungen eben dieser 15 Marien-Mysterien geschmiickt.

Nicht nur der Widmungstext weist auf den liturgischen AnlaB hin: Jeder So- nate ist in der Handschrift ein Kupferstich vorangestellt, auf dem die entspre- chende biblische Szene dargestellt wird. Diese enge Verbindung von Bild und Musik begriindete seit der Neuausgabe der Sonaten durch Erwin Luntz im Jahre 1905 das "historische Interesse" an diesen Stiucken, galten sie doch damit als "friihe Dokumente programmatischer Kompositionen"6. Zwar schrinkte schon Luntz diese Behauptung ein, daB es dabei nicht um "eigentliche Tonge- milde" ginge, sondern nur darum, "die im Bilde zum Ausdruck gelangende Stimmung oder die durch das Bild in der Seele des frommgliubigen Christen erregten Geffihle in T6nen wiederzugeben"'. Auch Paul Nettl ordnete sie des- halb 1960 dem "Kapitel Ausdrucksmusik"" zu, und Eric Chafe stellte noch 1987 fest, daB es bei diesen Sonaten weniger um "musico-descriptive associations" oder gewisse "pictorialisms" ginge, als um einen "prevailing mood", eben eine vorherrschende Stimmung9. Keiner ging so weit wie Arnold Schering, der 1936 in der Einleitung zu seinem Buch Beethoven und die Dichtung auf diese Stiicke einging. Er sah in ihnen "ein klassisches Beispiel ilterer esoterischer Program- musik", das in einem "inneren Zusammenhang mit Haydn [es geht dabei um Die sieben Worte Christi am Kreuz] und Beethoven"bo stehe. Zum Beweis unter- legte er dem Lamento der 6. Sonate den Text des Olberggebets aus der Passions- geschichte: "Pater mi, si possibile est, transeat me calix iste - Mein Vater, ist's m6g- lich, so gehe dieser Kelch an mir voriiber" (Matth. 26, 39).

Nun mag der Text sogar zu diesem Stiick passen, was allein schon durch den vorangestellten Kupferstich nahegelegt wird. Mit allem Nachdruck ist aber abzustreiten, daB hier mit Hilfe einer "textgezeugten Melodik" der Handlungs- ablauf einer ganzen Szene, "das Hingehen, Niederfallen, wiederholte Beten, Schlafen der Jiinger usw.""1, nachvollzogen werden k6nne. Bevor wir zu solchen

Vgl. das Vorwort zur Faksimile-Ausgabe von E. KUBITSCHEK, a. a. O., S. 6 f.

Ich danke Herrn Ernst Hintermeier, Salzburg, ffir diesen freundlichen Hinweis; vgl. jetzt auch dazu E. KUBITSCHEK, a. a. O., S. 12.

E. LUNTZ, im Vorwort zu: BIBER, HEINRICH [IGNAZ] FRANZ: Sechzehn Violinsonaten mit ausgefiihrter Klavierbegleitung [d. i. Rosenkranzsonaten], ed. E. Luntz = DTO 25 (Wien 1905, Nachdruck Graz 1959), S. V.

E. LUNTZ, ibid, S. VI.

P. NETTL, ibid., p. 73.

E. T. CHAFE, ibid., p. 189 f. 10

A. SCHERING, Beethoven und die Dichtung mit einer Einleitung zur Geschichte und Asthetik der Beethovendeutung = Neue Deutsche Forschungen. Abteilung Musikwissenschaft 3 (Berlin 1936), S. 79.

Ibid.

This content downloaded from 185.2.32.24 on Wed, 18 Jun 2014 14:32:08 PMAll use subject to JSTOR Terms and Conditions

Page 4: Musikalische Formbildung im Spannungsfeld nationaler Traditionen des 17. Jahrhunderts: Das "Lamento" aus Heinrich Ignaz Franz Bibers Rosenkranzsonate Nr. 6

Chr. Berger: Formbildung im Spannungsfeld nationaler Traditionen des 17. Jhs. 19

Hilfsmitteln der musikalischen Analyse unsere Zuflucht nehmen, sollte das

Stiick zunachst auf seine musikalische Gestaltung hin untersucht werden.

Schlietflich ist die Instrumentalmusik im 17. Jahrhundert "erstmalig als horens- wert anerkannt worden"12, 16st sie sich allmahlich von ihren vokalen Vorbildern und entwickelt eigene Gestaltungsm6glichkeiten, die sich bis hin zu neuen Formkonventionen verdichten. Heinrich Besseler hat vor nunmehr 30 Jahren eindringlich beschrieben, wie diese Entwicklung mit einem neuen H6ren zu-

sammengeht. Dabei ist es keineswegs notwendig, gleich "eine Wendung von schicksalhafter Tiefe"'" zu postulieren. Entscheidend ist vielmehr seine Be-

schreibung eines H6rens, das sich nicht einfach von Affekten ergreifen lifdt, sondern aktiv am formalen Gestaltungsprozefg teilnimmt. Der H6rer "vergleicht die Elemente untereinander, beobachtet Wechsel und Wiederkehr, verfolgt den Zusammenschlufg der Glieder von Stufe zu Stufe und vollzieht so den Auf-

bau."'4 Die Voraussetzung eines solchen strukturellen H6rens ist aber in den Werken zu finden, und es ist unsere Aufgabe, einen solchen formalen Prozefg auch und gerade an solch einem Werk wie Bibers Lamento zu verdeutlichen, das auf den ersten Blick ganz in seiner programmatisch-liturgischen Funktion, der

Darstellung einer bestimmten andachtsvollen Stimmung, aufzugehen scheint. Der Satz ist von Biber selbst mit Lamento iiberschrieben worden. Damit ist

ein Affektbereich angesprochen, dessen musikalische Topoi 1650 ausfuihrlich in der Musurgia universalis des r6mischen Musiktheoretikers deutscher Herkunft Athanasius Kircher unter dem Stichwort "Affectus doloris" behandelt worden

sind'". All diese musikalischen Mittel, die zusammengenommen die Erwartun- gen einl6sen, die eine solche Uberschrift weckt, finden sich gleich in den ersten sechs Takten (s. Beispiel 1, S.20).

Sie beginnen mit einem c-moll-Akkord, der zugleich die besondere

M6glichkeit der Scordatur, der Umstimmung der Violine, vorfiihrt: Die Violine spielt mit ihren mittleren leeren Saiten Terz und Quinte des c-moll-Akkordes, es' und g'. Im 2. Takt wird dieser Dreiklang mit einem auftaktigen Achtelmotiv von oben her aufgefdichert, in der Unteroktave wiederholt und schliegflich in umgekehrter Richtung vom Grundton zur Oberquinte geffihrt. So wird fiber dem liegenden c des Basses von der Solovioline ein Klangraum aufgespannt. Der Umkehrung des Motivs im T. 4 kommt dabei eine besondere Bedeutung zu, ffihrt sie doch aus der Geschlossenheit dieses c-moll-Raumes heraus. Nicht mehr der Grundton, sondern die Oberquinte g" ist nunmehr das Ziel der Bewegung. Hier, im T. 4, greift auch der Baf3 das auftaktige, raumaufspannende Achtelmotiv auf, fuihrt es aber schon nach Erreichen der Terz wie in einer

W. BRAUN, Die Musik des 17. Jahrhunderts = Neues Handbuch der Musikwissenschaft 4 (Wiesbaden u. Laaber 1981), S. 61.

H. BESSELER, Das musikalische Hdren der Neuzeit = Berichte iiber die Verhandlungen der Sichsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, Phil.-hist. Klasse, Bd. 155, Heft 6 (Berlin 1959); hier zit. nach dem Abdruck in: H. BESSELER, Aufsditze zur Musikdsthetik und Musikgeschichte, ed. P. Giilke (Leipzig 1978), S. 134.

Ibid.

Athanasius Kircher, Musurgia universalis (Rom 1650 Faks. hrsg. von U. SCHARLAU, Hildesheim, New York 1970), p. a600 ff. Vgl. dazu die ausfiihrliche Darstellung bei R. DAMMANN, Der Musikbegriff im deutschen Barock (K61n 1967), S. 328ff.

This content downloaded from 185.2.32.24 on Wed, 18 Jun 2014 14:32:08 PMAll use subject to JSTOR Terms and Conditions

Page 5: Musikalische Formbildung im Spannungsfeld nationaler Traditionen des 17. Jahrhunderts: Das "Lamento" aus Heinrich Ignaz Franz Bibers Rosenkranzsonate Nr. 6

20 Chr. Berger: Formbildung im Spannungsfeld nationaler Traditionen des 17. Jhs. 1

Lamento

Beispiel 1: Biber, T. 1-6

Kreisbewegung zuriick. Die rhythmische Intensivierung durch die beiden Sechzehntel, die unter das c zum Leitton H ffihren, losen die 6ffnende Gestik der Oberstimme ein, ja lassen sie erst in der harmonischen Bewegung wirksam werden. Damit sind zwei wichtige Topoi des "Affectus doloris" eingeffihrt worden: Die melodische Linie einer verminderten Quarte es-H, der "quarta deficiens", im Bag, und der Sextakkord, mit dem die Dominante im T. 5 erreicht wird. Seit Zarlino gilt diese Form als ein Akkord mit einem "qualche effetto tristo"'6 - erst Rameau sollte sie als blofe Umkehrung des Grundakkordes ihres besonderen Affektes berauben.

Die Violine nimmt die kreisf6rmige Bafformel sequenzierend auf und fiihrt sie zur Terz der Grundtonart zuriick, von wo aus erneut der harmonische Raum von Grundton und Dominante, rhythmisch durch die nachschlagenden Achtel der Mittelstimme intensiviert, ausgeschritten wird. Mit einem seman- tisch eindeutigen "saltus duriusculus", einer "quinta deficiens", kurz einem Trito- nus, wird am Ende des T. 6 wieder die Grundtonart erreicht, kommt die Bewe- gung im Grundklang zur Ruhe, wobei der BaS die alte Tenorklausel mit dem absteigenden Ganztonschritt d-c benutzt.

In diesen wenigen Takten wird die affektive Charakteristik des Satzes mit Hilfe der bekannten Topoi unmigverstdindlich festgelegt. Zugleich wird deut- lich, dafR die Darstellung des "Affectus doloris", "die den H6rer erschiitternde Af- fektgewalt ... in einem festgespannten Rahmen" erfolgt. "Die 'unendlichen' Qualen der Seele", so beschreibt es Rolf Dammann, "... werden in der Musica pathetica 'begrenzt' und eingeordnet in ein rationales Gefiige"", hier eine sechs Takte umfassende c-moll-Kadenz.

Deutlich lassen sich die beiden Momente der Gestaltung, nimlich der

Gioseffo Zarlino, Istitutioni harmoniche (Venedig 1573), Terza Parte, Cap. 60, p. 126; vgl. R. DAMMANN, ibid., p. 280f. 17

R. DAMMANN, ibid., S. 364.

This content downloaded from 185.2.32.24 on Wed, 18 Jun 2014 14:32:08 PMAll use subject to JSTOR Terms and Conditions

Page 6: Musikalische Formbildung im Spannungsfeld nationaler Traditionen des 17. Jahrhunderts: Das "Lamento" aus Heinrich Ignaz Franz Bibers Rosenkranzsonate Nr. 6

Chr. Berger: Formbildung im Spannungsfeld nationaler Traditionen des 17. Jhs. 21

formbildende Rahmen der kadenzierenden Harmonik und die affektdarstellen- den musikalischen Figuren, voneinander abheben. Die bildhaften Darstellungen mit Hilfe der musikalischen Figuren arbeiten zunichst und in erster Linie mit den M6glichkeiten des Kontrapunktes. Im Vordergrund stehen dabei die "licentiae", die Dissonanzen, deren Gebrauch, wie es der Schiitz-Schiiler Chri- stoph Bernhard vorgefiihrt hat, durch den Riickbezug auf die zugrundeliegen- den Konsonanzen gerechtfertigt werden kann.

r C ' fC o .~4

I)

'A Ipi•op Fl Fl IJTI

A

us si est do- lor si mi - ls

A

si cst do - br si mi - us si -

Beispiel 2: Abbatini

Ein kurzer Blick auf eines der Paradigmata Athanasius Kirchers zum "Affec- tus doloris", ein sechsstimmiges Werk des r6mischen Komponisten Antonio Maria Abbatinil", soll das Verhiltnis dieser beiden Momente verdeutlichen. Die chromatische Folge d'-dis'-e', die im Altus zu den Worten "est dolor si(-milis)" erklingt, wird im Stimmverband zu einer "relatio non-harmonica" gesteigert: G- dur st6iSt unmittelbar auf H-dur. Hinzu kommt noch, dalR die Diskantklausel e- dis-e im Altus, die auf das e' des 2. Taktes zielt, von den anderen Stimmen nicht

eingel6st wird. Der Zielton e' wird nicht, wie zu erwarten ware, Grundton der zum H-dur-Klang geh6renden Tonika e-moll, sondern zur Quinte eines a-moll- Akkordes, der zudem durch das Pausieren der beiden Unterstimmen geradezu in der Luft hingen bleibt. Im Vordergrund stehen hier aber nicht die harmoni- schen Verhdiltnisse, sondern die kontrapunktisch gewagte Fiihrung der Einzel- stimme. Erst das Zusammenwirken der Einzelstimmen ergibt als Resultat eine in den harmonischen Raum projizierte Affektwirkung. Auch die Einfiihrung des Generalbasses bedeutete keineswegs, wie Hellmut Federhofer es aus- drfickte, "die Abdankung des Kontrapunkts". In einem aus freierer Ober- und

Vg R DAMMANN, ibid, S 33518 Vgl. R. DAMMANN, ibid., S. 335.

This content downloaded from 185.2.32.24 on Wed, 18 Jun 2014 14:32:08 PMAll use subject to JSTOR Terms and Conditions

Page 7: Musikalische Formbildung im Spannungsfeld nationaler Traditionen des 17. Jahrhunderts: Das "Lamento" aus Heinrich Ignaz Franz Bibers Rosenkranzsonate Nr. 6

22 Chr. Berger: Formbildung im Spannungsfeld nationaler Traditionen des 17. Jhs.

Fundamentstimme zusammengesetzten Aul~enstimmensatz regulierte der

Kontrapunkt nun nicht mehr allein die Intervallprogressionen, sondern auch die Akkordfolgenl9.

Eine Moglichkeit, die rhetorischen Figuren fiir die Formbildung nutzbar zu machen, greift zum ersten Mal Monteverdi in seinem Lamento della Ninfa20 aus dem 8. Madrigalbuch von 1638 auf. Hier kommt ein weiteres Darstellungsmit- tel des "Affectus doloris", nimlich die "Katabasis" zum Tragen, die h6rbar in einer Stimme absteigende Bewegung. Nach Kircher wird damit ein Gefiihl der Un-

terwilrfigkeit, der Verzagtheit oder Niedergeschlagenheit nachgebildet2l. Ein zweitaktiger absteigender Quartfall mit dem phrygischen Halbtonschritt f-e am Ende, der sogenannte Lamento-BalR, bestimmt den Verlauf des gesamten Stik- kes. Die anderen Stimmen ordnen sich v6llig diesem unabinderlichen rhythmi- schen und harmonischen Modell unter.

Ein weiteres, extremes Beispiel fiir den formbildenden Einsatz der Chroma- tik aus dem instrumentalen Bereich ist der Schlulsatz aus einer Sonata da ca- mera, op. 3 Nr. 16 von Giovanni Maria Bononcini aus dem Jahre 1669, ein Affe- tuoso22. In diesem Stick von einer harmonischen Entwicklung zu reden, wdire

v6llig irreftihrend. Die Augenstimmen durchlaufen chromatisch eine ganze Oktave, um dann im T. 6 von der dominantischen Sexte c+a' aus mit einer regu- liren Kadenz in der Grundtonart B-Dur, die als solche niemals in Frage gestellt wurde, den Abschnitt zu beschlielen.

Affetuoso

vi. I/Il

Alto Viola

Violone

Beispiel 3: Bononcini, Affetuoso T. 1-6

20 H. FEDERHOFER, Christoph Bernhards Figurenlehre und die Dissonanz, in: Mf 42 (1989), S. 118.

Monteverdi, 8. Madrigalbuch [Venedig 1638], ed. G. F. MALIPIERO = Tutte le opere Bd. 8, p. 288-293. 21

A. Kircher, a. a. O., p. B 145: "... ronunciamus seruitutis, humilitatis, depressionis affectibus... 22

Varii Fiori del Giardino Musicale overo Sonate da Camera..., Bologna 1669. Nach W. APEL, Die italienische Violinmusik im 17. Jahrhundert = BzAfMw 21 (Wiesbaden 1983), S. 152.

This content downloaded from 185.2.32.24 on Wed, 18 Jun 2014 14:32:08 PMAll use subject to JSTOR Terms and Conditions

Page 8: Musikalische Formbildung im Spannungsfeld nationaler Traditionen des 17. Jahrhunderts: Das "Lamento" aus Heinrich Ignaz Franz Bibers Rosenkranzsonate Nr. 6

Chr. Berger: Formbildung im Spannungsfeld nationaler Traditionen des 17. Jhs. 23

Auch am Beginn des Biberschen Lamento ist es zundichst die Fiihrung der beiden Einzelstimmen, die den Affekt charakterisiert. Die Topoi des "Affectus doloris", die fallenden "defizienten" Intervalle, erscheinen als melodische Mo- mente. Einzig das f" der Violine im T. 5, das im Sprung auf betonter Zeit den Tritonus zum H des Basses ansteuert, mag als harmonisches Ereignis angesehen werden, hat aber zugleich auch als Sequenz des Bal~motives eine melodische Bedeutung.

Beide Momente sind also aufs engste miteinander verkniipft. Die harmoni- sche Bewegung wird erst durch ein melodisches Moment, nimlich das auftak- tige Balmotiv im T. 4, in Gang gesetzt, und auch die Riickkehr zum Grundak- kord im T. 6 ist die Antwort auf einen Bewegungsimpuls, der seine melodische und rhythmische Dynamik den affektiv aufgeladenen Figuren verdankt.

Dieses Gleichgewicht der beiden Krdifte, und das ist der entscheidende Un- terschied zu den beiden Beispielen aus dem italienischen Bereich, wird im Fol- genden zugunsten der Harmonik verschoben. Die harmonische Entwicklung wird selbst zu einem Mittel der Affektdarstellung. Auf diese Weise wird die Affektcharakteristik fiber die einzelne Figur hinaus fuir den gesamten ProzeB der Formbildung selbst nutzbar gemacht.

Der T. 7 setzt wie der 2. Takt mit dem von oben her aufgeficherten c-moll- Akkord ein. Auf der zweiten Takthalfte schreitet der BalR zum f, wodurch das Eroffnungsmotto in eine harmonische Bewegung hineingenommen wird. Se- quenzartig setzt die Achtelbewegung nun ebenfalls eine Quarte h6her beim ho- hen c"'" an, um dann in Terzschritten abwdirts zum d " im T. 8 zu schreiten. Da- bei wird durch die Sechzehntelverzierung der "saltus duriusculus", der Tri- tonusschritt as"-d", der dieser Terzenreihe innewohnt, besonders hervorge- hoben. Dieser Tritonus wird aber auf der Eins des T. 8 ins Harmonische hinein- genommen und erhilt so eine weitreichendere Bedeutung. Dank seiner Strebe- kraft fiihrt er nimlich zu einer neuen Tonart, der Parallele Es-Dur auf der zweiten Hilfte dieses Taktes.

Beispiel 4: Biber, T. 7-8

Beispiel 4: Biber, T. 7-8

Dieser Obergang verwendet zwar wie schon die ersten 6 Takte die bekannten Klage-Figuren. Wichtiger ist hier aber der harmonische Vorgang: Mit dem Ab- stieg vom c"' zum d" wird die Subdominante f-moll der Grundtonart umgedeutet in einen dominantischen Klang der parallelen Durtonart Es-dur. Der vorgegebene Rahmen der Tonart c-moll, der die Ordnung der Musica pathetica garantiert hatte, wird damit iiberschritten.

Damit verweist Bibers Lamento aber auf eine andere Tradition, nimlich das

This content downloaded from 185.2.32.24 on Wed, 18 Jun 2014 14:32:08 PMAll use subject to JSTOR Terms and Conditions

Page 9: Musikalische Formbildung im Spannungsfeld nationaler Traditionen des 17. Jahrhunderts: Das "Lamento" aus Heinrich Ignaz Franz Bibers Rosenkranzsonate Nr. 6

24 Chr. Berger: Formbildung im Spannungsfeld nationaler Traditionen des 17. Jhs.

franz6sische Tombeau, das um die Mitte dieses 17. Jahrhunderts seine Bliutezeit erlebte23. So fern diese Gattung dem Schaffen Bibers zu sein scheint, so gibt es doch eine fast unmittelbare Verbindung zwischen den beiden Bereichen.

Im Jahre 1652 starb in Paris der franz6sische Musikliebhaber und Amateur- Lautenist Charles Fleury, sieur de Blanrocher. Er hat zwar kaum Kompositio- nen hinterlassen, muf3 aber doch bei seinen Zeitgenossen in hohem Ansehen

gestanden haben. Denn sein Unfalltod - er soll bei einem Treppen- oder Leiter- sturz ums Leben gekommen sein - hat die ffihrenden Komponisten seiner Zeit zur Komposition musikalischer Denkmriler, Tombeau genannt, veranlafBt. Das waren neben den Lautenisten Du Faut und Denis Gautier die Cembalisten Louis Couperin und Johann Jakob Froberger, der sich zu jener Zeit in Paris aufhielt und weithin beachtete Konzerte gab. Frobergers Tombeau fait a Paris sur la mort de Monsieur Blancheroche24 ist hier von besonderem Interesse, da er als er- ster versuchte, die Ausdrucks- und Gestaltungsm6glichkeiten der neuen Lau-

ten-Gattung Tombeau auf das Cembalo zu iibertragen. Insbesondere greift Froberger den "style brise" als ein dem Lautenstil eigenes Moment auf. Er

iibertrigt diesen Stil aber nicht bloBf auf ein anderes Instrument, sondern nutzt ihn als eine neue kompositorische M6glichkeit zur Darstellung des "Affectus doloris".

Auch dieses Stick steht in der Tonart c-moll, die in den ersten beiden Tak- ten iiber den Raum dreier Oktaven hinweg aufgespannt wird. Im lautentypi- schen "style brise" wird im 3. Takt uiber dem immer noch liegenden c der linken Hand die Dominante eingefiihrt, aber zunichst ohne die prigende Terz, den Ton h. Erst ganz zuletzt wird im Bafl das c, das durch die Weiterffihrung der Oberstimmen zum Quartvorhalt geworden ist, zur Terz H der Dominante auf-

gel6st. Diese Terz fuihrt aber nicht, wie zu erwarten ware, zuriick zum Grund- ton c der Tonika, sondern der BaBf springt eine Quinte abwirts zum E. Mit der

Verzierung im Auftakt wird es sogar ein Septsprung d-E, der nun allerdings nicht mehr die Tonika erwarten lai-t. Ober diesem E des 4. Taktes wird der

Septvorhalt d" der Oberstimme erst auf der 2, und zwar zum cis" aufgel6st, und es erklingt ein doppeldominantischer Septakkord der Tonart der Molldo- minante, g-moll, die schlietflich zu Beginn des nichsten Taktes 5 erreicht wird.

Sogleich kommt auch hier ein e hinzu, das diesen Akkord zum nichsten F-dur-

Klang "dominantisiert", der seinerseits durch den Absprung wieder um eine verminderte Quarte f-cis zuriick zum g-moll-Klang ffihrt. In einer phrygischen Wendung wird am Tiefpunkt der langen Katabasis in der Mitte des T. 6 ein halbschlutfartiger A-dur-Akkord erreicht.

Auch in diesem Abschnitt sind die bekannten rhetorischen Figuren zu fin- den, wie sie in einer Klagekomposition zu erwarten sind25. Aber diese chromati-

23 Zur Geschichte des Tombeau vgl. CHARLES VAN DEN BORREN, Esquisse d'une histoire des 'Tombeaux' musicaux, in:

Festschrift E. Schenk, StMw 25 (1962), p. 56-67; neuerdings auch die Studie von PH. VENDRIX, Zum Lamento aus J. S. Bachs Capriccio BWV 992 und seinen Vorliufern, in: BJ 75 (1989), S. 197-201.

24 Hrsg. von G. ADLER in: DTO 21 (Wien 1903) S. 114f. 25

Vgl. etwa das unerwartete Abspringen des Basses und den verminderten Quartsprung f'-cis' im T. 4 der Oberstimme, der zudem in die iiberm•jiige Quarte g+cis' fiihrt.

This content downloaded from 185.2.32.24 on Wed, 18 Jun 2014 14:32:08 PMAll use subject to JSTOR Terms and Conditions

Page 10: Musikalische Formbildung im Spannungsfeld nationaler Traditionen des 17. Jahrhunderts: Das "Lamento" aus Heinrich Ignaz Franz Bibers Rosenkranzsonate Nr. 6

Chr. Berger: Formbildung im Spannungsfeld nationaler Traditionen des 17. Jhs. 25

schen Wendungen und Gesten sind eingebunden in einen iibergeordneten Rahmen, der nun nicht, wie Rolf Dammann es fiir die "Musica pathetica" ge- schildert hatte, festgespannt ist, sondern im Gegenteil den Raum freigibt ftir unvorhersehbare Entwicklungen im harmonischen Bereich. Der H6rer wird dadurch zwar einer Sttitze beraubt, aus dieser Freiheit entsteht aber ein Ein- druck, den Clemens Goldberg in bezeichnender Unschirfe als "Meditations- raum" bezeichnet hat26.

Nur zwei Jahre spiter, also 1654, veranlafte der Tod eines anderen beriihm- ten Mannes, naimlich des noch nicht 21 Jahre alten K6nigs Ferdinand IV., be- deutende Komponisten Wiens zu Gedenkkompositionen. Neben Froberger, der seit seiner Riickkehr aus Paris im Jahre 1753 in Wien die Stelle des Hoforgani- sten bekleidete, ist es diesmal der Geiger der kaiserlichen Hofkapelle und spi- tere Hofkapellmeister Johann Heinrich Schmelzer.

Adagio

Beispiel 5: Schmelzer, Lamento sopra la morte Ferdinandi III a tre, T. 1-6

Schmelzer ftihrt mit seinem Lamento sopra la morte Ferdinandi III a tre27 einen weiteren Schritt weg von der Stilisierung der Lautentechnik, indem er die kompositorischen M6glichkeiten des Tombeau auf das klanglich v6llig anders geartete Streicherensemble iibertrigt. Dieses Lamento setzt mit einem H-dur- Akkord ein. Der Klangraum dieses Akkordes wird von der ersten Violine in hochst pathetischer Weise iiber dem liegenden Klang der anderen Stimmen vorgestellt. Dabei kommen auch die bekannten rhetorischen Klageelemente zum Einsatz, wie die abspringende dissonante Nebennote g, die gegen das fis der zweiten Violine gesetzt wird, und der Tritonus, mit dem von dieser Neben- note g aus die Terz dis' des H-dur-Akkordes erreicht wird. Betrachtet man al- lein die erste Violinstimme, scheint sich dieser erste Abschnitt bis zum T. 6 in der Tonart e-moll zu bewegen.

Der chromatische Gang der Viola im T. 3 vom dis' zum d' bricht aber die

26

C. GOLDBERG, Stilisierung als kunstvermittlender ProzefJ. Die franzdsischen Tombeau-Stiicke im 17. Jahrhundert = Neue Heidelberger Studien zur Musikwissenschaft 14 (Laaber 1987), S. 235.

Hrsg von E. SCHENK in: DTO 105 (Graz 1963), S. 104-110.

This content downloaded from 185.2.32.24 on Wed, 18 Jun 2014 14:32:08 PMAll use subject to JSTOR Terms and Conditions

Page 11: Musikalische Formbildung im Spannungsfeld nationaler Traditionen des 17. Jahrhunderts: Das "Lamento" aus Heinrich Ignaz Franz Bibers Rosenkranzsonate Nr. 6

26 Chr. Berger: Formbildung im Spannungsfeld nationaler Traditionen des 17. Jhs.

Beziehung zum einleitenden H-dur ab und ftihrt hiniiber in den G-dur-Bereich.

Gleichzeitig setzt die zweite Violine eine Achtelbewegung in Gang, die deutlich auf das g' im T. 4 zielt. Unter diesen harmonischen Voraussetzungen erhilt das c" im T. 4 der ersten Violine eine neue Bedeutung. Es ist jetzt wie im T. 3 der Viola Grundton der Subdominante C-dur der neuen Tonart G-dur. Durch den

Gang des Basses zum Fis wird dieser Ton dann auch in eine dominantische

Septime umgedeutet. Normalerweise sollte das c" der 1. Violine nun zur Terz h' der neuen Tonika fuihren. Aber im Moment der kadenzierenden Absicherung dieser Tonart wechselt die zweite Violine aufwdirts zum e' und ffihrt mit dieser

trugschliissigen Wendung zur eigentlichen Grundtonart e-moll weiter, die nun durch die folgende Kadenz bestatigt wird. Aber auch hier wird letzte Klarheit um den tonalen Zusammenhang vermieden, schlief3t doch der Abschnitt mit der Dur-Variante der erwarteten Tonart.

Anders als im eingangs angeffihrten Beispiel aus Kirchers Musurgia univer- salis spielt hier das kontrapunktische Geffige der Einzelstimmen eine unterge- ordnete Rolle gegeniiber dem harmonischen Gesamteindruck. Nicht die chro- matische Linie der Viola ist in erster Linie ffir den Lamento-Charakter dieses Stiickes verantwortlich, sondern das harmonische Resultat, die Verunsicherung des H6rers fiber den Zusammenhang, die zugleich seine Aufmerksamkeit fir den weiteren Verlauf erh6ht.

In ahnlicher Weise wird auch der ndichste Abschnitt in Bibers Lamento vom unwillkiirlichen Wechsel der beiden Tonarten c-moll und Es-dur geprdigt. Nach dem ersten Wechsel im T. 8 wird die neue Tonart Es-dur in einer grotfen Ka- denzbewegung ausgeschritten, die fiber die Subdominante As-dur im T. 10 bis zur Dominante B-dur im T. 12 reicht. Eigentlich wire an dieser Stelle die neue Tonika Es-dur zu erwarten. Die Bewegung wird aber vor dem Eintreten der Tonika mit einem chromatischen Schritt b'-h' nach c-moll zuriickgelenkt, um genauso unmittelbar im T. 14/15 vom HalbschluBf auf G-dur, der Dominante der Ausgangstonart c-moll, zur Dominante von Es-dur, nimlich nach B-dur

zurtickzufiihren.

3 4 3 3 4

12

Adagio

3 6 6 I

• ,Oo

L

Beispiel 6: Biber, Lamento T. 9-14

This content downloaded from 185.2.32.24 on Wed, 18 Jun 2014 14:32:08 PMAll use subject to JSTOR Terms and Conditions

Page 12: Musikalische Formbildung im Spannungsfeld nationaler Traditionen des 17. Jahrhunderts: Das "Lamento" aus Heinrich Ignaz Franz Bibers Rosenkranzsonate Nr. 6

Chr. Berger: Formbildung im Spannungsfeld nationaler Traditionen des 17. Jhs. 27

Erst der f-moll-Akkord am Ende des T. 15, der wiederum beiden Tonartbe- reichen zugeh6rt (Es-dur: Sp6 / c-moll: S6), ffihrt zurtick zur Ausgangstonart c- moll, in der dieser erste Abschnitt im T. 21 zu Ende geht.

65

18 b

4 6 6 6 5

Beipiel 7: Biber, Lamento T. 15-215

Beispiel 7: Biber, Lamento T. 15-21

Auch in diesem Abschnitt tauchen immer wieder die typischen Momente des Lamento-Affektes auf, wie vereinzelte chromatische Wendungen, Tritonus- Spannungen und Sextakkorde. All diese Figuren treten aber zuriick gegeniiber der harmonischen Offnung, die den H6rer immer wieder in einen neuen Be- reich fiihrt, ihn in Unsicherheit lafit, wo er beim H6ren eigentlich Halt finden soll. Damit kommt der Harmonik eine Rolle zu, die bisher nur der Kontrapunkt mit seinen Lizenzen im Rahmen einer festgeffigten harmonischen Ordnung spielen konnte. Die harmonische Bewegung 16st sich von den kontrapunktischen Vorgaben, die sie bisher nur einkleidete, und findet zu eigenen Ausdrucks- und Gestaltungsm6glichkeiten. Zugleich ergeben sich aus diesem Wechsel wieder Korrespondenzen zwischen den einzelnen Abschnitten, die den allmahlich voranschreitenden Formaufbau verdeutlichen.

Der unvermittelte Wechsel der beiden harmonischen Bereiche praigt aber nicht nur das Eingangs-Lamento dieser suitenartig angelegten Sonate, sondern reicht in seiner Wirkung in alle weiteren Sitze hinein. Das m6chte ich kurz am Beispiel der letzten beiden Abschnitte zeigen, einem Gigue-artigen Satz (T. 92 f.), dem abschlieBend im T. 99 eine knappe, taktweise wiederholte Akkordfolge folgt. Wihrend die Gigue noch einmal den Wechsel fiber die gemeinsame Sub- dominantform der beiden Tonarten, das f-moll des T. 94, vollzieht, wird er im letzten Stiick auf doppelte Weise vermittelt und somit aufgehoben: Die zweite Akkordfolge im T. 101/102 stellt die beiden dominantischen Verbindungen G- dur/c-moll und B-dur/Es-dur nebeneinander, waihrend die nichste Gruppe im T. 102/103 die Paralleltonart Es-dur fiber die gemeinsamen Subdominanten As- dur/f-moll in den c-moll-Bereich zuriickftihrt, der nun nicht mehr verlassen oder in Frage gestellt wird. Damit ist noch einmal das formbildende komposi-

This content downloaded from 185.2.32.24 on Wed, 18 Jun 2014 14:32:08 PMAll use subject to JSTOR Terms and Conditions

Page 13: Musikalische Formbildung im Spannungsfeld nationaler Traditionen des 17. Jahrhunderts: Das "Lamento" aus Heinrich Ignaz Franz Bibers Rosenkranzsonate Nr. 6

28 Chr. Berger: Formbildung im Spannungsfeld nationaler Traditionen des 17. Jhs.

torische Moment dieser Sonate, der Wechsel zweier harmonischer Bereiche,

vorgefiihrt und mit der Integration in die Kadenzfigur zugleich einer Aufl6- sung zugefiihrt worden.

92 A I -ai hrK" -

Adagio

96 - b7

I 6

102

;., f I"p J !

96

wf 10

u I [) " I Ij

SU

pBaintfo To.93- do L

I ik

k X 6 4W i - -

--Am q?a u w ,I ," is j44 . A

I rV, I

lJ F V1•F ,I II

q!. 6 Iff B

" h ; o

8: ..... o

a en to,,.

93-111

Der SchluBf des Stiickes mit seiner verhaltenen c-moll-Kadenz verdeutlicht gerade in seiner zuriickhaltenden Weise sehr eindringlich, wie wenig hier mit programmatischen Interpretationsansitzen auszurichten ist. Nach diesem Schluf9 wird es schwer fallen, den Wechsel der beiden Tonarten c-moll und Es- dur in naiver Weise als Abbild einer verheitgungsvollen Affektaufhellung zu deuten.

This content downloaded from 185.2.32.24 on Wed, 18 Jun 2014 14:32:08 PMAll use subject to JSTOR Terms and Conditions

Page 14: Musikalische Formbildung im Spannungsfeld nationaler Traditionen des 17. Jahrhunderts: Das "Lamento" aus Heinrich Ignaz Franz Bibers Rosenkranzsonate Nr. 6

Chr. Berger: Formbildung im Spannungsfeld nationaler Traditionen des 17. Jhs. 29

Im Vergleich mit den franz6sischen Vorbildern, den Tombeau-Stiicken, aber auch mit den italienischen Lamento-Beispielen fallt auf, daBf Biber auf die rhe- torische Figur der Katabasis, der horbar in einer Stimme absteigenden Linie, vallig verzichtet. Fiir eine Katabasis, die bei Monteverdi so unmittelbar die "dramatische Unaufhaltsamkeit und tragische Zwangslaufigkeit des Gesche- hens"28 nahebrachte, ist in Bibers Stiick, das in den Rahmen einer geistlicher Andacht gehorte, offenbar kein Platz. Andererseits ist es auch kein Wider- spruch, da.t diese mit durchaus barockem Pathos vorgetragene Trauer in den Rahmen eines Suitensatzes gestellt wird, allerdings in einen Suitensatz, der im

h6chsten Mafe stilisiert erscheint. Weder die Oberfliche einer scheinbar programmatischen Abbildhaftigkeit

noch der aiutere Rahmen eines vorgegebenen formalen Bezugssystems, sondern erst diese Stilisierung pragt die Struktur der Komposition. Sie greift auf uner- wartete Weise bekannte, vorgegebene Modelle und Verfahrensweisen aus den unterschiedlichsten Bereichen auf29 und stellt sie so in neue Zusammenhange. Auf diese Weise laM.t sich das Kunstwerk auf seine eigenen, vielfiltigen Gestal-

tungsm6glichkeiten zurtickfuihren. Aufgabe der Analyse ist es, diesen Prozes- sen, oder, um es mit Adorno zu sagen, der Losung jenes unl6sbaren Ratsels nachzusptiren, die jedes authentische Werk selbst vorschlaigt3o, bevor sie sich resignierend auf die Suche nach einer von augten her bestimmten Sinnhaftigkeit einldi.t.

28

R. DAMMANN, ibid., S. 362.

In diesem Zusammenhang sei auch an das Schaffen Georg Muffats erinnert, der, so H. FEDERHOFER (Art. Muffat, Georg, in: MGG Bd. 9, Kassel 1961, Sp. 919), "nach J. J. Froberger am stirksten die Synthese zwischen dem frz., deutschen und ital. Stil f6rderte". Von einem Einfluif auf Biber kann aber keine Rede sein, da Muffat erst seit 1678 in Salzburg angestellt war.

TH. W. ADORNO, Asthetische Theorie, ed. G. ADORNO u. R. TIEDEMANN = Suhrkamp Taschenbiicher Wissenschaft 2 (Frankfurt 1970), S. 192.

This content downloaded from 185.2.32.24 on Wed, 18 Jun 2014 14:32:08 PMAll use subject to JSTOR Terms and Conditions