neue prioritäten

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W Der Dienstwagen ist weit abge- schlagen – viel mehr Wert legen Jungakademiker heutzutage darauf, dass ihr Arbeitgeber sie bei der Kin- derbetreuung unterstützt. Die Ver- einbarkeit von Berufs- und Privatle- ben ist allgemein eines der wichtigs- ten Auswahlkriterien bei der Ar- beitsplatzwahl. Das hat eine Umfra- ge unter 600 Studierenden und Ab- solventen der Chemie und Pharma- zie ergeben. Es fragte das Zentrum für Sozialforschung Halle im Auf- trag des Verbands angestellter Aka- demiker und leitender Angestellter der chemischen Industrie (VAA). 1) Während bei 50 bis 60 Prozent der Befragten betriebliche Kinder- betreuung und Altersvorsorge die Arbeitsplatzwahl beeinflussen, wirkt ein hohes Einkommen nur auf 22 bis 30 Prozent der Befrag- ten. Mit Abstand folgen der Standort und das Image des Un- ternehmens. Der VAA bezeichnet das Ergebnis als „überraschend“, immerhin setzte die ältere Arbeit- nehmergeneration ganz andere Prioritäten. „Die Nachwuchsfüh- rungskräfte wollen Beruf, Familie und Karriere“, sagt der VAA-Vor- sitzende Thomas Fischer. „Fir- men, die diesen Wertewandel er- kennen und eine familienfreund- liche Strategie fahren, sind ein- deutig im Vorteil.“ Neues kommt, Altes geht W Das Schlagwort lautet Work- Life-Balance, also das Gleichge- wicht zwischen Arbeits- und Privat- leben. Einige Chemieunternehmen haben diesen Trend erkannt und versuchen, ihm entgegenzukom- men. „Früher gab es Arbeitszeitrah- men, in der Anwesenheit Pflicht war“, sagt Georg Müller, Personal- leiter Deutschland bei Bayer. „Heute setzen wir auf flexible Arbeitszeit- modelle. Zudem können Mitarbei- ter bestimmte Aufgaben auch von zu Hause aus erledigen.“ Auf Lang- zeitkonten sammeln Mitarbeiter Ur- laubstage oder Überstunden, um dann kurz vor der Rente kürzer zu treten. Anderes hat Bayer inzwi- schen als unzeitgemäß abgeschafft: „Kaufhäuser, Werksbüchereien oder Schwimmbäder sind heute nicht mehr notwendig“, sagt Müller. Stattdessen kooperiert der Konzern beispielsweise mit Fitnesscentern in der Umgebung seiner Standorte. Die BASF baut ein neues Zentrum für Work-Life-Management in Lud- wigshafen und will damit die Zahl seiner Kinderbetreuungsplätze von 70 auf 250 aufstocken. Der 5500 Quadratmeter große Gebäudekom- plex soll außerdem ein Fitness- und Gesundheitszentrum beherbergen sowie eine Physiotherapiepraxis. „Um die besten Mitarbeiter zu gewin- nen, muss ein Unternehmen heute hervorragende Arbeitsbedingungen bieten“, begründet Margret Suckale, Vorstandsmitglied der BASF, den Bau. Brigitte Osterath Wer junge, talentierte Chemiker an sein Unternehmen binden will, schafft das heutzutage nicht mit Geld allein: Angestellte wollen ihr Privatleben nicht mehr dem Beruf unterordnen. Unternehmen reagieren auf diesen Wertewandel – einige zumindest. Neue Prioritäten BBildung und KarriereV Das neue Zentrum für Work-Life-Management der BASF in Ludwigshafen; es soll unter anderem mehr Kinder- betreuungsplätze und ein Fitnesszentrum beherbergen. (Foto: BASF) Nachrichten aus der Chemie| 60 | Oktober 2012 | www.gdch.de/nachrichten 1056

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W Der Dienstwagen ist weit abge-schlagen – viel mehr Wert legen Jungakademiker heutzutage darauf, dass ihr Arbeitgeber sie bei der Kin-derbetreuung unterstützt. Die Ver-einbarkeit von Berufs- und Privatle-ben ist allgemein eines der wichtigs-ten Auswahlkriterien bei der Ar-beitsplatzwahl. Das hat eine Umfra-ge unter 600 Studierenden und Ab-solventen der Chemie und Pharma-zie ergeben. Es fragte das Zentrum für Sozialforschung Halle im Auf-trag des Verbands angestellter Aka-demiker und leitender Angestellter der chemischen Industrie (VAA).1)

Während bei 50 bis 60 Prozent der Befragten betriebliche Kinder-

betreuung und Altersvorsorge die Arbeitsplatzwahl beeinflussen, wirkt ein hohes Einkommen nur auf 22 bis 30 Prozent der Befrag-ten. Mit Abstand folgen der Standort und das Image des Un-ternehmens. Der VAA bezeichnet das Ergebnis als „überraschend“, immerhin setzte die ältere Arbeit-nehmergeneration ganz andere Prioritäten. „Die Nachwuchsfüh-rungskräfte wollen Beruf, Familie und Karriere“, sagt der VAA-Vor-sitzende Thomas Fischer. „Fir-men, die diesen Wertewandel er-kennen und eine familienfreund-liche Strategie fahren, sind ein-deutig im Vorteil.“

Neues kommt, Altes geht

W Das Schlagwort lautet Work-Life-Balance, also das Gleichge-wicht zwischen Arbeits- und Privat-leben. Einige Chemieunternehmen haben diesen Trend erkannt und versuchen, ihm entgegenzukom-men. „Früher gab es Arbeitszeitrah-men, in der Anwesenheit Pflicht war“, sagt Georg Müller, Personal-leiter Deutschland bei Bayer. „Heute setzen wir auf flexible Arbeitszeit-modelle. Zudem können Mitarbei-ter bestimmte Aufgaben auch von zu Hause aus erledigen.“ Auf Lang-zeitkonten sammeln Mitarbeiter Ur-laubstage oder Überstunden, um dann kurz vor der Rente kürzer zu treten. Anderes hat Bayer inzwi-schen als unzeitgemäß abgeschafft: „Kaufhäuser, Werksbüchereien oder Schwimmbäder sind heute nicht mehr notwendig“, sagt Müller. Stattdessen kooperiert der Konzern beispielsweise mit Fitnesscentern in der Umgebung seiner Standorte.

Die BASF baut ein neues Zentrum für Work-Life-Management in Lud-wigshafen und will damit die Zahl seiner Kinderbetreuungsplätze von 70 auf 250 aufstocken. Der 5500 Quadratmeter große Gebäudekom-plex soll außerdem ein Fitness- und Gesundheitszentrum beherbergen sowie eine Physiotherapiepraxis. „Um die besten Mitarbeiter zu gewin-nen, muss ein Unternehmen heute hervorragende Arbeitsbedingungen bieten“, begründet Margret Suckale, Vorstandsmitglied der BASF, den Bau.

Brigitte Osterath

Wer junge, talentierte Chemiker an sein Unternehmen binden will, schafft das heutzutage nicht mit

Geld allein: Angestellte wollen ihr Privatleben nicht mehr dem Beruf unterordnen. Unternehmen

reagieren auf diesen Wertewandel – einige zumindest.

Neue Prioritäten

BBildung und KarriereV

Das neue Zentrum für Work- Life-Management der BASF in Ludwigshafen; es soll unter anderem mehr Kinder -

betreuungsplätze und ein Fitnesszentrum beherbergen. (Foto: BASF)

Nachrichten aus der Chemie| 60 | Oktober 2012 | www.gdch.de/nachrichten

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Sasol Germany in Brunsbüttel hat ein Kinderbetreuungstelefon eingerichtet, das Mitarbeiter in Notfällen anrufen können. Einer von fünf Freiwilligen springt dann als Notfall-Babysitter ein.

In den Mittelpunkt ist deutsch-landweit auch die Pflege von Ange-hörigen gerückt. Unternehmen hel-fen inzwischen bei der Suche nach Betreuungskräften und haben Pfle-gezeitmodelle eingerichtet. Grund-lage ist das Familienpflegezeit-Ge-setz der Bundesregierung, das im Ja-nuar in Kraft trat. Es soll Arbeitneh-mern ermöglichen, zwei Jahre Pflege und Beruf zu verbinden. Bei Lanxess beispielsweise bezieht der Arbeit-nehmer fünf Jahre lang 80 Prozent seines Gehalts; er arbeitet in den ers-ten zwei Jahren nur 50 Prozent, die restlichen drei Jahre wieder 100 Pro-zent. Bei solchen Modellen drängt sich allerdings die Frage auf, ob zwei Jahre Pflegezeit wirklich ausreichen. Im Durchschnitt werden nach Anga-ben des Bundesarbeitgeberverbands Chemie Pflegebedürftige zwischen acht und zehn Jahre lang gepflegt.

Engagement gefragt

W Großen Konzernen fällt es leich-ter, Mitarbeitern Angebote zur Work-Life-Balance zu machen. Aber auch kleine und mittlere Unterneh-men bewirken etwas. So hat die et-wa 520 Mitarbeiter starke Büfa Che-mikalien in Oldenburg mehrere Bü-roräume zu einer Kindertagespflege-einrichtung umgestaltet. „Die Be-treuungszeiten sind auf die Arbeits-zeiten der Beschäftigten ausgerich-tet“, sagt Frauke Kayser, die Büfa-Familienkoordinatorin, „aber wir sind flexibel und können die Öff-nungszeiten je nach Bedarf auswei-ten. Vor allem können wir auch auf ganz unterschiedliche Wünsche ein-gehen, zum Beispiel wenn jemand sein Kind nur ein- oder zweimal die Woche betreuen lassen will.“

Das mittelständische Unterneh-men Ewald Dörken, Produzent von Bauverbundfolien und Lacken in Herdecke, ist an die Stadt herange-treten, um die Öffnungszeiten der öffentlichen Kitas an die Arbeits-

zeiten anzupassen und die ganztä-gige Betreuung auch auf die Ferien-zeiten auszuweiten. Peter Altmaier, stellvertretender Betriebsratsvorsit-zender bei Dörken, sagt: „Oft geht es ja gar nicht darum, dass es nicht genug Plätze in Kitas gibt, sondern dass die Öffnungszeiten geändert werden müssen.“

Sich zusammentun

W An Chemiestandorten sind in den letzten Jahren Servicebüros entstanden, die kostenlos Dienst-leistungen für Mitarbeiter anbie-ten. Gerade Städte im Osten Deutschlands wollen so für Fach-kräfte attraktiver werden. Das Ser-vicebüro in Leuna vermittelt bei-spielsweise Ansprechpartner und bietet Informationen zu Schwan-gerschaft, Wohnungssuche und der Pflege von Angehörigen. Infraleu-na, Eigentümerin der Infrastruk-tureinrichtungen am Standort, be-treibt das Büro; Unternehmen be-teiligen sich an der Finanzierung.

Auch in Bitterfeld-Wolfen gibt es inzwischen eine solche Einrichtung. Am häufigsten kommen Anfragen zur Kinderbetreuung und zur Woh-nungssuche, sagt Heike Heldt, die im Servicebüro tätig ist. Die Idee, Angebote für alle Mitarbeiter am Standort in einer Anlaufstelle zu bündeln, sei entstanden, weil Ange-stellte sich heutzutage eine breite Palette an Angeboten wünschten, sagt sie. „Das kann sich ein Unter-nehmen alleine nicht leisten. Die müssen sich zusammentun.“

Keine Selbstverständlichkeit

W In der Mehrzahl der Chemieun-ternehmen scheint der Trend von der Vereinbarkeit von Familie und Beruf noch nicht angekommen zu sein. Nicht mal jedes dritte Unter-nehmen macht seinen Mitarbeitern hierzu Angebote, ergab eine Um-frage unter 300 Mitgliedsunterneh-men des Arbeitgeberverbands Hes-senchemie, welche die Manage-mentberatung Kienbaum Consul-tants kürzlich durchgeführt hat.2) Unter den Befragten waren vor al-

lem kleine und mittlere Unterneh-men. Betriebliche Altersvorsorge und eine Dienstwagenregelung gibt es nach dem Umfrageergebnis hin-gegen in fast allen Unternehmen.

Das Servicebüro in Bitterfeld-Wolfen sucht dringend finanzielle Mittel, um weiterarbeiten zu kön-nen. Bisher stützt es sich zu 100 Prozent auf Mittel vom Bund, die aber Ende des Jahres auslaufen. Geld von den Unternehmen am Standort ist bisher nicht in Aus-sicht, obwohl Heike Heldt viel „Klinken putzen war“.

Als Heldt das Servicebüro bei den Unternehmen vorstellte, stieß sie zu ihrer Überraschung in mehreren Fällen auf Ablehnung: „Der Be-triebsrat war dafür, aber die Unter-nehmensleitung sagte nein – da sie Probleme im Unternehmen lieber selbst lösen wollte.“ Oft öffneten nur diejenigen Unternehmen ihre Tü-ren, die bereits selbst entsprechende Angebote eingerichtet hatten.

Vieles bleibt im Verborgenen

W Auch wenn es Angebote zur Work-Life-Balance gibt, heißt das nicht, dass jeder Mitarbeiter sie nutzt: „Viele haben Angst, sie in An-spruch zu nehmen“, sagt Heldt. „Zwar suchen die Leute den Kontakt, aber sie sind zurückhaltend, persön-lich vorzusprechen. Am Telefon wol-len manche nicht mal ihren Namen nennen.“ Sie habe die Erfahrung ge-macht, dass Mitarbeiter vor allem die Pflege von Angehörigen vor ihrem Arbeitgeber geheim halten. Mögli-cherweise befürchten sie Nachteile, weil sie den Ansprüchen des Arbeit-gebers nicht mehr genügen.

Die promovierte Chemikerin Brigitte Osterath

ist Wissenschaftsjournalistin in Bonn.

www.writingscience.de

Literatur

1) Christina Buchwald, Bettina Wiener: Em-

ployee Branding als neue Personalstra-

tegie – Familienfreundlichkeit als stra-

tegischer Vorteil. Nomos, Baden-Baden,

2012, ISBN 978–3–8329–7497–8.

2) Betriebliche Zusatzleistungen. Trends in

der chemischen Industrie, Kienbaum

Management Consultants, 2012.

Nachrichten aus der Chemie| 60 | Oktober 2012 | www.gdch.de/nachrichten

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