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    European Journal of Sociologyhttp://journals.cambridge.org/EUR

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    Soziale Normen

    Heinrich Popitz

    European Journal of Sociology / Volume 42 / Issue 01 / May 2001, pp 7 - 20DOI: 10.1017/S0003975600008158, Published online: 15 January 2010

    Link to this article: http://journals.cambridge.org/abstract_S0003975600008158

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    Heinrich Popitz (2001). Soziale Normen. European Journal of Sociology, 42,pp 7-20 doi:10.1017/S0003975600008158

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    H E I N R I C H P O P I T Z

    Soziale Normen

    D i E Norm gebu nden heit des sozialen V erhalten s ist eine einfache,ja triviale Alltagserfahrung : wir geraten standig an Kreuzungen,die mit griinen und roten Signalen versehen sind, in sozialeSituationen, die offenbar bereits von anderen entdeckt, fixiert,vorgeformt sind. Es steht uns nicht frei, diese Vorgeformtheit,diese Besetzung von Situationen'mit positiv und negativ bewer-teten Alternativlosungen ohne weiteres zu ignorieren. Wenn wiruns um die griinen und roten Lichter nicht scheren, wird unserVerhalten dennoch von anderen als eine Antwort auf diese Signaleinte rpretie rt, - auc h wenn es gar nic ht in unsere r Absicht lag,uns eine Frage stellen zu lassen. So konnen wir in einer erstenAn naherun g sagen : die Norm gebundenh eit sozialen Verhaltensbedeutet, daB soziale Situationen mit bestimmten Alternativenbelastet sind, die auf irgendwelchen Verabredungen zu beruhensch ein en; V erabred unge n, von denen m an nich t recht weiB, Wersie eigentlich getroffen hat; Verabredungen, die wir nicht aus derWelt schaffen, wenn wir sie von Fall zu Fall nicht akzeptieren.Sie sind irgendwie so auf D auerhaftigkeit angelegt, daB sie vomEinzelnen nicht beliebig auBer Kraft gesetzt werden konnen.

    Dieses eigenartige Phanomen ist das Thema der folgendenOberlegungen. Ich mochte Ihnen einiges vom Ansatz des sozio-logischen Denkens und von den Grundbegriffen der soziologischenForschung zu zeigen versuchen, indem ich nach Kennzeichen dersozialen Normgebundenheit frage, die in alien uns bekannten Kul-turen aufweisbar sind und daher die Analyse der verschiedenstensozialen Ordnungen zu leiten vermogen *. Ich lege hi en ni t m eine Antrittsvorlesung an der Universitat Basel, gehaltenam 15. November i960 , in unveranderter F orm vor. Sie setzt, dem AnlaB entspre-chend, keine soziologischen Vorkenntnisse voraus. Mein Ziel war es, wie im Textformu liert, ranter dem Vielen, was uns im sozialen Leben selbstverstan d'icherscheint, einige derjenigen Selbstverstandlichkeiten darzustellen, die es wirklichsind*. Die hinzugefiigten Anmerkungen geben einige weiterfiihrende Hinweise.

    Arclm. sump, social., II (1961), 185-198.

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    HEINRICH POPITZ

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    DaB Menschen ihr Verhalten sozial binden, sozial verbindlichmachen, ist eine hochst merkwiirdige Leistung. Wie bringen wirdiese Leistung eigentlich zustande?Eine erste Antwort fuhrt uns nicht sehr weit, ist aber Voraus-setzung jeder weiteren sinnvollen Eingrenzung der Fragestellung.Wir miissen uns darauf besinnen, dafi die Art und Weise der Ge-sta ltu ng , de r Fo rm un g des sozialen Lebens dem M enschen ebensowenig vorgegeben ist wie die Art und Weise der Naturgestaltung.Vergesellschaftung ist stets ein Artificium.Selbstverstandlich sind viele soziale Verhaltensgebote undVerbote eng mit biologischen Bedingtheiten verkniipft, wie demUnterschied der Geschlechter, Geburt, Kindheit, Altern und Tod.Aber der Kulturvergleich zeigt uns, daB auch diese biologischenBedingtheiten in den einzelnen Kulturen vollig verschiedenartigsozial iiberformt werden. So werden z.B. in jeder Kultur in einigentypischen, haufig w iederkehrenden Situationen verschiedenartigeVerhaltensgebote an Manner und an Frauen gestellt. Der Unter-schied der Geschlechter kommt also auch in der Formulierung vonSozialnormen irgendwie zum Ausdruck. Vergleicht man jedoch dieetwa den Frauen zugeschriebenen Sozialnormen in den uns bekann-ten Kulturen miteinander, so erweist es sich als auBerst schwierig,universal giiltige Gemeinsamkeiten, wesenseigene Verhaltenskon-stanten zu finden. Der biologische Unterschied der Geschlechter istim H inblick auf das jeweils gebotene V erhalten offensichtlich nich tmehr als ein Startpunkt, ein Ansatzpunkt, von dem aus sich injeder Kultur eine besondere Reihe von Wesensunterschiedenentwickelt. Jede dieser kulturspezifischen Varianten erscheint uns,von auBen her gesehen, als mehr oder minder willkiirlich oderbesser : als kiinstlich.

    Ebenso zeigt das Verhaltnis zu Geburt, Altern und Tod einenahezu uferlose Variabilitat. In den Haltungen zu so vitalen Pro-blemen wie Selbstmord, Krieg, dem Verhaltnis zu VerstorbenenlaBt sich soweit ich sehe kein allgemein-menschlicher Fundusfinden, der in alien K ultu ren in sozial gebotenen Verhaltensweisenzum Ausdruck kame. Der Verkehr mit den Verstorbenen kann furdie gesamte soziale Ordnung konstitutiv sein; an den Tod konnensich Verpflichtungen kniipfen, die das ganze Leben formen wirkonnen ihn aber auch sozial zu ignorieren versuchen.

    Eine universal giiltige Norm scheint am ehesten das Inzest-8

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    S O Z I A L E N O RM E N

    Tabu zu sein. Aber auch das Inzest-Tabu ist nicht nur ubertretbar(sonst ware es ein Naturgesetz, keine Norm), sondern auch alsnormative Verhaltensforderung suspendierbar (i) .Statt vieler weiterer Beispiele sei daran erinnert, wie alt undehrwiirdig die Einsicht in die Relativitat der sozialen Verhaltens-gebote ist. Herodot erzahlt folgende Anekdote : Darius beriefwahrend seiner Herrschaft die anwesenden Hellenen zu sich undstellte an sie die Frage : um welchen Preis sie ihre gestorbenenVater wiirden aufessen wollen. Sie erklarten, um keinen Preistaten sie dies. Darauf berief Darius die Inder, welche Kalatiergena nnt werden un d ihre Elte rn verzehren (der sog. En dok annib a-lismus), und fragte sie in Gegenwart der Hellenen, welche durcheinen Dolmetscher alles, was gesprochen wurde, vernahmen : umwelchen Preis sie es wohl iiber sich bringen wiirden, ihre gestor-benen Vater (nach hellenischer Sitte) im Feuer zu verbrennen. Daschrien sie laut auf und baten ihn, doch nicht mit solchen Dingenzu kommen. Herodot schlieBt mit der Bemerkung : So ist es nuneinmal Sitte, und Pindar scheint mir recht zu haben, wenn erin einem seiner Gedichte behauptet : die Sitte sei Konig iiberalles (2).Warum eine bestimmte Verhaltensnorm in einer bestimmtenK ultu r un ter. bestim m ten Bedingungen nun einmal Sitte ist das ist nattirlich Gegenstand soziologischer Erklarungsversuchealler Art. Hier aber ist zunachst festzuhalten, daB die Frage nachden Kennzeichen der normativen Gebundenheit sozialen Handelnsnicht befriedigend zu beantworten ist, indem man nach sozialenNormen sucht, die in ihrer inhaltlichen Bestimmtheit universalgiiltig sind.

    Wir konnen diese Kulturbedingtheit und Relativitat sozialerNormen von zwei verschiedenen Seiten her umschreiben als sozialePlastizitdt des Menschen seine Formbarkeit, seine Reagibilitatauf die verschiedensten Ordnungs-Entwiirfe und als soziale Pro-duktivitat : die Gestaltungskraft und Phantasie, mit der Menschendie Ordnungen ihres sozialen Lebens entwerfen, biologische Gege-(1) Zur F rage der Un ivers alita t des ihren cthno-soziologischen Gtundlagcn, Bd. 11

    Inzest-Tabus vgl. George Peter MURDOCH, (Berlin und Leipzig, 1932), S. 162 f.Social Structure (New York, 1949), S. 284 ff. (2) He rodo t, II I, 38, z itie rt in derMu rdock gelangt zu einigen bem erkensw ert Ubersetzung. von J. Chr. F. Ba hr (Berlinklaren und eindeu tigen Verallgemeinerun- o.J.) He rodo t miB versteht offensichtlicb.gen, die aber auf einem begrenz ten Mate rial den Sinn des nomos-Begriffs bei Pin dar ,beruhe n. Gegenbeispiele gegen die Thesen Zum sog. Endok annibalismu s vgl. Hero-Murdocks finden sich z.B . bei Richard dot, I, 216 und II I, 99.THURNWALD, Die menschliche Gesellschaft in

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    HEINRICH POPITZ

    benheiten interpretieren, Bedingungen umformen und sich selbstin ihrem Verhalten stilisieren. Beide Phanomene fordern sichwechselseitig heraus. Die Frage, die die soziale Plastizitat stellt,ist zwingend eiri Zwang zur Gestaltung. Und die Antwort, diegegeben werden muB, ist produktiv nicht nur im Sinne der Wahlinnerhalb eines Spielraums von Moglichkeiten, sondern vor allemals Entscheidung, durch die der Mensch sich selbst festlegt undformt, sich sozial selbst definiert. Dieses Sich-Selbst-Feststellen desMenschen beruht stets auf einer normativen Entscheidung : esbleibt also stets imperativ, eine Forderung man konnte auchsagen : eine Hoffnung.

    Hier aber bietet sich nun ein Ansatzpunkt, der zwar als einenicht weiter diskutable Selbstverstandlichkeit erscheinen mag, vondem sich aber einige universal giiltige Merkmale der sozialenNormgebundenheit ableiten lassen. Es handelt sich um eine Bedin-gung, die jenseits aller kulturspezifischen Variationen in der Tat-sache Gesellschaft selbst beschlossen liegt : das Sich-Selbst-Fest-stellen des Menschen als soziales Wesen, von dem wir sprachen,ist dem Gegenseitigkeitsprinzip unterwo rfen also ein Sich-gegenseitig-Feststellen.Soziale Normen begrenzen offenbar die Willkiir in der Bezie-hung von Menschen zueinander. Sie bewirken, daB Menschen sichmit einiger Sicherheit und Dauerhaftigkeit aufeinander einstellenkonnen. Diese Einstellung aufeinander ware aber nicht moglich,ohne daB wir das Handeln der jeweils Anderen in oft wiederkehren-den, typischen Situationen voraussehen, also mit RegelmaBigkei-ten rechnen konnen (3). Die Wirksamkeit der Normgebundenheitsozialen Handelns ware damit umschrieben als eine Art Kon-struktion regelmaBiger und wechselseitig voraussehbarer Hand-lungsablaufe. Es ist nun diese wechselseitige Voraussehbarkeit,diese Eins tellu ng aufeinander, oder einfach : diese Geg enseitigkeit,die bestimmten Konstruktionsprinzipien unterliegt und die unsdaher einige Teilantworten auf die Frage erlaubt, von der wir aus-gingen : die Frage, wie es Menschen eigentlich machen, ihr sozialesVerhalten normativ zu binden.

    (3) Die Bedeutung der Voraussehbarkeit R ec ht s.i n Acta Jutlandica XIX, 2 (Aar-sozialen Han deln s beton t insbes. Theod or hus und Kope nhagen , 1947), S. 14 f, 57 f.GEIGER, Vorstudien zu einer Soziologie des

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    SOZIALE NORMEN

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    Ich mochte um der Ubersichtlichkeit willen funf solcherTeilantworten unterscheiden.Erstens. Dieses Tier darf niemand jagen In dieser Situa-tion darfst Du Deines Nachbarn Behausung betreten, in jenernicht Ein Kind muB abends friihzeitig zu Bett gehen : Dassind formulierte Normen verschiedener Art. Gemeinsam ist ihnen,daB sie Handlungen und Situationen typisieren. Fur das Kind, dasabends ins Bett soil, ist die Situation heute ganz anders als ge-stern oder vorgestern. Fur die Eltern ist sie anders als fur dasK i n d ; fur den Beobachter anders als fur die Beteiligten. Die Mar-kierung bestimmter Handlungen als verbindlich setzt jedochvoraus, daB wir Kriterien gefunden haben. die subjektiv verschie-denartige Handlungen und Situationen gleich oder zumindest ver-gleichbar machen. Diese Kriterien stellen eine Auswahl bestimmterHandlungs- und Situations-Merkmale dar, die von jeder Gen eration

    neu erlernt werden muB. Das Kunststiick der Erziehung bestehtja nicht zuletzt darin, einen bestimmten Bestand von typisiertenSituationen gegen die Fiille der subjektiv-individuellen Situations-erlebnisse des Kindes zur Geltung zu bringen.Es sei also hier zuna.ch.st festgehalten, daB jede normative Inter-pretation von Handlungen und Situationen die soziale Relevanzder individuellen Erlebnissphare begrenzt. (Jede normative Inter-pretation : also nicht nur die an Rechtssatzungen orientierte.)Stets schaffen Normen eine artifizielle Kommunikationsebene zwi-schen Menschen, auf der nicht alles gilt, was wir erleben, fuhlen,wahrzunehmen glauben (4). Keine psychologische oder phanome-nologische oder soziologische Schuldtheorie kann die Moglichkeit,ja Wahrscheinlichkeit subjektiver Ungerechtigkeiten aus der Weltschaffen, die mit dieser Grundbedingung aller sozialen Normsetzunggegeben ist : Soziale Normen konnen nicht gelten, ohne daB allge-mein verbindliche Typisierungen von Handlungen und Situationenals geltend anerkannt und durchgesetzt werden und zwar, wie

    wir sehen werden, Typisierungen besonderer Art.(4) Die Gleichheit bezw. Vergleichbar- eine Abstraktionsleistung, die stets voll-

    keit von sozialen Situationen ist also nicht, zogen werden mufi, wo Menschen ihrwie gelegentlich unterstellt wird, eine Handeln in verbindlicher Form voraus-methodische Fiktion des Soziologen, der sehbar machen. Soziale Ordnungen beruhensoziale Ordriungen interpretiert; sondern auf Abstraktionsleistungen dieser Art.

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    HEINRICH POPITZZweitens. Der Satz : Dieses Tier darf niemand jagen isteine formulierte Norm, die sich offenbar an alle Mitglieder eines

    bestimmten Universums geordneter Beziehungen wendet. Der SatzEin Kind mu8 abends friihzeitig zu Bett gehen bezieht sichausdriicklich auf einige Mitglieder, die Kinder. Andere Normensind speziell an die Vater, Miitter, Medizinmanner, Werk-meister adressiert. Soziale Normen schlieBen also nicht nur Typi-sierungen von Situationen und Handlungen, sondern auch vonPersonen ein. Sie wenden sich an einen bestimmten Menschen,insofern er Vater, Medizinmann oder Staatsbiirger ist. Und zwarerstrecken sich diese Typisierungen nicht nur auf die jeweils Han-delnden, sondern auch auf diejenigen, die mit einer bestimmtenHandlung gemeint, von ihr betroffen werden. Welche Verhaltens-erwartungen an ein Kind gestellt werden, hangt auch wesentlichdavon ab, ob sich seine Handlung auf die Eltern oder die Spielka-meraden oder die Lehrer bezieht.All das erscheint uns selbstverstandlich. Es ist auch selbstver-standlich, wenn man als gegeben voraussetzt, daB soziale Gruppennicht ein Wirrwarr uniformer Teilchen, sondern ein in sich diffe-renziertes Gefuge von Rechten und Pflichten darstellen. Was wirfesthalten wollen, ist lediglich eine Bedingung dieser Moglichkeit :soziale Normen konnen eine Differenzierung verschiedener Perso-nenkategorien [mitsetzen verschiedener sozialer Rollen, wiewir seit R alp h Lint on sagen (5). Diese Differenzierung ist nich tbeliebig, sofern sie zu einem geordneten Zusammenleben fiihrensoil. Vielmehr miissen sich die einzelnen sozialen Rollen wechsel-seitig implizieren : Der Fam ilienv ater h at bes timm te Verpflichtun-gen zu erfullen, die z.B. speziell auf Kinder bezogen sind underwartet seinerseits wieder eine entsprechende Antwort des Kindesin der Erfiillung von Verhaltensgeboten. Ferner miissen die einzel-nen Verpflichtungen eines Menschen aufeinander abgestimmt, alsoz.B. die Verpflichtungen des Vaters und Ehemanns (wenigstens imPrinzip) miteinander vereinbar sein. Und schlieBlich miissen sichdie speziellen Sozialnormen so erganzen, daB sich ein lebensfahigesGauzes, ein arbeitsfahiges Gefiige verschiedenartiger Leistungenergibt. Aus dieser wechselseitigen Implikation, dem Aufeinander-Abgestelltsein und dem Sich-Erganzen spezieller Verhaltensgebote,entstehen die Normstrukturen verschiedener sozialer Einheiten :

    (5) R. LINTON, The Study of Man Bedeutung und Kritik der Kategorie der(New York, 1936). Neue Gesichtspunkte sozialen Rolle (Koln und Opladen, 1959)entwickelt : Ralf DAHRENDORF, Homo Dort auch weitere Literatur .Sociologicus, Ein Versuch tur G eschichie,1 2

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    SOZIALE NORMEN

    etwa einer Schulklasse im Unterschied zu einem Verein, eines Indu-striebetriebes im Unterschied zur Familie, der patriarchalischenGroBfamilie im Un terschied zur modernen stad tisch en Kleinfa-milie.Wir haben heute die wohl hochste Rationalisierung solcherVerteilung und Zusammensetzung von Verhaltensgeboten in dermo dernen Biirokratie erreicht wenigstens ihrem A nspruch, ihremEntwurf n ach (6). Auch die besond ers ausgefeilte biirokra tischeSystematik von Kompetenzen beruht aber auf Prinzipien, die wirin ihrem GrundriB iiberall dort nachweisen konnen, wo Menschenihr Zusammenleben zu ordnen versuchen. Stets finden wir eine ArtArbeitsteilung von Verhaltensgeboten und Verboten, die sich alsjeweils besonderes Gefiige sozialer Rollen beschreiben laBt.

    Drittens. Wir sprachen von Normstrukturen einem Gefiigeaufeinander bezogener sozialer Rollen die soziale Einheiten(Gruppen, Kollektive) kennzeichnen. Aus der alltaglichen Erfah-rung ist uns gelaung, daB der Einzelne mehreren sozialen Einheitenzugehort, Trager mehrerer sozialer Rollen ist (7). Diese Vielfaltder Zugehorigkeiten wird oft sogar als ein spezifisch modernesPha nom en ged eutet : als Konsequenz des modernen Pluralism us,der Aufspaltung von Privatheit und Offentlichkeit, des Institu-tionenzerfalls oder anderer Heimsuchungen, die der Zeitkritikergerne fur sich und seine Zeitgenossen in Anspruch nimmt. Es han-delt sich aber keineswegs um ein spezifisch modernes Phanomen.Wir konnen vielmehr die empirisch uberpriifbare These wagen :Jeder Mensch mit Ausnahme des sehr kleinen Kindes, das nochvollig in der Familie aufgeht und natiirlich mit Ausnahme vonEremitentum u.dergl. jeder Mensch in alien Kulturen, die wir

    (6) Vgl. h ierzu Ro bert K. MERTON; Gefiige aufeinander bezogener sozialerBu reauc ratic St ructure an d Person ality, Rollen zu kennzeichnen. Hie rmit ist dasin Social Theory and Social Structure* Verbindende die Unterscheidung von(Glencoe, 1957) un d T heod ore M. NE W - innen und au6en bere its zureichendCOMB, Sozialpsychologie (Meisenheira am formuliert. Und zwar nic ht nu r auf Gru ndGla n, 1959), S. 211 f. der Bezogenheit der sozialen Rollen aufeinan-(7) Leider ha t sich eine einheitlich e der. Vielme hr stec kt in jeder sozialen RolleTerm inologie und Klassifikation sozialer bere its eine tZugehorigkeitshypothese*, dieGebilde noch ni cht durc hge setzt . Ich Mitglieder im Unte rschied zu Nicht-gebrauch e hie r soziale Einheit (social mitgliedern verb inde t und die erst dieunit) als Oberbegriff fur soziale Grup pen Form ulieru ng par tiku lar er Re chte un dund Ko llektiv e. Dab ei mo chte ich auf Pflichten legit imi ert. (Die Zugehorigkeit zudas in der Regel angefiihrte Begriffs- einem Sta ats ver ban d, die Zugehorigkeit zume rkm al des Wir-BewuBtseins, Soli- einer Kernfam ilie ist in der Form ulieru ngdarita ts-Em pfind ens* oder dergl. verz ichte n. der sozialen Rolle Staatsbiirger, iFam ilien-Es geniigt m.E ., soziale Einh eiten als vater mitgesetzt.)

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    kennen, ist Mitglied mehrerer sozialer Einheiten. Selbst in austra-lischen Hordenkulturen, in denen sich die lokale Einheit mit derGroflfamilie deckt, werden zumindest noch Verwandtschaftsbe-ziehungen realisiert, die sich auf andere lokale Einheiten ausdeh-nen. Wir finden also auch hier im Extremfall wenigstenszwei soziale Einheiten, denen der Einzelne verpflichtet ist selbstwenn man die Kernfamilie nicht als gesonderte Funktionseinheitbetrachtet . ;Das gelaufige Bild, das dem Einzelnen die Gesellschaft* gegen-iiberstellt, ist also irrefiihrend, Der Einzelne ist stets wennwir diesen A usdruck einmal gebrauch en wollen M itglied mehrererGesellschaften. Uberall, wo Menschen Ordnungen des Zusammen-lebens entwerfen, ergibt sich eine Vielheit sich iibergreifender undiiberschneidender sozialer Einheiten ein immer wiederkehren-des Formprinzip der Vergesellschaftung. Die Frage, warum dieseigentlich so ist, scheint mir bisher noch nicht befriedigend be an t-w orte t, j a vielleicht noch nich t einmal zureichend eindeutig for-muliert worden zu sein.

    Ich muB mich darauf beschranken, auf eine Konsequenz auf-merksam zu machen. Die Vielheit sich iiberschneidender und iiber-greifender ' Verpflichtungen bedeutet, daB die Moglichkeit einesNormenkonfliktes prinzipiell in der Struktur sozialer Ordnungenangelegt ist. Es bedarf durchaus nicht unbedingt einer Wertkrise,um fur den Einzelnen oder fur Gruppen Situationen entstehenzu lassen, die von verschiedenen Zugehorigkeitserwartungen ver-schieden interpretiert werden. Eine latente Ihteressenkonkurrenzsozialer Einheiten finden wir in alien Kulturen auch in jenen,die wir fur besqnders homogen zu halten pfiegen.

    Vielleicht besteht aber ein Zusammenhang zwischen dem Gradeder Unhomogenitat der verschiedenen sozialen Verpflichtungen unddem Grade, in dem sich der Einzelne iiberhaupt als individuelleExistenz bewuBt wird. Vielleicht muB die latente Konkurrenzund Konfliktmoglichkeit der sich im Einzelnen iiberschneidendenNormstrukturen manifest werden, bevor wir die sozialen Bindun-gen als eine Dimension des menschlichen Lebens reflektieren kon-nen und die Distanz der spezifisch individuellen Reflektion aufuns selbst gewinnen. Das hieBe, daB eine mittelbare Beziehungbesteht zwischen dem BewuBtwerden der Individualitat und jenemFo rm prin zip der Vergesellschaftung, das wir als prinzipielle V ielheitsozialer Einheiten beschrieben haben.

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    Viertens. Wir haben bisher davon gesprochen, daB sozialeNo rme n Handlungen un d Situationen ty pisieren; daB N ormstruk-turen entstehen, welche die Mitglieder einer sozialen Einheit durch>ein bestim m tes Beziehu ngsnetz (von R echte n un d P flichten) mitein-an de r ve rbi nd en ; daB der Einzelne als Mitglied m ehrerer sozialerEinheiten stets Schnittpunkt mehrerer Normstrukturen ist. Est>leibt nun zu fragen, woran man denn eigentlich die Existenzvon Normen erkennt. Wenn der Begriff der sozialen Normen imRahmen der Soziologie Bedeutung haben soil, miissen sich empi-rische Anhaltspunkte fur die Geltung von Normen finden lassen.Ich habe diese Frage bisher zuruckgestellt, weil sie uns zu einemweiteren, vierten Phanomen fiihrt, das nach dem bisher GesagtenTjesser verstandlich zu machen ist.

    Die Geltung von Normen kann offenbar nicht einfach miterwarteten VerhaltensregelmaBigkeiten aller Art gleichgesetzt wer-den. Es gibt viele erwartete RegelmaBigkeiten z.B. den Brauch,zu bestimmter Zeit zu Mittag zu essen die keineswegs denCharakter der Verbindlichkeit haben. Man kann es ohne weiteresauch anders machen. Von der Geltung einer Norm wollen wir erstdann sprechen, wenn ein Abweichen von solchen erwarteten Regel-maBigkeiten Sanktionen gegen den Abweicher auslost, etwa de-monstrative MiBbilligung, Repressalien, Diskriminierung, Strafen.In diesen Fallen folgen also auf die abweichende Handlung einesEinzelnen oder Mehrerer wettere Handlungen anderer Menschen,die auf jene Abweichung in bestimmter Weise Bezug haben.

    Die Grenze zwischen einem Brauch und einer sozialen Norm einer (verbindlichen) Sitte etwa laBt sich allerdings nur danneindeutig ziehen, wenn Prazedenzfalle vorliegen. Nicht nur fur denSoziologen, sondern auch fur den Handelnden selbst, insbesonderefur den Fremden, kann es durchaus in der Schwebe bleiben, obein allgemein iibliches Verhalten als verbindlich betrachtet wirdod er nich t : jedenfalls solange, bis eine Abw eichung stattf ind et unddie Reaktion beobachtet werden kann.

    Wer aber sind die Anderen, denen wir eben unterstellt haben,daB sie Sanktionen vollziehen? Konnen wir einfach sagen : dieje-nigen, die von einer abw eichenden H and lung unm ittelba r betroffenwerden, denen sie schadet, Nachteile bringt? Das ware vergleichs-weise eindeutig, aber allzu vereinfachend. Denn dann miiBten wirjeden Akt privater Vergeltung als Vollzug einer Sanktion gegeneinen Normbrecher interpretieren. Wer Normbrecher ist, entschiedeimmer gerade derjenige, der aus irgendeinem Grunde auf Vergel-tung sinnt.

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    HEINRICH POPITZWir kommen also nicht aus ohne den beriihmten Dritten.Nenn en wir ihn , Th eodo r Geiger folgend, die Gruppenoffentlich-

    keit (8). Solange der durch ein abweichendes Verhalten Gescha-digte auf sich allein angewiesen ist, bleibt seine Reaktion ebensoPrivatsache wie das abweichende Verhalten selbst. Erst die Unter-stiitzung durch die anderen, die Gruppenoffentlichkeit, verleiht ihrden Charakter einer Sanktion. Die ersten Spuren einer solchenU nters tiitzun g zeigen sich, wenn die Gruppenoffentlichkeit da sabweichende Verhalten demonstrativ mifibilligt, dem Betroffenendagegen einen Vergeltungsakt zubilligt, der vom ublichen Verhal-ten abweicht, d.h. sich nur als Reaktion auf ein angetanes Unrechtrechtfertigt. Das ethnographische Material, aber auch die alltag-liche Beobachtung zeigen uns nun zahlreiche t)bergange von derdemonstrativen MiBbilligung bis zur handgreiflichen Beteiligungder Gruppenoffentlichkeit an der Sanktion (etwa in Form dessozialen Boykotts) und von hier aus wieder bis zur vollstandigenObernahme des Sanktionen-Vollzuges durch die Gruppenoffentlich-keit. Der letztere Fall setzt allerdings in der Regel bereits dieExistenz bestimmter Autoritaten voraus, die die Gruppenoffent-lichkeit reprasentieren (des Anfuhrers in Sp ielgruppen, des F am i-lienva ters, b estim m ter Vorgesetzter, der opinion leaders* usw .).Von Rechtsnormen sprechen wir, wenn sich solche Autoritaten zueiner Zentralinstanz ausbilden, die eine angebbare Reihe von sozia-len Normen kraft alleiniger Sanktionsgewalt schiitzen.

    Es soil uns hier aber nicht auf die Abgrenzung dieses Sonder-falles sozialer Normen, der Rechtsnormen, ankommen. (Man kannden Schwellenwert terminologisch natiirlich friiher oder spateransetzen.) Wichtig ist in unserem Zusammenhang die Einsicht,daB es auch ohne bzw. jenseits der Rechtsnormen eine emfirisckaufweisbare soziale Normgebundenheit gibt.

    Welches Verhalten normativen Charakter hat, wird nicht unbe-dingt durch verbale Verstandigung entschieden; dementsprechendsind soziale Normen auch nicht durch Meinungsbefragungen zuermitteln. Die soziologischen Kriterien liegen allein in den Hand-lungen der Beteiligten. Ob erwartete RegelmaBigkeiten des sozia-len Verhaltens normativ interpretiert werden, laBt sich nur an derReak tion der jeweils Anderen, der Gruppenoffentlichkeit un deventuell ihrer Autoritaten und Instanzen ablesen (9). Entschei-

    (8) Theodor GEIGER, op. cit. S. 33. pieren sich urn das Stich wort soziale(9) Die Analys en der Re akti one n auf Kontrolle*. Ein en wichtige n Be itrag zurNorm briiche (und auch im weiteren Sinne : Theo rie der sozialen Kontrolle gibt Georgeder Prav entive gegen Normbriiche) grup- Caspar HOMANS, The Human Group1 6

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    SOZIALE NORMEN

    dend ist, ob bestimmte Verhaltensweisen gegen offenkundige Ab-weichungen geschiitzt werden und zwar nicht nur durch dieje-nigen, die eventuell unmittelbar Schaden erleiden. Entsprechend istder Grad der Geltung sozialer Norm en a uch nicht allein von ih rerBefolgung abhangig, sondern (ebenso) auch vom Grad der Bereit-schaft, die entsprechenden Schutzfunktionen zu vollziehen; vonder Bereitschaft, den Anspruch auf dauerhafte Verbindlichkeitgegen den Normbruch durchzusetzen. Die Normgebundenheit ver-wirklicht sich also nicht nur in einem Handeln, das zum Ausdruckbringt : Dies gait und gilt heute, sondern auch in einer Reaktion,die besagt : Dies soil in Zukunft wieder gelten.

    Alles, was wir bisher iiber normatives Verhalten und Norm-strukturen gesagt haben, muB also gleichsam in einer Verdoppelunggesehen werden. Jeder sozialen Verpnichtung eines Menschen ent-sprechen Schutzfunktionen anderer. Auch diese Schutzfunktionensind an die Differenzierung sozialer Rollen und an bestimmteZugehorigkeitserwartungen gekniipft. Durch die Art, in der wirsie ausiiben, in der wir Sanktionen vollziehen, wirken wir ebensoan d er Aufrechterhaltung von N orm struk turen m it wie an ihrerVeranderung.Warum auch an der Veranderung? Wir haben bisher lediglichfestgestellt, daB sich die Herausbildung sozialer Normen am Voll-zug von Sanktionen erkennen laBt : ein eingespieltes, als iiblicherwartetes Verhalten wird als verbindlich geforderte Norm erkenn-bar, sobald eine Abweichung Sanktionen hervorruft. Ein entspre-chender Vorgang laBt sich nun auch beobachten, wenn eine norma-tive Forderung abklingt, ein bestimmtes Verhalten den Charakterder Verbindlichkeit verliert : Abw eichungen werden zun ach stzogernd hingenommen, 16sen immer seltener Sanktionen aus,bis sie nach einem Ubergangsstadium der Unsicherheit schlieBlichfreigegeben werden. (Anschauliche Beispiele fur diesen ProzeB derFreigabe ehemals normativ gebundener Verhaltensformen bietendie sog. Emanzipationsbewegungen, wie die Emanzipation derFrauen, bestimmter Sozialschichten, Volksgruppen und Volker.)

    Schwankungen des Sanktionen-Vollzuges konnen uns also alsSeismograph dienen, an dem sich Veranderungen der Normstruk-turen ablesen lassen. Aber damit erschopft sich nicht die Bedeu-(New York, 1950). Dt. : Theorie der sozialen Folgen jener Nichtbefolgung bestehendenGruppe (Koln und Oplad en, i960 ). (Die Beziehun gen, sind nic ht me hr und nic htspezifischen Kon trollen, das heiBt die weniger als die alten , diesmal differentialzwischen Nichtbefolgung einer Norm durc h bet rac hte ten Beziehungen der gegenseitigeneinen Menschen und den verschiedenen Abhangigkeit. S. 283).

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    HEINRICH POPITZ

    tun g dieses Ph ano m ens . D er Sanktionen-Vollzug zeigt -nicht nurVeranderungen an, er ist selbst der labilste, storungsempfindlichsteTeil des normativen Handlungssystems. Und zwar vor allemdeshalb, weil er in der Regel zwar selbst eine normative Verpfiich-tung, aber eine normative Verpflichtung geringeren Grades ist. Derprimare Rechtsbruch wird im allgemeinen scharfer verurteilt alsdie Verletzung der entsprechenden Anzeigepflicht, das unmora-lische Verhalten scharfer als der Mangel an Entriistung. Auchdieses Nicht-Reagieren kann natiirlich wieder Gegenstand vonSanktionen werden. Man wird aber etwas schematisch verein-fachend sagen konnen, daB der Verbindlichkeitsgrad solchersekundaren oder tertiaren Reaktionen sukzessive abnimmt. DerVerzicht auf Sanktionen tragt zwar ebenso zur Veranderung vonNormstrukturen bei wie der primare Normbruch. Aber er istgewohnlich ungefahrlicher, bequemer, oft auch weniger sichtbar.Daher pflegt bei der Mehrheit der Beteiligten das Abklingen derGeltung einer Norm darin zum Ausdruck zu kommen, daB sie aufObertretungen nicht mehr reagieren, also handeln, indem sie garnichts tun. Hier setzt z.B. die (bewuBte oder unbewuBte) Taktikan, mit der sich Gewaltherrschaften etablieren. Die Mehrheit derBevolkerung wird zunachst nicht zum Bruch primarer Normenverleitet, sondern demoralisiert, indem man sie am Vollzug vonSanktionen gegen den Normbruch zu hindern versucht, ihr alsodas Reagieren iiberhaupt abgewohnt. Der ProzeB der Demorali-sierung greift zuna chst die Bereitschaft an, die dauerh afte Ver-bindlichkeit einer Norm gegen den Normbruch zur Geltung zubringen. Die Bereitschaft zur Aktion wird vorbereitet durch denVerzicht auf die Reaktion. Das ist gemeint, wenn wir den Sank-tionenvollzug als den labilsten, storungsempfindlichsten Teil desnormativen Handlungsysstems bezeichnen.

    Fiinftens. Soziale Normen sind tradierbar. Jede Erziehunghat das Ziel, bestimmte Normeninhalte von einer Generation aufdie andere weiterzugeben. Das gelingt oft hochst mangelhaft. Dafies aber gelingen kann und wohl nie vollkommen miBlingt, ist eineBedingung der Moglichkeit jeder Kontinuitat sozialer Lebensfor-men und VerhaltensmaBsta.be.Stellen wir wiederum die Frage : warum kann das gelingen?Auch diesmal lauft die Antwort auf eine Binsenwahrheit hinaus.Aber darum geht es ja hier gerade : unter dem Vielen, was unsim sozialen Leben selbstverstandlich erscheint, einige derjenigenSelbstverstandlichkeiten zu finden, die es wirklich sind. Wie18

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    SOZIALE NORMENalso kannJErziehung das Ziel erreichen, soziale Normen zu tra-dieren?

    Die Vererbung lost dieses Problem nicht. Eine Ubernahmebestimmter Normen kann offenbar nur dann erfolgen, wenn dasKind die Verhaltenserwartungen, die an es gestellt werden, nichtnur befolgt, sondern eben : uber-nimmt, d.h. die Anspriiche, dievon auBen an es herantreten, zu Anspriichen an sich selbst macht.Das setzt keineswegs eine reflektierte Morallehre voraus. Das Sol-len kann durchaus an bestimmte Handlungen und bestimmteSituationen gebunden bleiben. Wir unterstellen auch nicht, daBdie Befolgung sozialer Verpflichtungen sich stets auf moralischeMotive zuriickfuhren lieBe. Personliche Interessen, Furcht vorSanktionen und ahnliches werden haufig mitspielen, oft sogarausschlaggebend sein. Dariiber hinaus aber kann eben die Vorstel-hing, daB ein bestimmtes Tun oder Lassen an sich verbindlichsei, Handlungsmotiv des Menschen werden. Und diese Vorstellungdes an sich Verbindlichen ist lehrbar und lernbar. Nur daher hates Sinn zu sagen, daB der Mensch das Wesen ist, das sollen kann.Das allgemeinste und gleichzeitig wohl wichtigste Kennzeichen

    dieser Lernbarkeit von SoUanspriichen scheint mir nun darin zuliegen, daB wir Verpflichtungen habitualisieren konnen. Oder, urnes bildhafter auszudriicken : Sollanspriiche konnen aus einer Zumu-tung von auBen zu einer Selbstverstandlichkeit von innen wer-den. Eben diese Umsetzung ermoglicht, daB wir Sollanspriichebefolgen, ohne sie zu reflektieren, was jede Alltagserfahrungbestatigt. Es ware daher falsch gefragt, wenn wir jedes Phano-men der Normgebundenheit entweder auf Eigeninteressen oderauf bewuBte Norm-Orientiertheit oder auf eine Mischung vonbeidem zuriickzufiihren versuchten. Und es ist ebenso irrefiihrend,Gewohnheiten und Normgebundenheit alternativ gegeniiberzustel-len. Gewohnheit ist haufig gelerntes Sollen*. Und umgekehrt :daB Sollanspriiche lernbar und insbesondere habitualisierbar sind,driickt sich eben darin aus, daB sie den Charakter des Ohnehin,des Unproblematischen, des Sich-von-selbst-Anbietenden erhaltenkonnen . Sie konnen zu einer Antwort w erden, der keine Frag e m ehrvorauszugehen braucht.

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    Ich mochte hier abbrechen und mit einer allgemeinen Uber-legung iiber die Art der Fragestellung schlieBen, die ich ein stiick-weit verfolgt habe. Um weiterzugehen, waren vor allem ana-loge Untersuchun gen der Uber- und Un terordnun gspha nom ene

  • 8/22/2019 Popitz Normen

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    HEINRICH POPITZdes menschlichen Zusammenlebens notwendig, des Einflusses, derM acht, der Herrschaft un d schlieBlich : der Gew alt, jenes schwerergrundbaren Phanomens, in dem sich im Extremfall der hochsteGrad von Realitat im vital-physischen Sinne mit dem hochstenGrad an Abstraktheit im sozialen Sinne verbinden kann.Die Fragestellung, um die es hier geht, ist diejenige nach denBedingungen der Moglichkeit menschlichen Zusammenlebens. Wieist, um die Wendung Durkheims zu gebrauchen, die TatsacheGesellschaft moglich? Wie ist es moglich, da8 Menschen sichmit einiger Sicherheit und Dauerhaftigkeit aufeinander einstellenkonnen?

    Ich halte diese Frage fur beantwortbar. Und zwar deshalb, weilMenschen nicht zueinander kommen konnen, ohne einen Proze/5der Formung dieses i>Zueinander